L 10 KR 94/21 B ER

Land
Schleswig-Holstein
Sozialgericht
Schleswig-Holsteinisches LSG
Sachgebiet
Krankenversicherung
Abteilung
10.
1. Instanz
SG Lübeck (SHS)
Aktenzeichen
S 14 KR 10016/21 ER
Datum
2. Instanz
Schleswig-Holsteinisches LSG
Aktenzeichen
L 10 KR 94/21 B ER
Datum
3. Instanz
-
Aktenzeichen
-
Datum
-
Kategorie
Beschluss

Die Beschwerde der Antragsgegnerin gegen den Beschluss des Sozialgerichts Lübeck vom 21. Juni 2021 wird zurückgewiesen.

Die Antragsgegnerin hat die außergerichtlichen Kosten der Antragstellerin auch im Beschwerdeverfahren zu erstatten.

Gründe:

I.

Die Antragstellerin und Beschwerdegegnerin begehrt im Wege der einstweiligen Anordnung die Versorgung mit dem Fertigarzneimittel Bevacizumab (Avastin) zur Behandlung eines rezidivierten Glioblastoms.

Die Antragstellerin ist am 1967 geboren und bei der Antragsgegnerin gesetzlich krankenversichert. Im Januar 2020 wurde bei ihr ein sekundäres Glioblastom rechts, WHO Grad IV, nach Resektion eines anaplastischen Astrozytoms diagnostiziert. Anschließend erfolgte eine adjuvante kombinierte Radiochemotherapie mit Temozolomid bis August 2020. Im Mai 2020 wurde eine Re-Resektion durchgeführt. Eine Implantation eines Rickham-Reservoirs (ein bei Hirntumoren eingesetztes Kathetersystem) im Juni 2020 musste wegen chronischer Wundheilstörungen im August 2020 wieder entfernt werden. Auf das erste Rezidiv erfolgte eine PC Chemotherapie (Chemotherapie mit mehreren zytostatischen Wirkstoffen) von August bis Dezember 2020. Ein zweites Rezidiv wurde im Dezember 2020 reseziert. Es schloss sich bis Februar 2021 eine Re-Bestrahlung an. Seit Februar 2020 wurde eine metronomische TMZ-Therapie mit 50 mg/d absolut etabliert. Mittlerweile ist die Antragstellerin austherapiert und erhält eine palliative Behandlung.

Den Antrag der Antragstellerin vom 28. Januar 2021 auf Kostenübernahme für eine Rezidivbehandlung mit Bevacizumab (Avastin) bei Glioblastom als individuellem Heilmittelversuch lehnte die Antragsgegnerin mit Bescheid vom 9. Februar 2021 ab. Die Kostenübernahme würde auch im Einzelfall seit der Entscheidung des Bundessozialgerichts (BSG) vom 13. Dezember 2016 (B 1 KR 1/16 R) einen Verstoß gegen das Arzneimittelrecht beinhalten. Über den am 25. Februar 2021 von der Antragstellerin dagegen erhobenen Widerspruch ist bisher nicht entschieden worden.

Im Widerspruchsverfahren trug die Antragstellerin unter Vorlage eines Schreibens des Universitätsklinikums Essen vom 17. März 2021 vor, die im Nikolaus-Beschluss des Bundesverfassungsgerichts aufgestellten Kriterien seien erfüllt. Sie leide an einer lebensbedrohlichen Erkrankung, die innerhalb kurzer Zeit zu einer Verschlechterung führen könne und bei der innerhalb kurzer Zeit mit dem Tod gerechnet werden müsse. Eine anerkannte und dem medizinischen Standard entsprechende Behandlung bestehe nicht. Daher müsse ohne weiterführende medikamentöse Behandlung mit höchster Wahrscheinlichkeit mit einem weiteren Tumorwachstum und einer klinischen Verschlechterung bis hin zum Tode gerechnet werden. Bei einer Behandlung mit Bevacizumab bestehe zumindest eine spürbare positive Einwirkung auf den Krankheitsverlauf, da ein Ansprechen des Tumors auf eine Therapie auch beim Rezidiv noch erwartet werden könne. In den USA sei die Avastintherapie als Rezidivbehandlung beim Glioblastom sogar zugelassen. Aus drei unabhängigen randomisierten Studien zum Einsatz von Bevacizumab beim Glioblastom folge, dass das progressionsfreie Überleben (PFS – progression-free survival) signifikant verlängert sei: die RTOG0825-Studie (Gilbert et al, NEJM 2014) mit Nachweis einer signifikanten PFS-Verlängerung von 7,3 auf 10,7 Monate, AVAglio-Studio (Chinot et al, NEJM 2014) mit Nachweis einer signifikanten PFS-Verlängerung von 6,2 auf 10,6 Monate und GLARIUS-Studie (Herrlinger et al, JCO 2016) mit Nachweis einer signifikanten PFS-Verlängerung von 5,9 auf 9,7 Monate. Auch sei der klinische Zustand der Antragstellerin noch gut und sie verfüge über einen ausgeprägten Therapiewunsch. Geplant seien zunächst 6 Gaben von Bevacizumab (10mg/kg Körpergewicht alle 14 Tage). Sofern eine Stabilisierung oder ein Tumoransprechen sich anschließend (in einem Schädel-MRT) aufzeige, solle die Therapie fortgeführt werden. Schließlich sei in ähnlich gelagerten Fällen in Kenntnis des BSG-Urteils eine Kostenübernahme durch sozialgerichtliche Entscheidungen zugesprochen worden (Sozialgericht <SG> Duisburg, Beschluss vom 18. Februar 2021 – S 50 KR 2253/20 ER; SG Duisburg, Beschluss vom 10. Februar 2021 – S 31 KR 2134/20 ER; SG München, Urteil vom 19.11.2020 – S 15 KR 293/18; Bayerisches Landessozialgericht <LSG>, Beschluss vom 26. August 2020 – L 4 KR 325/20 B ER; SG Duisburg, Beschluss vom 24. August 2020 – S 59 KR 1010/20 ER; LSG Sachsen, Beschluss vom 5. Juni 2018 – L 9 KR 223/18 B ER).

Der von der Antragsgegnerin beauftragte MDK führte demgegenüber in seinem Kurzgutachten vom 7. April 2021 aus, eine Kostenübernahme von Bevacizumab bei ausgeschöpfter Therapie des Glioblastoms sei früher in Einzelfällen befürwortet worden. Seit der Entscheidung des BSG vom 13. Dezember 2016 (B 1 KR 1/16 R) sei eine Befürwortung aber auch im Einzelfall nicht mehr möglich, weil selbst bei einer lebensbedrohlichen oder regelmäßig tödlich verlaufenden Erkrankung kein Anspruch auf eine Versorgung bestehe, wenn die European Medicines Agency (EMA) im zentralisierten Zulassungsverfahren die Zulassung des Arzneimittels zur Behandlung dieser Erkrankung – wie hier die Behandlung von Avastin bei Glioblastomen – bereits abgelehnt habe. Das gelte auch dann, wenn das Arzneimittel im Ausland für diese Indikation zugelassen sei.

Die Antragstellerin hat am 4. Juni 2021 einen Antrag auf einstweiligen Rechtsschutz beim Sozialgericht Lübeck gestellt. Sie sei austherapiert und werde nur noch palliativ behandelt. Die medizinische Indikation und Notwendigkeit der Behandlung mit Bevacizumab ergebe sich aus dem Schreiben des Universitätsklinikums Essen vom 21. März 2021 (inhaltlich entsprechend dem Schreiben vom 17. März 2021). Alternative Behandlungsmethoden seien nicht vorhanden.

Die Antragsgegnerin ist dem entgegengetreten und hat ausgeführt, die Antragstellerin habe mehrfach einen Antrag auf Kostenübernahme des Arzneimittels Bevacizumab gestellt – zuletzt am 17. Mai 2021 –, die jeweils abgelehnt worden seien. Der am 7. Juni 2021 auf Kostenübernahme des Arzneimittels Regorafenib gestellte Antrag sei nach Befürwortung durch den MDK im Rahmen einer weiteren gutachterlichen Stellungnahme vom 22. Juni 2021 zur weiterhin abgelehnten Kostenübernahme des Arzneimittels Bevacizumab mit Bescheid vom 23. Juni 2021 bewilligt worden. Auch sei eine Kostenübernahme für eine Optune-Behandlung – ein Gerät, welches durch elektronische Wechselfelder die Teilung von Glioblastomzellen verlangsamen und stoppen soll – für 3 Monate am 30. April 2021 erteilt worden. Eine Kostenübernahme für eine Behandlung mit Bevacizumab könne dagegen nicht erfolgen, weil der Gemeinsame Bundesausschuss (G-BA) dafür bisher keine positive Empfehlung abgegeben habe. Ein Anspruch aus § 2 Abs 1a SGB V scheide aus, weil die Kostenübernahme wegen der zweimaligen Ablehnung der Zulassung des Medikaments durch die EMA einen Verstoß gegen das Arzneimittelrecht darstelle.

Das Sozialgericht Lübeck hat die Antragsgegnerin mit Beschluss vom 21. Juni 2021 verpflichtet, der Antragstellerin bis zum rechtskräftigem Abschluss des Hauptsacheverfahrens vorläufig die Therapie mit dem Arzneimittel Bevacizumab (Avastin) zur Behandlung des Glioblastoms nach Verordnung der behandelnden Ärzte als Sachleistung zu gewähren. Anordnungsanspruch und Anordnungsgrund seien gegeben. Nach summarischer Prüfung seien die Voraussetzungen des § 2 Abs 1a SGB V zu bejahen. Die Antragstellerin leide an einem Glioblastom-Rezidiv mit Vorbehandlung durch Operation, Radiotherapie und Chemotherapie und damit an einer regelmäßig tödlich verlaufenden Erkrankung. Sie sei austherapiert, so dass keine weiteren allgemein anerkannten, dem medizinischen Standard entsprechende Leistungen zur Verfügung stünden. Es bestehe weiter eine nicht ganz entfernt liegende Aussicht auf eine spürbare positive Einwirkung auf den Krankheitsverlauf, wie sich aus der umfassenden Studienlage zur Wirksamkeit von Bevacizumab auf Glioblastome im Hinblick auf das progressionsfreie Überleben ergebe. Das BSG habe sich in seiner Entscheidung vom 13. Dezember 2016 (B 1 KR 10/16 R) nicht hinreichend mit den Grundrechtsschranken auseinandergesetzt, so dass dieser nicht gefolgt werden könne. Hierzu hat die Kammer auf die Entscheidungsgründe im Urteil des Sozialgerichts München vom 19. November 2020 (S 15 KR 293/15) verwiesen und sich diese zu eigen gemacht:

„Nicht das BSG, sondern das BVerfG ist für die Festlegung der grundrechtsbezogenen Schranken-Schranken (vgl. hierzu nur etwa Pieroth/Schlink, Grundrechte Staatsrechte II, § 6 IV 4) zuständig. Diese vom BVerfG mit seinem Beschluss vom 6. Dezember 2005 gezogenen Grenzen werden zulasten des Grundrechtssubjekts verschoben, wenn das BSG (B 1 KR 10/16 R, Rn. 23, 19) feststellt was folgt: ‚Die Gesamtrechtssystematik unterstreicht, dass die grundrechtsorientierte Auslegung die externen institutionellen Sicherungen der Arzneimittelzulassungsverfahren nach innerstaatlichem Recht und nach Gemeinschaftsrecht nicht aushebeln soll.‘ bzw.: ‚Der erkennende Senat hat darauf hingewiesen, dass ebenso wenig die Rechtsprechung des BVerfG dazu führen darf, dass unter Berufung auf sie im Einzelfall Rechte begründet werden, die bei konsequenter Ausnutzung durch die Leistungsberechtigten institutionelle Sicherungen aushebeln, die der Gesetzgeber gerade im Interesse des Gesundheitsschutzes der Versicherten und der Gesamtbevölkerung errichtet hat.‘ Grundrechte sind immer auch und in erster Linie Individualrechte. Das BSG geht in seinen Urteilen hingegen davon aus, dass der institutionelle Schutz der Gesundheit der Versichertengemeinschaft durch das Arzneimittelzulassungsverfahren durch ‚eine vermeintlich ‚großzügige', im Interesse des einzelnen Versicherten erfolgende richterrechtliche Zuerkennung von Ansprüchen auf Versorgung mit einem bestimmten Arzneimittel‘ faktisch systematisch unterlaufen und umgangen würde (BSG, a.a.O., Rn. 25). Diese Sichtweise verkennt die Qualität der Grundrechte als individuelle Schutzrechte, wonach Art. 2 GG gerade Leben und körperliche Unversehrtheit des einzelnen Grundrechtssubjekts im Blick hat. Es handelt sich nicht um eine ‚richterrechtliche Zuerkennung‘ von Ansprüchen, sondern um einen gesetzlichen Anspruch (§ 2 Abs. 1a SGB V), der unter Beachtung der verfassungsrechtlichen Vorgaben des BVerfG kodifiziert wurde. Auch kann die Kammer durch Zuerkennung einer ‚Off-Label-Behandlung‘ im oben aufgezeigten Rahmen keine ‚faktisch systematische‘ Umgehung des Arzneimittelrechts erkennen. Vielmehr handelt es sich bei einem Anspruch aus § 2 Abs. 1a SGB V um ‚Ultima ratio‘-Behandlungen mit eng begrenztem Anwendungsbereich. […] Sobald die ‚Ultima ratio‘-Situation (vgl. hierzu BVerfG, Beschluss vom 10. November 2015 - 1 BvR 2056/12 -, Rn. 18, juris) gegeben ist, besteht ein verfassungsunmittelbarer – subjektiv-rechtlicher – Leistungsanspruch. Dieser kann nach Überzeugung der Kammer nicht mit Hinweis auf den institutionalisierten (objektiv-rechtlichen) Gesundheits- und damit Grundrechtsschutz, wie ihn das Arzneimittelzulassungsrecht gewährleistet, ausgehebelt werden. Die objektivrechtlichen Schutzpflichten des Staates und die Grundrechtsberechtigung des Leistungsempfängers sind vielmehr zwei Ausprägungen des verfassungsrechtlich gewährten Grundrechtsschutzes, die nicht gegeneinander ausgespielt werden können. Insoweit überzeugt auch nicht, wenn das BSG ausurteilt: ‚Diese Schutzpflichten sollen die Versicherten auch davor bewahren, auf Kosten der GKV mit zweifelhaften Therapien behandelt zu werden, wenn auf diese Weise eine naheliegende, medizinischem Standard entsprechende Behandlung nicht wahrgenommen wird.‘ (BSG, Urteil vom 11. September 2018 - B 1 KR 36/17 R -, Orientierungssatz 4, juris).“

Dem folgend sei es überwiegend wahrscheinlich, dass die Antragstellerin einen Anspruch auf Kostenübernahme des begehrten Arzneimittels habe. Auch ein Anordnungsgrund sei wegen der Dringlichkeit glaubhaft gemacht worden. Im Übrigen führe die Folgenabwägung bei einem offenen Verfahrensausgang zu einer Bejahung der vorläufigen Sachleistungserbringung der Antragsgegnerin, weil die grundrechtlichen Belange der Antragstellerin – Grundrecht auf körperliche Unversehrtheit – vorliegend gegenüber den Interessen der Versicherten- und Solidargemeinschaft überwiegen würden.

Gegen diesen der Antragsgegnerin am 22. Juni 2021 zugestellten Beschluss hat sie am 1. Juli 2021 Beschwerde zum Schleswig-Holsteinischen Landessozialgericht erhoben. Ein Anspruch aus § 27 Abs 1 Satz 2 Nr 3 iVm § 31 Abs 1 Satz 1 SGB V scheitere an der fehlenden Zulassung des Arzneimittels durch die EMA. Eine Zulassung im Ausland entfalte dagegen keine Rechtswirkung. Eine Ultima-Ratio Behandlung im Off-Label-Use liege tatbestandlich bereits nicht vor, weil der MDK als alternative Therapieoption eine Behandlung mit Regorafenib befürwortet habe und der entsprechende Antrag der Antragstellerin als Ultima-Ratio Behandlung nach den Kriterien der Rechtsprechung zum Off-Label-Use bewilligt worden sei. Die Datenlage zu Regorafenib sei ausreichend, so dass ein positiver Effekt auf den Verlauf zu erwarten sei.

Die Antragsgegnerin beantragt,

den Beschluss des Sozialgerichts Lübeck vom 21. Juni 2021 aufzuheben und den Antrag auf Gewährung einstweiligen Rechtsschutzes abzulehnen.

Die Antragstellerin beantragt,

die Beschwerde zurückzuweisen.

Wegen weiterer Einzelheiten des Sach- und Streitstandes wird auf den Inhalt der Gerichtsakte sowie der von der Antragsgegnerin vorgelegten Verwaltungsakte Bezug genommen.

II.

Die nach § 172 Abs 1, Abs 3 Nr. 1 iVm § 144 Abs 1 Satz 1 Nr 1 Sozialgerichtsgesetz (SGG) sowie gemäß § 173 Satz 1 SGG zulässige Beschwerde ist nicht begründet. Das Sozialgericht hat dem Antrag auf Kostenübernahme für die Versorgung mit dem Fertigarzneimittel Bevacizumab zu Recht stattgegeben.

Gemäß § 86b Abs 2 Satz 1 SGG kann das Gericht auf Antrag eine einstweilige Anordnung in Bezug auf den Streitgegenstand treffen, wenn die Gefahr besteht, dass durch eine Veränderung des bestehenden Zustandes die Verwirklichung eines Rechts des Antragstellers vereitelt oder wesentlich erschwert werden könnte. Einstweilige Anordnungen sind nach § 86b Abs 2 Satz 2 SGG auch zur Regelung eines vorläufigen Zustandes in Bezug auf ein streitiges Rechtsverhältnis zulässig, wenn eine solche Regelung zur Abwendung wesentlicher Nachteile nötig erscheint. Dabei ist regelmäßig eine summarische Prüfung, bezogen auf den gegenwärtigen Verfahrensstand, vorzunehmen. Erforderlich ist zum einen das Vorliegen eines Anordnungsanspruchs, also eines Rechtsanspruchs auf die begehrte Leistung, und zum anderen das Vorliegen eines Anordnungsgrundes, d. h. der Notwendigkeit einer Eilentscheidung, die dem Antragsteller das Zuwarten auf eine gerichtliche Entscheidung in der Hauptsache unzumutbar macht. Gemäß § 86b Abs 2 Satz 4 SGG in Verbindung mit § 920 Abs 2 Zivilprozessordnung (ZPO) sind Anordnungsanspruch und Anordnungsgrund glaubhaft zu machen. Ist wie vorliegend zwischen den Beteiligten die Erbringung medizinischer Leistungen zur Behandlung einer akut lebensbedrohlichen Erkrankung streitig, darf die Versagung vorläufigen Rechtsschutzes nur auf eine eingehende Prüfung der Sach- und Rechtslage gestützt werden (vgl. Bundesverfassungsgericht <BVerfG>, Beschluss vom 25. Februar 2009 – 1 BvR 120/09 Rn 11). Das Gebot effektiven Rechtsschutzes iSd Art 19 Abs 4 Grundgesetz (GG) verlangt bei Vornahmesachen: je schwerer die Belastungen des Betroffenen wiegen, die mit der Versagung des vorläufigen Rechtsschutzes verbunden sind, umso weniger darf das Interesse an einer vorläufigen Regelung der geltend gemachten Rechtsposition zurückgestellt werden. Betroffen ist vorliegend das Grundrecht der Antragstellerin auf Leben und körperliche Unversehrtheit, Art 2 Abs 2 Satz 1 GG; dem gegenüber steht das Interesse der Versichertengemeinschaft, nicht mit Kosten für eine medizinische Leistung, die nicht den Anforderungen der §§ 2 Abs 1, 12 Abs 1 SGB V entspricht, belastet zu werden. Ist wegen der Eilbedürftigkeit eine vollständige Aufklärung der Sach- und Rechtslage nicht möglich, ist eine Entscheidung durch Folgenabwägung zu treffen.

Dies zu Grunde gelegt, kommt der Senat zu dem Ergebnis, dass der Ausgang des vorläufigen Rechtsschutzverfahrens offen ist und die Folgenabwägung bei glaubhaft gemachtem Anordnungsgrund zu Gunsten der Antragstellerin ausfällt.

Die beantragte (vorläufige) Kostenübernahme ist zunächst – wie auch zwischen den Beteiligten nicht umstritten - nicht mit dem Leistungskatalog der gesetzlichen Krankenversicherung vereinbar, weil Bevacizumab für das Krankheitsbild rezidivierender Glioblastome in Deutschland nicht zugelassen ist.

Der Senat sieht nach derzeitiger Einschätzung in dem einstweiligen Rechtsschutzverfahren auch keinen Anordnungsanspruch nach den vom BSG entwickelten Grundsätzen zum Off-Label-Use (zulassungsüberschreitende Anwendung von Arzneimitteln). Ein Off-Label-Use kommt danach in Betracht, wenn es um die Behandlung einer schwerwiegenden Erkrankung geht, keine andere Therapie verfügbar ist und aufgrund der Datenlage die begründete Aussicht besteht, dass mit dem betreffenden Präparat ein Behandlungserfolg (kurativ oder palliativ) erzielt werden kann (vgl. BSG, Urteil vom 26. September 2006 – B 1 KR 1/06 R). Abzustellen ist dabei auf die Erkenntnisse zum Zeitpunkt der Behandlung. Die Antragstellerin leidet ohne Zweifel an einer lebensbedrohlichen Erkrankung und ist austherapiert. Es fehlt jedoch an den vom BSG geforderten Erfolgsaussichten. Anhaltspunkte für ein Vorliegen der Voraussetzungen nach § 35c SGB V, der die zulassungsüberschreitende Anwendung von Arzneimitteln aufgrund von Empfehlungen des G-BA und im Falle von klinischen Studien regelt, sind nicht ersichtlich. Ansonsten verlangt das BSG bei einem Off-Label-Use nach allgemeinen Grund-sätzen, dass Forschungsergebnisse vorliegen, die erwarten lassen, dass das betroffene Arzneimittel für die relevante Indikation zugelassen werden kann. Es müssen demnach Erkenntnisse in der Qualität einer kontrollierten klinischen Prüfung der Phase III veröffentlich sein und einen klinischen Nutzen bei vertretbaren Risiken belegen. Eine diesen Ansprüchen genügende Phase III-Studie, die aufgrund ihrer Datenlage eine Erfolgsaussicht für Bevacizumab gegen Glioblastome begründet, fehlt hier aber bislang (vgl. zu den Voraussetzungen und dem Stand der Rechtsprechung des BSG: BSG, Urteil vom 13. Dezember 2016 – B 1 KR 10/16 R; BSG, Urteil vom 11. September 2018 – B 1 KR 36/17 R).

Dagegen ist nach Auffassung des Senats offen, ob der Antragstellerin hier ein Anordnungsanspruch nach den Grundsätzen grundrechtsorientierter Leistungsauslegung gemäß § 2 Abs 1a Satz 1 SGB V auf eine Versorgung mit Bevacizumab zusteht. Zwar geht das BSG in der zuvor zitierten Rechtsprechung, auf die sich die Antragsgegnerin in ihrer Beschwerdebegründung ausdrücklich bezieht, insoweit von einer allgemeinen Sperrwirkung des für Bevacizumab gescheiterten Zulassungsverfahrens aus. Zur Begründung verweist das BSG in seinen Entscheidungen auf die Entwicklungsgeschichte, das Regelungssystem des Arzneimittelzulassungsrechts und des SGB V sowie den Regelungszweck und sieht den Wortlaut des § 2 Abs 1a SGB V als dieser Auslegung nicht entgegenstehend an. Die vom BSG gesehene, zwingende Sicherung des Arzneimittelrechts dient dem Schutz von Leben und Gesundheit der Versicherten, nicht außerhalb klinischer Studien die Prinzipien der grundrechtsorientierten Auslegung auszuhebeln bzw. faktisch zu unterlaufen und zu umgehen.

Allerdings stellt das BSG in seinen Entscheidungen maßgeblich auf die Studienlage zum jeweiligen Behandlungszeitpunkt ab. In dem vorläufigen Rechtsschutzverfahren ist daher zu berücksichtigen, dass sich diese Studienlage seit der Beurteilung des Ständigen Ausschusses für Humanarzneimittel der EMA – die sich noch auf den Einsatz von Bevacizumab in Kombination mit Radiotherapie und Temozolomid gegen neu diagnostizierte Glioblastome bezog, wobei der Nutzen in Bezug auf das Gesamtüberleben als Endziel nicht erreicht und eine Verbesserung bei dem progressionsfreien Überleben aufgrund von Einschränkungen in den verfügbaren Methoden zur Messung der Größe der Hirntumore nicht als klinisch relevant betrachtet wurde (vgl. hierzu auch Sächsisches LSG, Beschluss vom 5. Juni 2018 – L 9 KR 223/18 B ER) – ersichtlich geändert hat. Zwar liegen auch weiterhin keine wissenschaftlichen Erkenntnisse in der Qualität einer kontrollierten klinischen Prüfung der Phase III (gegenüber Standard oder Placebo) vor, die einen klinischen relevanten Nutzen bei vertretbarem Risiko für das Gesamtüberleben belegen. Dennoch zeigt sich in den von der Antragstellerin benannten Studien zum Einsatz von Bevacizumab beim Glioblastom, dass dadurch zumindest das progressionsfreie Überleben (PFS – progression-free survival) unter Umständen signifikant verlängert werden kann: die RTOG0825-Studie (Gilbert et al, NEJM 2014) mit Nachweis einer signifikanten PFS-Verlängerung von 7,3 auf 10,7 Monate, AVAglio-Studio (Chinot et al, NEJM 2014) mit Nachweis einer signifikanten PFS-Verlängerung von 6,2 auf 10,6 Monate und GLARIUS-Studie (Herrlinger et al, JCO 2016) mit Nachweis einer signifikanten PFS-Verlängerung von 5,9 auf 9,7 Monate. In die gleiche Richtung weist nach Recherchen des Senats auch eine bereits im November 2017 veröffentlichte Studie in der Qualität einer kontrollierten klinischen Prüfung der Phase III zu Bevacizumab in der Rezidivtherapie eines Glioblastoms (Wick et al, NEJM 2017, 377:1954-63). Bestätigt werden diese gefundenen Ergebnisse durch neuere Studien (Hofmann et al, JNO 2020; Ren et al, Frontiers in Neurology 2021), die sogar darauf hindeuten, dass eine Therapie mit Bevacizumab als Monotherapie bzw. in Kombination mit anderen Wirkstoffen sogar zu einer Verbesserung des Gesamtüberlebens (ggf. für eine bestimmte Patientengruppe) führen könnte.

Ob diese (neue) Studienlage es schon rechtfertigt, von der vom BSG angenommenen Sperrwirkung (ausnahmsweise) abzuweichen, kann vom Senat abschließend erst im Hauptsacheverfahren entschieden werden. Zwar hat das BSG dazu in der Entscheidung vom 11. September 2018 (aaO) ausgeführt, dass allenfalls im Fall der Wiederaufnahme des Zulassungsverfahrens wegen neuerer, veröffentlichter Erkenntnisse in der Qualität von Phase III-Studien die Beendigung der Sperrwirkung einer Nicht-Weiter-Verfolgung des Zulassungsverfahrens zu erwägen wäre. Allerdings handelt es bei diesen Ausführungen um ein obiter dictum und damit um eine eher vorläufige rechtliche Bewertung. Außerdem ist gerade bei dem zulassungsüberschreitenden palliativen Einsatz von Arzneimitteln aus ethischen Gründen nicht damit zu rechnen, dass derartige Studien zur (Wieder-)Aufnahme eines Zulassungsverfahrens überhaupt durchgeführt werden (vgl. SG München, Urteil vom 19. November 2020 – S 15 KR 293/18). Speziell in diesem Bereich könnte daher eine andere rechtliche Bewertung als die bisher von der höchstrichterlichen Rechtsprechung angedeutete geboten sein.    

Unter Berücksichtigung dessen ist es nach Auffassung des Senats nicht ausgeschlossen, dass hier die Voraussetzungen des § 2 Abs 1a Satz SGB V nach den Grundsätzen grundrechtsorientierter Auslegung tatsächlich vorliegen (vgl. in ähnlich gelagerten Fällen einen Anordnungsanspruch bejahend LSG NRW, Beschluss vom 4. August 2021 – L 5 KR 556/21 B ER; Bayerisches LSG, Beschluss vom 26. August 2020 – L 4 KR 325/20 B ER; Sächsisches LSG, Beschluss vom 5. Juni 2018 – L 9 KR 223/18 B ER). Danach können Versicherte mit einer lebensbedrohlichen oder regelmäßig tödlichen Erkrankung, für die eine allgemein anerkannte, dem medizinischen Standard entsprechende Leistung nicht zur Verfügung steht, ausnahmsweise eine Leistung außerhalb des Leistungskatalogs der gesetzlichen Krankenversicherung beanspruchen, wenn eine nicht ganz entfernt liegende Aussicht auf Heilung oder auf eine spürbare positive Einwirkung auf den Krankheitsverlauf besteht. Maßgeblich sind dabei die im jeweiligen Zeitpunkt der Behandlung vorliegenden Erkenntnisse.

Bei der Antragstellerin liegt unstreitig eine lebensbedrohliche Erkrankung vor, weil der Tumor innerhalb kürzester Zeit massiv wachsen, zu allen denkbaren neurologischen und kognitiven Ausfällen führen kann und regelmäßig tödlich endet. Alternative Therapien stehen nicht zur Verfügung. Der klinische Zustand der Antragstellerin ist ausweislich des Arztberichts vom 21. März 2021 noch gut, so dass sie von der begehrten (Arzneimittel-)Therapie profitieren kann. Zudem wird der Antragstellerin zumindest im Hinblick auf das progressionsfreie Überleben ein Behandlungserfolg prognostiziert, was die oben angeführten älteren als auch neueren Studien aufzeigen. Insofern kann aufgrund der derzeitig vorliegenden Forschungsergebnisse eine spürbar positive Einwirkung auf den Krankheitsverlauf jedenfalls im Hinblick auf das progressionsfreie Überleben nicht ausgeschlossen werden.

Angesichts der Komplexität der Studienlage zur Anwendung von Bevazicumab bei Glioblastomen sowie der durch die genannte Rechtsprechung des BSG sich bei der Anwendung von § 2 Abs 1a SGB V stellenden rechtlichen Fragen ist eine der drohenden Grundrechtsverletzung entsprechende Klärung der Sach- und Rechtslage im Eilverfahren nicht möglich und der Senat nimmt eine Folgenabwägung vor. Der Senat wertet im Rahmen der Folgenabwägung das Interesse der Antragstellerin an der Kostenübernahme des Fertigarzneimittels Bevacizumab zur Behandlung bzw. Vermeidung der Verschlechterung des Krankheitsbildes bzw. Allgemeinzustandes schwerer als das Interesse der Antragsgegnerin, vorläufig nicht mit teuren Leistungen für nicht anerkannte Behandlungsmethoden in Anspruch genommen zu werden. Die rein wirtschaftlichen Belange müssen hier hinter den Belangen aus Art 2 Abs 2 Satz 1 GG zurückstehen.

Der Entscheidung des Senats steht dabei nicht entgegen, dass die Antragsgegnerin die Kostenübernahme für eine Behandlung mit einem ebenfalls nicht zugelassenen Medikament – Regorafenib – auf Antrag der Antragstellerin bewilligt hat. Anhaltspunkte für einen höheren Nutzen dieses Medikaments konnten im Rahmen des Eilrechtsverfahrens nicht ausgemacht werden und wurden auch von der Antragsgegnerin nicht vorgetragen.

Wegen der besonderen Dringlichkeit hat die Antragstellerin auch einen Anordnungsgrund glaubhaft gemacht. Sie benötigt weiterhin umgehende medizinische Versorgung, die von den behandelnden Ärzten aufgrund der bereits ausgeschöpften vom Leistungskatalog der gesetzlichen Krankenversicherung umfassten Therapieoptionen in einer Behandlungsmöglichkeit mit Bevacizumab gesehen wird und keinen Aufschub toleriert.

Die Kostenentscheidung beruht auf § 193 Abs 1 Satz 1 SGG in entsprechender Anwendung und folgt dem Ausgang des Beschwerdeverfahrens in der Sache.

Dieser Beschluss ist gemäß § 177 SGG unanfechtbar.

Rechtskraft
Aus
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