S 6 R 117/19

Land
Hessen
Sozialgericht
SG Frankfurt (HES)
Sachgebiet
Rentenversicherung
1. Instanz
SG Frankfurt (HES)
Aktenzeichen
S 6 R 117/19
Datum
2. Instanz
-
Aktenzeichen
-
Datum
-
3. Instanz
-
Aktenzeichen
-
Datum
-
Kategorie
Urteil
Leitsätze

1. Zur Berechnung der Rentenhöhe einer Erwerbsminderungsrente bei Versicherungszeiten in einem anderen Mitgliedsstaat der Europäischen Union nach der Verordnung (EG) 883/2004; zusätzlich: Anspruch auf Ausgleich des Wegfalls einer durch die österreichische Pensionsversicherungsanstalt gewährten Berufsunfähigkeitspension ab dem 1. Januar 2015 durch Zahlung einer höheren Erwerbsminderungsrente nach § 43 SGB VI.

2. Das Recht der Koordinierung der Systeme der sozialen Sicherheit (u.a. VO (EG) 883/2004 und VO (EU) 987/2009) sieht keine Gewährung einer einzelnen Leistung bei Invalidität duch einen einzelnen Mitgliedsstaat (bspw. des Wohnsitzes) vor, sondern mehrere Leistungen, erbracht durch jeden Mitgliedsstaat, in welchem Versicherungszeiten zurückgelegt worden sind.

3. Versicherungszeiten, die in einem anderen Mitgliedsstaat der Europäischen Union zurückgelegt worden sind, sind bei der Prüfung der versicherungsrechtlichen Voraussetzungen zur Gewährung einer Erwerbsminderungsrente nach Art. 6 und Art. 45 der VO (EG) 883/2004 wie solche Versicherungszeiten zu behandeln, die in Deutschland zurückgelegt worden sind.

4. Die Höhe einer nach deutschem Recht zu gewährenden Erwerbsminderungsrente ergibt sich nicht aus allen in den verschiedenen Mitgliedsstaaten zurückgelegten Versicherungszeiten, sondern ist nach Art. 52 VO (EG) 883/2004 anteilig nach dem Verhältnis der Versicherungszeiten nach deutschem Recht zu den insgesamt in allen Mitgliedsstaaten zurückgelegten Versicherungszeiten zu berechnen.

5. Bezieht eine Person sowohl Erwerbsminderungsrente nach deutschem Recht als auch eine Berufsunfähigkeitspension nach österreichischem Recht und entfällt letztere aufgrund einer Strukturreform des österreichischen Systems (Einführung des Rehabilitationsgeldes bei befristeter Erwerbsminderung durch die österreichische Krankenversicherung), hat die betroffene Personen gegen den zuständigen deutschen Träger der Rentenversicherung keinen Anspruch auf Gewährung einer höheren Erwerbsminderungsrente ab dem Zeitpunkt des Wegfalls der österreichischen Berufsunfähigkeitsrente; hierbei ist es unerheblich, ob die Erwerbsminderungsrente nach § 43 SGB VI als Leistung bei Invalidität nach Art. 3 Abs. 1 c) i.V.m. Art. 44 f. VO (EG) 883/2004 oder als Leistung bei Krankheit nach Art. 3 Abs. 1 a) i.V.m. Art. 17 f. VO (EG) 883/2004 zu beurteilen ist. 
 

Die Klage wird abgewiesen.

Die Beteiligten haben einander keine Kosten zu erstatten.

Tatbestand

Die Beteiligten streiten im Rahmen eines Überprüfungsverfahrens über die Gewährung einer höheren Erwerbsminderungsrente aufgrund von Beitragszeiten im österreichischen Rentenversicherungssystem. 

Der 1970 geborene Kläger stand vom 1. Oktober 2001 bis 15. Oktober 2003 in einem Arbeitsverhältnis, aufgrund dessen wegen des Arbeitsortes in Österreich Beiträge an die österreichische Pensionsversicherungsanstalt abgeführt und entsprechende Versicherungszeiten in das bei der österreichischen Pensionsversicherungsanstalt geführte Konto des Klägers gespeichert wurden. Vor und nach dieser Tätigkeit war der Kläger in Deutschland tätig, weswegen Rentenversicherungszeiten in das bei der Beklagten geführte Konto gespeichert wurden.

Der Kläger beantragte bei der Beklagten im September 2013 eine Rente wegen Erwerbsminderung. Nach Durchführung von Ermittlungen wurde ein Leistungsvermögen auf dem allgemeinen Arbeitsmarkt von unter drei Stunden festgestellt.

Daraufhin bewilligte die Beklagte dem Kläger eine Rente wegen voller Erwerbsminderung mit Bescheid vom 26. Juni 2014 ab 1. Oktober 2013 befristet bis 30. September 2016 (Bl. 520 ff. VA). In der Anlage 2 zum Bescheid wurde der Versicherungsverlauf abgedruckt, in welchem für den Zeitraum 1. Oktober bis 31 Oktober 2001 eine Pflichtbeitragszeit, verdrängt, vom 1. Oktober 2001 bis 17. Oktober 2001 ein Monat Pflichtbeitragszeit, sowie vom 1. November 2001 bis 30. November 2003 25 Monate Pflichtbeitragszeit in Österreich aufgeführt wurden. In Anlage 3 wurde die Berechnung der Entgeltpunkte für Beitragszeiten dargestellt, wobei für ausländische Beitragszeiten für 25 Monate i.H.v. 3,0975 Entgeltpunkten angegeben wurden. In Anlage 4 wurde eine innerstaatliche Berechnung und eine so genannte zwischenstaatliche Berechnung der Rente vorgenommen, woraus sich nach Anlage 6 nach der innerstaatlichen Berechnung insgesamt 41,8327 Persönliche Entgeltpunkte sowie für die zwischenstaatliche Berechnung Persönliche Entgeltpunkte i.H.v. 41,8726 ergaben. Letztere wurden der Berechnung der Rente zugrunde gelegt.

Zugleich beantragte der Kläger bei der österreichischen Pensionsversicherungsanstalt eine Rente wegen Erwerbsminderung. Mit Bescheid vom 10. Juli 2014 bewilligte die Pensionsversicherungsanstalt dem Kläger eine Berufsunfähigkeitspension für den Zeitraum 1. November 2013 bis 31. Dezember 2014 i.H.v. 222,93 € monatlich (Bl. 256 f VA). Den Weiterbewilligungsantrag lehnte die Pensionsversicherungsanstalt mit Bescheid vom 3. November 2014 ab. Es liege keine dauerhafte Berufsunfähigkeit vor. Maßnahmen der medizinischen Rehabilitation seien nicht zweckmäßig, für die Dauer der vorübergehenden Berufsunfähigkeit bestehe Anspruch auf Rehabilitationsgeld aus der Krankenversicherung. Da der Kläger offensichtlich nicht der österreichischen Krankenversicherung unterliege, solle er sich an den für ihn zuständigen ausländischen Sozialversicherungsträger wenden (Bl. 267 f. VA). Die Bescheide der Pensionsversicherungsanstalt wurden bestandskräftig.

Mit E-Mail vom 13. November 2014 brachte der Kläger diese Ablehnung der Beklagten zur Kenntnis und bat um Prüfung der Sach- und Verfahrenslage hinsichtlich seines Leistungsanspruchs. Mit Bescheid vom 13. Januar 2015 lehnte die Beklagte den Antrag „vom 07.01.2015 auf Leistungen zur medizinischen Rehabilitation“ ab (Bl. 289 ff. VA). Der Kläger sei erwerbsgemindert und beziehe eine Rente. Die Erwerbsfähigkeit könne durch Leistungen zur medizinischen Rehabilitation nicht in absehbarer Zeit wesentlich gebessert oder wiederhergestellt werden. Hiergegen erhob der Kläger am 29. Januar 2015 Widerspruch und verwies darauf, dass sein Anspruch auf Rehabilitationsgeld bereits durch die Pensionsversicherungsanstalt festgestellt worden sei. Er verweise auf Art. 2, 3, 11 und 21 der Verordnung (EG) Nr. 883/04. Mit Widerspruchsbescheid vom 9. Juni 2015 wies die Beklagte den Widerspruch zurück. Die hiergegen erhobene Klage wurde mit Urteil des Sozialgerichts Frankfurt a.M. vom 15. Januar 2018 abgewiesen (S 6 R 535/15). Die Berufung blieb erfolglos (Hessisches LSG Urt. v. 30.10.2018 – L 2 R 122/18). Die Nichtzulassungsbeschwerde wurde durch das Bundessozialgericht mit Beschluss vom 18. Dezember 2019 als unzulässig verworfen (Az. B 13 R 340/18 B).

Aufgrund mitgeteilten Hinzuverdienstes des Klägers durch eine selbständige Tätigkeit stellte die Beklagte mit Bescheid vom 22. Juli 2015 die Rentengewährung ab dem 1. Juni 2015 ein (Bl. 313 f. VA). Seit Aufgabe der Tätigkeit mit Ablauf des 31. Dezember 2015 wird die Rente durch den Kläger erneut bezogen.

Die Beklagte verlängerte die bis 30. September 2016 befristete Rente auf Weiterbewilligungsanträge des Klägers zunächst bis zum 31. Oktober 2016 (Bescheid v. 22.9.2016, Bl. 481 f. VA), zuletzt bis zum 30. September 2018 (Bescheid v. 28.10.2016, Bl. 504 f. VA). Den gegen den Bescheid vom 28. Oktober 2016 erhobenen Widerspruch wies die Beklagte mit Widerspruchsbescheid vom 16. April 2018 zurück (Bl. 507 90 ff. VA). Der Bescheid enthalte keine Feststellungen von Rentenzeiten, sondern nur eine Entscheidung über die Weitergewährung der Erwerbsminderungsrente. Die hiergegen erhobene Klage vor dem Sozialgericht Frankfurt am Main (Az. S 6 R 202/18 bzw. nach Wiederaufruf nach Ruhen des Verfahrens S 6 R 278/20) nahm der Kläger zurück.

Mit am 17. Dezember 2018 eingegangenen Schreiben beantragte der Kläger die Überprüfung des Bescheids vom 26. Juni 2014. Die Versicherungsbeiträge in der österreichischen Pensionsversicherungsanstalt seien bei der Höhe der nach deutschem Recht gewährten Rente zu berücksichtigen. Dass er keine Leistungen aus diesen Zeiten erhalte, widerspreche dem Grundgesetz sowie dem europäischen Recht.

Die Beklagte lehnte den Überprüfungsantrag ab. Der Bescheid vom 26. Juni 2014 sei rechtmäßig, auch sei von einem richtigen Sachverhalt ausgegangen worden. Eine Übernahme ausländischer Versicherungszeiten in die deutsche Versicherungslast und Zahlung einer deutschen Rente aus diesen Zeiten sei in den Vorschriften der Verordnung (EG) Nr. 883/2004 nicht vorgesehen. Die ausländischen Versicherungszeiten würden lediglich für die Erfüllung der Wartezeit sowie für die zwischenstaatliche Rentenberechnung berücksichtigt. Die Berechnung entspreche Art. 52 Abs. 1 lit. a VO (EG) Nr. 883/2004. Bezüglich des Klägers sei die zwischenstaatliche Berechnung günstiger als die rein innerstaatliche Berechnung, weswegen die Rente nach der zwischenstaatlichen Berechnung gewährt werde (Bescheid v. 9.1.2019, Bl. 676 ff. VA; Widerspruchsbescheid v. 13.3.2019, Bl. 697 ff. VA).

Hiergegen hat der Kläger am 20. März 2019 Klage am Sozialgericht Frankfurt am Main erhoben.

Der Kläger trägt vor, dass es ihm in der Sache darum gehe, dass die Beklagte die Versicherungszeiten in Österreich bei der Feststellung der Erwerbsminderungsrente in Deutschland der Höhe nach berücksichtige und ihm ab 1. Januar 2015 monatlich weitere 222,93 € Rentenleistung gewähre. Er bekomme aus den in Österreich gezahlten Beiträgen keinen finanziellen Ausgleich, was der europäischen Rechtslage widerspreche (Art. 18, 28 VO (EWG) Nummer 1408/17). Ein Rentner, der in Deutschland seinen ständigen Wohnsitz habe, könne nicht gezwungen werden, seine Rechte in Österreich geltend zu machen (Art. 29 VO 574/2009). Nach Art. 4, 23, 29 VO (EG) Nr. 883/2004, habe er einen Anspruch auf die höhere Rente. Die deutschen Regelungen zur Erwerbsminderungsrente verletzten Unionsrecht, da die Gleichbehandlung der Personen nach den verschiedenen nationalen Rechtsvorschriften nicht erreicht würde. Das Gericht sei verpflichtet, die Frage, ob die deutsche Erwerbsminderungsrente eine Invaliditätsrente sei und ob diese im Anhang VI aufgeführt werden müsse, dem EuGH vorzulegen.
Der Kläger beantragt,

die Beklagte zu verurteilen, den Bescheid vom 26.6.2014 sowie den Bescheid vom 9.1.2019 in Gestalt des Widerspruchsbescheids vom 13.3.2019 aufzuheben und dem Kläger eine Rente unter Berücksichtigung der in Österreich bezahlten Beiträge zu gewähren.

Die Beklagte beantragt,

die Klage abzuweisen.

Sie bezieht sich hinsichtlich ihres Vortrags auf die Ausführungen im Bescheid und Widerspruchsbescheid.

Die Beklagte hat mit Schriftsatz vom 6. Mai 2020, der Kläger mit Schriftsatz vom 20. Oktober 2020 eine Entscheidung ohne mündliche Verhandlung zugestimmt.

Wegen der weiteren Einzelheiten des Sach- und Streitstandes wird auf den Inhalt der Gerichtsakten im hiesigen sowie in den Verfahren S 6 R 535/15 und S 6 R 278/20 sowie der beigezogenen Verwaltungsakte der Beklagten ergänzend Bezug genommen.


Entscheidungsgründe

Die Kammer konnte den Rechtsstreit ohne mündliche Verhandlung gemäß § 124 Abs. 2 Sozialgerichtsgesetz (SGG) entscheiden, da sich die Beteiligten hiermit einverstanden erklärt haben.

Das Gericht legt den wörtlich gestellten Antrag des Klägers in verständiger Würdigung des klägerischen Vortrags nach § 123 SGG aus. Das Gericht entscheidet gemäß § 123 SGG über die vom Kläger erhobenen Ansprüche, ohne an die Fassung der Anträge gebunden zu sein. Bei der Auslegung ist der für das Gericht und die anderen Beteiligten erkennbare Klagevortrag einschließlich der Verwaltungsvorgänge heranzuziehen (vgl. Schmidt in: Meyer-Ladewig et. al., SGG, 13. Aufl. 2020, § 92 Rn. 12 m.w.N.). Es gilt der sog. Grundsatz der Meistbegünstigung. Zur Bezeichnung genügt damit im Wesentlichen das, was für die Abgrenzung des Streitgegenstandes ausreicht. Dabei ist unter Streitgegenstand der prozessuale Anspruch zu verstehen, nämlich das vom Kläger auf Grund eines bestimmten Sachverhalts an das Gericht gerichtete Begehren der im Klageantrag bezeichneten Entscheidung (vgl. Schmidt in: Meyer-Ladewig et. al., SGG, 13. Aufl. 2020, § 95 Rn. 4 und § 99 Rn. 2).

Nach diesen Grundsätzen verfolgt der Kläger das Ziel, die Beklagte unter Aufhebung des im Überprüfungsverfahren ergangenen Bescheids vom 9. Januar 2019 in Gestalt des Widerspruchsbescheids vom 13. März 2019 zu verpflichten, den Rentenbescheid vom 26. Juni 2014 sowie die nachfolgenden Weiterbewilligungsbescheide vom 22. September 2016 und 28. Oktober 2016 dahingehend abzuändern, dass die Rentenhöhe um die weggefallene Berufsunfähigkeitsrente nach österreichischem Recht ab 1. Januar 2015 erhöht und entsprechend an den Kläger geleistet wird. Statthafte Klageart ist die kombinierte Anfechtungs-, Verpflichtungs- und Leistungsklage nach §§ 54 Abs. 1 und 4, 56 SGG. Eine unmittelbare Anfechtung des ursprünglichen Bescheids vom 26. Juni 2014 im Klageverfahren ist nicht möglich (vgl. BSG Urt. v. 25.1.1994 - 4 RA 20/92; Urt. v. 18.5.2010 - B 7 AL 49/08; Urt. v. 4.9.2001 - B 7 AL 84/00 R; Urt. v. 24.7.2003 - B 4 RA 62/02 R; Urt. v. 29.9.2009 - B 8 SO 16/08 R; Urt. v. 9.6.2011 - B 8 AY 1/10 R; Urt. v. 10.11.2011 - B 8 SO 12/10 R; Urt. v. 11.4.2013 - B 2 U 34/11 R; Urt. v. 13.2.2014 - B 4 AS 22/13 R). 

Die zulässige Klage ist unbegründet. Der Kläger hat keinen Anspruch auf Änderung des Bescheids vom 26. Juni 2014 hinsichtlich der Rentenhöhe ab 1. Januar 2015 durch die Beklagte und Leistung einer höheren Erwerbsminderungsrente ab diesem Zeitpunkt. Der Bescheid vom 9. Januar 2019 in Gestalt des Widerspruchsbescheids vom 13. März 2019 ist rechtmäßig und verletzt den Kläger nicht in seinen Rechten.

Ein Anspruch ergibt sich weder aus § 48 Abs. 1 S. 2 Nr. 1 Zehntes Sozialgesetzbuch (SGB X), noch aus § 44 Abs. 1 SGB X.

§ 48 Abs. 1 SGB X bestimmt: Soweit in den tatsächlichen oder rechtlichen Verhältnissen, die beim Erlass eines Verwaltungsaktes mit Dauerwirkung vorgelegen haben, eine wesentliche Änderung eintritt, ist der Verwaltungsakt mit Wirkung für die Zukunft aufzuheben. Der Verwaltungsakt soll mit Wirkung vom Zeitpunkt der Änderung der Verhältnisse aufgehoben werden, soweit die Änderung zugunsten des Betroffenen erfolgt.

Der Wegfall der durch die österreichische Pensionsversicherungsanstalt gewährten Berufsunfähigkeitsrente ab 1. Januar 2015 ist kein tatsächliches Verhältnis, das eine Änderung i.S.d. § 48 ABs. 1 S. 1 SGB X begründet. Denn der Bezug dieser Leistung ist keine Voraussetzung für die Gewährung einer Erwerbsminderungsrente nach § 43 Sechstes Sozialgesetzbuch.

Nach § 44 SGB X ist ein Verwaltungsakt, auch nachdem er unanfechtbar geworden ist, mit Wirkung für die Vergangenheit zurückzunehmen, soweit sich im Einzelfall ergibt, dass bei Erlass eines Verwaltungsaktes das Recht unrichtig angewandt oder von einem Sachverhalt ausgegangen worden ist, der sich als unrichtig erweist, und soweit deshalb Sozialleistungen zu Unrecht nicht erbracht oder Beiträge zu Unrecht erhoben worden sind. Dies ist aus der subjektiven Sichtweise des Antragstellers zu beurteilen (vgl. Heße in:BeckOK SozR, Stand: 1.9.2017, § 44 SGB X Rn. 13). Hierbei kann ein Leistungen gewährender Bescheid dann dennoch belastend sein, wenn er keine höheren Leistungen gewährt (BSGE 84, 281, 285; s. auch BSGE 70, 117).

Nach diesen Grundsätzen liegt aus Sicht des Klägers der Fall eine zu niedrig berechnete Erwerbsminderungsrente und damit eine nicht erbrachte Sozialleistung (spätestens) ab 1. Januar 2015 vor.

Der Bescheid vom 26. Juni 2014 ist jedoch rechtmäßig. Die Rente ist entsprechend der anzuwendenden rechtlichen Vorgaben zutreffend berechnet. Die Höhe der dem Kläger nach § 43 Abs. 2 S. 1 SGB VI grundsätzlich zustehenden Erwerbsminderungsrente nach deutschem Recht richtet sich gemäß §§ 63 Abs. 6, 64 SGB VI nach dem aktuellen Rentenwert, der Anzahl der Entgeltpunkte und dem Zugangsfaktor. Persönliche Entgeltpunkte werden nach § 66 Abs. 1 SGB VI in Abhängigkeit der Beitragszeiten, beitragsfreien Zeiten, Zuschlägen für beitragsgeminderten Zeiten sowie weiteren Zuschlägen unter Heranziehung des Zugangsfaktors ermittelt. Aufgrund der in einem anderen Mitgliedsstaat der Europäischen Union (Österreich) zurückgelegten rentenrechtlich zu berücksichtigenden Versicherungszeiten hatte die Beklagte die Regelungen der Verordnung (EG) Nr. 883/2004 des Europäischen Parlaments und des Rates vom 29. April 2004 zur Koordinierung der System der sozialen Sicherheit sowie der nach deren Art. 89 erlassenen Durchführungsverordnung (EU) Nr. 987/2009, beide gültig seit 1. Mai 2010 (vgl. Art. 91 S. 2 VO (EG) 883/2004 i.V.m. Art. 97 VO (EU) 987/2009) zusätzlich zur Berechnung der Erwerbsminderungsrente des Klägers heranzuziehen. Die durch den Kläger zitierte VO (EWG) 1401/70 ist auf den vorliegenden Fall aufgrund der neuen Koordinierungsverordnung (EG) 883/2004 nicht anzuwenden. Für das Gericht sind hierbei Fehler im Bescheid vom 26. Juni 2014 nicht ersichtlich.

Da die deutsche Erwerbsminderungsrente nicht im Anhang VI zu Art. 44 Abs. 1 VO (EG) 883/2004 aufgeführt ist, richtet sich die Berechnung der Erwerbsminderungsrente als Leistung bei Invalidität nach Art. 46 Abs. 1 und 3, Art. 50 f. VO (EG) 883/2004. Soweit der Kläger vorträgt, die Nichtaufführung der deutschen Erwerbsminderungsrente im Anhang führe zur Unionsrechtswidrigkeit des deutschen Systems der Erwerbsunfähigkeitsrente, folgt das Gericht dem nicht. Denn die in Anhang VI zu bezeichnenden Invaliditätsleistungen sind ausweislich des Wortlauts des Art. 44 Abs. 1 VO (EG) 883/2004 lediglich solche, die unabhängig von der Erfüllung bestimmter Wohn- oder Vorversicherungszeiten sind. Dies ist bei der Erwerbsminderungsrente nach § 43 Abs. 1, Abs. 2 SGB VI aufgrund der notwendigen Erfüllung der allgemeinen Wartezeit sowie der 3/5-Belegung vor Eintritt der Erwerbsminderung offensichtlich nicht gegeben.

Die in der österreichischen Pensionsversicherungsanstalt gespeicherten rentenrechtlichen Zeiten hat die Beklagte zunächst entsprechend Art. 6 und 45 VO (EG) 883/2004 bei der Prüfung der Erfüllung der Wartezeit („Erwerb“ i.S.d. Art. 45 VO (EG) 883/2004) dergestalt als Versicherungszeiten berücksichtigt, als ob es sich um Versicherungszeiten handelt, die nach deutschen Recht zurückgelegt worden sind.

Die weitere Berechnung der Rentenhöhe entspricht sodann den Vorgaben nach Art. 46 Abs. 1 und 3, Art. 51 f. VO (EG) 883/2004 i.V.m. Art. 43 f. VO (EU) 987/2009 bzgl. des Verfahrensablaufs und Austauschs zwischen den zuständigen Rentenversicherungsträgern. „Zuständiger Träger“ i.S.d. Art. 45, 50 f. VO (EG) 883/2004 ist hierbei nach Art. 1 lit. q) ii) jeder Träger der Mitgliedsstaaten, indem die betroffene Person einen Anspruch auf Leistungen bei Invalidität geltend machen kann. Entsprechend Art. 47 Abs. 4 – 6, 48 Abs. 1 VO (EU) 987/2009 hat der Kläger auf seinen Antrag bei der Beklagten im September 2013 hin von den in Betracht kommenden Trägern (Pensionsversicherungsanstalt und Beklagte) unterschiedliche Bescheide und sodann Leistungen erhalten.

Die Beklagte hat ausweislich des Rentenbescheids vom 26. Juni 2014 die Berechnung nach Art. 52 Abs. 1 lit. a) und b) vorgenommen. Hierbei hat sie in den Anlagen 4 und 6 des Bescheids eine autonome Leistung nach Art. 52 Abs. 1 lit. a) (innerstaatliche Berechnung) und eine anteilige Leistung nach Art. 52 Abs. 1 lit. b) (zwischenstaatliche Berechnung) aufgeführt, wobei die anteilige Leistung einen höheren Wert an Persönlichen Entgeltpunkten und hieraus eine höhere Rente ergab. Auf dessen Grundlage hat die Beklagte sodann Art. 52 Abs. 3 VO (EG) 883/2004 entsprechend an den Kläger geleistet. Eine über Art. 52 VO (EG) 883/2004 hinausgehende Berücksichtigung von versicherungsrechtlichen Zeiten aus anderen Mitgliedsstaaten bei der Berechnung der Leistungshöhe sieht das Unionsrecht nicht vor. Insbesondere für die vom Kläger begehrte Erhöhung der deutschen Erwerbsminderungsrente durch Addition der weggefallenen Berufsunfähigkeitsrente der österreichischen Pensionsversicherungsanstalt ab 1. Januar 2015 fehlt es an einer Rechtsgrundlage in der VO (EG) 883/2004. Wie oben ausgeführt, sieht das in der Verordnung geregelte Koordinierungsrecht lediglich eine gegenseitige Berücksichtigung von versicherungsrechtlichen Zeiten, jedoch nicht der sich nach den unterschiedlichen mitgliedstaatlichen Regelungen ergebenden Zahlbeträgen vor. Die in Art. 52 Abs. 1 lit. a) und b) VO (EG) 883/2004 geregelte Berechnungsmethode ist gerade Ausdruck der systematischen Entscheidung des Koordinierungsrechts, dass jeder Mitgliedsstaat Leistungen nach den Kapiteln 4 und 5 lediglich in der Höhe erbringt, die mit national zurückgelegten Zeiten in Zusammenhang stehen. Das Koordinierungsrecht sieht gerade nicht die Leistung einer einzelnen Rente durch einen einzelnen mitgliedstaatlichen Träger, errechnet aus allen im Unionsgebiet zurückgelegten Beitragszeiten vor. Es ist dementsprechend auch nicht Aufgabe eines Mitgliedsstaates, die Nichtleistung einer Invaliditätsleistung oder Altersrente durch einen anderen Mitgliedsstaat auszugleichen. Hierfür wäre eine Vollharmonisierung der Sozialleistungssysteme der Mitgliedsstaaten erforderlich, die nach dem derzeitigen Stand des Unionsrechts jedoch nicht möglich ist (vgl. u.a. Art. 153 Abs. 4 AEUV).

Ein weitergehender Anspruch auf Berücksichtigung der österreichischen Zeiten bei der Berechnung der deutschen Erwerbsminderungsrente ergibt sich auch nicht nach Art. 5 VO (EG) 883/2004. Denn die Regelung geht nicht weiter, als die in Art. 6 und 45, sowie in den weiteren Spezialregelungen aufgeführten Anrechnungsmöglichkeiten. Ausweislich des 10. Erwägungsgrundes sollte der Grundsatz, dass bestimmte Sachverhalte oder Ereignisse, die im Hoheitsgebiet eines anderen Mitgliedstaats eingetreten sind, so zu behandeln sind, als ob sie im Hoheitsgebiet des Mitgliedstaats, dessen Rechtsvorschriften Anwendung finden, eingetreten wären, jedoch nicht zu einem Widerspruch mit dem Grundsatz der Zusammenrechnung von Versicherungszeiten, Beschäftigungszeiten, Zeiten einer selbstständigen Erwerbstätigkeit oder Wohnzeiten, die nach den Rechtsvorschriften eines anderen Mitgliedstaats zurückgelegt worden sind, mit Zeiten, die nach den Rechtsvorschriften des zuständigen Mitgliedstaats zurückgelegt worden sind, führen. Zeiten, die nach den Rechtsvorschriften eines anderen Mitgliedstaats zurückgelegt worden sind, sollten deshalb nur durch die Anwendung des Grundsatzes der Zusammenrechnung der Zeiten berücksichtigt werden.

Eine Diskriminierung des Klägers durch die Beklagte nach Art. 4 VO (EG) 883/2004 ist nicht ersichtlich. Eine mögliche Diskriminierung des Klägers durch die Umgestaltung des österreichischen Leistungssystems bei Berufsunfähigkeit ist der Beklagten nicht zuzurechnen (vgl. eine Diskriminierung verneinend EuGH Urt. v. 5.3.2020 – C-135/19).

Ein gegenüber der VO (EG) 883/2004 nach Art. 8 Abs. 1 S. 2 oder S. 3 i.V.m. Anhang II vorrangig anzuwendendes Sozialversicherungsabkommen zwischen der Bundesrepublik Deutschland und der Republik Österreich ist nicht ersichtlich.

Einer Vorlage des vorliegenden Verfahrens nach Art. 267 Abs. 2 AEUV an den EuGH bezüglich der Frage, welche Art von Leistung die deutsche Erwerbsminderungsrente darstellt, Art. 3 Abs. 1 lit. a (Leistungen bei Krankheit) oder Art. 3 Abs. 1 lit. c) VO (EG) 883/2004, war nicht erforderlich i.S.d. § 267 Abs. 2 AEUV für die Entscheidung des Gerichts. Denn der vom Kläger geltend gemachte Anspruch ergibt sich nicht aus den durch den Kläger herangezogenen Koordinierungsvorschriften über Leistungen wegen Krankheit (Art. 17 f., insb. Art. 29 VO (EG) 883/2004). Diese bestimmen lediglich den leistenden Träger, wenn der zuständige Mitgliedsstaat nach Art. 11 f. VO (EG) 883/2004 und der Wohnmitgliedsstaat auseinanderfallen oder mehrere zuständige Mitgliedsstaaten in Betracht kommen. Die durch den Kläger explizit herangezogenen Art. 29 i.V.m. Art. 23 VO (EG) 883/2004 bestimmen, dass für Geldleistungen als Leistung bei Krankheit an Rentner, die von zwei oder mehr Mitgliedsstaaten eine Rente erhalten, wovon einer der Wohnmitgliedsstaat ist, und die Anspruch auf Leistungen nach den Rechtsvorschriften dieses Mitgliedsstaates haben, allein der Wohnmitgliedsstaat für die Leistung zuständig ist. Ob die Erwerbsunfähigkeitsrente nach deutschem Rechte eine Leistung bei Krankheit darstellt, kann daher dahinstehen, da auch diese Vorschriften keine Vorgaben hinsichtlich der Berechnung einer solchen Leistung machen.

Darüber hinaus bedarf es keiner Vorlage an den EuGH hinsichtlich der allgemein gehaltenen Behauptung des Klägers, das deutsche System der Erwerbsminderungsrente würde dem Unionsrecht widersprechen. Denn aus dem Unionsrecht ergeben sich mangels Harmonisierungskompetenz keine Vorgaben hinsichtlich der Ausgestaltung der nationalen Sozialversicherungssysteme. Lediglich die Anwendung der durch die Mitgliedsstaaten national getroffenen Entscheidungen hinsichtlich Leistungsarten und Leistungsumfang wird durch die Koordinierungsvorschriften beeinflusst.

Die Kostenentscheidung folgt aus § 193 SGG und entspricht dem Ausgang des Verfahrens.

Das zulässige Rechtsmittel der Berufung folgt aus §§ 143 ff. SGG.

Rechtskraft
Aus
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