L 9 AY 14/21 ER

Land
Schleswig-Holstein
Sozialgericht
Schleswig-Holsteinisches LSG
Sachgebiet
Asylbewerberleistungsgesetz
Abteilung
9
1. Instanz
SG Schleswig (SHS)
Aktenzeichen
S 15 AY 55/20 ER
Datum
2. Instanz
Schleswig-Holsteinisches LSG
Aktenzeichen
L 9 AY 14/21 B ER
Datum
3. Instanz
-
Aktenzeichen
-
Datum
-
Kategorie
Beschluss
Leitsätze

1. Begeben sich Ausländer in ein offenes Kirchenasyl, um auf diese Weise das Verstreichen der sechsmonatigen Überstellungsfrist nach der Dublin-III-Verordnung zu bewirken (dolus directus ersten Grades), liegt darin regelmäßig eine rechtsmissbräuchliche Beeinflussung der Aufenthaltsdauer i.S des § 2 Abs. 1 Satz 1 AsylbLG.

2. Dass die Ausländerbehörde das Kirchenasyl respektiert und währenddessen keine aufenthaltsbeendenden Maßnahmen vollzieht, steht der Rechtsmissbräuchlichkeit des Handeln der Zufluchtsuchenden nicht prinzipiell entgegen.

3. Zwischen den Kirchen und dem BAMF getroffene Vereinbarungen zu Zielen und Modalitäten des offenen Kirchenasyls vermögen für sich genommen die Rechtsmissbräuchlichkeit des Handelns allenfalls so lange auszuschließen, wie sich die Zufluchtsuchenden innerhalb des durch die Vereinbarungen vorgegebenen Rahmens bewegen.

Auf die Beschwerde des Antragsgegners wird der Beschluss des Sozialgerichts Schleswig vom 8. Januar 2021 dahingehend geändert, dass der Antrag der Antragstellerin zu 1. auf Erlass einer einstweiligen Anordnung abgelehnt wird.

Außergerichtliche Kosten sind der Antragstellerin zu 1. für beide Rechtszüge nicht zu erstatten.

Der Antragstellerin zu 1. wird für das Beschwerdeverfahren Prozesskostenhilfe ohne Ratenzahlungsverpflichtung bewilligt und Rechtsanwalt __________________________________________________ als Prozessbevollmächtigter beigeordnet.

Gründe:

I.

Die Beteiligten streiten im Beschwerdeverfahren noch darüber, ob die Antragstellerin zu 1. vorläufig die Zahlung von Analogleistungen nach § 2 Abs. 1 Asylbewerberleistungsgesetz (AsylbLG) verlangen kann.

Die 1982 geborene Antragstellerin zu 1. ist marokkanische Staatsangehörige. Nachdem sie in der Vergangenheit bereits aus Deutschland abgeschoben und mit einem Einreise- und Aufenthaltsverbot belegt worden war, reiste sie letztmalig am 18. März 2019 mit ihren beiden 2007 und 2009 geborenen Kindern – den Antragstellern zu 2. und 3. – erneut in das Bundesgebiet ein und hält sich seither im Bundesgebiet auf. Den am 4. April 2019 gestellten (weiteren) Asylantrag lehnte das Bundesamt für Migration und Flüchtlinge (BAMF) mit Bescheid vom 24. April 2019 als unzulässig ab und ordnete die Abschiebung nach Frankreich an.

Nach erfolgloser Durchführung eines verwaltungsgerichtlichen Eilverfahrens beim Schleswig-Holsteinischen Verwaltungsgericht (Az. 5 B 28/19), welches mit Beschluss vom 12. Juni 2019 beendet worden war, begaben sich die Antragsteller am 28. Juni 2019 aus der Erstaufnahmeeinrichtung N_________ in Räumlichkeiten der evangelisch-lutherischen Kirchengemeinde G_______, die dem BAMF und der damals zuständigen Ausländerbehörde (Landesamt für Ausländerangelegenheiten) die Gewährung von Kirchenasyl und eine Adresse mitteilte, unter der die Familie während des Kirchenasyls zu erreichen sei. Ein Härtefalldossier werde erstellt.

Mit Schreiben vom 4. Juli 2019 forderte das BAMF die Kirchengemeinde dazu auf, das Härtefalldossier bis zum 28. Juli 2019 einzureichen. Das Dossier wurde am 18. Juli 2019 eingereicht. Das BAMF gelangte bei der Prüfung des Dossiers zu der Einschätzung, dass keine besonderen individuellen Härten vorgetragen worden seien, die gegen die beabsichtigte Überstellung nach Frankreich sprächen. Die Antragsteller verblieben daraufhin im Kirchenasyl.

Am 19. Februar 2020 ersuchten die Antragsteller erneut um einstweiligen verwaltungsgerichtlichen Rechtsschutz. Mit Beschluss vom 5. März 2020 (zum Az. 5 B 19/20) gab das Schleswig-Holsteinische Verwaltungsgericht der Bundesrepublik Deutschland, vertreten durch das BAMF, auf, der Ausländerbehörde mitzuteilen, dass vorläufig bis zu einer Entscheidung im Verfahren zum Az. 5 A 80/20 eine Abschiebung der Antragsteller aufgrund der Abschiebungsanordnung vom 24. April 2019 nicht erfolgen dürfe, weil die sechsmonatige Überstellungsfrist des Art. 29 Abs. 2 Satz 1 VO (EU) Nr. 604/2013 (so genannte Dublin-III-Verordnung) abgelaufen sei und eine Verlängerung dieser Frist nach Art. 29 Abs. 2 Satz 2 VO (EU) Nr. 604/2013 mangels Flüchtigkeit der Antragsteller nicht in Betracht komme.

Unter dem 20. Mai 2020 wurde der Antragstellerin zu 1. eine Duldung erteilt, die aktuell bis zum 21. Mai 2021 befristet ist. Im Juni 2020 erfolgte die Zuweisung der Antragsteller zum Antragsgegner, der mit Bescheid vom 15. Juni 2020 die Gewährung von Leistungen nach dem AsylbLG aufnahm.

Mit Bescheid vom 10. November 2020 bewilligte der Antragsgegner den Antragstellern Leistungen nach § 3 AsylbLG für den Zeitraum 1. bis 31. Dezember 2020 in Höhe von 1.515,00 EUR. Wegen der Einzelheiten wird auf den Bewilligungsbescheid Bezug genommen.

Dagegen erhoben die Antragsteller am 9. Dezember 2020 Widerspruch und verlangten die Gewährung von Analogleistungen nach § 2 AsylbLG.

Mit Bescheid vom 9. Dezember 2020 bewilligte der Antragsgegner den Antragstellern erneut nur Grundleistungen nach § 3 AsylbLG für den Zeitraum 1. Januar bis 31. Mai 2021. Wegen der Einzelheiten wird auf den Bewilligungsbescheid (Bl. 137 der Leistungsakte) Bezug genommen.

Gegen diesen Bescheid legten die Antragsteller am 28. Dezember 2020 ebenfalls Widerspruch ein.

Bereits am 23. Dezember 2020 haben sie beim Sozialgericht Schleswig um einstweiligen Rechtsschutz ersucht.

Das Sozialgericht hat den Antragsgegner mit Beschluss vom 8. Januar 2021 dazu verpflichtet, den Antragstellern bis zu einer bestandskräftigen Entscheidung in der Hauptsache vorläufig Analogleistungen nach § 2 Abs. 1 AsylbLG in gesetzlicher Höhe zu zahlen. Es hat zur Begründung darauf hingewiesen, dass der Begriff des Rechtsmissbrauchs an ein Fehlverhalten anknüpfe und insoweit eine objektive – den Missbrauchstatbestand – und eine subjektive Komponente – das Verschulden – habe. Dabei genüge nicht jedes einfache Fehlverhalten; es müsse sich vielmehr unter Verhältnismäßigkeitsgesichtspunkten um ein besonders grobes, unentschuldbares, als sozialwidrig zu bewertendes Fehlverhalten handeln. Dafür reiche die bloße Ausnutzung einer Rechtsposition nicht aus. Voraussetzung sei ferner, dass zwischen dem Verhalten und der Aufenthaltsdauer eine kausale Verknüpfung bestehe, wobei allerdings eine typisierende Betrachtung anzustellen und kein Kausalzusammenhang im engeren Sinne zu fordern sei. Unter Beachtung dieser Maßstäbe sei das Verhalten der Antragsteller geeignet gewesen, die Aufenthaltsdauer zu verlängern, weil das Kirchenasyl in Deutschland von Verwaltungsbehörden und Bundesregierung respektiert werde. Es fehle allerdings an der Rechtsmissbräuchlichkeit, weil die Abschiebung durch das Kirchenasyl weder rechtlich noch tatsächlich unmöglich gemacht werde, wenn es sich – wie hier – um ein „offenes“ Kirchenasyl handele, bei dem der Ausländerbehörde der Aufenthaltsort des Ausländers zu jeder Zeit bekannt sei. Ein rechtliches Abschiebehindernis sei in dem Kirchenasyl nicht zu sehen. Weder die Kirchen noch andere gesellschaftliche Gruppen hätten die Befugnis, aus eigenem Recht Asyl zu gewähren und die staatliche Ordnung an diese Entscheidung zu binden. Auch ein tatsächliches Abschiebehindernis habe nicht bestanden, weil die Ausländerbehörde die Abschiebung jederzeit hätte vollziehen können. Dass das Kirchenasyl aus politischen und humanitären Gründen respektiert werde, könne dem Ausländer nicht angelastet werden und rechtfertige nicht den Vorwurf des Rechtsmissbrauchs. Zumindest den Antragstellern zu 2. und 3. könne ein möglicherweise vorsätzliches Verhalten der Antragstellerin zu 1. Aber nicht zugerechnet werden. Wegen der Einzelheiten wird auf den Beschluss (Bl. 73 ff. der Gerichtsakte) Bezug genommen.

Gegen den ihm am 11. Januar 2021 zugestellten Beschluss hat der Antragsgegner am 8. Februar 2021 Beschwerde beim Schleswig-Holsteinischen Landessozialgericht erhoben, soweit die einstweilige Anordnung zugunsten der Antragstellerin zu 1. ergangen ist.

Zur Begründung macht er geltend, dass der abschiebungsvermeidende Aufenthalt der Antragstellerin zu 1. im Kirchenasyl sehr wohl als eine rechtsmissbräuchliche Beeinflussung der Aufenthaltsdauer zu qualifizieren sei. Dies habe neben dem erkennenden Senat in der Vergangenheit auch die 15. Kammer des Sozialgerichts Schleswig so gesehen. In jüngerer Zeit werde die Rechtsprechung indes zusehends uneinheitlich. Die Gründe, aus denen auf Abschiebemaßnahmen während der Dauer des Kirchenasyls verzichtet werde, seien weder rechtlicher noch im engeren Sinne tatsächlicher Natur. Vielmehr mache es sich die um Kirchenasyl nachsuchende Person zunutze, dass eine Art respektvoller „Beißhemmung“ staatlicher Organisationen gegenüber der Kirche bzw. kirchlichen Einrichtungen und ihren Organen bestehe, deren Ursprung weit in der Vergangenheit zu suchen sei. Auch wenn die gesellschaftliche Bedeutung der Kirche zurückgegangen sei, sei mit Sicherheit davon auszugehen, dass der Einsatz polizeilicher Kräfte zur Durchsetzung einer Abschiebung in kirchlichen Räumlichkeiten erhebliche Reaktionen der Zivilgesellschaft auslösen würde. Ein ausreisepflichtiger Ausländer könne sich deshalb sicher sein, dass ihm während des Kirchenasyls keinerlei Abschiebemaßnahmen drohten, und sei im Kirchenasyl daher sogar noch besser gegen aufenthaltsbeendende Maßnahmen geschützt als im Fall des Untertauchens. Die Antragstellerin zu 1. habe sich eben aus diesen Gründen in das Kirchasyl begeben, um die sechsmonatige Überführungsfrist nach der Dublin-III-Verordnung auszusitzen.

Er beantragt,

den Beschluss des Sozialgerichts Schleswig vom 8. Januar 2021 aufzuheben und den Antrag auf Erlass einer einstweiligen Anordnung abzulehnen, soweit es um die Antragstellerin zu 1. geht.

Die Antragstellerin zu 1. beantragt,

          die Beschwerde zurückzuweisen.

Sie verteidigt die angegriffene Entscheidung. Zu Recht betone das Sozialgericht den Wertungswiderspruch, der darin liege, einerseits ihren Aufenthalt im Kirchenasyl vorübergehend zu tolerieren und ihn andererseits als rechtsmissbräuchlich anzusehen. Der Begriff der rechtsmissbräuchlichen Beeinflussung der Aufenthaltsdauer sei inhaltsgleich mit demjenigen des Flüchtig-Seins nach Art. 29 Abs. 2 Satz 2 VO (EU) Nr. 640/2013. Diesbezüglich habe der Europäische Gerichtshof (EuGH) in der Jawo-Entscheidung (EuGH, Urteil vom 19. März 2019 – C-163/17NVwZ 2019, 712) entschieden, dass flüchtig i.S. dieser Bestimmung nur derjenige sei, der sich den für die Durchführung seiner Überstellung zuständigen nationalen Behörden gezielt entziehe, um die Überstellung zu vereiteln. Dies könne angenommen werden, wenn die Überstellung nicht durchgeführt werden könne, weil der Antragsteller die ihm zugewiesene Wohnung verlassen habe, ohne die zuständigen nationalen Behörden über seine Abwesenheit zu informieren, nicht aber dann, wenn der Betroffene durch die Angabe einer ladungsfähigen Adresse im Kirchenasyl nicht untergetaucht, sondern jederzeit erreichbar und auffindbar sei. Dementsprechend habe auch das Bundesverwaltungsgericht bereits entschieden, dass Personen im „offenen“ Kirchenasyl nicht flüchtig seien. Im Übrigen treffe es aber auch nicht zu, dass sie mit dem erforderlichen Vorsatz gehandelt habe. Sie sei dazu überhaupt nicht angehört worden. Es sei auch keineswegs sicher, dass aufenthaltsbeendende Maßnahmen während der Dauer des Kirchenasyls nicht vollzogen werden würden. Der Antragsgegner deute selbst an, eine entsprechende Praxis auch ändern zu können und je nach Rechtsprechung ggf. auch zu wollen.

Dem Senat haben die Leistungsakten und die Ausländerakten des Antragsgegners vorgelegen. Auf diese Akten und auf die Gerichtsakte wird wegen des der Entscheidung zugrundeliegenden Sachverhalts ergänzend Bezug genommen.

II.

Die Beschwerde hat Erfolg.

Die Beschwerde ist zulässig. Sie ist form- und fristgerecht erhoben worden (§ 173 Satz 1 Sozialgerichtsgesetz [SGG]). Sie ist gemäß § 172 Abs. 3 Nr. 1 SGG statthaft, weil die Berufung in der Hauptsache der Zulassung bedürfte (vgl. § 144 Abs. 1 Satz 1 Nr. 1 SGG). Angesichts der vorläufigen Verpflichtung des Antragsgegners zur Zahlung des Differenzbetrags zwischen Grund- und Analogleistungen „bis zu einer bestandskräftigen Entscheidung in der Hauptsache“ ohne weitere zeitliche Befristung ist zugunsten des Antragsgegners davon auszugehen, dass der Wert des Beschwerdegegenstands die Grenze von 750,00 EUR auch angesichts der Tatsache überschreitet, dass sich der Antragsgegner im Beschwerdeverfahren nur noch gegen die Leistungsverpflichtung zugunsten der Antragstellerin zu 1. wendet und den Beschwerdegegenstand von vornherein wirksam darauf beschränkt hat.

Die Beschwerde ist auch begründet. Zu Unrecht hat das Sozialgericht den Antragsgegner dazu verpflichtet, der Antragstellerin zu 1. vorläufig Analogleistungen nach § 2 Abs. 1 AsylbLG zu zahlen. Die Voraussetzungen für eine einstweilige Anordnung nach § 86b Abs. 2 SGG liegen insoweit mangels Bestehen eines Anordnungsanspruchs nicht vor.

Nach § 2 Abs. 1 Satz 1 AsylbLG ist abweichend §§ 3, 4 sowie 6-7 AsylbLG u.a. das Zwölfte Buch Sozialgesetzbuch auf diejenigen Leistungsberechtigten entsprechend anzuwenden, die sich seit 18 Monaten ohne wesentliche Unterbrechung im Bundesgebiet aufhalten und die Dauer des Aufenthalts nicht missbräuchlich selbst beeinflusst haben. Diese Voraussetzungen liegen hier nicht vor, weil der Senat die Inanspruchnahme von Kirchenasyl durch die Antragstellerin zu 1.  – anders als zuvor das Sozialgericht – als rechtsmissbräuchliche Beeinflussung der Aufenthaltsdauer im Sinne dieser Vorschrift bewertet.

Das Verhalten der Antragstellerin zu 1. ist als rechtsmissbräuchlich zu qualifizieren. Der Begriff des Rechtsmissbrauchs wird im AsylbLG selbst nicht definiert. Er wurzelt in dem auch im öffentlichen Recht geltenden Grundsatz von Treu und Glauben (§ 242 Bürgerliches Gesetzbuch [BGB]). Als vorwerfbares Fehlverhalten beinhaltet er eine objektive – den Missbrauchstatbestand – und eine subjektive Komponente – das Verschulden –. Der Vorschrift des § 2 AsylbLG und damit dem – die Beeinflussung der Aufenthaltsdauer dienenden – Rechtsmissbrauch liegt der Gedanke zu Grunde, dass niemand sich auf eine Rechtsposition berufen darf, die er selbst treuwidrig herbeigeführt hat (BSG, Urteil vom 17. Juni 2008 – B 8/9b AY 1/07 R – BSGE 101, 49 = SozR 4-3520 § 2 Nr 2, juris Rn. 32). Diese Voraussetzungen sind hier erfüllt.

In objektiver Hinsicht setzt der Rechtsmissbrauch ein unredliches, von der Rechtsordnung missbilligtes Verhalten voraus. Der Ausländer soll von Analogleistungen ausgeschlossen sein, wenn die von § 2 Abs. 1 AsylbLG vorgesehene Vergünstigung anderenfalls auf gesetz- oder sittenwidrige Weise erworben wäre. Der Ausländer darf sich nicht auf einen Umstand (Aufenthaltsdauer von wenigstens 18 Monaten) berufen, den er selbst treuwidrig herbeigeführt hat (BSG, a.a.O., Rn. 33). An diesen allgemeinen Maßstäben gemessen bewertet der Senat das Verhalten der Antragstellerin zu 1. als objektiv rechtsmissbräuchlich.

Die Antragstellerin zu 1. hat sich durch die Inanspruchnahme des Kirchenasyls den infolge des verwaltungsgerichtlichen Beschlusses vom 12. Juni 2019 bereits eingeleiteten Maßnahmen zu ihrer Überstellung nach Frankreich entzogen und ist über einen Zeitraum von mehreren Monaten im Kirchenasyl verblieben mit der Folge, dass die Überstellung nach der Dublin-III-Verordnung wegen des Ablaufs der entsprechenden sechsmonatigen Überstellungsfrist im Anschluss nicht mehr hat durchgeführt werden können. Sie hat sich damit – weil das Kirchenasyl von staatlichen Stellen respektiert wird – faktisch dem staatlichen Zugriff entzogen. In diesem Zusammenhang ist ein Rechtsmissbrauch nicht deshalb zu verneinen, weil die Ausländerbehörde das Kirchenasyl respektiert und währenddessen keine aufenthaltsbeendenden Maßnahmen vollzogen hat. Denn der freiwillige Verzicht auf den Vollzug aufenthaltsbeendender Maßnahmen aus Respekt vor dem Kirchenasyl ist zwar eine Ursache für die Beeinflussung der Aufenthaltsdauer. Für die Beurteilung des Verhaltens der Antragstellerin zu 1. spielt dies aber eine untergeordnete Rolle. Wesentlich ist in diesem Zusammenhang, ob der Ausländer das Kirchenasyl in Anspruch nimmt, um sich den staatlichen Respekt vor dem Kirchenasyl zunutze zu machen (so auch LSG Niedersachsen-Bremen, Beschluss vom 27. April 2020 – L 8 AY 20/19 B ER – juris Rn. 18; auch Bayerisches LSG, Urteil vom 28. Mai 2020 – L 19 AY 38/18 – ZFSH/SGB 2020, juris Rn. 58; a.A. jedoch Hessisches LSG, Beschluss vom 4. Juni 2020 – L 4 AY 5/20 B ER – juris Rn. 32 für den hier vorliegenden Fall des offenen Kirchenasyls). Dies ist vielmehr in erster Linie eine Frage des Vorsatzes (dazu noch unten).

Dieser Bewertung steht die höchstrichterliche Rechtsprechung des BSG nicht entgegen. Zwar hat das BSG ausgeführt, dass die bloße Nichtausreise – im dort entschiedenen Fall bei Bestehen einer Duldung nach § 60a Aufenthaltsgesetz (AufenthG) – trotz bestehender Ausreisepflicht für die Annahme objektiv rechtsmissbräuchlichen Verhaltens nicht ausreicht (BSG, a.a.O., Rn. 35). Hier liegt der Fall allerdings insoweit anders, als dass einerseits die Nichtvollziehung aufenthaltsbeendender Maßnahmen nicht auf einer behördlichen Entscheidung beruht (vgl. dazu Krauß in: Siefert, AsylbLG, 1. Aufl. 2018, § 2 Rn. 51) und andererseits die Antragstellerin zu 1. den Nichtvollzug aufenthaltsbeendender Maßnahmen nicht lediglich passiv hingenommen, sondern durch die Zufluchtsuche im Kirchenasyl selbst aktiv betrieben und dabei auch gegen asylrechtliche Vorschriften verstoßen hat, insbesondere gegen die Pflicht, in der für die Aufnahme zuständigen Aufnahmeeinrichtung zu wohnen (§ 47 Abs. 1 Satz 1 Asylgesetz [AsylG]), sowie gegen die räumliche Beschränkung nach § 56 Abs. 1 AsylG. Dies verkennt das Hessische Landessozialgericht, dass in seinem Beschluss vom 4. Juni 2020 – L 4 AY 5/20 B ER – zur Begründung seiner Rechtsüberzeugung wesentlich auf die höchstrichterliche Entscheidung des BSG abhebt (Hessisches LSG, a.a.O, juris Rn. 35). Den vom Hessischen LSG auch für den Fall des Kirchenasyls ausgemachten Wertungswiderspruch vermag der Senat nicht zu erkennen. Es ist nicht per se widersprüchlich, ein Verhalten aus bestimmten sachlichen Gründen einerseits zu tolerieren und es andererseits gleichzeitig in anderem Kontext als rechtsmissbräuchlich vorzuwerfen. Dass der Staat an einer Stelle auf die Durchsetzung seiner Befugnisse verzichtet, bedeutet nicht ohne Weiteres, dass er an anderer Stelle und in anderem Zusammenhang – hier insbesondere im asylbewerberleistungsrechtlichen Kontext der Gewährung ungekürzter Analogleistungen – auch auf die Durchsetzung verzichten müsste.

Ob die Tatsache, dass der Staat das Kirchenasyl aus Respekt nicht nur tatenlos hinnimmt, sondern mit den Kirchengemeinden, die mit dem Kirchenasyl das Ziel verfolgen, in Härtefällen eine Abschiebung des Ausländers zu verhindern, auch kooperiert, eine andere Bewertung rechtfertigt und der Qualifizierung des Verhaltens des Ausländers als rechtsmissbräuchlich grundsätzlich entgegenzustehen geeignet ist (dazu LSG Niedersachsen-Bremen, Beschluss vom 27. April 2020 – L 8 AY 20/19 B ER – juris Rn. 20), kann der Senat im Ergebnis dahinstehen lassen. Zwar wurde im Jahr 2015 als Resultat eines Dialogs zwischen dem BAMF und hochrangigen Vertretern der katholischen und evangelischen Kirche zu Kirchenasylfällen eine Vereinbarung getroffen, wonach in begründeten Ausnahmefällen zur Vermeidung von besonderen humanitären Härten eine zwischen den zentralen Ansprechpartnern beider Seiten gesteuerte, lösungsorientierte Einzelfallprüfung im Rahmen des rechtlich Möglichen stattfinden soll (vgl. Merkblatt Kirchenasyl im Kontext von Dublin-Verfahren, Stand: Januar 2021, online im Internet unter https://www.bamf.de/SharedDocs/Anlagen/DE/AsylFluechtlingsschutz/merkblatt-kirchenasyl.pdf?__blob=publicationFile&v=5). Vereinbart worden ist dort jedoch ein gestuftes Verfahren zur Prüfung eines Härtefalls, das u.a. die frühzeitige Einreichung eines Härtefalldossiers binnen eines Monats nach Kirchenasylmeldung durch die Kirchengemeinde, die einzelfallbezogene Prüfung eines Härtefalls durch das BAMF und das Verlassen des Kirchenasyls binnen drei Tagen nach Mitteilung eines abschlägigen Ergebnisses der Härtefallprüfung durch die Kirchenasylsuchenden vorsieht.

Selbst wenn man dieses quasirechtsförmige Verfahren als Indiz gegen die Rechtsmissbräuchlichkeit des Handelns eines sich in das offene Kirchenasyl begebenden Ausländers ansehen wollte, könnte dies nur insoweit gelten, als sich insbesondere die um Kirchenasyl nachsuchende Person an die Modalitäten dieses Verfahrens hält. Vorliegend allerdings war die Kirchengemeinde vom BAMF bereits mit Schreiben vom 26. Juli 2019 über die abschlägige Bescheidung des Härtefallantrags informiert und darum gebeten worden, bis zum 29. Juli 2019 die Beendigung des Kirchenasyls mitzuteilen (vgl. Bl. 243 der Ausländerakte). Spätestens seit dem 30. Juli 2019 war damit im vorliegenden Fall das quasirechtsförmige Verfahren beendet und spätestens ab diesem Zeitpunkt hat dem weiteren Aufenthalt der Antragstellerin zu 1. im Kirchenasyl nach den oben genannten Maßstäben der Vorwurf rechtsmissbräuchlichen Handelns (ggf. erneut) entgegengehalten werden können.

Die Antragstellerin zu 1. vermag für sich im Hinblick auf die Leistungsberechtigung nach § 2 Abs. 1 AsylbLG auch aus dem Urteil des EuGH vom 19. März 2019 – C-163/17 – nichts herzuleiten. Der EuGH hat entschieden, dass „flüchtig“ i.S. des Art. 29 Abs. 2 Satz 2 der VO (EU) Nr. 604/2013 nur ist, wer die ihm zugewiesene Wohnung verlassen hat, ohne die Behörde über seine Abwesenheit zu informieren. Damit erscheint zwar klargestellt, dass eine Person, die offenes Kirchenasyl in Anspruch nimmt, nicht als flüchtig i.S. der Dublin-III-Verordnung gelten kann, so dass sich die sechsmonatige Überstellungsfrist nicht auf 18 Monate verlängert. Es ist aber nicht ansatzweise ersichtlich, warum der Begriff der Rechtsmissbräuchlichkeit mit dem Begriff des Flüchtig-Seins in Art. 29 Abs. 2 Satz 2 VO (EU) Nr. 604/2013 gleichgesetzt werden müsste. Vielmehr geht der Begriff der Rechtsmissbräuchlichkeit als allgemein unbestimmter Rechtsbegriff über denjenigen des Flüchtig-Seins hinaus. Rechtsmissbrauch i.S. des § 2 Abs. 1 AsylbLG umfasst Sachverhalte, in denen sich die betreffende Person aufenthaltbeendenden Maßnahmen durch Flucht entzieht, erschöpft sich darin aber nicht. Im Gegenteil war es erkennbar das Ziel der Antragstellerin zu 1., nicht als flüchtig i.S. des Art. 29 Abs. 2 Satz 2 VO (EU) Nr. 604/2013 zu gelten, um auf diese Weise bereits nach sechs (und nicht erst nach 18) Monaten ihre Überstellung nach Frankreich vereiteln zu können. Ein solches Verhalten stellt sich als erkennbar rechtsmissbräuchlich dar.

Die Antragstellerin zu 1. hat – wovon auch das Sozialgericht ausgeht – gemessen an den Maßstäben der höchstrichterlichen Rechtsprechung die Aufenthaltsdauer durch ihr Verhalten auch kausal beeinflusst. Erforderlich ist kein Kausalzusammenhang im engeren Sinne. Es ist auf eine typisierende, abstrakt-generelle Betrachtungsweise hinsichtlich des Zusammenhangs zwischen dem vorwerfbaren Verhalten und der Beeinflussung der Dauer des Aufenthalts abzustellen. Dies bedeutet, dass jedes von der Rechtsordnung missbilligte Verhalten, das – typisierend – der vom Gesetzgeber missbilligten Beeinflussung der Dauer des Aufenthaltes dienen kann, ausreichend ist, um die kausale Verbindung zu bejahen (BSG, Urteil vom 18. Juni 2008 – B 8/9b AY 1/07 R – BSGE 101, 49 = SozR 4-3520 § 2 Nr 2, juris Rn. 43). Daran gemessen ist ohne Weiteres davon auszugehen, dass die Inanspruchnahme des Kirchenasyls die Aufenthaltsdauer im Sinne einer Aufenthaltsverlängerung beeinflusst hat, weil der Staat angesichts der Respektierung des Kirchenasyls von aufenthaltsbeendenden Maßnahmen abgesehen hat, die er anderenfalls – bei fortwährendem Aufenthalt der Antragsteller in der Aufnahmeeinrichtung in N_________ – ohne spezifische Hindernisse hätte durchführen können, und die er bei typisierenden Betrachtung – darauf deutet nicht zuletzt die in der Vergangenheit bereits einmal vorgenommene Abschiebung hin – auch durchgeführt hätte. Ob und zu welchem Zeitpunkt eine Abschiebung der Antragsteller nach Frankreich konkret erfolgt wäre, ist unerheblich.

Die Antragstellerin zu 1. hat – im Sinne des subjektiven Missbrauchselements – nach Auffassung des Senats auch vorsätzlich im Sinne dirketen Vorsatzes ersten Grades gehandelt (zum Vorsatzerforderniss vgl. Krauß in: Siefert, AsylbLG, § 2 Rn. 54 f. m.w.N.). Dabei ist zunächst zu berücksichtigen, dass aus typischem Fehlverhalten regelhaft auf das Vorliegen der dem Missbrauch innewohnenden subjektiven Komponente geschlossen werden kann (Oppermann, in jurisPK-SGB XII, § 2 AsylbLG Rn. 109; Wahrendorf in: Grube/Wahrendorf, 6. Aufl. 2018, AsylbLG § 2 Rn. 39; vgl. auch Hessisches LSG, Beschluss vom 4. Juni 2020 – L 4 AY 5/20 B ER – juris Rn. 37). Hier ist überdies zu berücksichtigen, dass die Antragsteller das Kirchenasyl trotz abschlägiger Härtefallprüfung nicht verlassen und in unmittelbarem zeitlichem Zusammenhang zum Ablauf der Sechsmonatsfrist des Art. 29 Abs. 2 Satz 1 VO (EU) Nr. 604/2013 (erfolgreich) ein neues verwaltungsgerichtliches Eilverfahren betrieben haben mit dem Ziel, die Überstellung nach Frankreich abzuwenden. Das gesamte Verhalten der Antragstellerin zu 1. war nach verständiger Würdigung der verfügbaren Hinweistatsachen erkennbar darauf ausgerichtet, durch das Kirchenasyl die maßgebliche Sechsmonatsfrist zu überbrücken. Für die von Krauß (in: Siefert, AsylbLG, § 2 Rn. 51) im Hinblick auf die Darstellung des Kirchenasyls in der Öffentlichkeit als staatlich akzeptiertes Recht der Kirchen erwogene Annahme eines Erlaubnistatbestandsirrtums hat es hier nach Lage der Dinge spätestens ab Anfang August 2020 offenkundig am Vorliegen der Voraussetzungen gefehlt.

Ob das Verhalten der Antragstellerin zu 1. schlechthin unentschuldbar gewesen ist, bedarf letztlich keiner Entscheidung. Die besonders hohen Anforderungen, die das Bundessozialgericht (BSG) in seiner Leitentscheidung vom 18. Juni 2008 über die abstrakten Rechtssätze hinaus erkennbar insbesondere an die Erheblichkeit des sozialwidrigen Verhaltens der leistungsberechtigten Person gestellt hat, sind im Übrigen nicht mehr von maßgebender Bedeutung (so auch Bayerisches LSG, Urteil vom 28. Mai 2020 – L 19 AY 38/18 – ZFSH/SGB 2020, 456, juris Rn. 51). Sie sind erkennbar dem Umstand geschuldet gewesen, dass das BSG die Rechtsfolgen des seinerzeit geltenden § 2 Abs. 3 AsylbLG in der Fassung des Ersten Gesetzes zur Änderung des Asylbewerberleistungsgesetzes vom 26. Mai 1997 (BGBl. I S. 1130) für minderjährige Kinder der leistungsberechtigten Person maßgeblich in seine Bewertung mit einbezogen hat. Diese Vorschrift sah indes noch vor, dass minderjährige Kinder, die mit einem Elternteil in einer Haushaltsgemeinschaft leben, „nur dann“ Leistungen nach § 2 Abs. 1 AsylbLG erhielten, wenn mindestens ein Elternteil diese Leistungen erhielt, während § 2 Abs. 3 AsylbLG in der Fassung des Gesetzes zur Änderung des Asylbewerberleistungsgesetzes und des Sozialgerichtsgesetzes vom 10. Dezember 2014 (BGBl. I S. 2187) seit 1. Januar 2015 bestimmt, dass minderjährige Kinder, die mit einem Elternteil in einer Haushaltsgemeinschaft leben, „auch dann“ Leistungen nach § 2 Abs. 1 AsylbLG erhalten, wenn mindestens ein Elternteil diese Leistungen erhält. Das bedeutet, dass das dem Elternteil vorwerfbare Verhalten den Leistungsanspruch des minderjährigen Kindes auf Analogleistungen nur noch insoweit negativ zu beeinflussen vermag, als es um Zeiträume geht, in denen zwar der Elternteil, noch nicht aber das (regelmäßig neugeborene) Kind die 18-monatige Wartefrist ausgeschöpft hat. Die Rechtsfolgen für minderjährige Kinder sind damit heute weit weniger streng als noch im Jahr 2008. Den minderjährigen Kindern gegenüber erlaubt die aktuelle Rechtslage eine individuelle Bewertung, wobei eine Zurechnung des Elternhandelns als auch dem Kind vorwerfbar ausscheidet und dem Vorwurf eigenen rechtsmissbräuchlichen Handelns regelmäßig das Fehlen des subjektiven Moments entgegengehalten werden kann. Dies entspricht ständiger Senatsrechtsprechung (vgl. Senatsbeschluss vom 12. Juli 2019 – L 9 AY 96/19 B ER) was auch der Grund dafür ist, dass sich der Antragsgegner in Kenntnis dieser Rechtsprechung dazu entschlossen hat, die einstweilige Anordnung nur bezogen auf die Antragstellerin zu 1. anzugreifen.

Fehlt es nach allem bereits am Vorliegen eines Anordnungsanspruchs, kann offenbleiben, ob die Antragstellerin zu 1. auch die für den Anordnungsgrund erforderliche Eilbedürftigkeit hinreichend glaubhaft gemacht hat. Der Senat berücksichtigt allerdings, dass wegen der rechtskräftigen einstweiligen Verpflichtung zur Zahlung von Analogleistungen an die Antragsteller zu 2. und 3. der gesamten Bedarfsgemeinschaft existenzsichernde Leistungen in einer Höhe zur Verfügung stehen, die sich nur knapp unterhalb des Niveaus der Analogleistungen und damit der Leistungen nach dem Dritten bzw. Vierten Kapitel des SGB XII bewegen. Vor diesem Hintergrund besteht zumindest auch für eine ergänzende Folgenabwägung kein Bedürfnis.

Die Kostenentscheidung ergeht entsprechend § 193 Abs. 1 Satz 1, Abs. 4 SGG. Sie orientiert sich am Ausgang des Verfahrens.

Die Entscheidung über die Bewilligung von Prozesskostenhilfe ergeht gemäß § 73a Abs. 1 Satz 1 SGG i.V.m. §§ 114 Abs. 1 Satz 1, 119 Abs. 1 Satz 2 Zivilprozessordnung (ZPO).

Dieser Beschluss ist unanfechtbar (§ 177 SGG).

Rechtskraft
Aus
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