L 11 KR 1134/21

Land
Baden-Württemberg
Sozialgericht
LSG Baden-Württemberg
Sachgebiet
Krankenversicherung
Abteilung
11.
1. Instanz
SG Heilbronn (BWB)
Aktenzeichen
S 14 KR 776/20
Datum
2. Instanz
LSG Baden-Württemberg
Aktenzeichen
L 11 KR 1134/21
Datum
3. Instanz
-
Aktenzeichen
-
Datum
-
Kategorie
Urteil

Auf die Berufung der Klägerin werden der Gerichtsbescheid des Sozialgerichts Heilbronn vom 01.03.2021 sowie der Bescheid der Beklagten vom 27.11.2019 in Gestalt des Widerspruchsbescheides vom 04.03.2020 aufgehoben.

Die Beklagte trägt die außergerichtlichen Kosten der Klägerin in beiden Instanzen.

 

 

Tatbestand

Die Klägerin wendet sich gegen einen Bescheid der Beklagten, mit dem sie aufgefordert wurde, einen Antrag auf Rehabilitationsmaßnahmen zu stellen.

Die 1990 geborene Klägerin ist bei der beklagten Krankenkasse gesetzlich krankenversichert. Sie war zuletzt im Bereich der Qualitätssicherung im Lebensmittelbereich versicherungspflichtig beschäftigt; das Beschäftigungsverhältnis endete zum 30.09.2019. Ab dem 26.07.2019 wurde ihr vom behandelnden Arzt fortlaufend Arbeitsunfähigkeit bescheinigt. Der K1 gab als arbeitsunfähigkeitsbegründende Diagnose ein chronisches Müdigkeitssyndrom (ICD 10 G 93.3) an.

In dem Bericht für die Krankenkasse bei Fortbestehen der Arbeitsunfähigkeit gab K1 unter dem 30.09.2019 wiederum die Diagnose G 93.3 an. Der Zeitpunkt des Wiedereintritts der Arbeitsfähigkeit sei nicht absehbar. Eine psychiatrische Mitbehandlung sei vorgesehen. Eine medizinische Rehabilitation sowie eine psychotherapeutische Behandlung seien angezeigt. Am 22.11.2019 nahm der Medizinische Dienst der Krankenversicherung Baden-Württemberg (MDK) dahingehend Stellung, dass weiterhin Arbeitsunfähigkeit bestehe. In dem schriftlichen Gutachten vom 26.11.2019 diagnostizierte K2 aufgrund einer ambulanten Untersuchung der Klägerin Unwohlsein und Ermüdung (R 53) und gelangte zu dem Ergebnis, dass aus medizinischer Sicht auf Zeit weiterhin Arbeitsunfähigkeit bestehe. Die medizinischen Voraussetzungen für eine erhebliche Gefährdung bzw Minderung der Erwerbsfähigkeit iSd § 51 Abs 1 Fünftes Buch Sozialgesetzbuch (SBG V) lägen vor. Es bestehe eine erhebliche Gefährdung der Erwerbsfähigkeit.

Mit dem mit einer Rechtsmittelbelehrung versehenen Schreiben vom 27.11.2019 teilte die Beklagte der Klägerin mit, dass die Erwerbsfähigkeit der Klägerin erheblich gefährdet bzw gemindert sei. Eine medizinische Rehabilitationsmaßnahme sei der beste Weg, die gesundheitlichen und finanziellen Interessen der Klägerin zu sichern. Weiter wird in dem Schreiben ausgeführt: „Bitte bedenken Sie, dass Krankengeld nur für eine begrenzte Zeit gezahlt wird. Deshalb ist es sicherlich in ihrem Sinne, jetzt einen Antrag auf medizinische Maßnahme zur Rehabilitation bei ihrem Rentenversicherungsträger zustellen. Wir helfen ihnen selbstverständlich dabei. Reichen Sie uns bitte die beigefügten Antragsunterlagen ein. Wir beraten Sie dann weiter. Der Gesetzgeber schreibt eine zügige Umsetzung des Rehabilitations-Verfahrens vor (§ 51 Abs. 1 Fünftes Buch Sozialgesetzbuch - SGB V). Bitte haben Sie deshalb Verständnis für die folgenden Hinweise: Der Anspruch auf Krankengeld erlischt am 10.02.2020 ohne weitere Benachrichtigung, wenn uns bis zu diesem Tag nicht nachgewiesen ist, dass Maßnahmen zur Rehabilitation beantragt wurden (§ 51 Abs. 3 SGB V). Auch die mit der Krankengeldzahlung verbundene Beitragsfreiheit würde enden. Sie müssten sich freiwillig weiter versichern. Wird der Antrag auf Rehabilitationsmaßnahmen später gestellt, so lebt der Anspruch auf Krankengeld mit dem Tag der Antragstellung wieder auf; das gleiche gilt für die Beitragsfreiheit. Der Rentenversicherungsträger kann ihren Antrag auf Maßnahmen zur Rehabilitation, ggf. auch nach Abschluss der Rehabilitation, in einen Antrag auf Rente umdeuten. Im Falle einer rechtsgültigen Umdeutung ist ihnen das Recht eingeschränkt, Art und Beginn der Rente zu bestimmen oder den Antrag zurückzunehmen. Sollten Sie eine entsprechende Erklärung gegenüber dem Rentenversicherungsträger abgeben, sprechen Sie bitte vorher mit uns, da hierfür unsere Zustimmung zwingend erforderlich wäre.“

Ausweislich eines Aktenvermerks vom 27.11.2019 versuchte ein Sachbearbeiter der Beklagten, telefonischen Kontakt zur Klägerin aufzunehmen. Ausweislich eines weiteren Aktenvermerks vom 29.11.2019 sei die Klägerin telefonisch zum Verfahren des § 51 SGB V angehört worden. Die Klägerin habe jetzt 10 Wochen Zeit, den Reha-Antrag zu stellen. Bei Nichteinreichung des Reha-Antrages könne das Krankengeld eingestellt werden. Die Klägerin habe mitgeteilt, sie werde den Antrag stellen.

Gegen den Bescheid vom 27.11.2019 legte die Klägerin am 05.12.2019 Widerspruch ein. Zur Begründung brachte sie vor, dass die Beklagte die Notwendigkeit einer medizinischen Rehabilitationsmaßnahme nicht erläutere. Bei ihr bestehe der Verdacht auf ME/CFS. Dabei handele es sich um eine schwere neuroimmunlogische Multisystemerkrankung, für die es bisher keine zugelassene kurative Behandlung oder Heilung gebe. Deshalb könne auch eine Reha-Maßnahme ihren Gesundheitszustand nicht verbessern. Es müsse sogar mit einer deutlichen Verschlechterung gerechnet werden. Im Übrigen stünden noch weitere diagnostische Abklärungen (zB eine endokrinologische Untersuchung) aus.

S gelangte unter dem 08.01.2020 für den MDK zu der Einschätzung, dass aufgrund der bestehenden psychosomatischen Beschwerden eine psychosomatische Rehabilitation dringend angezeigt sei, um eine Chronifizierung der Beschwerden zu vermeiden. Die Voraussetzungen des § 51 Abs. 1 SGB V seien erfüllt. Rehabilitationsfähigkeit bestehe.

Mit Schreiben vom 14.01.2020 informierte die Beklagte die Klägerin über das Ergebnis der Prüfung durch den MDK. Die Klägerin bat mit Schriftsatz ihres Bevollmächtigten vom 23.01.2020 um Bestätigung, dass der Widerspruch aufschiebende Wirkung entfalte und über den 10.02.2020 hinaus Krankengeld fortgezahlt werde. Mit Schreiben vom 27.01.2020 vertrat die Beklagte die Auffassung, dass die Klägerin mit ihrem Widerspruch die vom Gesetzgeber vorgesehene Prüfung der Leistungszuständigkeit des zuständigen Rentenversicherungsträgers und damit den möglichen Wegfall des Krankengeldes verzögere bzw verhindere. Nach § 51 Abs 3 SGB V entfalle der Anspruch auf Krankengeld, wenn die Klägerin den Antrag innerhalb der gesetzlichen Frist nicht stelle. Der Anspruch auf Krankengeld ende deshalb mit dem 10.02.2020. Die Beklagte zahle ab dem 11.02.2020 aufgrund der aufschiebenden Wirkung des Widerspruchs weiterhin Krankengeld in der bisherigen Höhe, sofern die sonstigen Voraussetzungen für den Leistungsbezug vorlägen.

Mit Widerspruchsbescheid vom 04.03.2020 wies der Widerspruchsausschuss der Beklagten den Widerspruch der Klägerin gegen den Bescheid vom 27.11.2019 zurück. Versicherte, deren Erwerbsfähigkeit nach ärztlichem Gutachten erheblich gefährdet oder vermindert seien, könne die Krankenkasse eine Frist von 10 Wochen setzen, innerhalb der sie einen Antrag auf Leistungen zur medizinischen Rehabilitation oder zur Teilhabe am Arbeitsleben zu stellen hätten. Stellten Versicherte innerhalb der Frist den Antrag nicht, entfalle der Anspruch auf Krankengeld mit Ablauf der Frist. Werde der Antrag später gestellt, lebe der Anspruch auf Krankengeld mit dem Tag der Antragstellung wieder auf. Bei der Ausübung des Ermessens habe die Beklagte die Umstände des Einzelfalls abzuwägen und berechtigte Interessen des Versicherten, zB die gesundheitliche Situation, rentenrechtliche Gestaltungsmöglichkeiten und die Auswirkungen auf den Arbeitsplatz zu beachten. Bei der Abwägung zwischen den rentenrechtlichen Gestaltungsmöglichkeiten der Versicherten und den Befugnissen der Krankenkassen werde grundsätzlich Letzteren der Vorrang eingeräumt. Zu Gunsten der Versicherten könne die Abwägung der Interessen dann ausfallen, wenn zB eine erhebliche Verbesserung des Rentenanspruchs erreicht werden könne, der Antrag aufgrund tarifvertraglicher Vorschrift durch die Feststellung von Erwerbsminderung automatisch zum Arbeitsplatzverlust führe, ein Anspruch auf Zusatz- oder Betriebsrente verloren gehe oder durch weitere anrechenbare rentenrechtliche Zeiten erworben werden könne, die Wartezeit für eine Altersrente oder die Berechnung der Rente nach Mindesteinkommen erreicht würden oder die versicherungsrechtlichen Voraussetzungen für die Mitgliedschaft in der Krankenversicherung der Rentner durch weitere Beitragszeiten noch erfüllt werden könnten. Die Beklagte sei berechtigt gewesen, die Klägerin aufzufordern, einen Antrag auf Leistungen zur medizinischen Rehabilitation beim zuständigen Rentenversicherungsträger zu stellen und ihr Gestaltungsrecht, Art und Beginn einer Rente zu bestimmen oder den Antrag zurückzunehmen, einzuschränken. Hierbei seien die gesetzlichen Grenzen des einzuräumenden Ermessens eingehalten worden. Die medizinischen Voraussetzungen für die geforderte Antragstellung hätten bei der Klägerin vorgelegen. Dies habe der MDK in seinem Gutachten vom 26.11.2019 festgestellt. Die Beklagte habe die Klägerin mit Bescheid vom 27.11.2019 zu Recht zur Stellung eines Antrages auf Leistungen zur medizinischen Rehabilitation aufgefordert und für den Fall, dass der Antrag in einen Rentenantrag umgedeutet werde, dass Gestaltungsrecht ermessensfehlerhaft eingeschränkt. Die gesetzliche Frist sei - ohne den geforderten Antrag auf Leistungen zur medizinischen Rehabilitation zu stellen - zum 10.02.2020 abgelaufen. Mit diesem Tag ende auch die Krankengeldzahlung. Die Krankengeldzahlung ab dem 11.02.2020 werde allein wegen der aufschiebenden Wirkung des Widerspruchs vorgenommen und erfolge unter dem ausdrücklichen Vorbehalt der Rückzahlung. Die persönliche Situation der Klägerin sei nachvollziehbar. Die Beklagte habe sich die Entscheidung nicht leicht gemacht und sich die vorgebrachten Argumente sehr genau angesehen. Die Rechtslage zwinge sie jedoch zu einer für die Klägerin unbefriedigenden Entscheidung.

Dagegen hat die Klägerin am 13.03.2020 Klage zum Sozialgericht Heilbronn (SG) erhoben. Sie - die Klägerin - würde sofort eine Rehabilitationsmaßnahme antreten, wenn sie dazu in der Lage wäre und wenn diese bei ihrem Erkrankungsbild nicht kontraproduktiv wäre. Eine pflichtgemäße Ermessensausübung durch die Beklagte werde bestritten.

Die Beklagte ist der Klage entgegengetreten.

Das SG hat den Befundbericht des M vom 02.08.2020 eingeholt, die Klägerin hat den Befundbericht des D vom 09.08.2020 vorgelegt.

Das SG hat mit den Beteiligten am 13.01.2021 einen Erörterungstermin durchgeführt. Das SG hat die Klage mit Gerichtsbescheid vom 01.03.2021 abgewiesen. Der Bescheid der Beklagten vom 27.11.2019 in Gestalt des Widerspruchsbescheides vom 04.03.2020 sei rechtmäßig und verletze die Klägerin nicht in ihren Rechten. Rechtsgrundlage bilde § 51 Abs 1 Satz 1 SGB V. Danach könne die Krankenkasse Versicherten, deren Erwerbsfähigkeit nach ärztlichem Gutachten erheblich gefährdet oder gemindert sei, eine Frist von 10 Wochen setzen, innerhalb der sie einen Antrag auf Leistungen zur medizinischen Rehabilitation oder zur Teilhabe am Arbeitsleben zustellen hätten. Die Tatbestandsvoraussetzungen des § 51 Abs 1 Satz 1 SGB V lägen vor. Bei der Klägerin bestehe eine erhebliche Gefährdung oder Minderung der Erwerbsfähigkeit. Dies sei auf Grund eines ärztlichen Gutachtens des MDK festgestellt. Darüber hinaus habe die Beklagte die 10-Wochen-Frist eingehalten. Ferner habe die Beklagte ihr Ermessen korrekt ausgeübt. Mit der Anordnung von Ermessen räume das Gesetz der Krankenkasse in § 51 Abs 1 Satz 1 SGB V einen Entscheidungsspielraum ein, den die Gerichte zu achten hätten. Insoweit dürften die Gerichte nur prüfen, ob die Verwaltung die gesetzlichen Grenzen des Ermessens überschritten oder von dem Ermessen in einer dem Zweck der Ermächtigung nicht entsprechenden Weise Gebrauch gemacht hätten. Unerheblich sei, dass die Beklagte erst im Widerspruchsbescheid ihr Ermessen ausgeübt habe, da der Bescheid seine endgültige Gestalt erst in Form des Widerspruchsbescheids erhalte (§ 95 Sozialgerichtsgesetz <SGG>). Die Beklagte habe im Widerspruchsbescheid von ihrem Ermessen in einer dem Zweck der Ermächtigung entsprechenden Weise Gebrauch gemacht. Das Gesetz räume bei der Abwägung zwischen den Gestaltungsmöglichkeiten des Versicherten und den Befugnissen der Krankenkasse nach § 51 SGB V grundsätzlich den Interessen der Krankenkasse den Vorrang ein. Eine Entscheidung zu Gunsten des Versicherten erfordere daher, dass seine Belange den bei Dauerzuständen gesetzlich typisierten Vorrang der Krankenkasseninteressen an einer Begrenzung der Krankengeldaufwendungen sowie der Überantwortung der Kompensation krankheitsbedingten Entgeltausfalls an die Rentenversicherungsträger überwögen. Das bloße Interesse des Versicherten, weiterhin und möglichst lange das im Vergleich zu Rentenleistungen höhere Krankengeld in Anspruch nehmen zu wollen, sei nicht schützenswert. Gleiches gelte für das Interesse an höheren Rentenleistungen, die sich aus der Berücksichtigung zusätzlicher Anrechnungszeiten wegen krankheitsbedingter Arbeitsunfähigkeit bzw Beitragszeiten wegen Krankengeldbezugs ergeben könnten. In der Abwägung zwischen den wiederstreitenden Interessen der Krankenkasse und des Versicherten seien aber auch etwaige besondere Umstände des Einzelfalls sowie persönliche Verhältnisse des Versicherten einzustellen, jedenfalls soweit sie der Krankenkasse ohne weitere Ermittlung bis zum Abschluss des Widerspruchsverfahrens bekannt geworden seien. Gemessen hieran habe die Beklagte ihr Ermessen ordnungsgemäß ausgeübt. Die Ausführungen zum Ermessen seien im Widerspruchsbescheid zwar etwas knappgehalten, entsprächen aber den Anforderungen an eine Ermessensausübung. So habe die Beklagte etwa ausgeführt, dass sie die einschneidende Bedeutung eines solchen Antrags gewertet habe, jedoch die Interessen der Solidargemeinschaft überwiegen würden. Soweit die Klägerin anführe, die Beklagte habe nicht beachtet, dass sie nicht rehabilitationsfähig sei, bestehe insoweit kein Ermessensausfall. Die Frage der Rehabilitationsfähigkeit bzw der Erfolgsaussichten einer Rehabilitation sei von der Krankenkasse nicht zu prüfen. Auch habe die Beklagte im Rahmen ihrer Ermessensabwägung nicht von einer fehlenden Rehabilitationsfähigkeit der Klägerin ausgehen können.

Gegen den ihren Bevollmächtigten am 04.03.2021 zugestellten Gerichtsbescheid wendet sich die Klägerin mit ihrer am 25.03.2021 zum Landessozialgericht (LSG) Baden-Württemberg eingelegten Berufung, mit der sie ihr Anfechtungsbegehren weiterverfolgt.

Die Klägerin beantragt,

den Gerichtsbescheid des Sozialgerichts Heilbronn vom 01.03.2021 sowie den Bescheid der Beklagten vom 27.11.2019 in Gestalt des Widerspruchsbescheids vom 04.03.2020 aufzuheben.

Die Beklagte beantragt,

die Berufung zurückzuweisen.

Die Beklagte verweist zur Begründung auf den angefochtenen Gerichtsbescheid sowie ihren Widerspruchsbescheid.

Der Berichterstatter hat mit Verfügung vom 20.07.2021 auf das Urteil des Senats vom 02.02.2021 (L 11 KR 578/20) sowie darauf, dass dem Bescheid vom 27.11.2019 keinerlei Erwägungen zu dem der Beklagten eingeräumten Ermessen zu entnehmen sein dürften mit der Folge eines Ermessensnichtgebrauchs und dass der Widerspruchsbescheid vom 04.03.2020, der erstmals Ermessenerwägungen enthalte, erst nach Ablauf der 10-Wochen-Frist (10.02.2020) erlassen worden sei, hingewiesen.

Die Beklagte hat unter Vorlage der Aktenvermerke vom 27.11.2019 und 29.11.2019 dahingehend Stellung genommen, dass nach ihrer Auffassung ihr Schreiben vom 27.01.2020 Ermessenerwägungen enthalte. Des Weiteren sei am 29.11.2019 im Rahmen des durch die Beklagte zeitnah durchgeführten Gesprächs die Klägerin über das Erfordernis der Reha-Antragstellung informiert worden. Etwaige Bedenken gegen eine Antragstellung hätten in diesem Telefonat ausgeräumt werden können, da die Klägerin signalisiert habe, sie werde den Antrag stellen.

Die Klägerin hat erwidert, sie habe aus den bekannten Gründen nie einen Reha-Antrag gestellt. Am 04.12.2020 habe sie bei dem Rentenversicherungsträger Rente wegen Erwerbsminderung beantragt. Hinsichtlich des am 29.11.2019 geführten Telefonats hat sie mitgeteilt, dass ihr angekündigt worden sei, dass ihr Unterlagen zugesandt würden und sie 10 Wochen Zeit habe, einen Rentenantrag zu stellen, bevor ihr das Krankengeld gestrichen werde. Es habe keinerlei Aufklärung oder Beratung stattgefunden. Sie - die Klägerin - habe sich in dieser Situation völlig überfahren gefühlt. Sie habe nicht gewusst, wovon die Rede sei, und was das Ganze für sie bedeuten solle. Sie habe das Telefonat schlicht und einfach zur Kenntnis genommen, nicht mehr und nicht weniger. Sie habe sich nicht zu einer Antragstellung geäußert.

Die Beteiligten haben ihr Einverständnis mit einer Entscheidung des Senats ohne mündliche Verhandlung erteilt.

Hinsichtlich der weiteren Einzelheiten des Sachverhalts und des Vorbringens der Beteiligten wird auf die Verwaltungsakten der Beklagten sowie die Verfahrensakten des SG und des Senats Bezug genommen.

 

Entscheidungsgründe

Die Berufung der Klägerin hat Erfolg.

Die gemäß § 143, 144 SGG statthafte und gemäß § 151 Abs 1 SGG form- und fristgerecht eingelegte Berufung, über die der Senat mit dem Einverständnis der Beteiligten ohne mündliche Verhandlung entscheidet (§§ 153 Abs 1, 124 Abs 2 SGB), ist zulässig und begründet. Das SG hat die Klage zu Unrecht abgewiesen.

Den Gegenstand des Rechtsstreits bildet der Bescheid vom 27.11.2019 in Gestalt des Widerspruchsbescheides vom 04.03.2020 (§ 95 SGG), mit die Beklagte die Klägerin aufgefordert hat, einen Antrag auf medizinische Maßnahmen zur Rehabilitation bei dem Rentenversicherungsträger zu stellen. Dagegen wendet sich die Klägerin statthaft mit der isolierten Anfechtungsklage (§ 54 Abs 1 SGG).

Der Bescheid der Beklagten vom 27.11.2019 in Gestalt des Widerspruchsbescheides vom 04.03.2020 ist rechtswidrig und verletzt die Klägerin in ihren Rechten. Rechtsgrundlage für den Bescheid vom 27.11.2019 bildet § 51 Abs. 1 SGB V. Nach dieser Vorschrift kann die Krankenkasse Versicherten, deren Erwerbsfähigkeit nach ärztlichem Gutachten erheblich gefährdet oder gemindert ist, eine Frist von 10 Wochen setzen, innerhalb der sie einen Antrag auf Leistungen zur medizinischen Rehabilitation und zur Teilhabe am Arbeitsleben zu stellen haben (§ 51 Abs 1 SGB V). Die Berechtigung der Krankenkasse, Versicherte zur Stellung eines Reha-Antrages aufzufordern, dient dazu, mittels Leistungen der medizinischen Rehabilitation die Gefährdung oder Minderung der Erwerbsfähigkeit zu beseitigen. Dies ist Ausdruck des allgemeinen Grundsatzes, wonach die Leistungen zur Teilhabe Vorrang haben vor Rentenleistungen, die bei erfolgreichen Leistungen zur Teilhabe nicht oder voraussichtlich erst zu einem späteren Zeitpunkt zu erbringen sind (BSG 16.12.2014, B 1 KR 31/13 R, BSGE 118, 40 = SozR 4-2500 § 51 Nr 3).

Der Senat lässt offen, ob die tatbestandlichen Voraussetzungen dieser Norm überhaupt vorliegen. Insbesondere erschein zweifelhaft, ob ein Gutachten iSd § 51 Abs 1 Satz 1 SGB V vorliegt. Ein solches Gutachten muss qualitativen Anforderungen genügen, also jedenfalls summarisch die erhobenen Befunde wiedergeben und sich zu den durch die festgestellten Gesundheitsstörungen bedingten Leistungseinschränkungen und ihrer voraussichtlichen Dauer äußern. Es muss die erhobenen Befunde und die medizinischen Gesichtspunkte enthalten, die die Beurteilung darüber zulassen, welche Leistungseinschränkungen die festgestellten Gesundheitsstörungen zur Folge haben und welche voraussichtliche Dauer anzunehmen ist. Das Gutachten muss aus sich heraus verständlich und für die Verwaltungsentscheidung der Krankenkasse und eine gerichtliche Überprüfung nachvollziehbar sein (LSG Baden-Württemberg 02.03.2021, L 11 KR 1388/20, juris Rn 31; ferner BSG 07.08.1991, 1/3 RK 26/90, BSGE 69, 187 SozR 3-2200 § 183 Nr 2SozVers 1992, 45; Bayerisches LSG 15.01.2019, L 5 KR 244/18, juris Rn 46; Bayerisches LSG 30.05.2017, L 20 KR 545/16, juris Rn 40). Zwar hat K2 das Gutachten vom 26.11.2019 für den MDK aufgrund einer persönlichen Untersuchung der Klägerin erstellt, jedoch in diesem den erhobenen Untersuchungsbefund und die daraus resultierenden Leistungseinschränkungen nicht dokumentiert. Er hat sich vielmehr darauf beschränkt, zusammenfassend das Leistungsvermögen zu beurteilen und darin anamnestische Angaben der Klägerin sowie Untersuchungsbefunde aufzugreifen. Die Anamnese sowie die erhobenen Untersuchungsbefunde und die daraus resultierenden Leistungseinschränkungen selbst sind in dem Gutachten nicht dokumentiert, sodass nicht beurteilt werden kann, ob diese zutreffend und hinreichend in die „Beurteilung“ Eingang gefunden haben.

Die Beklagte hat jedenfalls im Bescheid vom 27.11.2019 von dem ihr eingeräumten Ermessen keinen Gebrauch gemacht. Mit der Anordnung von Ermessen („kann“) räumt das Gesetz der Krankenkasse in § 51 Abs 1 Satz 1 SGB V einen Entscheidungsspielraum ein, den die Gerichte dahingehend zu überprüfen haben, ob die Verwaltung die gesetzlichen Grenzen des Ermessens überschritten oder von dem Ermessen in einer dem Zweck der Ermächtigung nicht entsprechenden Weise Gebrauch gemacht hat (LSG Baden-Württemberg 02.03.2021, L 11 KR 1388/20, juris Rn 33; LSG Baden-Württemberg 02.02.2021, L 11 KR 578/20, juris Rn 20, jeweils mwN). Für die gerichtliche Überprüfung von Ermessensentscheidungen ist die Begründung des Verwaltungsaktes wesentlich. Die Anforderungen an die Begründungen sind umfangreicher als bei gebundenen Verwaltungsentscheidungen. Dass die Verwaltung von dem ihm eingeräumten Ermessen fehlerfrei Gebrauch gemacht hat, muss sich aus der Begründung des Verwaltungsaktes ergeben (vgl nur Engelmann in Schütze, SGB X, 9. Auflage 2020, § 35 Rn 11). Die Begründung muss die Gesichtspunkte erkennen lassen, von denen die Verwaltung ausgegangen ist (vgl § 35 Abs 1 Satz 3 Zehntes Buch Sozialgesetzbuch <SGB X>). Hat die Krankenkasse ihr Ermessen nach § 51 Abs 1 Satz 1 SGB V nicht ausgeübt, ist die Aufforderung, einen Antrag auf Rehabilitationsleistungen zu stellen, rechtswidrig.

Der Bescheid vom 27.11.2019 enthält keinerlei Ausführungen, aus denen sich ergibt, dass die Beklagte überhaupt ihr Ermessen erkannt und ausgeübt hat. Vielmehr teilte die Beklagte der Klägerin formelhaft mit, dass aus Sicht der Beklagten eine medizinische Rehabilitationsmaßnahme der beste Weg sei, Krankengeld nur für eine begrenzte Zeit zu zahlen. Sie bat die Klägerin, einen Antrag auf eine Rehabilitationsmaßnahme bei der Rentenversicherung zu stellen und diese Antragstellung gegenüber der Beklagten nachzuweisen. Dass sich die Beklagte überhaupt bewusst war, dass ihr das Gesetz Ermessen einräumt und ihr eine Ermessensentscheidung abverlangt, kommt darin nicht zum Ausdruck. Der Begriff des Ermessens findet keine Erwähnung. Auch findet eine auf den konkreten Einzelfall bezogene Darstellung und Abwägung der maßgeblichen Ermessensgesichtspunkte nicht statt. Unabhängig von der Frage, welchen konkreten Inhalt das Telefongespräch zwischen der Klägerin und einem Mitarbeiter der Beklagten vom 29.11.2019 hatte, ist auch dem Aktenvermerk der Beklagten vom 29.11.2019 nicht zu entnehmen, dass sich die Beklagte ihres Ermessens hinsichtlich der Aufforderung zur Beantragung von Leistungen zur medizinischen Rehabilitation und der Setzung einer Frist von 10 Wochen bewusst war. Weiterhin sind entgegen der Auffassung der Beklagten auch ihrem Schreiben vom 27.01.2021 keinerlei Ermessenserwägungen zu entnehmen. Vielmehr belehrte die Beklagte die Klägerin darüber, dass diese mit ihrem Widerspruch die aus Sicht der Beklagten notwendige Prüfung der Leistungszuständigkeit des Rentenversicherungsträgers und einen möglichen Wegfall des Krankengeldes verhindere, und informierte die Klägerin über die Fortzahlung des Krankengeldes aufgrund der aufschiebenden Wirkung des Widerspruchs gegen den Bescheid vom 27.11.2019. Weiterhin wies sie die Klägerin darauf hin, dass diese Krankengeldzahlung in voller Höhe zurückzuzahlen sei, wenn die streitige Entscheidung bestandskräftig werde. Dass die Beklagte sich des ihr eingeräumten Ermessens überhaupt bewusst war, kommt darin nicht ansatzweise zum Ausdruck. Ebenso wenig ist dem Schreiben eine Abwägung alle Umstände des Einzelfalles, insbesondere der von § 51 SGB V geschützten Interessen der Beklagten und der berechtigten Interessen der Klägerin, zu entnehmen.

Schließlich war die Beklagte nicht berechtigt, die zunächst unterbliebene Ermessensausübung im Widerspruchsbescheid vom 04.03.2020 nachzuholen, wobei offen bleiben kann, ob der Beklagten dies überhaupt fehlerfrei gelungen ist (vgl zB die Formulierung „Die Rechtslage zwingt uns jedoch zu einer für Ihre Mandantin unbefriedigenden Entscheidung.“). Zwar kommt die Nachholung einer zunächst unterbliebenen Ausübung von Ermessen grundsätzlich in Betracht. Wird die im Ausgangsbescheid unterlassene Ermessensausübung im Widerspruchsbescheid nachgeholt, so gilt der Bescheid seit dem Zeitpunkt seines Erlasses als mangelfrei. Dies kann aber nicht gelten, wenn dadurch - wie hier - nachträglich eine bereits zeitlich überholte Fristsetzung gerechtfertigt werden soll. Unerheblich ist, dass sich die Dauer der Frist bereits aus dem Gesetz selbst ergibt. Maßgebend ist, dass die Frist mit der Aufforderung zur Stellung eines Reha-Antrages verknüpft ist. In einem solchen Fall ist für die Prüfung der Rechtmäßigkeit des Verwaltungsakts nicht auf den Zeitpunkt der letzten Behördenentscheidung, sondern auf den Zeitpunkt des Erlasses des Ausgangsbescheides abzustellen. Die Versicherten sollen prüfen können, ob sie der Aufforderung zur Stellung eines Reha-Antrages nachkommen müssen oder ob sie aus ihrer subjektiven Sicht gute Gründe haben, der Aufforderung nicht nachzukommen und das Risiko eingehen, den Anspruch auf Auszahlung von Krankengeld zu verlieren (LSG Baden-Württemberg 02.03.2021, L 11 KR 1388/20, juris Rn 33; LSG Baden-Württemberg 02.02.2021, L 11 KR 578/20, juris Rn 20, mit zustimmender Anmerkung von Franz, FD-SozVR 2021, 438231; LSG Nordrhein-Westfalen 07.01.2013, L 11 KR 592/12 B ER, juris Rn 27; ähnlich Schifferdecker in Kasseler Kommentar, Stand Mai 2021, § 51 SGB V Rn 13 für den Fall des Ermessensnichtgebrauchs; vgl fener BSG 19.08.2015, B 14 AS 1/15 R, BSGE 119, 271 zu einer ähnlichen Situation bei der Aufforderung nach § 5 Abs 3 Satz 1 Zweites Buch Sozialgesetzbuch, einen Antrag auf vorrangige Leistungen bei einem anderen Leistungsträger zu stellen). Zum Zeitpunkt der Entscheidung im Widerspruchsverfahren am 04.03.2020 konnte nicht mehr erstmals unter Ausübung von Ermessen begründet werden, weshalb am 27.11.2019 zur Antragstellung (mit der Folge einer Handlungsfrist bis zum 10.10.2020) aufgefordert wurde; schließlich war der Termin, auf den sich die Ermessensentscheidung (auch) bezieht, schon verstrichen.  

Die Kostenentscheidung beruht auf § 193 SGG.

Gründe für die Zulassung der Revision liegen nicht vor.

Rechtskraft
Aus
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