S 19 AS 302/21 ER

Land
Hessen
Sozialgericht
SG Frankfurt (HES)
Sachgebiet
Grundsicherung für Arbeitsuchende
1. Instanz
SG Frankfurt (HES)
Aktenzeichen
S 19 AS 302/21 ER
Datum
2. Instanz
-
Aktenzeichen
-
Datum
-
3. Instanz
-
Aktenzeichen
-
Datum
-
Kategorie
Beschluss

Der Antragsgegner wird verpflichtet, dem Antragsteller vorläufig ab Zustellung dieses Beschlusses bis zu einer Entscheidung in der Hauptsache, längstens bis zum 16.07.2021, Leistungen für Bildung und Teilhabe in Form von Lernförderung durch Nachhilfeunterricht im Umfang von einmal zwei Schulstunden wöchentlich im Fach Mathematik zu gewähren.

Der Antragsgegner hat dem Antragsteller dessen notwendige außergerichtliche Kosten zu erstatten. 


Gründe

Der am 01.04.2021 bei dem Sozialgericht Frankfurt am Main eingegangene Antrag des am 27.01.2009 geborenen Antragstellers, der in Bedarfsgemeinschaft mit seiner Mutter und gesetzlichen Vertreterin bei dem Antragsgegner im laufenden Bezug von Leistungen der Grundsicherung für Arbeitsuchende nach dem Zweiten Buch Sozialgesetzbuch (SGB II) steht, auf Erlass einer einstweiligen Anordnung mit dem Ziel,

den Antragsgegner zu verpflichten, ihm die Übernahme der Kosten für eine Lernförderung im Fach Mathematik zu gewähren,

dem der Antragsgegner mit dem Antrag,

den Antrag abzulehnen,

entgegengetreten ist, hat in dem sich aus der Entscheidungsformel ergebenden Umfang Erfolg.

Der Antrag ist zulässig und begründet.

Nach § 86b Abs. 2 Satz 2 Sozialgerichtsgesetz (SGG) sind einstweilige Anordnungen auch zur Regelung eines vorläufigen Zustandes in Bezug auf ein streitiges Rechtsverhältnis zulässig, wenn eine solche Regelung zur Abwendung wesentlicher Nachteile nötig erscheint. Die Gewährung einstweiligen Rechtsschutzes setzt in diesem Zusammenhang einen Anordnungsanspruch, also einen materiell-rechtlichen Anspruch auf die Leistung, zu der der Antragsgegner im Wege des einstweiligen Rechtsschutzes verpflichtet werden soll, sowie einen Anordnungsgrund, nämlich einen Sachverhalt, der die Eilbedürftigkeit der Anordnung begründet, voraus. Dabei stehen nach der ständigen Rechtsprechung des Hessischen Landessozialgerichts Anordnungsanspruch und Anordnungsgrund nicht isoliert nebeneinander, es besteht vielmehr eine Wechselbeziehung derart, als die Anforderungen an den Anordnungsanspruch mit zunehmender Eilbedürftigkeit bzw. Schwere des drohenden Nachteils (dem Anordnungsgrund) zu verringern sind und umgekehrt. Anordnungsanspruch und Anordnungsgrund bilden nämlich aufgrund ihres funktionalen Zusammenhangs ein bewegliches System (Keller in Meyer-Ladewig/Keller/Leitherer/Schmidt, SGG, 13. Auflage 2020, § 86b Rn. 27). Ist die Klage in der Hauptsache offensichtlich unzulässig oder unbegründet, so ist der Antrag auf einstweilige Anordnung ohne Rücksicht auf den Anordnungsgrund grundsätzlich abzulehnen, weil ein schützenswertes Recht nicht vorhanden ist. Ist die Klage in der Hauptsache dagegen offensichtlich begründet, so vermindern sich die Anforderungen an den Anordnungsgrund. In der Regel ist dann dem Antrag auf Erlass der einstweiligen Anordnung stattzugeben, auch wenn in diesem Fall nicht gänzlich auf einen Anordnungsgrund verzichtet werden kann. Bei offenem Ausgang des Hauptsacheverfahrens, wenn etwa eine vollständige Aufklärung der Sach- und Rechtslage im Eilverfahren nicht möglich ist, ist im Wege einer Folgenabwägung zu entscheiden. Dabei sind insbesondere die grundrechtlichen Belange des Antragstellers umfassend in die Abwägung einzustellen (a.a.O., Rn. 29a) Nach der Rechtsprechung des Bundesverfassungsgerichts (BVerfG) müssen sich die Gerichte schützend und fördernd vor die Grundrechte des Einzelnen stellen (vgl. BVerfG, Beschluss vom 12.05.2006, Aktenzeichen 1 BvR 569/05). Sowohl Anordnungsanspruch als auch Anordnungsgrund sind gemäß § 920 Abs. 2 der Zivilprozessordnung (ZPO) in Verbindung mit § 86b Abs. 2 Satz 4 SGG glaubhaft zu machen.

Der Antragsteller, der bereits im 2. Halbjahr des Schuljahr 2017/18 als Schüler der 3. Grundschulklasse der C-schule in A-Stadt Leistungen zur Lernförderung in den Fächern Mathematik und Deutsch erhalten hatte, besucht aktuell die Klasse 5f der Integrierten Gesamtschule D. in A-Stadt-Höchst. Für das 1. Schulhalbjahr 2020/21 wurden im Zeugnis vom 29.01.2021 sein Arbeits- und Sozialverhalten jeweils mit der Note 2 beurteilt, die Fachnoten lauteten in Kunst auf 2 (gut), in Deutsch, Englisch, Gesellschaftslehre und Ethik auf 3 (befriedigend), in Naturwissenschaften auf 4 (ausreichend) und in Mathematik auf 5 (mangelhaft). Der Antragsteller hatte an 11 Tagen den Schulbesuch entschuldigt versäumt, unentschuldigte Fehlzeiten wurden verneint.

Am 02.03.2021 beantragte die Mutter des Antragstellers für diesen bei dem Antragsgegner eine „Schülerhilfe“. Beigefügt war ein von der Fachlehrerin für Mathematik ausgefülltes Antragsformular, auf dessen Inhalt Bezug genommen wird. Darin wurde für den Förderzeitraum 23.02.2021 bis 23.08.2021 ein Lernförderbedarf (Nachhilfe) im Umfang von zwei Schulstunden wöchentlich im Fach Mathematik bescheinigt. Auf Anforderung des Antragsgegners legte die Mutter des Antragstellers einen von der Fachlehrerin und ihr unterzeichneten Individuellen Förderplan vom 02.02.2021 vor, auf dessen Inhalt ebenfalls Bezug genommen wird. 

Gestützt auf die Eintragungen in diesem Förderplan lehnte der Antragsgegner den Antrag des Antragstellers auf Lernförderung mit Bescheid vom 04.03.2021, auf dessen Inhalt ebenfalls Bezug genommen wird, ab. Zur Begründung wurde u. a. ausgeführt, die beantragte Lernförderung sei abzulehnen, weil die Schule bestätigt habe, dass das Leistungsniveau des Antragstellers auf anhaltendes Fehlverhalten zurückzuführen sei. Aus den Unterlagen gehe hervor, dass seine Aufmerksamkeit im Unterricht mangelhaft benotet worden sei. Seine mündliche Mitarbeit sei bisher nicht ausreichend genutzt worden, um schriftliche Minderleistungen auszugleichen, und Aufgaben im Lernatelier würden trotz Ermahnung nicht gewissenhaft genug nachgeholt. 

Hiergegen hat der Antragsteller, vertreten durch seine Mutter, mit Schreiben vom 31.03.2021 am 01.04.2021 Widerspruch eingelegt und zugleich den vorliegenden Antrag auf Erlass einer einstweiligen Anordnung gestellt. In der Widerspruchsbegründung und auch in der Begründung des Eilantrags wird betont, der Antragsteller stehe bis auf das Fach Mathematik in allen Schulfächern auf besseren Noten und beteilige sich dort auch adäquat am Unterricht. Seine eingeschränkte mündliche Mitarbeit im Fach Mathematik beruhe gerade auf dem erheblichen Nachholbedarf. Diese Lücken könne er nur mit Nachhilfeunterricht verbessern. Deshalb habe seine Mathematik-Lehrerin gerade die Nachhilfe empfohlen. Auch sei sein von der Schule bescheinigtes Verhalten im (Mathematik-)Unterricht nicht per se schlecht bzw. auffällig, sondern als „wechselhaft“ beschrieben worden. 

Über den Widerspruch ist nach Kenntnis des Gerichts bislang keine Entscheidung getroffen worden.

Der Antragsteller hat sowohl einen Anordnungsanspruch als auch einen Anordnungsgrund glaubhaft gemacht.

Nach § 28 Abs. 5 SGB II wird bei Schülerinnen und Schülern eine schulische Angebote ergänzende angemessene Lernförderung berücksichtigt, soweit diese geeignet und zusätzlich erforderlich ist, um die nach den schulrechtlichen Bestimmungen festgelegten wesentlichen Lernziele zu erreichen. Dabei kann das Erreichen eines wesentlichen Lernziels auch dann gefährdet sein, wenn keine Versetzungsgefährdung besteht. Nach dem Willen des Gesetzgebers soll die Diagnoseaufgabe, ob Leistungen zur Lernförderung geeignet und erforderlich sind, zur Erleichterung der Verwaltungsaufgaben grundsätzlich von der Lehrkraft wahrgenommen werden, die die Frage, ob die wesentlichen Lernziele durch einen Schüler erreicht werden, regelmäßig am Besten beurteilen kann (Lenze in LPK-SGB II, 5. Auflage 2013, § 28 Rn. 27).

Zur Überzeugung der Kammer ist die vom Antragsteller begehrte Lernförderung sowohl geeignet als auch erforderlich, um das für das 5. Schuljahr gesetzte Lernziel im Fach Mathematik erreichen zu können. Diese Beurteilung beruht auf den hierbei vorrangig zu Grunde zu legenden Angaben der vom Antragsteller besuchten Schule im Antragsformular und im Individuellen Förderplan vom 02.02.2021. Darin hat die Fachlehrerin im Falle der Erteilung von Nachhilfeunterricht eine positive Versetzungs- bzw. Entwicklungsprognose bejaht und geeignete kostenfreie Angebote der Schule sowie eine Verursachung der Leistungsschwäche durch unentschuldigte Fehlzeiten oder anhaltendes Fehlverhalten ausdrücklich verneint.

Soweit der Antragsgegner seine Ablehnungsentscheidung gleichwohl auf „anhaltendes Fehlverhalten“ des Antragstellers stützt, wird diese Beurteilung auch durch die weiteren Angaben der Schule nicht gestützt. Die Fachlehrerin hat im Antragsformular die Notwendigkeit einer Lernförderung durch Nachhilfe im Umfang von zwei Schulstunden wöchentlich bescheinigt und im Förderplan die Leistungsdefizite im Einzelnen angegeben (Stellenwerttabelle, Zahlenstrahl, Kopfrechnen, kleines 1 x 1). Aus dem Halbjahreszeugnis vom 29.01.2021 ist ersichtlich, dass sowohl das Arbeitsverhalten als auch das Sozialverhalten des Antragstellers mit der Note „gut“ beurteilt worden ist. Demgegenüber wird zwar seine Aufmerksamkeit im Mathematikunterricht mit mangelhaft und sein Sozialverhalten als „gleichgültig passiv“ sowie das Verhalten im (Mathematik-)Unterricht insgesamt als „wechselhaft“ bezeichnet. Die Mutter des Antragstellers hat aber glaubhaft gemacht, dass dieses Verhalten des erst zwölfjährigen Antragstellers seine Ursache gerade in den im Fach Mathematik vorhandenen Wissenslücken hat. Es ist für das Gericht gut nachvollziehbar, dass auch die als nicht ausreichend beurteilte mündliche Mitarbeit im Mathematik-Unterricht auf den beschriebenen mangelnden Kenntnissen beruht. Hinzu kommen die aktuellen schulischen Bedingungen infolge der Corona-Pandemie, die   soweit überhaupt Präsenzunterricht stattfinden kann – durch Wechselunterricht und die Notwendigkeit, in der übrigen Zeit zu Hause lernen zu müssen, gerade eine mündliche Mitarbeit im Unterricht einschränkt bzw. zeitweise sogar ganz ausschließt. Die Halbjahresnote „ausreichend“ im Fach Naturwissenschaften bestätigt zudem, dass sich der Antragsteller offenbar im Unterricht in den Fächern des mathematisch-naturwissenschaftlich-technischen Fachbereichs III besonders schwer tut, nicht aber, dass er in diesen Fächern ein ihm als Zwölfjährigem vorwerfbares Fehlverhalten zeigt. So hat bereits das Bundesverfassungsgericht in seiner Entscheidung vom 09.02.2010 (1 BvL 01/09 u. a., Rn. 191), wenn auch in anderem Zusammenhang, darauf hingewiesen, dass Kinder „keine kleinen Erwachsenen“ sind. Diese Erkenntnis ist bei der Beantwortung der Frage, ob es im konkreten Fall an einem ernsthaften Bemühen des Schülers fehlt, ein ausreichendes Leistungsniveau zu erreichen, zu Gunsten des Antragstellers zu berücksichtigen.

Nachdem somit die Geeignetheit und Notwendigkeit einer Lernförderung glaubhaft gemacht ist, ist auch der von der Fachlehrerin vorgeschlagene Umfang der empfohlenen Nachhilfe von zwei Schulstunden wöchentlich als angemessen im Sinne von § 28 Abs. 5 Satz 1 SGB II anzusehen. 

Die Eilbedürftigkeit dieser Entscheidung, der Anordnungsgrund, ergibt sich aus den im laufenden Schuljahr verbleibenden nur noch drei Monaten, um das Lernziel im Fach Mathematik zu erreichen.

Der Antragsgegner war daher vorläufig zu der vom Antragsteller begehrten Leistungsgewährung zu verpflichten.

Die zeitliche Dauer dieser Verpflichtung hat die Kammer auf die Zeit von der Zustellung dieses Beschlusses an den Antragsgegner bis zum Ende der Unterrichtszeit vor den Sommerferien begrenzt, weil die Lernziele der 5. Klasse dann erreicht sein müssten.

Die Beschwerde gegen diesen Beschluss ist unter Berücksichtigung des 750 Euro nicht übersteigenden Beschwerdewertes ausgeschlossen (§ 172 Abs. 3 Nr. 1 in Verbindung mit § 144 Abs. 1 Satz 1 Nr. 1 SGG).

Rechtskraft
Aus
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