S 19 U 95/11

Land
Hessen
Sozialgericht
SG Wiesbaden (HES)
Sachgebiet
Unfallversicherung
1. Instanz
SG Wiesbaden (HES)
Aktenzeichen
S 19 U 95/11
Datum
2. Instanz
Hessisches LSG
Aktenzeichen
L 3 U 70/19
Datum
3. Instanz
-
Aktenzeichen
-
Datum
-
Kategorie
Gerichtsbescheid

Die Klage wird abgewiesen.

Die Beteiligten haben einander keine Kosten zu erstatten.

Tatbestand

Der Kläger begehrt die Anerkennung einer Lendenwirbelsäulenerkrankung als Berufskrankheit und die Gewährung von Leistungen aus der gesetzlichen Unfallversicherung. 

Mit Schreiben vom 16.3.2010 zeigte die gesetzliche Krankenkasse des Klägers den Verdacht einer Berufskrankheit bei der Beklagten an. Der Kläger berichtete, als LKW-Fahrer auf unebenen Straßen in Kasachstan in der Zeit von 1975-1991 tätig gewesen zu sein. Von 1989 bis 1991 fuhr er Radlader. In den Jahren 1992-93 arbeitete er mit Beton und einem Vorschlaghammer. In den Jahren 1993-1995 war er mit dem Abscheiderglätten durch einen Besen beschäftigt. Von 1995-2003 sortierte er Kokillen aus und hob spezielle Behälter. Von 2003-2008 beförderte er 15-20 kg Sandkerne ganztägig Treppen auf- und abwärts. In den Jahren 2007-2008 war er in der Sandaufbereitung beschäftigt und hob gelegentlich Sandsäcke, die 50 kg schwer waren, auf und schüttelte diese aus. Seine Angaben über diese wirbelsäulenbelastenden Tätigkeiten ergänzte der Kläger mit Schreiben vom 12.4.2010. Die Beklagte holte eine Auskunft des behandelnden Orthopäden C. vom 5.5.2010 und des Orthopäden Dr. D. vom 14.6.2010 ein. Die Beratungsärztin Dr. E. nahm am 16.7.2010 Stellung. Im Bescheid vom 12.8.2010 lehnte die Beklagte die Anerkennung einer Berufskrankheit nach Nummer 2108 bzw. Nr. 2110 der Anlage 1 zur Berufskrankheitenverordnung (BKV) ab. Hiergegen legte der Kläger am 23.8.2010 Widerspruch ein. Die Beratungsärztin Dr. E. nahm am 15.11.2010 ergänzend Stellung. Auch der Kläger ergänzte seine Angaben über die wirbelsäulenbelastenden Tätigkeiten erneut am 10.1.2011. Nach einer Stellungnahme des Präventionsdienstes vom 10.2.2011 und der Stellungnahme zur Arbeitsplatzexposition vom 2.3.2011 und vom 17.3.2011 half die Beklagte im Widerspruchsbescheid vom 5.7.2011 dem Widerspruch nicht ab. Hiergegen hat der Kläger am 4.8.2011 Klage erhoben.

Der Kläger ist der Ansicht, die Voraussetzungen für die Anerkennung einer Berufskrankheit nach Nummer 2108 und 2110 der BKV lägen vor.

Der Kläger beantragt ausdrücklich:
Unter Abänderung der bezeichneten Bescheide wird die Beklagte verurteilt, eine Berufskrankheit Nr. 2108 und 2110 anzuerkennen und zu entschädigen.

Der Kläger beantragt ferner ausdrücklich hilfsweise: 
Als Sachverständiger nach § 106 SGG, hilfsweise nach § 109 SGG wird bezeichnet Herr Prof. Dr. F. 

Die Beklagte beantragt, 
die Klage abzuweisen.

Sie behauptet, die medizinischen Voraussetzungen für die Anerkennung der Berufskrankheit liegen nicht vor.

Das Gericht hat Beweis erhoben durch Einholung eines fachorthopädischen-sozialmedizinischen Gutachtens des Orthopäden und Unfallchirurgen Dr. G. Wegen des Ergebnisses der Beweisaufnahme wird auf das Gutachten vom 13.6.2012 (Bl. 81 ff. d. Akte) verwiesen. Das Gericht hat ferner zur weiteren Sachverhaltsermittlung einen Befundbericht des Dr. D. vom 9.11.2011 und des Arztes C. vom 21.11.2011 eingeholt. Das Gericht hat mit Verfügung vom 22.6.2012 die Zahlung eines Kostenvorschusses in Höhe von 1.500 € angefordert, der nicht einging. Die Beteiligten wurden mit Verfügung vom 29.8.2012 zum Gerichtsbescheid angehört. Wegen des übrigen Sach- und Streitstandes wird auf die Verwaltungsakte und die Gerichtsakte, wie der Kammer bei der Entscheidung vorlagen, inhaltlich verwiesen und Bezug genommen.


Entscheidungsgründe

Das Gericht konnte durch Gerichtsbescheid entscheiden, weil die Sache keine besonderen Schwierigkeiten tatsächlicher oder rechtlicher Art aufweist und der Sachverhalt geklärt ist, § 105 Abs. 1 S. 1 Sozialgerichtsgesetz (SGG). Die Beteiligten wurden vorher gehört. Die Klage ist zulässig. Das Gericht legt den Antrag des Klägers dahingehend aus, die Anerkennung einer Berufskrankheit nach Ziffer 2108 oder 2110 und wegen dieser Leistungen aus der gesetzlichen Unfallversicherung zu begehren. Das Gericht kann zulässigerweise einen Antrag des Klägers auslegen (vgl. Meyer-Ladewig, SGG, 10. Aufl., § 92, Rn. 12). Der Antrag ist jedoch unbegründet. Die streitgegenständlichen Bescheide sind rechtmäßig. Der Kläger hat keinen Anspruch auf Feststellung einer Berufskrankheit und demzufolge auch keinen Anspruch auf Gewährung von Leistungen aus der gesetzlichen Unfallversicherung. 
Nach Auffassung der Kammer hat der Kläger keine Berufskrankheit erlitten und kann demzufolge nicht die Feststellung seiner Gesundheitsstörungen als Folgen einer Berufskrankheit verlangen. Berufskrankheiten sind Krankheiten, die die Bundesregierung durch Rechtsverordnung mit Zustimmung des Bundesrates als Berufskrankheiten bezeichnet und die Versicherte infolge einer den Versicherungsschutz nach § 2, 3 oder 6 begründenden Tätigkeit erleiden, § 9 Abs. 1 S. 1 Sozialgesetzbuch Siebtes Buch   Gesetzliche Unfallversicherung – (SGB VII). Die Bundesregierung wird ermächtigt, in der Rechtsverordnung solche Krankheiten als Berufskrankheiten zu bezeichnen, die nach den Erkenntnissen der medizinischen Wissenschaft durch besondere Einwirkungen verursacht sind, denen bestimmte Personengruppen durch ihre versicherte Tätigkeit in erheblich höherem Grade als die übrige Bevölkerung ausgesetzt sind; sie kann dabei bestimmen, dass die Krankheiten nur dann Berufskrankheiten sind, wenn sie durch Tätigkeiten in bestimmten Gefährdungsbereichen verursacht worden sind oder wenn sie zur Unterlassung aller Tätigkeiten geführt haben, die für die Entstehung, die Verschlimmerung oder das Wiederaufleben der Krankheit ursächlich waren oder sein können, § 9 Abs. 1 S. 2 SGB VII. Zwar ist der Kläger Versicherter i. S. d. § 2 Abs. 1 Ziffer 1 SGB VII, jedoch erfüllt die bei ihm festgestellte Erkrankung keine Voraussetzungen einer der in der Anlage 1 zur BKV beschriebenen Berufskrankheiten.

In der Anlage 1 zur BKV wird unter 2108 folgende Krankheit beschrieben: Bandscheibenbedingte Erkrankungen der Lendenwirbelsäule durch langjähriges Heben oder Tragen schwerer Lasten oder durch langjährige Tätigkeiten in extremer Rumpfbeugehaltung, die zur Unterlassung aller Tätigkeiten gezwungen haben, die für die Entstehung, die Verschlimmerung oder das Wiederaufleben der Krankheit ursächlich waren oder sein können. Danach müssen für die Anerkennung und Entschädigung einer Erkrankung als BK 2108 folgende Tatbestandsmerkmale gegeben sein: Bei dem Versicherten muss eine bandscheibenbedingte Erkrankung der Lendenwirbelsäule vorliegen, die durch langjähriges berufsbedingtes Heben oder Tragen schwerer Lasten oder durch langjährige berufsbedingte Tätigkeiten in extremer Rumpfbeugehaltung (sog. arbeitstechnische Voraussetzungen) entstanden ist. Die Erkrankung muss den Zwang zur Unterlassung aller gefährdenden Tätigkeiten herbeigeführt haben, und als Konsequenz aus diesem Zwang muss die Aufgabe dieser Tätigkeiten tatsächlich erfolgt sein. In der Anlage 1 zur BKV unter 2110 wird die bandscheibenbedingte Erkrankung der Lendenwirbelsäule durch langjährige, vorwiegend vertikale Einwirkung von Ganzkörperschwingungen im Sitzen, die zur Unterlassung aller Tätigkeiten gezwungen haben, die für die Entstehung, die Verschlimmerung oder das Wiederaufleben der Krankheit ursächlich waren oder sein können, beschrieben. Für das Vorliegen des Tatbestandes der Berufskrankheit ist ein ursächlicher Zusammenhang zwischen der versicherten Tätigkeit und der schädigenden Einwirkung einerseits (haftungsbegründende Kausalität) und zwischen der schädigenden Einwirkung und der Erkrankung andererseits (haftungsausfüllende Kausalität) erforderlich. Dabei müssen die Krankheit, die versicherte Tätigkeit und die durch sie bedingten schädigenden Einwirkungen einschließlich deren Art und Ausmaß i. S. des Vollbeweises, also mit an Sicherheit grenzender Wahrscheinlichkeit nachgewiesen werden, während für den ursächlichen Zusammenhang als Voraussetzung der Entschädigungspflicht, der nach der auch sonst im Sozialrecht geltenden Lehre von der wesentlichen Bedingung zu bestimmen ist, grundsätzlich die (hinreichende) Wahrscheinlichkeit - nicht allerdings die bloße Möglichkeit - ausreicht (BSG vom 28.4.2004, B 2 U 33/03 R). 

Der Kläger erfüllt zur Überzeugung der Kammer diese Voraussetzungen zur Anerkennung der BK 2108 und der BK 2110 nicht. Es fehlen bereits die medizinischen Voraussetzungen für die Anerkennung der Berufskrankheiten. Das ergibt sich aus dem Gutachten des Dr. G., dem die Kammer folgt. Der Sachverständige führt in seinem Gutachten vom 13.6.2012 aus, weder die medizinischen Voraussetzungen für das Vorliegen einer BK 2108 noch die einer BK 2110 feststellen zu können. Er stellte bei dem Kläger folgende Diagnosen: Beginnende degenerative Verschleißerkrankung der Halswirbelsäule mit endgradiger Funktionseinschränkung ohne radikuläre Ausfallsymptomatik und ferner eine mittelgradig ausgeprägte degenerative Verschleißerkrankung der Lendenwirbelsäule mit endgradiger Funktionseinschränkung ohne radikuläre Ausfallsymptomatik. Er kann klinisch keine bandscheibenbedingte Erkrankung der Lendenwirbelsäule bei dem Kläger feststellen. Es lasse sich lediglich eine endgradige Funktionseinschränkung im Bereich der Lendenwirbelsäule nachweisen. Die radiologische Untersuchung bestätige eine mittelgradig ausgeprägte Verschleißerkrankung der Lendenwirbelsäule in den Segmenten L4 bis L5 sowie L5 bis L6. Die oberen Segmente der Lendenwirbelsäule hingegen weisen keine derartigen Veränderungen auf. Insbesondere lasse sich keine Spondylose nachweisen. Insofern bestätigte der gerichtlich beauftragte Sachverständige die Einschätzungen der Beratungsärztin aus der Verwaltungsakte. Dr. E. führte in ihrer Stellungnahme vom 16.7.2010 bereits aus, im Sinne der Konsensempfehlungen kein belastungskonformes Schadensbild feststellen zu können, weil sich der festgestellte Schaden bei dem Kläger auf die unteren beiden Segmente eingrenze, eine Begleitspondylose nicht vorliege und mehrsegmentale Black Discs nicht zu sichern seien. In ihrer ergänzenden Stellungnahme vom 15.11.2010 bestätigte sie ihre Einschätzung erneut. Auch in der Literatur wird beschrieben, dass die entsprechenden medizinischen Befunde vorliegen müssen, um überhaupt die Anerkennung einer Berufskrankheit nach Nummer 2108 oder 2110 begehren zu können (Schönberger/Mehrtens/Valentin, Arbeitsunfall und Berufskrankheit, 8. Aufl., S. 480 ff., 495; Mehrtens/Brandenburg, Berufskrankheiten-Verordnung, Loseblatt, M 2108 Anm. 6, M 2110, Anm. 3). Nach den ausführlichen Erläuterungen des Dr. G., auf die verwiesen wird, ist das vorliegend nicht der Fall. Der Sachverständige erläuterte auch unter Bezugnahme auf die Konsensempfehlungen die maßgeblichen Kriterien für die Anerkennung einer Berufskrankheit, nämlich das Vorliegen einer bandscheibenbedingten Erkrankung, ein belastungskonformes Schadensbild, das Verteilungsmuster der Bandscheibenschäden an der Lendenwirbelsäule, Lokalisationsunterschiede zwischen biomechanisch hoch und mäßig belasteten Wirbelsäulenabschnitten und die Entwicklung einer Begleitspondylose. Genau diese Voraussetzungen und auch die Kausalitätsfrage hat Dr. G. unter Berücksichtigung der maßgeblichen Kriterien geprüft und bewertet und im Ergebnis das Vorliegen der medizinischen Voraussetzungen bei dem Kläger verneint. 

Da bereits die Voraussetzungen für die Anerkennung einer Berufskrankheit nicht vorliegen, kann der Kläger auch keine Leistungen aus der gesetzlichen Unfallversicherung wegen dieser begehren.

Die Ausführungen in der Klageschrift des Klägers bezüglich des Sachverständigen Prof. Dr. F. sind als hilfsweiser Antrag auf Einholung eines Gutachtens nach § 109 Sozialgerichtsgesetz (SGG) bei diesem Sachverständigen Prof. Dr. F. auszulegen. Diesen Antrag weist das Gericht zurück. Das Gericht musste das Gutachten nach § 109 SGG nicht einholen. Die Einholung des Gutachtens unterbleibt bei Nichtzahlung innerhalb angemessener Frist. Angemessen ist eine Frist von etwa vier Wochen (Meyer-Ladewig, SGG, 10. Aufl., § 109, Rn. 14c). Gemäß § 109 Abs. 2 SGG kann das Gericht einen Antrag ablehnen, wenn durch die Zulassung die Erledigung des Rechtsstreits verzögert werden würde und der Antrag nach der freien Überzeugung des Gerichts in der Absicht, das Verfahren zu verschleppen, oder aus grober Nachlässigkeit nicht früher vorgebracht worden ist. Das Gericht hat den Vorschuss mit Verfügung vom 22.6.2012 angefordert. Dieser ist nie eingegangen. Der Prozessbevollmächtigte des Klägers hat mit Schriftsatz vom 17.9.2012 den Gerichtsbescheid entgegengesehen und insofern auch nach Auffassung der Kammer zum Ausdruck gebracht, nicht mehr auf die Einholung des Gutachtens nach § 109 SGG zu bestehen.

Die Kostenentscheidung folgt aus § 193 SGG.

Rechtskraft
Aus
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