S 4 R 206/14

Land
Hessen
Sozialgericht
SG Wiesbaden (HES)
Sachgebiet
Rentenversicherung
1. Instanz
SG Wiesbaden (HES)
Aktenzeichen
S 4 R 206/14
Datum
2. Instanz
Hessisches LSG
Aktenzeichen
L 5 R 62/17
Datum
3. Instanz
Bundessozialgericht
Aktenzeichen
B 5 R 189/21 B
Datum
Kategorie
Urteil

1.    Der Bescheid der Beklagten vom 5. Februar 2014 in Gestalt des Widerspruchsbescheides vom 21. Mai 2014 wird aufgehoben. Die Beklagte wird verurteilt, der Klägerin ab dem 1. Oktober 2015 eine befristete Rente wegen voller Erwerbsminderung bis zum 30. September 2018 zu gewähren.    

Im Übrigen wird die Klage abgewiesen. [Siehe Beschluss gem. § 138 SGG vom 26. Januar 2017]

2.    Die Beklagte hat die notwendigen außergerichtlichen Kosten der Klägerin zur Hälfte zu erstatten.
 
Tatbestand

Die Klägerin begehrt eine Erwerbsminderungsrente.

1.    Die Klägerin wurde im April 1972 geboren. Sie ist verheiratet und Mutter von vier Kindern. Zwei ihrer Kinder leiden unter einer Behinderung (GdB 100), das dritte Kind benötigt Pflege (Pflegestufe II). 
Die Klägerin hat nach Abschluss der Hauptschule eine Lehre als Verkäuferin begonnen und zwischenzeitlich als Verkäuferin und Reinigungskraft, zuletzt bei der Stadt A., gearbeitet. Seit November 2012 ist sie als Pflegeperson ihres dritten Kindes bei der Beklagten rentenversichert. Die Familie bezieht Leistungen nach dem SGB II. 

2.    Die Klägerin beantragte im Oktober 2013 eine Erwerbsminderungsrente bei der Beklagten. Die Beklagte holte einen Befundbericht der Hausärztin ein, den sie von ihrer ärztlichen Untersuchungsstelle auswerten ließ. Die Ärztin hielt die Klägerin für voll erwerbsfähig und empfahl eine 6-wöchige Leistung zu medizinischen Rehabilitation.
 
Mit Bescheid vom 5. Februar 2014 lehnte die Beklagte die Gewährung einer Erwerbsminderungsrente ab. Sie sah die medizinischen Voraussetzungen nicht als erfüllt an. Dabei berücksichtigte sie eine Adipositas, chronische Schmerzen mit zunehmender Immobilität, Kniegelenks- und Fußarthrose, Asthma, Depression und einen Nabelbruch mit zweifacher Operation. Mit Widerspruchsbescheid vom 21. Mai 2014 wies die Beklagte den Widerspruch, den die Klägerin nicht begründet hatte, zurück. 

3. Dagegen hat die Klägerin am 20. Juni 2014 Klage zum Sozialgericht Wiesbaden erhoben. 

a. Das Sozialgericht hat einen Befundberichte der Fachärztin für Allgemeinmedizin D., A-Stadt, eingeholt. Sie beschreibt im Januar 2015 eine schwere Adipositas, Luftnot bei Asthma, eine schmerzhafte Arthrose beider Kniegelenke, ein Lendenwirbelsäulensyndrom, Gicht mit Gichtanfällen in beiden Füßen, ein beidseitiges Karpaltunnelsyndrom, einen großen, wiederkehrenden, inoperablen und schmerzhaften Bauchdeckenbruch sowie eine depressive Verstimmung. Sie übersendet den Entlassungsbrief der Chirurgie der Paulinien Klinik A-Stadt, wo im Oktober 2010 eine 20 x 15 cm große Bauchwandhernie operiert worden war. 
Weiter hat das Gericht die Akte des Versorgungsamts beigezogen. Darin finden sich ein Arztbriefe von zwei Pneumologen und Allergologen (Dr. G. und Dr. H., beide A-Stadt), die im März bzw. November 2009 nach Lungenfunktionsprüfungen übereinstimmend ein Asthma bronchiale mit mäßiger bis mittelgradiger obstruktiv-restriktiver Ventilationsstörung diagnostizierten. Außerdem finden sich Befunde, die einen großen Bruch der Bauchwand im Mai 2006 mit Operation im September 2006 dokumentieren. Der Neurologe und Psychiater L., A-Stadt, diagnostizierte im Februar 2010 ein beidseitiges Karpaltunnelsyndrom.

Außerdem hat das Gericht ein sozialmedizinisches Gutachten bei Dr. F., Facharzt für Allgemeinmedizin und für Physikalische und Rehabilitative Medizin, A-Stadt, eingeholt. Der Sachverständige hat die Klägerin August 2015 untersucht. Er stellte ein ausgeprägtes Übergewicht (140 kg bei einer Größe von 164 cm) und eine „riesige“, schmerzhafte Bauchwandhernie mit einem Ausmaß von 29 x 35 cm, deutlicher Vorwölbung und Vorfall von Darmschlingen fest. Dieser erneute Bruch sei im März 2015 durch Überlastung bei einem Umzug aufgetreten. Die Untersuchung ergab Schmerzen der oberen Sprunggelenke und der Lendenwirbelsäule bei in jeder Hinsicht normaler Beweglichkeit aller untersuchten Gelenke. Klinische Hinweise auf ein Carpaltunnelsyndrom zeigten sich bei der Untersuchung nicht (neurologische Messungen wurden nicht vorgenommen). Die Atmung war normal (Lungenfunktionstests wurden nicht durchgeführt). Der Sachverständige stellte fest, dass die Klägerin an extremem (BMI 52) und dringend behandlungsbedürftigen Übergewicht, an allergisch bedingten, ausschließlich saisonalen (Sommer) Asthma, an Kniegelenks-, Fuß-, Handgelenks- und Lendenwirbelsäulenbeschwerden sowie an einer reaktive Dysthymie leide. Derzeit sei das Leistungsvermögen wegen der riesigen Bauchwandhernie aufgehoben, denn es bestehe die Gefahr einer Inkarzeration. Nach einer erneuten Hernien-Operation könnte die Klägerin innerhalb von 6 Monaten wieder körperlich leichte Tätigkeiten ausüben. Das extreme Übergewicht schränke die Leistungs- und Erwerbsfähigkeit der Klägerin erheblich ein und sei (wegen einer Überlastung der Kapsel- und Bandansätze) die Ursache der Gelenksbeschwerden und der wiederkehrenden Bauchwandbrüche; der Sachverständige beschreibt das Übergewicht zunächst als „krankhaft“, dann teilt er mit, es habe derzeit „keinen eigenständigen Krankheitswert“. Die gesundheitlichen Probleme ließen sich bei einer Operation der Hernie und einer erheblichen Gewichtsreduktion voraussichtlich beheben. Die Beeinträchtigungen bestehen seit Oktober 2013 und haben sich seitdem verschlechtert. 

Die Klägerin hat nach der Begutachtung weitere Arztbriefe überreicht. Der Neurologe und Psychiater L. diagnostiziert im September 2015 ein stärker ausgeprägtes Karpaltunnelsyndrom beidseits. Das Adipositaszentrum des Krankenhauses Sachsenhausen teilte im Oktober 2015 mit, das Gewicht betrage 145,7 kg bei einer Größe von 160 cm, der BMI sei 57, eine Versorgung des „monströsen“ Bauchwandbruchs sei dringend erforderlich, müsse jedoch nach einer Magenverkleinerung erfolgen, weil ansonsten von einem erneuten Scheitern auszugehen sei. Die Radiologen Dres J. und K., A-Stadt, untersuchten die Klägerin im September und Oktober 2015 und stellten einen großvolumigen Fersensporn links, Kniegelenksarthrosen beidseits sowie an der Lendenwirbelsäule eine Osteochondrose mit Spondylophyten und Arthrose der Gelenke fest. Die Orthopädin I., A-Stadt, diagnostizierte im Januar 2016 ein chronisches Schmerzsyndrom der Wirbelsäule, Dauerschmerzen der Kniegelenke und der Füße, die Gehdauer betrage maximal 5 Minuten, Treppensteigen sei nur unter großer Kraftanstrengung möglich. 

Am 1. Juni 2016 ist eine operative Magenverkleinerung (Schlauchmagen-Operation) erfolgt. Der Ehemann der Klägerin hat in der mündlichen Verhandlung im November 2016 berichtet, dass die Klägerin seit der Magenoperation fast 40 kg abgenommen habe. Eine Operation des Bauchwandbruchs sei aber bisher weder erfolgt noch terminiert, dazu sei das Gewicht noch zu hoch. Die Ernährung sei sehr mühsam geworden. Psychisch gehe es der Klägerin seit der Operation sehr schlecht, sie sei reizbar und antriebslos geworden.

b. Die Klägerin persönlich trägt vor, sie könne nicht mehr 6 Stunden täglich arbeiten. Ihre Füße seien jeden Tag taub, sie habe Schmerzen beim Gehen, könne nicht mehr als 400 m weit gehen und sei an manchen Tagen außer Stande, Treppen zu steigen. Ihr Bauchdeckenbruch könne nicht operiert werden, sie leide unter großen Schmerzen im Bauch, müsse sich übergeben und habe Schwierigkeiten bei der Verdauung. Ihre Finger schmerzten und seien taub, sie habe starke Rückenschmerzen. 

Ihr Bevollmächtigter verweist auf das Gutachten von Dr. F.. Die Klägerin sei bereits seit mehr als sechs Monaten erwerbsunfähig, dieser Zustand bestehe voraussichtlich auch noch länger. 

Der Bevollmächtigte der Klägerin beantragt, 
den Bescheid der Beklagten vom 5. Februar 2014 in Gestalt des Widerspruchsbescheides vom 21. Mai 2014 aufzuheben und die Beklagte zu verurteilen, der Klägerin ab Mai 2014 eine befristete Rente wegen voller Erwerbsminderung zu gewähren, basierend auf einem Versicherungsfall vom 9. Oktober 2013 (Antragstellung).

Die Beklagte beantragt,
die Klage abzuweisen.

Die Klägerin könne täglich 6 Stunden leichte Tätigkeiten überwiegend im Sitzen ausüben. Die Bauchwandhernie verursache keine Komplikationen. Eine Operation der Hernie wäre nicht duldungspflichtig. Die Beklagte hält eine Rehabilitationsbehandlung für angezeigt. 

Die Akte der Beklagten lag dem Gericht vor. Zum Sachverhalt wird ergänzend auf die Gerichts- und die Verwaltungsakte verwiesen.


Entscheidungsgründe

1.    Die zulässige Klage ist im tenorierten Umfang begründet. 

Die Klägerin ist durch die angegriffenen Entscheidung in ihren Rechten verletzt. Sie hat Anspruch auf Gewährung einer Rente wegen voller Erwerbsminderung ab 1. Oktober 2015 bis 30. September 2018.

a.    Rechtsgrundlage der Entscheidung ist § 43 SGB VI. Nach dieser Vorschrift haben Versicherte bei Vorliegen der versicherungsrechtlichen Voraussetzungen (Abs. 2 S. 1 Nr. 2 und 3) bis zur Vollendung des 65. Lebensjahres Anspruch auf Rente, wenn sie erwerbsgemindert sind. Solange eine versicherte Person unter den üblichen Bedingungen des allgemeinen Arbeitsmarkts mindestens sechs Stunden täglich erwerbstätig sein kann, ist sie voll erwerbsfähig; dabei ist die jeweilige Arbeitsmarktlage nicht zu berücksichtigen (§ 43 Abs. 3 SGB VI). Teilweise erwerbsgemindert sind versicherte Personen, die wegen Krankheit oder Behinderung auf nicht absehbare Zeit außerstande sind, unter den üblichen Bedingungen des allgemeinen Arbeitsmarkts mindestens sechs Stunden täglich erwerbstätig zu sein (§ 43 Abs. 1 S. 2 SGB VI). Sinkt die Leistungsfähigkeit auf unter drei Stunden täglich ab, besteht volle Erwerbsminderung (§ 43 Abs. 2 S. 2 SGB VI).
 
Das Bundessozialgericht gliedert die Prüfung der Erwerbsminderung in folgende Schritte (BSG, Urt. v. 9. Mai 2012 - B 5 R 68/11 R -, juris, Rn. 11 ff.): In einem ersten Schritt ist das krankheits- und behinderungsbedingte (Rest-)Leistungsvermögen festzustellen. Zu erheben sind hier im Einzelnen zunächst Art, Ausprägung und voraussichtliche Dauer der Krankheiten oder Behinderungen, d.h. regelwidrige Körper- bzw. Geisteszustände, an denen eine versicherte Person leidet. Weiter ist zu erheben, inwieweit die Krankheiten oder Behinderungen das Leistungsvermögen in quantitativer und qualitativer Hinsicht einschränken (Minderbelastbarkeiten, Funktionsstörungen und -einbußen). Für die Rentengewährung sind dabei nur krankheits- oder behinderungsbedingte Leistungseinschränkungen relevant; Leistungsminderungen, die auf sonstigen Umständen wie Lebensalter, fehlenden Sprachkenntnissen, Arbeitsentwöhnung oder Analphabetismus beruhen, begründen keinen Anspruch nach § 43 SGB VI.

Steht das krankheits- bzw. behinderungsbedingte (Rest-)Leistungsvermögen fest, ist im nächsten Prüfungsschritt die Rechtsfrage zu klären, ob es der versicherten Person trotz dieser Einschränkungen möglich ist, durch irgendeine Tätigkeit Erwerbseinkommen zu erzielen, oder ob sie damit auf nicht absehbare Zeit außerstande ist, unter den üblichen Bedingungen des allgemeinen Arbeitsmarkts tätig zu sein. „Bedingungen des Arbeitsmarkts" sind dabei alle Faktoren, die wesentliche Grundlage des Arbeitsverhältnisses sind. Hierzu gehört vor allem der rechtliche Normrahmen, wie etwa Dauer und Verteilung der Arbeitszeit, Pausen- und Urlaubsregelungen, Beachtung von Arbeitsschutzvorschriften sowie gesetzliche Bestimmungen und tarifvertragliche Vereinbarungen. Die Bedingungen sind "üblich", wenn sie nicht nur in Einzel- oder Ausnahmefällen anzutreffen sind, sondern in nennenswertem Umfang und in beachtlicher Zahl. Der Arbeitsmarktbegriff erfasst alle denkbaren Tätigkeiten, für die es faktisch Angebot und Nachfrage gibt. Das Adjektiv "allgemein" grenzt den ersten vom zweiten – öffentlich geförderten – Arbeitsmarkt sowie von Sonderbereichen ab. Wer in einem Betrieb unter den dort üblicherweise herrschenden Bedingungen arbeiten kann, ist auch imstande, "unter den üblichen Bedingungen des allgemeinen Arbeitsmarkts" tätig zu sein. Bei qualitativen Einschränkungen kann im Regelfall (iS einer widerlegbaren tatsächlichen Vermutung) davon ausgegangen werden, dass eine versicherte Person, die zumindest körperlich leichte und geistig einfache Tätigkeiten - wenn auch mit qualitativen Einschränkungen - wenigstens sechs Stunden täglich verrichten kann, noch in der Lage ist, erwerbstätig zu sein.

Eine Erwerbsminderung auf „nicht absehbare Zeit“ i.S.d. § 43 Abs. 2 S. 2 SGB VI liegt vor, wenn eine rentenrelevante Leistungseinschränkung über einen Zeitraum von mehr als sechs Monaten besteht. Dies folgt im Rückschluss aus der Regelung des § 101 Abs. 1 SGB VI, wonach befristete Renten wegen voller Erwerbsminderung nicht vor dem Beginn des siebten Kalendermonats nach dem Eintritt der Minderung der Erwerbsfähigkeit zu leisten sind. Bei dieser Beurteilung ist eine rückschauende Betrachtungsweise zum Zeitpunkt der Entscheidung der Beklagten über den Rentenantrag bzw. zum Zeitpunkt der gerichtlichen Entscheidung geboten. Wird retrospektiv festgestellt, dass die Leistungsminderung bzw. Leistungsunfähigkeit tatsächlich länger als sechs Monate angedauert hat, so ist der Leistungsfall der Erwerbsminderung ab dem Beginn der Leistungsminderung bzw. Leistungsunfähigkeit eingetreten, unabhängig davon, ob seinerzeit Aussicht auf Behebung der Leistungsminderung bestanden hat. Die prognostisch zu beurteilende Aussicht auf Behebung der Erwerbsminderung ist lediglich für die Dauer der Rentengewährung, nicht hingegen für den Eintritt des Leistungsfalls der Erwerbsminderung von Bedeutung (vgl. HLSG, Urt. v. 22. Februar 2013 - L 5 R 211/12 -, juris, Rn. 42, 44 m.w.N.; LSG Hamburg, Urt. v. 22. Oktober 2013 - L 3 R 92/11 -, juris, Rn. 24).

b. Danach ist die Klägerin seit März 2015 voll erwerbsgemindert. 

Die Klägerin ist außerstande, täglich mehr als drei Stunden auf dem allgemeinen Arbeitsmarkt tätig zu sein. Das Gericht schließt sich der nachvollziehbaren Einschätzung des erfahrenen arbeitsmedizinischen Sachverständigen Dr. F. an und geht davon aus, dass die Bauchwandhernie eine volle Erwerbsminderung verursacht, weil die Klägerin Schmerzen hat und ständig eine mit erheblichen Gesundheitsgefahren verbundene Einklemmung des vorgefallenen Darmgewebes droht. Auch das Adipositaszentrum des Krankenhauses Sachsenhausen sieht im Oktober 2015 die Gefahr einer Inkarzeration. Die Beklagte bzw. ihre Beratungsärztin begründet die abweichende Einschätzung nicht, sondern verweist nur darauf, dass bisher keine Komplikationen aufgetreten sind. Damit ist aber über das Risiko einer Verschlechterung nichts ausgesagt, insbesondere weil die Klägerin seit dem Bruch keiner Erwerbstätigkeit nachgeht. 

Der o.g. Zustand besteht seit dem März 2015. Der erneute Bauchwandbruch ist nach den glaubhaften, von der Beklagten nicht bezweifelten Angaben der Klägerin im März 2015 aufgetreten. Ein radiologischer Befund aus dem Juli 2015 beschreibt zwei Bauchwandhernien von 65 x 8 cm Größe bzw. 3 cm Größe ohne Inkarzeration. Im August 2015 stellte Dr. F. eine schmerzhafte Bauchwandhernie von 29 x 35 cm ohne Inkarzeration fest. Das Adipositaszentrum des Krankenhaus Sachsenhausen bestätigt im Oktober 2015 ebenfalls einen „monströsen“ Bauchdeckenbruch. 

Die volle Erwerbsminderung besteht in der gebotenen rückschauenden Betrachtung zum Zeitpunkt der mündlichen Verhandlung seit über sechs Monaten, d.h. „auf nicht absehbare Zeit“ i.S.d. § 43 Abs. 2 S. 2 SGB VI. Dabei komme es auf den aktuellen Körperzustand der Versicherten an. Die Frage, ob eine Operation der Hernie bereits zu einem früheren Zeitpunkt möglich gewesen wäre, ist in diesem Zusammenhang schon deshalb irrelevant, weil die Mitwirkung eines Versicherten an einer konkreten Heilbehandlung nach § 65 SGB I im Regelfall zunächst ein konkretes Verlangen des Leistungsträgers voraussetzt, das hier nicht ausgesprochen wurde. Zudem war der rezidivierende Bauchdeckenbruch nach nachvollziehbarer und übereinstimmender Einschätzung der behandelnden Ärzte (Hausärztin, Chirurgie der Paulinenklinik A-Stadt, Adipositaszentrum im Krankenhaus Sachsenhausen) über einen langen Zeitraum hinweg nicht operabel, weil das massive Übergewicht der Klägerin einen Operationserfolg sehr unwahrscheinlich erscheinen ließ. 

c. Der Anspruch ist befristet bis Ende März 2018 und besteht ab Oktober 2015.

Nach § 102 Abs. 2 SGB VI werden Renten wegen verminderter Erwerbsfähigkeit grundsätzlich nur für maximal drei Jahre gewährt. Ausnahmsweise wird die Rente auf Dauer bewilligt, wenn unwahrscheinlich ist, dass die Erwerbsminderung behoben werden kann. Die Erwerbsminderung der Klägerin beruht auf der Bauchwandhernie. Es ist nicht unwahrscheinlich, dass dieser Bruch behoben werden kann, sobald sich ihr Körpergewicht deutlich normalisiert hat, was infolge der Magenoperation zu erwarten ist. Das Gericht schöpft die maximale Befristung von drei Jahren aus, weil nicht zu erwarten ist, dass die Klägerin früher wieder erwerbsfähig sein wird. Ihre Magenoperation fand am 1. Juni 2016 statt. Das Gewicht soll von zuletzt 145 kg auf ca. 80 kg reduziert werden, also um 65 kg. Dieser Prozess dauert ein bis anderthalb Jahre, d.h. eine Operation der Hernie wird voraussichtlich gegen Ende des Jahres 2017 möglich sein. In den ersten drei Monaten nach dieser Operation besteht noch keine Erwerbsfähigkeit, wie sie aus den Empfehlungen nach den ersten beiden Hernien-Operationen ergibt.

Eine befristete Rente beginnt nach § 101 Abs. 1 SGB VI zum siebten Monat nach dem Eintritt der Erwerbsminderung. Die Erwerbsminderung entstand im März 2015, der siebte Monat nach diesem Datum beginnt am 1. Oktober 2015. 

d. Ein Rentenanspruch ab Mai 2014 besteht dagegen nicht. 

Das Gericht misst die übrigen Gesundheitsbeeinträchtigungen der Klägerin, die bereits vor dem erneuten Auftreten eines großen Bauchwandbruchs im März 2015 bestanden, keine rentenberechtigende Bedeutung zu. Auch insoweit schließt sich das Gericht den überzeugenden Ausführungen des Sachverständigen an. So führen das Asthma bronchiale, die Knie- und Fußgelenksbeschwerden, die Beschwerden der Lendenwirbelsäule und der Handgelenke zwar zu qualitativen Einschränkungen: Die Klägerin kann nur noch körperlich leichte Tätigkeiten in klimatisierten, trockenen und reizfreien Räumen verrichten, bei denen sie ihre Körperhaltung wechseln kann. Sie kann keine Lasten über 5 kg tragen oder heben, sich weder beugen noch bücken, nicht hocken oder knien, keine Zwangshaltungen einnehmen, keine Leitern und Gerüste oder sonstige Orte mit Absturzgefahr besteigen. Unter Berücksichtigung dieser Einschränkungen ergibt sich aber keine quantitative Minderung der Erwerbsfähigkeit.

2. Die Kostenentscheidung beruht auf § 193 SGG. Zwar war die Klage noch nicht begründet, als sie im Juli 2014 erhoben wurde; der angegriffene Bescheid und Widerspruchsbescheid waren zunächst rechtmäßig. Erst mit dem Auftreten eines erneuten Bauchwandbruchs im März 2015 trat die volle Erwerbsminderung ein. Die Beklagte hat die außergerichtlichen Kosten der Klägerin gleichwohl zur Hälfte zu tragen, weil sie trotz der Befundänderung im Laufe des Prozesses und des Nachweises der vollen Erwerbsminderung durch das Gutachten von Dr. F. das Verfahren streitig fortgeführt hat.

Rechtskraft
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