L 6 SB 3521/19

Land
Baden-Württemberg
Sozialgericht
LSG Baden-Württemberg
Sachgebiet
Schwerbehindertenrecht
Abteilung
6.
1. Instanz
SG Karlsruhe (BWB)
Aktenzeichen
S 12 SB 4444/18
Datum
2. Instanz
LSG Baden-Württemberg
Aktenzeichen
L 6 SB 3521/19
Datum
3. Instanz
-
Aktenzeichen
-
Datum
-
Kategorie
Urteil

Auf die Berufung der Klägerin werden der Gerichtsbescheid des Sozialgerichts Karlsruhe vom 13. September 2019 sowie der Bescheid vom 25. Juni 2018 in der  Gestalt des Widerspruchsbescheides vom 16. November 2018 abgeändert und der Beklagte verpflichtet, bei der Klägerin ab dem 5. Juni 2018 einen GdB von 30 und ab dem 26. September 2019 einen GdB von 40 festzustellen.

Im Übrigen wird die Berufung der Klägerin zurückgewiesen.

Der Beklagte hat der Klägerin ein Drittel ihrer außergerichtlichen Kosten in beiden Instanzen zu erstatten.

 

Tatbestand

Die Klägerin begehrt die höhere Erstfeststellung des Grades der Behinderung (GdB) mit mehr als 20.

Sie ist im Mai 1979 in Rumänien geboren. Von ihrem 5. bis 11. Lebensjahr betrieb sie Leistungssport (Geräteturnen). Die Schulausbildung schloss sie in Rumänien mit dem Abitur ab. Eine Ausbildung machte die Klägerin nicht. Im 20. Lebensjahr kam sie nach Deutschland. Ab dem Jahr 2000 war sie als Gebäudereinigerin tätig und ab dem Jahr 2002 als Servicekraft in der Gastronomie. Seit dem Jahr 2004 ist die Klägerin als angelernte Produktionsarbeiterin in Vollzeit im 3-Schichtdienst beschäftigt. Arbeitsunfähigkeit besteht seit dem 2. Mai 2018. Die Klägerin ist geschieden und Mutter von zwei Söhnen, die in den Jahren 1999 und 2009 geboren sind. Sie lebt mit ihrem Lebensgefährten zusammen. Ihr jüngster Sohn lebt bei seinem Vater, ist aber an drei Tagen in der Woche bei ihr. In ihrer Freizeit liest sie, hört Musik und macht Sport.      

Am 5. Juni 2018 beantragte die Klägerin erstmals beim Landratsamt R. (LRA) die Feststellung des GdB. Als zu berücksichtigende Gesundheitsstörung gab sie ein Fibromyalgiesyndrom an. Mit dem Antrag legte die Klägerin den Bericht über den stationären Aufenthalt im Mai 2018 in der ACURA Klinik für Psychosomatik und Psychotherapie B. vor. Hieraus ergaben sich als Diagnosen Fibromyalgiesyndrom, Eisenmangel, Osteopenie am Schenkelhals, Z. n. Tendovaginitis stenosans Digitus II beidseits und Operation 01/2016, Z. n. ASK beide Ellenbogen 2016/2017. Anamnestisch gab die Klägerin Schmerzen in beiden Händen, in beiden Ellenbogen und in der gesamten Wirbelsäule (WS) an. Die Schmerzen hätten vor drei Jahren begonnen, seit einem Jahr habe sie keine schmerzfreien Zeiten mehr. Der psychopathologische Befund zeigte eine bewusstseinsklare, allseits orientierte Patientin mit gepflegtem Erscheinungsbild. Psychomotorik und Mimik waren regelgerecht, Antrieb- und Schwingungsfähigkeit erhalten. Die Grundstimmung war niedergeschlagen, es bestand ein Gefühl von Erschöpfung und Schwäche sowie Gereiztheit. Eine psychotische Symptomatik lag nicht vor. Als Gelenk- und Wirbelsäulenstatus ergab sich Druckschmerzen über dem Akromioklavikulargelenk beidseits, Epikondylusdruckschmerz beideseits, Handkraft erhalten, Gaenselen-Zeichen an den Händen positiv, Druckschmerzen über beiden Daumensattelgelenken, über den MCP-Gelenken Digitus III bis IV der rechten Hand und Digitus II bis IV der linken Hand, über dem PIP-Gelenk Digitus III beider Hände sowie über den Sehnenansätzen beider Kniegelenke, Zeichen für Patellopathie linkes Knie, Flexion schmerzhaft, Druckschmerz über dem rechten oberen Sprunggelenk, Spreizfuß beidseits, Kinn-Sternum-Abstand 1 cm, Ott 3 cm, Schober 2,5 cm, Finger-Boden-Abstand (FBA) 0 cm, Halswirbelsäule(HWS)-Bewegungsschmerz, Muskelverspannung, Druckschmerz okzipital und über den unteren Dornfortsätzen und kostosternal, Lendenwirbelsäule(LWS)-Bewegungs-schmerz, Klopfschmerzen über dem Sakrum, generalisierte Druckschmerzhaftigkeit der muskulotendinösen Übergänge (13/18 fibromyalgietypischen Tender points hochgradig druckdolent, teilweise mit sogenannten Jumoing sign, Kontrollpunkte negativ). Aus der Epikrise ergab sich, dass die von der Klägerin mit 7 (Schmerzskala von 0 bis 10) bei der Aufnahme angegebenen Schmerzen unter Einnahme von Celebrex 200 mg (1-0-0) auf 5 reduziert werden konnten. Im Weiteren legte die Klägerin vor die Berichte der A. Klinik P. vom 2. November 2017 über die Arthroskopie des rechten Ellenbogens bei Diagnose einer radialen Epicondylopathie des rechten Ellenbogens und vom 24. Februar 2016 über die Arthroskopie des linken Ellenbogens bei Diagnose von lateralen Ellenbogenschmerzen links. Darüber hinaus gelangte zur Vorlage der Operationsbericht von Januar 2016 über die Ringbandspaltung und Tenolyse des linken und rechten Zeigefingers.  

Dr. N.-B. bewertete versorgungsärztlich das Fibromyalgiesyndrom mit einem GdB von 20. Hierauf gestützt stellte das LRA durch Bescheid vom 25. Juni 2018 einen GdB von 20 seit dem 5. Juni 2018 fest.

Mit dem deswegen erhobenen Widerspruch machte die Klägerin geltend, sei leide aufgrund des Fibromyalgiesyndroms unter stärksten Schmerzen am ganzen Körper. Sie habe deshalb auch zwischenzeitlich an einer stationären Rehabilitationsmaßnahme teilgenommen. Wegen der Schmerzen befinde sie sich mittlerweile auch in psychotherapeutischer Behandlung. Auch leide sie unter Funktionsbehinderungen in beiden Ellenbogen und den Fingern. Es seien operative Eingriffe an beiden Ellenbogen sowie eine Ringbandspaltung im linken und rechten Zeigefinger erfolgt. Der GdB betrage mindestens 30. Zusammen mit dem Widerspruch legte die Klägerin vor den Bericht des Facharztes für Orthopädie Dr. P. von Juli 2018 mit dem klinischen Befund Ellenbogengelenk rechts/links Beweglichkeit frei, Schmerzen bei Rotation und Beugung und den Diagnosen Dysfunktion, Arthrose, nicht näher bezeichnet: Oberarm (Humerus, Ellenbogengelenk), Fibromyalgie, Verdacht auf Chondromalazie rechts sowie ein ärztliches Attest des Dr. P. von Juli 2018 mit den Diagnosen Repetitive strain injury (RSI) der oberen Extremitäten beidseits, Ellenbogenschmerzen beiderseits, Ausschluss von PCP, Karpaltunnelsyndrom beiderseits, HWS-Schmerzen, Rückenschmerzen, muskuläre Dysbalance, Dysfunktion, Fibromyalgie, Knorpelschaden drittgradig, Arthritis Grundgelenk und Mittelgelenke, Osteopenie Schenkelhals links. Aus dem ebenso vorgelegten psychologischen Attest des Dipl.-Psych. K. ergab sich eine seit dem 27. Juni 2018 erfolgende ambulante Behandlung und die Diagnose einer anhaltenden Schmerzstörung.     

Das LRA zog im Widerspruchsverfahren den Entlassungsbericht über die stationäre Rehabilitationsmaßnahme der Klägerin im Juli/August 2018 bei. Hieraus ergaben sich die Diagnosen chronische Schmerzstörung mit somatischen und psychischen Faktoren, Stadium III nach Gerbershagen, Arthritis Grundgelenk li. Mittelfinger, Kapselverletzung im PIP, Zustand nach Tendovaginitis stenosans Dif. 2 bds., OP 2016, Zustand nach Hohmannscher OP bds., myofasziale Beschwerden cervical, lumbal und re. Hüfte. Anamnestisch beschrieb die Klägerin einen Dauerschmerz auf der visuellen Analogskala bei ca. 5, ausstrahlend über die Poseite, nicht ins Bein. Beim Treppensteigen schmerze die linke Hüfte und das linke Knie. Bei genauerem Nachfragen berichtete die Klägerin über einen Ganzköperschmerz. Nach dem Aufnahmebefund bestand in psychischer Hinsicht eine Klagsamkeit und schmerzbetonte Orientierung. Der fachspezifische Befund zeigte ein physiologisches Gangbild, Zehen-, Hackengang, Einbeinstand und Eingehen in die Hocke waren möglich. Hinsichtlich der WS ergab sich eine aufrechte Haltung, bei dorsaler Inspektion Schultergleichstand, Beckengradstand, WS im Lot, bei seitlicher Inspektion physiologische harmonische Rückenform, Verspannung/Triggerpunkte im Nacken und linkslumbal. Es wurden als Bewegungsmaße erhoben HWS: Inklination/Reklination 40-0-30°, Rechts-/Linksrotation 70-0-70°, Rechts-/Linkslateroflexion 20-0-20°; LWS: Schober 10/14 cm, FBA minimal 10 cm, Seitenneige 20-0-20°. Die Befundung der oberen Extremitäten zeigte Druckschmerzen bei beiden Epicondylus humeri radialis sowie über den Daumensattelgelenken und den MCP-Gelenken 3 bis 5 rechts und 3 links, Schulter frei beweglich, Jobe-Test gut haltbar, 0°-Abduktionstest unauffällig, Fingerspreizen/Spitzgriff möglich, Faustschluss rechts und links nicht vollständig demonstrierbar. Die unteren Extremitäten waren frei beweglich, es wurden jedoch Schmerzen beim Durchbewegen der linken Hüfe angegeben. Als Abschlussbefund zeigte sich im Stehen eine horizontale Einstellung von Schultergürtel und Becken, ein altersentsprechend freier Bewegungsumfang der HWS mit endgradigen Schmerzangaben, Seitenneige der LWS bis mehr als 30°, Rumpfbeugung bis zu einem FBA von 20 cm, Schober 10/14 cm, rechte Schulter Schmerzangabe bei max. Abduktion und Anteflexion, linke Schulter Abduktion ab 110° deutlich schmerzhaft, ebenso Anteflexion, Schürz-Nackengriff eingeschränkt, Druckschmerzen an Ellenbogen-, Hand- und Fingergelenken, jedoch keine Funktionseinschränkungen, eher schmerzbedingt nicht vollständige Kraftentfaltung beim Faustschluss links, Hüft-, Knie- und Sprunggelenke frei beweglich.

Ergänzend legte die Klägerin im Widerspruchsverfahren die Berichte vor über die Kernspintomographie (MRT) des rechten Handgelenks von August 2018 (regelrechte Signalgebung von distalem Radius sowie Ulna, TFC intakt, Nervus medianus leicht verdickt, geringradiges Ödem im Bereich der Sehenscheidenfächer der Flexoren innerhalb des Karpaltunnels bei klinisch gesichertem Karpaltunnelsyndrom, zystische Resorption im Bereich des radialseitigen Os lunantums, DD gegenrativ/intraossäres Ganglion, leicht degenerative Veränderungen in den übrigen Wurzelgelenken) und über die MRT der linken Hand von August 2018 (keine Ruptur des radialen Kollateralbandes des PIP D3 nachweisbar, Weichteilschwellung mit Kapselreizung, Peritenditis mit minimaler Ganglionbildung volarseits der Beugesehen von D3 in Höhe des Grundgelenks, diskret aktivierte Arthrose des Daumengrundgelenks mit kleiner Signalzyste intraossär, leichte Reizung des Handgelenks mit intraossären Signalzysten am Scaphoid und extraartikulärer schmaler Ganglionbildung radialscits von Scaphiod und distalem Radius sowie in Höhe Os pisiforme ulnaseits). Im Weiteren gelangte zur Vorlage das ärztliche Attest des Dr. P. von August 2018 das neben den im ärztlichen Attest vom Juli 2018 gennannten Diagnosen als weitere Diagnosen aufführte myofasziales Schmerzsyndrom, Tendinitis calcarea im Schulterbereich links.

Versorgungsärztlich bewertete Dr. Sch. das Fibromyalgiesyndrom mit einem Einzel-GdB von 20, die Funktionsbehinderung beider Ellenbogengelenke und die Fingerpolyarthrose mit einem Einzel-GdB von 10, die muskulären Verspannungen und die Funktionsbehinderungen der WS mit einem Einzel-GdB von 10 und bildete hieraus einen Gesamt-GdB von 20. Der Beklagte wies auf der Grundlage dieser versorgungärztlichen Stellungnahme den Widerspruch durch Widerspruchsbescheid vom 16. November 2018 zurück. Die Auswertung der ärztlichen Unterlagen habe ergeben, dass die bei der Klägerin vorliegenden Behinderungen mit einem GdB von 20 angemessen bewertet seien.          

Am 18. Dezember 2018 hat die Klägerin Klage beim Sozialgericht Karlsruhe (SG) erhoben, mit der sie die Feststellung der Schwerbehinderteneigenschaft verfolgt hat. Zur Klagebegründung hat sie ausgeführt, der festgestellte GdB von 20 sei unterbemessen. Aus den im Verwaltungsverfahren vorgelegten und vom LRA eingeholten ärztlichen Unterlagen ergebe sich, dass sie an einer schweren Störung leide, die mit einem GdB von 50 zu bewerten sei. Sie leide unter einer Schmerzstörung im Stadium III nach Gerbershagen und zwischenzeitlich auch unter einer reaktiven Depression. Zusätzlich bestünden orthopädische Beschwerden in Form einer aktivierten Arthrose des Daumengrundgelenks, einer Reizung des Handgelenks mit Ganglion und einem Karpaltunnelsyndrom. Nach der Rechtsprechung des Bayerischen Landessozialgerichts (LSG) (Urteil vom 27. Oktober 1999 – L 18 SB 87/96 –) rechtfertige ein Fibromyalgiesyndrom schwersten Ausmaßes einen GdB von 80 bis 100 und bei einer lediglich bedarfsweisen Schmerzmedikamentation einen GdB von 30 bis 40 (Urteil vom 24. Juni 2003 – L 15 SB 76/01 –). Der Beklagte hat die Abweisung der Klage beantragt.       

Das SG hat die Klage nach Anhörung der Beteiligten durch Gerichtsbescheid vom 13. September 2019 abgewiesen. Die Bewertung der gesundheitlichen Beeinträchtigungen der Klägerin mit einem GdB von 20 sei angemessen. Das Fibromyalgiesyndrom, die Schmerzstörung und die Depression seien eine leichtere psychovegetative oder psychische Störung. Es sei nicht ersichtlich, aus welchen Gründen sich die schmerzbedingten Leiden der Klägerin durch die gebotene Inanspruchnahme der ihr außergerichtlich seit Monaten angeratenen ambulanten Psychotherapie sowie die nachhaltige Lösung ihrer „besonderen beruflichen Problemlage“ nicht nach und nach weiter gebessert haben sollten beziehungsweise bessern sollten, nachdem die Klägerin von den stationären Aufenthalten profitiert habe und zwischenzeitlich in fachkundiger Therapie sei. Die von der Klägerin genannte Rechtsprechung des Bayerischen LSG betreffe schwergelagerte Fälle, mit denen der vorliegende Fall nicht vergleichbar sei. Ihre weiteren Gesundheitsstörungen wirkten sich nicht auf den Gesamt-GdB aus, weil sie nach den Entlassungsberichten über die stationären Rehabilitationsmaßnahmen jeweils nur einen Einzel-GdB von 10 oder weniger bedingten.   

Am 17. Oktober 2019 hat die Klägerin Berufung beim LSG Baden-Württemberg eingelegt.

Die Klägerin hat den Entlassungsbericht über die stationäre Rehabilitationsmaßnahme im September/Oktober 2019 vorgelegt. Aus diesem haben sich als Diagnosen ergeben chronische Schmerzstörung mit somatischen und psychischen Faktoren, mittelgradige depressive Episode, Occipitalisneuraglie, primär generalisierte (Osteo-)Arthrose, Myalgie: mehrere Lokalisationen und Tendovaginitis stenosans Mittelfinger. Als Aufnahmebefund ist eine lotrechte WS bei Schulter- und Beckengradstand, freie Beweglichkeit in allen Ebenen, muskuläre Verspannung, Lasègue-Zeichen bds. negativ, FBA 0 cm erhoben worden. Die Gelenke in den oberen Gliedmaßen waren unauffällig konfiguriert und in allen Ebenen frei beweglich. Auch in den unteren Gliedmaßen waren die Gelenke frei beweglich. Der psychische Aufnahmebefund beschreibt die Klägerin als angespannt, belastet, hilfesuchend, keine Auffälligkeiten im Bewusstsein und Orientierung, formales Denken bis auf eine Grübelneigung unauffällig, Schilderung von Panikattacken, keine Hinweise auf psychotisches Erleben, Affekt weitestgehend stabil, zirkadiane Symptomatik aus Schlafstörungen, Schilderung sozialen Rückzuges. Im Rahmen der stationären Rehabilitationsmaßnahme wurde am 26. September 2019 eine Occipitalisneuralgie diagnostiziert. Die Rehabilitationsmaßnahme ist mangels Rehabilitationsfähigkeit der Klägerin vorzeitig beendet worden. Sie ist infolge einer Medikamentumstellung aufgrund der Occipitalisneuralgie stark erschöpft gewesen.        

Der Senat hat auf Antrag der Klägerin nach § 109 Sozialgerichtsgesetz (SGG) bei Dr. Sch. ein schmerzmedizinisches Gutachten aufgrund ambulanter Untersuchung der Klägerin am 13. März 2020 erhoben. Sie hat über Schmerzen in den Händen (Numerische Ratingskala [NRS 0 bis 10] durchschnittlich 6, maximal 9), in beiden Ellenbogen (NRS 6 bis 7), im Nacken (NRS 5 bis 7), in beiden Schultergelenken und im Rücken lumbal (NRS 3 bis 4) berichtet. Zusätzlich leide sie über einen Zeitraum von ca. zwei bis drei Monaten an Kopfschmerzattacken (NRS 9) zweimal pro Woche mit kurz dauerndem stechendem Charakter. Hinsichtlich der Einschränkungen im täglichen Leben hat die Klägerin von morgendlichen Anlaufschwierigkeiten berichtet. Leichte Tätigkeiten und Hausarbeiten seien ihr mit Pausen und freier Zeiteinteilung möglich. Bereits mittelschwere Tätigkeiten wie Putzen führten jedoch zur Schmerzexazerbationen. Sie habe zwar sehr viele Freunde, seit ca. zwei Jahren finde jedoch ein sozialer Rückzug statt.

Der von Dr. Sch. erhobene klinische Befund hat ein gepflegtes Erscheinungsbild, flüssiges Gangbild, ebenso Spontanmotorik, ruhiges Sitzen während der Anamneseerhebung, im Kontakt freundlich, bewusstseinsklar, allseits orientiert, keine Aufmerksamkeits-, Gedächtnis- oder Konzentrationsstörungen, keine Hinweise auf Denk- oder Wahrnehmungsstörungen bei regelgerechtem Antrieb ergeben. Die Klägerin habe sich selbständig und flüssig entkleidet, der Habitus sei muskulös und sportlich gewesen, der FBA habe 0 cm betragen. Orthopädisch habe sich im Weiteren gezeigt, dass der Nackengriff linksseitig mit Mühe, rechtsseitig ebenso wie der Schürzengriff beidseitig problemlos gelänge. Hocke und Aufrichten aus der Hocke, Einbeinstand, Zehen- und Hackengang, bipedales Hüpfen seien möglich gewesen. Die grobe Kraft beider Hände habe sich eingeschränkt bei einer Kraftminderung beidseits 3 von 5 gezeigt. Das Gaensler-Zeichen wäre beidseits positiv gewesen. Es hätte eine Schmerzausstrahlung bis zum Ellenbogen vorgelegen. Der übrige Bewegungsapparat sei aktiv und passiv frei beweglich mit teilweiser übermäßiger Beweglichkeit und die Druckschmerzschwelle sei ubiquitär herabgesetzt gewesen. Insgesamt hätte eine erheblich verminderte Schmerzschwelle als Hinweis für eine zentrale Schmerzverarbeitungsstörung vorgelegen. Dr. Sch. hat eine chronische Schmerzkrankheit mit somatischen und psychischen Faktoren, ein Fibromyalgiesyndrom im Sinne einer stressinduzierten Hyperalgesie, Schmerzen in mehreren Gelenken, eine primäre generalisierte Osteoarthrose, ein Karpaltunnelsyndrom beidseits, eine Occipitalisgesichtneuralgie, eine mittelgradige depressive Episode, Ein- und Durchschlafstörungen, eine Impingementsymptomatik links und eine Schulter-Nacken-Myalgie diagnostiziert. Die aktuelle Medikation sei Ortonton (Methocarbamol) 750 mg und Ibuprofen 800 mg, jeweils bedarfsweise. Sie werde laut Angaben der Klägerin etwa dreimal pro Woche eingenommen. Den Gesamt-GdB hat Dr. Sch. mit 60 eingeschätzt und ist hierbei von einem Einzel-GdB von 30 (Kopf mittelgradig, starke Schmerzen beziehungsweise Schmerzattacken, jedoch erfolgreich behandelbar), von 60 (Nervensystem und Psyche: mittelgradige depressive Episode, bei häufigeren Phasen von mehrwöchiger Dauer), von 30 (Karpaltunnelsyndrom), von 50 (Haltungs- und Bewegungsorgane: Osteoarthrose und Impingementsymptomatik mit dauernden erheblichen Funktionseinbußen und therapeutisch schwer beinflussbarer Krankheitsaktivität) und von 60 (Fibromyalgiesyndrom/Ganzköperschmerz) ausgegangen.

Zusammen mit dem Gutachten hat Dr. Sch. ihm von der Klägerin überlassene medizinische Unterlagen vorgelegt. Diese sind der Bericht des Facharztes für Neurologie und Psychiatrie – Psychotherapie Dr. St. vom 13. Juni 2018 (Diagnosen: Fibromyalgie, V. a. Karpaltunnelsyndrom beidseits), der Bericht des Klinikum M. über die stationäre Behandlung der Klägerin im Januar/Februar 2019 (Diagnosen: Myalgie: nicht näher bezeichnete Lokalisation, Fibromyalgie, Synovitis und Tenosynovotis, nicht näher bezeichnete Lokalisation, Polyarthrose, primär generalisierte (Osteo-)Arthrose, depressive Episode, somatoforme Schmerzstörung, rezidivierende Zosterinfektionen), das psychologische Attest des Dipl.-Psych. K. vom 26. März 2019 (Diagnosen: anhaltende Schmerzstörung, depressive Störung mittlere Ausprägung) sowie den bereits vorgelegten Entlassungsbericht über die stationäre Rehabilitationsmaßnahme im September/Oktober 2019 gewesen.

Versorgungsärztlich hat Dr. W. nunmehr das Fibromyalgiesyndrom/Depression mit einem Einzel-GdB von 30, die Funktionsbehinderung beider Ellenbogengelenke/Fingerpolyarthrose mit einem Einzel-GdB von 10 und die muskulären Verspannungen/Funktionsbehinderungen der Wirbelsäule mit einem Einzel-GdB von 10 bewertet. Der von Dr. Sch. vorgeschlagene Gesamt-GdB von 60 sei nicht nachvollziehbar. Ein GdB in dieser Höhe entspräche einer schweren seelischen Störung mit mittelgradigen sozialen Anpassungsschwierigkeiten in allen Lebensbereichen. Eine derart schwere und therapeutisch nicht beeinflussbare Störung sei jedoch nicht nachweislich abzuleiten. Bei einer derart schweren Störung müsste auch eine entsprechende intensive Therapie erfolgen. Laut dem Gutachten werde an Schmerzmitteln aber allenfalls das Medikament Ibuprofen eingenommen. Bei stärkeren Beschwerden wären sicherlich potentere Analgetika, z. B. Opioide, erforderlich. Ein Antidepressivum werde nicht eingesetzt. Gestützt hierauf hat der Beklagte vergleichsweise angeboten, den Gesamt-GdB mit 30 ab dem 5. Juni 2018 festzustellen. Dieses Vergleichsangebot hat die Klägerin nicht angenommen.

Im Termin zur mündlichen Verhandlung hat die Klägerin den Entlassungsbericht über die stationäre Rehabilitationsmaßnahme vom 25. August 2020 bis zum 25. September 2020 vorgelegt. Aus diesem haben sich als Diagnosen ergeben chronische Schmerzstörung mit somatischen und psychischen Faktoren, mittelgradige depressive Episode, Myalgie: nicht näher bezeichnete Lokalisation, Synovitis und Tenosynovitis, nicht näher bezeichnet: nicht näher bezeichnete Lokalisation und primär generalisierte (Osteo-)Arthrose. Bei der Aufnahme hat die Klägerin über chronische Schmerzen im ganzen Körper, insbesondere in den Gelenken, die sie in ihrem Alltag massiv einschränkten, geklagt. Aus der sozialmedizinischen Anamnese hat sich ergeben, dass sie mit ihrem neuen Partner in einer Wohngemeinschaft mit einem Bekannten lebe. Ihr jüngster Sohn sei nahezu täglich zu Besuch. Sie wolle ihn zu sich holen, wenn sie wieder allein oder mit ihrem Partner in einer Wohnung lebe und wenn ihr Ex-Mann die Trennung von seinem Sohn emotional besser verkraften könne. Auch habe sie regelmäßigen Kontakt zu ihren Schwestern. Sozial sei sie gut eingebunden, habe sich in den letzten Jahren jedoch vermehrt zurückgezogen, da ihr der Kontakt zu anderen oftmals zu anstrengend gewesen sei. In ihrer Freizeit sei sie ein bewegungsfreudiger Mensch, auch wenn sie ihr hauptsächliches Hobby (Fitness, Radfahren) in letzter Zeit aufgrund der Schmerzen habe reduzieren müsse. Die aktuelle Medikation der Klägerin ist Gabapentin tbl. 300 mg (1-0-0-0), Ortoton 750 mg 1 Tbl. bei Bedarf, Ibuprofen 800 mg bei Bedarf bis 3-Mal/Tag, Novaminsulfon 20 Tropfen bei Bedarf und Laxantien 5 mg/ml 10 Tropfen bei Bedarf gewesen. Sie hat von dem interdisziplinären Setting, den vielfältigen Möglichkeiten zu positiven Sozialkontakten, der Durchführung von Entspannungsverfahren und den psychotherapeutischen Angeboten im Rahmen ihrer Möglichkeiten profitieren können. Ressourcen sind reaktiviert und ihre Stimmung ist beginnend stabilisiert worden. Es hat wieder vermehrt Freude durch positive Aktivitäten erreicht werden können.                          

Die Klägerin bekräftig zur Berufungsbegründung ihr erstinstanzliches Vorbringen, stützt sich auf das Gutachten des Dr. Sch. und verweist auf den zuletzt vorgelegten Entlassungsbericht über die stationäre Rehabilitationsmaßnahme vom 25. August 2020 bis zum 25. September 2020.   

Die Klägerin beantragt,

den Gerichtsbescheid des Sozialgerichts Karlsruhe vom 13. September 2019 aufzuheben und den Beklagten unter Abänderung des Bescheides vom 25. Juni 2018 in der Gestalt des Widerspruchsbescheides vom 16. November 2018 zu verpflichten, einen Grad der Behinderung von 50 seit dem 5. Juni 2018 festzustellen.

Der Beklagte beantragt,

die Berufung der Klägerin zurückzuweisen.

Er verweist auf die versorgungsärztliche Stellungnahme des Dr. W..

Hinsichtlich des weiteren Sach- und Streitstandes wird auf die Verwaltungs- und Gerichtsakten ergänzend Bezug genommen.

 

Entscheidungsgründe

Die form- und fristgerecht (§ 151 SGG) eingelegte Berufung ist statthaft (§§ 143, 144 SGG), auch im Übrigen zulässig und teilweise begründet.

Streitgegenstand des Berufungsverfahrens ist der Gerichtsbescheid des SG vom 13. September 2019, mit dem die kombinierte Anfechtungs- und Verpflichtungsklage (§ 54 Abs. 1 SGG) auf Feststellung eines GdB von 50 seit dem 5. Juni 2018 unter Abänderung des Bescheides vom 25. Juni 2018 in der Gestalt des Widerspruchsbescheides vom 16. November 2018 (§ 95 SGG) abgewiesen wurde. Maßgebender Zeitpunkt für die Beurteilung der Sach- und Rechtslage ist bei dieser Klageart die gerichtliche Entscheidung (vgl. Keller in: Meyer-Ladewig/Keller/             Leitherer/Schmidt, Kommentar zum SGG, 13. Aufl. 2020, § 54 Rz. 33a).

Die teilweise Begründetheit der Berufung folgt aus der teilweisen Begründetheit der Klage. Der Bescheid vom 25. Juni 2018 in der Gestalt des Widerspruchsbescheides vom 16. November 2018 ist insoweit rechtswidrig und verletzt die Klägerin in ihren Rechten (§ 54 Abs. 1 Satz 2 SGG), als er ab dem 5. Juni 2018 nur einen GdB von 20 und nicht von 30 beziehungsweise ab dem 26. September 2019 nicht einen GdB von 40 feststellt. Die Feststellung eines höheren GdB ab dem 5. Juni 2018, insbesondere die Feststellung der Schwerbehinderteneigenschaft, kann die Klägerin hingegen nicht beanspruchen. Insoweit sind die Klage und damit auch die Berufung unbegründet.

Der Anspruch der Klägerin richtet sich nach § 152 Abs. 1 und 3 Sozialgesetzbuch Neuntes Buch (SGB IX) in der aktuellen, seit 1. Januar 2018 geltenden Fassung durch Art. 1 und 26 Abs. 1 des Gesetzes zur Stärkung der Teilhabe und Selbstbestimmung von Menschen mit Behinderungen (Bundesteilhabegesetz – BTHG) vom 23. Dezember 2016 (BGBl I S. 3234). Danach stellen auf Antrag des Menschen mit Behinderung die für die Durchführung des Bundesversorgungsgesetzes (BVG) zuständigen Behörden das Vorliegen einer Behinderung und den GdB zum Zeitpunkt der Antragstellung fest (§ 152 Abs. 1 Satz 1 SGB IX). Auf Antrag kann festgestellt werden, dass ein GdB bereits zu einem früheren Zeitpunkt vorgelegen hat (§ 152 Abs. 1 Satz 2 SGB IX). Menschen mit Behinderungen sind nach § 2 Abs. 1 SGB IX Menschen, die körperliche, seelische, geistige oder Sinnesbeeinträchtigungen haben, die sie in Wechselwirkung mit einstellungs- und umweltbedingten Barrieren an der gleichberechtigten Teilhabe an der Gesellschaft mit hoher Wahrscheinlichkeit länger als sechs Monate hindern können (Satz 1). Eine Beeinträchtigung nach § 2 Abs. 1 Satz 1 SGB IX liegt vor, wenn der Körper- und Gesundheitszustand von dem für das Lebensalter typischen Zustand abweicht (Satz 2). Menschen sind nach § 2 Abs. 2 SGB IX im Sinne des Teils 3 des SGB IX schwerbehindert, wenn bei ihnen ein GdB von wenigstens 50 vorliegt und sie ihren Wohnsitz, ihren gewöhnlichen Aufenthalt oder ihre Beschäftigung auf einem Arbeitsplatz im Sinne des § 156 SGB IX rechtmäßig im Geltungsbereich des SGB IX haben. Die Auswirkungen der Behinderung auf die Teilhabe am Leben in der Gesellschaft werden als GdB nach Zehnergraden abgestuft festgestellt (§ 152 Abs. 1 Satz 5 SGB IX). Das Bundesministerium für Arbeit und Soziales (BMAS) wird ermächtigt, durch Rechtsverordnung mit Zustimmung des Bundesrates die Grundsätze aufzustellen, die für die Bewertung des GdB maßgebend sind, die nach Bundesrecht im Schwerbehindertenausweis einzutragen sind (§ 153 Abs. 2 SGB IX). Nachdem noch keine Verordnung nach § 153 Abs. 2 SGB IX erlassen ist, gelten die Maßstäbe des § 30 Abs. 1 BVG und der aufgrund des § 30 Abs. 16 BVG erlassenen Rechtsverordnungen, somit die am 1. Januar 2009 in Kraft getretene Verordnung zur Durchführung des § 1 Abs. 1 und 3, des § 30 Abs. 1 und des § 35 Abs. 1 BVG (Versorgungsmedizin-Verordnung ­­– VersMedV) vom 10. Dezember 2008 (BGBl I S. 2412), entsprechend (§ 241 Abs. 5 SGB IX). Die zugleich in Kraft getretene, auf der Grundlage des aktuellen Standes der medizinischen Wissenschaft unter Anwendung der Grundsätze der evidenzbasierten Medizin erstellte und fortentwickelte Anlage „Versorgungsmedizinische Grundsätze“ (VG) zu § 2 VersMedV ist an die Stelle der bis zum 31. Dezember 2008 heranzuziehenden „Anhaltspunkte für die ärztliche Gutachtertätigkeit im Sozialen Entschädigungsrecht und nach dem Schwerbehindertenrecht“ (AHP) getreten. In den VG wird der medizinische Kenntnisstand für die Beurteilung von Behinderungen wiedergegeben (vgl. Bundessozialgericht [BSG], Urteil vom 1. September 1999 – B 9 V 25/98 R –, SozR 3-3100 § 30 Nr. 22). Hierdurch wird eine für den Menschen mit Behinderung nachvollziehbare, dem medizinischen Kenntnisstand entsprechende Festsetzung des GdB ermöglicht.

Allgemein gilt, dass der GdB auf alle Gesundheitsstörungen, unabhängig ihrer Ursache, final bezogen ist. Der GdB ist ein Maß für die körperlichen, geistigen, seelischen und sozialen Auswirkungen einer Funktionsbeeinträchtigung aufgrund eines Gesundheitsschadens. Ein GdB setzt stets eine Regelwidrigkeit gegenüber dem für das Lebensalter typischen Zustand voraus. Dies ist insbesondere bei Kindern und älteren Menschen zu beachten. Physiologische Veränderungen im Alter sind bei der Beurteilung des GdB nicht zu berücksichtigen. Als solche Veränderungen sind die körperlichen und psychischen Leistungseinschränkungen anzusehen, die sich im Alter regelhaft entwickeln, also für das Alter nach ihrer Art und ihrem Umfang typisch sind. Demgegenüber sind pathologische Veränderungen, also Gesundheitsstörungen, die nicht regelmäßig und nicht nur im Alter beobachtet werden können, bei der Beurteilung des GdB auch dann zu berücksichtigen, wenn sie erstmalig im höheren Alter auftreten oder als „Alterskrankheiten“ (etwa „Altersdiabetes“ oder „Altersstar“) bezeichnet werden (VG, Teil A, Nr. 2 c). Erfasst werden die Auswirkungen in allen Lebensbereichen und nicht nur die Einschränkungen im allgemeinen Erwerbsleben. Da der GdB seiner Natur nach nur annähernd bestimmt werden kann, sind beim GdB nur Zehnerwerte anzugeben. Dabei sollen im Allgemeinen Funktionssysteme zusammenfassend beurteilt werden (VG, Teil A, Nr. 2 e). Liegen mehrere Beeinträchtigungen der Teilhabe am Leben in der Gesellschaft vor, so wird nach § 152 Abs. 3 SGB IX der GdB nach den Auswirkungen der Beeinträchtigungen in ihrer Gesamtheit unter Berücksichtigung ihrer wechselseitigen Beziehungen festgestellt. Bei mehreren Funktionsbeeinträchtigungen sind zwar zunächst Einzel-GdB anzugeben; bei der Ermittlung des Gesamt-GdB durch alle Funktionsbeeinträchtigungen dürfen jedoch die einzelnen Werte nicht addiert werden. Auch andere Rechenmethoden sind für die Bildung eines Gesamt-GdB ungeeignet. Maßgebend sind die Auswirkungen der einzelnen Funktionsbeeinträchtigungen in ihrer Gesamtheit unter Berücksichtigung ihrer wechselseitigen Beziehungen zueinander (VG, Teil A, Nr. 3 a). Bei der Beurteilung des Gesamt-GdB ist in der Regel von der Funktionsbeeinträchtigung auszugehen, die den höchsten Einzel-GdB bedingt und dann im Hinblick auf alle weiteren Funktionsbeeinträchtigungen zu prüfen, ob und inwieweit hierdurch das Ausmaß der Behinderung größer wird, ob also wegen der weiteren Funktionsbeeinträchtigungen dem ersten GdB 10, 20 oder mehr Punkte hinzuzufügen sind, um der Behinderung insgesamt gerecht zu werden (VG, Teil A, Nr. 3 c). Die Beziehungen der Funktionsbeeinträchtigungen zueinander können unterschiedlich sein. Die Auswirkungen der einzelnen Funktionsbeeinträchtigungen können voneinander unabhängig sein und damit ganz verschiedene Bereiche im Ablauf des täglichen Lebens betreffen. Eine Funktionsbeeinträchtigung kann sich auf eine andere besonders nachteilig auswirken, vor allem dann, wenn Funktionsbeeinträchtigungen paarige Gliedmaßen oder Organe betreffen. Funktionsbeeinträchtigungen können sich überschneiden. Eine hinzutretende Gesundheitsstörung muss die Auswirkung einer Funktionsbeeinträchtigung aber nicht zwingend verstärken. Von Ausnahmefällen abgesehen, führen leichte Gesundheitsstörungen, die nur einen GdB von 10 bedingen, nicht zu einer Zunahme des Ausmaßes der Gesamtbeeinträchtigung. Dies gilt auch dann, wenn mehrere derartige leichte Gesundheitsstörungen nebeneinander bestehen. Auch bei leichten Funktionsbeeinträchtigungen mit einem GdB von 20 ist es vielfach nicht gerechtfertigt, auf eine wesentliche Zunahme des Ausmaßes der Behinderung zu schließen (VG, Teil A, Nr. 3 d).

Der Gesamt-GdB ist nicht nach starren Beweisregeln, sondern aufgrund richterlicher Erfahrung, gegebenenfalls unter Hinzuziehung von Sachverständigengutachten, in freier richterlicher Beweiswürdigung festzulegen (vgl. BSG, Urteil vom 11. November 2004 – B 9 SB 1/03 R –, juris, Rz. 17 m. w. N.). Dabei ist zu berücksichtigen, dass die auf der ersten Prüfungsstufe zu ermittelnden nicht nur vorübergehenden Gesundheitsstörungen und die sich daraus abzuleitenden Teilhabebeeinträchtigungen ausschließlich auf der Grundlage ärztlichen Fachwissens festzustellen sind. Bei den auf zweiter und dritter Stufe festzustellenden Einzel- und Gesamt-GdB sind über die medizinisch zu beurteilenden Verhältnisse hinaus weitere Umstände auf gesamtgesellschaftlichem Gebiet zu berücksichtigen (vgl. BSG, Beschluss vom 9. Dezember 2010 – B 9 SB 35/10 B –, juris, Rz. 5).

Eine rechtsverbindliche Entscheidung nach § 152 Abs. 1 Satz 1 SGB IX umfasst nur die Feststellung einer unbenannten Behinderung und des Gesamt-GdB. Die dieser Feststellung im Einzelfall zugrundeliegenden Gesundheitsstörungen, die daraus folgenden Funktionsbeeinträchtigungen und ihre Auswirkungen dienen lediglich der Begründung des Verwaltungsaktes und werden nicht bindend festgestellt (vgl. BSG, Urteil vom 24. Juni 1998 – B 9 SB 17/97 R –, juris, Rz. 13). Der Einzel-GdB ist somit keiner eigenen Feststellung zugänglich. Er erscheint nicht im Verfügungssatz des Verwaltungsaktes und ist nicht isoliert anfechtbar. Es ist somit auch nicht entscheidungserheblich, ob von Seiten des Beklagten oder der Vorinstanz Einzel-GdB-Werte in anderer Höhe als im Berufungsverfahren vergeben worden sind, wenn der Gesamt-GdB hierdurch nicht beeinflusst wird.

In Anwendung dieser durch den Gesetz- und Verordnungsgeber vorgegebenen Grundsätze sowie unter Beachtung der höchstrichterlichen Rechtsprechung steht zur Überzeugung des Senats fest, dass die behinderungsbedingten Funktionseinschränkungen der Klägerin keinen höheren Gesamt-GdB als 30 ab dem 5. Juni 2018 beziehungsweise 40 ab dem 29. September 2019 rechtfertigen.

Die führenden Funktionseinschränkungen der Klägerin bestehen im Funktionssystem „Gehirn einschließlich Psyche“. Zur Überzeugung des Senats beträgt der Einzel-GdB in diesem Funktionssystem 30 ab dem 5. Juni 2018 und 40 ab dem 26. September 2019.

Die Klägerin leidet unter einer chronischen Schmerzstörung mit somatischen und psychischen Faktoren beziehungsweise einem Fibromyalgiesyndrom und einer mittelgradigen depressiven Episode. Der Senat entnimmt dies dem Entlassungsbericht über die im September/Oktober 2019 durchgeführte stationäre Rehabilitationsmaßnahme, der im Wege des Urkundsbeweises (§ 118 Abs. 1 SGG in Verbindung mit §§ 415 ff. Zivilprozessordnung [ZPO]), verwertet wird.

Das Fibromyalgiesyndrom ist nach den VG, Teil B, Nr. 18.4 im Einzelfall entsprechend der funktionellen Auswirkungen analog zu beurteilen. Als Vergleichsmaßstab kommt insofern, wenn keine organische Ursache für die durch das Fibromyalgiesyndrom hervorgerufenen Schmerzen festgestellt werden kann, die in den VG, Teil B, Nr. 3.7 bewerteten Funktionsbehinderungen in Betracht (vgl. Senatsurteil vom 13. Dezember 2012 – L 6 SB 4838/10 –, juris, Rz. 33 m. w. N.; vgl. auch BSG, Beschluss vom 16. März 2016 – B 9 SB 85/15 B –, juris, Rz. 8; LSG Berlin-Brandenburg, Urteil vom 23. September 2015 – L 11 SB 35/13 –, juris, Rz. 31). Organische Ursachen für die von der Klägerin beklagten Schmerzen bestehen nicht. Der Senat entnimmt dies dem im Wege des Urkundsbeweises verwerteten Bericht der A. Klinik für Psychosomatik und Psychotherapie B. vom 25. Mai 2018 über den stationären Aufenthalt der Klägerin im Mai 2018, wonach differenzialdiagnostisch eine entzündlich-rheumatische Erkrankung als Ursache für die akute Schmerzexacerbation der Klägerin ausgeschlossen wurde.       

Nach den VG, Teil B, Nr. 3.7 bedingen Neurosen, Persönlichkeitsstörungen, Folgen psychischer Traumen in Form leichterer psychovegetativer oder psychischer Störungen einen GdB von 0 bis 20, stärkere Störungen mit wesentlicher Einschränkung der Erlebnis- und Gestaltungsfähigkeit (z. B. ausgeprägtere depressive, hypochondrische, asthenische oder phobische Störungen, Entwicklungen mit Krankheitswert, somatoforme Störungen) einen GdB von 30 bis 40, schwere Störungen (z. B. schwere Zwangskrankheit) mit mittelgradigen sozialen Anpassungsschwierigkeiten einen GdB von 50 bis 70 und mit schweren sozialen Anpassungsschwierigkeiten einen GdB von 80 bis 100. Die funktionellen Auswirkungen einer psychischen Erkrankung, insbesondere wenn es sich um eine affektive oder neurotische Störung nach F30.- oder F40.- ICD-10 GM handelt, manifestieren sich dabei im psychisch-emotionalen, körperlich-funktionellen und sozial-kommunikativen Bereich (vgl. Philipp, Vorschlag zur diagnoseunabhängigen Ermittlung der MdE bei unfallbedingten psychischen beziehungsweise psychosomatischen Störungen, MedSach 6/2015, S. 255 ff.). Diese drei Leidensebenen hat auch das BSG in seiner Rechtsprechung angesprochen (vgl. BSG, Beschluss vom 10. Juli 2017 – B 9 V 12/17 B –, juris, Rz. 2). Dabei ist für die GdB-Bewertung, da diese die Einbußen in der Teilhabe am Leben in der (allgemeinen) Gesellschaft abbilden soll, vor allem die sozial-kommunikative Ebene maßgeblich (vgl. Senatsurteil vom 12. Januar 2017 – L 6 VH 2746/15 –, juris, Rz. 61). Bei dieser Beurteilung ist auch der Leidensdruck zu würdigen, dem sich der behinderte Mensch ausgesetzt sieht, denn eine „wesentliche Einschränkung der Erlebnis- und Gestaltungsfähigkeit“ meint schon begrifflich eher Einschränkungen in der inneren Gefühlswelt, während Störungen im Umgang mit anderen Menschen eher unter den Begriff der „sozialen Anpassungsschwierigkeiten“ fallen, der ebenfalls in den VG genannt ist. Die Stärke des empfundenen Leidensdrucks äußert sich nach ständiger Rechtsprechung des Senats auch und maßgeblich in der Behandlung, die der Betroffene in Anspruch nimmt, um das Leiden zu heilen oder seine Auswirkungen zu lindern. Hiernach kann bei fehlender ärztliche Behandlung in der Regel nicht davon ausgegangen werden, dass ein diagnostiziertes seelisches Leiden über eine leichtere psychische Störung hinausgeht und bereits eine stärker behindernde Störung im Sinne der GdB-Bewertungsgrundsätze darstellt (vgl. Senatsurteil vom 22. Februar 2018 – L 6 SB 4718/16 –, juris Rz. 42; vgl. auch LSG Baden-Württemberg, Urteil vom 17. Dezember 2010 – L 8 SB 1549/10 –, juris, Rz. 31).

Hiervon ausgehend konnte sich der Senat nicht davon überzeugen, dass bei der Klägerin eine schwere Störung mit mittelgradigen sozialen Anpassungsschwierigkeiten vorliegt, die mit einem GdB von 50 bis 70 zu bewerten ist. Vielmehr sind die chronische Schmerzstörung mit somatischen und psychischen Faktoren beziehungsweise das Fibromyalgiesyndrom und die mittelgradige depressive Episode nur eine stärker behindernde Störung, die im Ergebnis zu einer wesentlichen Einschränkung der Erlebnis- und Gestaltungsfähigkeit der Klägerin führen. Diese wesentliche Einschränkung der Erlebnis- und Gestaltungsfähigkeit liegt aber nicht in einem solchen Ausmaß vor, als dass der Bewertungsrahmen mit einem GdB von 30 bis 40 voll auszuschöpfen wäre. Einen solchen von 30 hält der Senat für angemessen und ausreichend.

Maßgebend für den Senat ist insofern, dass die Klägerin nach ihren Angaben gegenüber dem Sachverständigen Dr. Sch. noch über einen hinreichend strukturierten Tagesablauf verfügt. Sie hat insofern zwar von morgendlichen Anlaufschwierigkeiten berichtet. Ihr sind aber leichte Tätigkeiten und Hausarbeiten mit Pausen und freier Zeiteinteilung möglich. In sozialer Hinsicht ist kein nennenswerter sozialer Rückzug zu verzeichnen. Sie hat sich vielmehr trotz der geschilderten Schmerzsituation in der Lage gesehen, eine neue, als glücklich geschilderte Partnerschaft aufzubauen und für das Sorgerecht für ihre Kinder vor Gericht zu streiten, also deren Betreuung zu gewährleisten. Nach ihrer Scheidung lebt sie mit ihrem neuen Lebensgefährten zusammen, kümmert sich um dessen Vater und betreut zusätzlich an drei Tagen in der Woche ihren noch minderjährigen jüngsten Sohn. Auch hat die Klägerin von einem großen Freundeskreis und damit von über die Familie hinausgehenden sozialen Kontakten berichtet, wobei aufgrund des Schmerzerlebens seit ca. zwei Jahren ein sozialer Rückzug stattfindet. Dieser soziale Rückzug ist zur Überzeugung des Senats damit nicht in einem wesentlichen Maße ausgeprägt. Die Klägerin hat gegenüber Dr. Sch. berichtet, dass die Beeinträchtigung von Kontakten zu anderen Menschen durch ihre Gesundheitsbeeinträchtigungen lediglich „manchmal“ und demnach gerade nicht in einem starken Umfang ausgeprägt ist. Ebenso geht die Klägerin, wenn auch durch ihre Schmerzen eingeschränkt, weiterhin ihren Hobbys nach, sie betreibt sogar noch Sport. Auch nach dem im in der mündlichen Verhandlung vorgelegten Entlassungsbericht über die stationäre Rehabilitationsmaßnahme vom 25. August 2020 bis zum 25. September 2020, die nur vier Wochen gedauert hat, lebt die Klägerin auch weiterhin mit ihrem neuen Partner (und einem Bekannten) in einer Wohngemeinschaft zusammen, betreut ihren jüngsten Sohn nahezu täglich und beabsichtigt, diesen zu sich zu holen. Das gemeinsame Zusammenleben und damit die ständige Betreuung des jüngsten Sohnes ist bislang nicht am Gesundheitszustand der Klägerin, sondern an ihrer Wohnsituation und der Rücksichtnahme auf ihren Ex-Mann, der Schwierigkeiten hat, die Trennung von dem jüngsten Sohn emotional zu verkraften, gescheitert. Aus dem Entlassungsbericht hat sich im Weiteren ergeben, dass die Klägerin in ihrer Freizeit ein bewegungsfreudiger Mensch ist und ihrer Hobbys (Fitness, Radfahren), wenn auch durch die Schmerzen eingeschränkt, weiterhin ausüben kann. Auch ist die Klägerin weiterhin sozial gut eingebunden; sie hat unter anderem regelmäßigen Kontakt zu ihrer Schwester und Freunden, wenn auch ein gewisser sozialer Rückzug stattgefunden hat. Sie hat im Rahmen der stationären Rehabilitationsmaßnahme von dem interdisziplinären Setting, den vielfältigen Möglichkeiten zu positiven Sozialkontakten, der Durchführung von Entspannungsverfahren und den psychotherapeutischen Angeboten im Rahmen ihrer Möglichkeiten profitieren können. Ressourcen sind reaktiviert und ihre Stimmung ist beginnend stabilisiert worden. Es konnte wieder vermehrt Freude durch positive Aktivitäten erreicht werden. Demnach sind auch weiterhin die Einschränkungen durch die chronische Schmerzstörung mit somatischen und psychischen Faktoren beziehungsweise das Fibromyalgiesyndrom und die mittelgradige depressive Episode nicht in dem Umfang einer schweren Störung mit mittelgradigen sozialen Anpassungsschwierigkeiten, die mit einem Einzel-GdB von 50 bis 70 zu bewerten wäre, ausgeprägt. Auch ein Einzel-GdB von 40 wird nicht erreicht.          

Gegen eine infolge der Schmerzen vorliegende schwere Störung im Sinne der VG, Teil B, Nr. 3.7 spricht zur Überzeugung des Senats im Weiteren, dass die Klägerin infolge der Schmerzen nicht unter ausgeprägten Funktionsstörungen auf orthopädischem Fachgebiet leidet. So waren in der Gutachtensituation das Gangbild und die Spontanmotorik flüssig gewesen. Die Klägerin hat während der Anamneseerhebung ruhig gesessen und hat sich selbstständig und flüssig entkleiden können. Der Habitus war muskulös und sportlich, was für eine trotz der bestehenden Schmerzen entsprechende körperliche Betätigung der Klägerin spricht. Der FBA hat 0 cm betragen. Der Nackengriff ist linksseitig mit Mühe, rechtsseitig problemlos gelungen. Ohne Einschränkungen waren der Schürzengriff beidseitig, das Einnehmen der Hocke und das Aufrichten aus der Hocke, der Einbeinstand, der Zehen- und Hackengang und bipedales Hüpfen möglich. Eingeschränkt waren lediglich die Kraftentfaltung beider Hände ­–  Kraftminderung beidseits 3 von 5, das Gaensler-Zeichen war beidseits positiv und es hat eine Schmerzausstrahlung bis zum Ellenbogen vorgelegen. Der übrige Bewegungsapparat war aktiv und passiv frei beweglich mit teilweiser sogar übermäßiger Beweglichkeit gewesen. Weitergehende Funktionsbeeinträchtigungen ergeben sich auch nicht aus dem zuletzt von der Klägerin vorgelegten Entlassungsbericht über die stationäre Rehabilitationsmaßnahme vom 25. August 2020 bis zum 25. September 2020. 

Im Weitern hat Dr. W. in der versorgungsärztlichen Stellungnahme vom 8. September 2020 zutreffend darauf hingewiesen, dass der Annahme einer schweren Störung mit mittelgradigen sozialen Anpassungsschwierigkeiten die unzureichende medikamentöse Therapie der Klägerin entgegensteht. Die Klägerin hat gegenüber Dr. Sch. als aktuelle Medikamentation Ortonton (Methocarbamol) 750 mg bei Bedarf und Ibuprofen 800 mg bei Bedarf angeben. Diese Medikamente nimmt sie etwa dreimal pro Woche ein. Für den Senat schlüssig und nachvollziehbar hat Dr. W.ausgeführt, dass bei stärkeren Beschwerden die Einnahme potenterer Analgetkia, z. B. Opioide, erforderlich wäre. Auch werden keine Antidepressiva verwendet. Dem zuletzt von der Klägerin vorgelegten Entlassungsbericht über die stationäre Rehabilitationsmaßnahme vom 25. August 2020 bis zum 25. September 2020 lässt sich nunmehr zusätzlich die Einnahme von Gabapentin tbl. 300 mg (1-0-0-0), Novaminsulfon 20 Tropfen bei Bedarf und Laxantien 5 mg/ml 10 Tropfen bei Bedarf entnehmen. Auf die Höhe des Einzel-GdB hat diese erweitere Medikamentation jedoch aufgrund der vorherigen Ausführungen keinen Einfluss.       

Vor diesem Hintergrund konnte sich der Senat den gutachterlichen Ausführungen des Dr. Sch. in dem von ihm nach § 109 SGG erstellten Gutachten, wonach das Fibromyalgiesyndrom/Ganzköperschmerz mit einem Einzel-GdB von 60 und die mittelgradige depressive Episode mit einem weiteren Einzel-GdB von 60 zu bewerten sei und damit nach den VG, Teil B, Nr. 7 einer schweren Störung mit mittelgradigen sozialen Anpassungsschwierigkeit entsprächen, nicht anschließen.

Auch unter Berücksichtigung der von der Klägerin angeführten Rechtsprechung des Bayerischen LSG (Urteil vom 27. Oktober 1999 – L 18 SB 87/96 – und Urteil vom 24. Juni 2003 – L 15 SB 76/01 –) ist eine höhere Bewertung des Einzel-GdB nicht angezeigt. Maßgeblich für die Höhe des festzustellenden Einzel-GdB ist nicht die Diagnose einer Erkrankung, sondern die infolge dieser Erkrankung hervorgerufenen Funktionsbeeinträchtigungen (VG, Teil A, Nr. 2 a). Die Festsetzung des Einzel-GdB ist demnach eine Einzelfallentscheidung. Aus der Rechtsprechung des Bayerischen LSG lässt sich damit kein allgemein gültiger Rechtssatz für die Bewertung eines Fibromyalgiesyndroms ableiten.  

Unberücksichtigt hat der Beklagte bislang die im Rahmen der stationären Rehabilitationsmaßnahme am 26. September 2019 diagnostizierte Occipitalisneuralgie gelassen. Der Senat hält hierfür einen weiteren Einzel-GdB von 30 für angemessen.

Nach den VG, Teil B, Nr. 2.2 sind leichte Gesichtsneuralgien (seltene, leichte Schmerzen) mit einem GdB von 0 bis 10, mittelgradige Gesichtsneuralgien (häufigere, leichte bis mittelgradige Schmerzen, schon durch geringe Reize auslösbar) mit einem GdB von 20 bis 40, schwere (häufige, mehrmals im Monat auftretende starke Schmerzen beziehungsweise Schmerzattacken) mit einem GdB von 50 bis 60 und besonders schwere (starker Dauerschmerz oder Schmerzattacken mehrmals wöchentlich) mit einem GdB von 70 bis 80 zu bewerten. Der Senat wertet die bei der Klägerin bestehende Occipitalisneuralgie als mittelgradig und hält einen Einzel-GdB von 30 für angemessen. Die Klägerin hat gegenüber Dr. Sch. zwar von zweimal pro Woche intermittierenden Schmerzen mit einer Schmerzstärke nach der NRS von 9 berichtet. Diese Schmerzen treten jedoch nicht ständig, sondern nur über einen Zeitraum von ca. zwei bis drei Monaten auf. Auch hat die Klägerin Schmerzattacken von nur kurzer Dauer beschrieben. Gegen eine Bewertung mit einem Einzel-GdB von mehr als 30 spricht auch, dass sich die Klägerin wegen der Occipitalisneuralgie nicht in einer entsprechenden Behandlung befindet ­– laut dem Entlassungsbericht über die stationäre Rehabilitationsmaßname von September/Oktober 2019 wurde ihr zu einer Blockade des Nervus occipitalis major geraten – und keine entsprechenden Medikamentation stattfindet. Auch Dr. Sch. hat unter Hinweis auf die erfolgreiche Behandelbarkeit der Occipitalisneuralgie eine Bewertung mit einem Einzel-GdB von 30 vorgeschlagen.

Die im Weiteren bei der Klägerin im Funktionssystem „Rumpf“ und „Arme“ vorliegenden Funktionsstörungen sind nicht mit einem Einzel-GdB von mehr als 10 zu bewerten.   

Nach den VG, Teil B, Nr. 18.1 wird der GdB für angeborene und erworbene Schäden an den Haltungs- und Bewegungsorganen entscheidend bestimmt durch die Auswirkungen der Funktionsbeeinträchtigungen (Bewegungsbehinderung und Minderbelastbarkeit) sowie die Mitbeteiligung anderer Organsysteme. Die üblicherweise auftretenden Beschwerden sind dabei mitberücksichtigt. Außergewöhnliche Schmerzen sind gegebenenfalls zusätzlich zu werten (VG, Teil A, Nr. 2 j). Schmerzhafte Bewegungseinschränkungen der Gelenke können schwerwiegender als eine Versteifung sein. Bei Haltungsschäden und/oder degenerativen Veränderungen an Gliedmaßengelenken und an der WS (z. B. Arthrose, Osteochondrose) sind auch Gelenkschwellungen, muskuläre Verspannungen, Kontrakturen oder Atrophien zu berücksichtigen. Mit bildgebenden Verfahren festgestellte Veränderungen (z. B. degenerativer Art) allein rechtfertigen noch nicht die Annahme eines GdB. Ebenso kann die Tatsache, dass eine Operation an einer Gliedmaße oder an der WS (z. B. Meniskusoperation, Bandscheibenoperation, Synovialektomie) durchgeführt wurde, für sich allein nicht die Annahme eines GdB begründen. Bei den entzündlich-rheumatischen Krankheiten sind unter Beachtung der Krankheitsentwicklung neben der strukturellen und funktionellen Einbuße die Aktivität mit ihren Auswirkungen auf den Allgemeinzustand und die Beteiligung weiterer Organe zu berücksichtigen.

Nach den VG, Teil B, Nr. 18.9 ergibt sich der GdB bei angeborenen und erworbenen Wirbelsäulenschäden (einschließlich Bandscheibenschäden, Scheuermann-Krankheit, Spondylolisthesis, Spinalkanalstenose und dem so genannten „Postdiskotomiesyndrom“) primär aus dem Ausmaß der Bewegungseinschränkung, der Wirbelsäulenverformung und -instabilität sowie aus der Anzahl der betroffenen Wirbelsäulenabschnitte. Der Begriff Instabilität beinhaltet die abnorme Beweglichkeit zweier Wirbel gegeneinander unter physiologischer Belastung und die daraus resultierenden Weichteilveränderungen und Schmerzen. So genannte „Wirbelsäulensyndrome“ (wie Schulter-Arm-Syndrom, Lumbalsyndrom, Ischialgie sowie andere Nerven- und Muskelreizerscheinungen) können bei Instabilität und bei Einengungen des Spinalkanals oder der Zwischenwirbellöcher auftreten. Für die Bewertung von chronisch-rezidivierenden Bandscheibensyndromen sind aussagekräftige anamnestische Daten und klinische Untersuchungsbefunde über einen ausreichend langen Zeitraum von besonderer Bedeutung. Im beschwerdefreien Intervall können die objektiven Untersuchungsbefunde nur gering ausgeprägt sein.

Wirbelsäulenschäden ohne Bewegungseinschränkung oder Instabilität haben einen GdB von 0 zur Folge. Gehen diese mit geringen funktionellen Auswirkungen (Verformung, rezidivierende oder anhaltende Bewegungseinschränkung oder Instabilität geringen Grades, seltene und kurz dauernd auftretende leichte Wirbelsäulensyndrome) einher, ist ein GdB von 10 gerechtfertigt. Ein GdB von 20 ist bei mittelgradigen funktionellen Auswirkungen in einem Wirbelsäulenabschnitt (Verformung, häufig rezidivierende oder anhaltende Bewegungseinschränkung oder Instabilität mittleren Grades, häufig rezidivierende und über Tage andauernde Wirbelsäulensyndrome) vorgesehen. Liegen schwere funktionelle Auswirkungen in einem Wirbelsäulenabschnitt vor (Verformung, häufig rezidivierende oder anhaltende Bewegungseinschränkung oder Instabilität schweren Grades, häufig rezidivierende und Wochen andauernde ausgeprägte Wirbelsäulensyndrome) ist ein GdB von 30 angemessen. Ein GdB-Rahmen von 30 bis 40 ist bei mittelgradigen bis schweren funktionellen Auswirkungen in zwei Wirbelsäulenabschnitten vorgesehen. Besonders schwere Auswirkungen (etwa Versteifung großer Teile der WS; anhaltende Ruhigstellung durch Rumpforthese, die drei Wirbelsäulenabschnitte umfasst [z. B. Milwaukee-Korsett]; schwere Skoliose [ab ca. 70° nach Cobb]) eröffnen einen GdB-Rahmen von 50 bis 70. Schließlich ist bei schwerster Belastungsinsuffizienz bis zur Geh- und Stehunfähigkeit ein GdB von 80 bis 100 gegeben. Anhaltende Funktionsstörungen infolge Wurzelkompression mit motorischen Ausfallerscheinungen ­– oder auch die intermittierenden Störungen bei der Spinalkanalstenose – sowie Auswirkungen auf die inneren Organe (etwa Atemfunktionsstörungen) sind zusätzlich zu berücksichtigen. Bei außergewöhnlichen Schmerzsyndromen kann auch ohne nachweisbare neurologische Ausfallerscheinungen (z. B. Postdiskotomiesyndrom) ein GdB über 30 in Betracht kommen.

Die Klägerin leidet zur Überzeugung des Senats nicht unter Wirbelsäulenschäden, die mehr als geringe funktionelle Auswirkungen haben. Insofern stützt sich der Senat auf den im Wege des Urkundsbeweises verwerteten Entlassungsbericht über die im September/Oktober 2019 durchgeführte stationäre Rehabilitationsmaßnahme, wonach die WS lotrecht bei Schulter- und Beckengradstand war und eine freie Beweglichkeit in allen Ebenen gezeigt hat. Es haben lediglich muskuläre Verspannung vorgelegen. Auch das Lasègue-Zeichen war bds. negativ gewesen und der FBA hat 0 cm betragen. Ebenso hat Dr. Sch. von einem FBA von 0 cm und einem aktiv und passiv freien Bewegungsapparat berichtet.

Die im Funktionssystem „Arme“ in den Ellenbogen und Fingern beider Hände bestehenden Gesundheitsbeeinträchtigungen (primär generalisierte Osteoarthrose, Karpaltunnelsyndrom beidseits, Tendovaginitis stenosans), die der Senat dem Entlassungsbericht über die stationäre Rehabilitationsmaßnahme im September/Oktober 2019 und dem Gutachten des Dr. Sch. entnimmt, sind zur Überzeugung des Senats ebenso nicht mit einem GdB von mehr als 10 zu bewerten. Aus den vorgenannten medizinischen Unterlagen lässt sich eine wesentliche Bewegungseinschränkung der Ellenbogengelenke oder der Finger nicht entnehmen. Nach den VG, Teil B, Nr. 18.13 wird ein GdB von mehr als 10 jedoch erst erreicht bei einer Bewegungseinschränkung im Ellenbogengelenk stärkeren Grades oder bei der Versteifung eines Fingers. Funktionsbehinderungen in diesem Ausmaß liegen bei der Klägerin hingegen nicht vor.   

Aus den Einzel-GdB-Werten im Funktionssystem „Gehirn einschließlich Psyche“ von 30 ab dem 5. Juni 2018 beziehungsweise von weiteren 30 ab dem 26. September 2019 und den weiteren Einzel-GdB-Werten von jeweils 10 in den Funktionssystemen „Rumpf“ und „Arme“ ist ab dem 5. Juni 2018 ein Gesamt-GdB von 30 und ab dem 26. September 2019 ein Gesamt-GdB von 40 zu bilden. Nach den VG, Teil A, Nr. 3, d), ee) führen, von Ausnahmefällen (z. B. hochgradige Schwerhörigkeit eines Ohres bei schwerer beidseitiger Einschränkung der Sehfähigkeit) abgesehen, leichte Gesundheitsstörungen, die nur einen GdB von 10 bedingen, nicht zu einer Zunahme des Ausmaßes der Gesamtbeeinträchtigung. Ab dem 26. September 2019 hält der Senat auch bei Vorliegen von zwei Einzel-GdB-Werten von 30 aufgrund der wesentlichen Überscheidung der Auswirkung der Funktionsbeeinträchtigungen (VG, Teil A, Nr. 3, d) cc) einen Gesamt-GdB von 40 für angemessen.   

Die Kostenentscheidung folgt aus § 193 SGG und berücksichtigt zugunsten der Klägerin deren teilweises Obsiegen hinsichtlich der Feststellung eines Gesamt-GdB von 30 ab dem 5. Juni 2018 sowie die erst im Berufungsverfahren eingetretene weitere Verschlechterung des Gesundheitszustands der Klägerin, die Diagnose der Occipitalisneuralgie.

Gründe, die Revision zuzulassen, sind nicht gegeben, da die Voraussetzungen des § 160 Abs. 2 SGG nicht vorliegen.

Rechtskraft
Aus
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