S 27 AS 976/18

Land
Hessen
Sozialgericht
SG Darmstadt (HES)
Sachgebiet
Grundsicherung für Arbeitsuchende
1. Instanz
SG Darmstadt (HES)
Aktenzeichen
S 27 AS 976/18
Datum
2. Instanz
Hessisches LSG
Aktenzeichen
L 6 AS 401/19
Datum
3. Instanz
-
Aktenzeichen
-
Datum
-
Kategorie
Urteil

Die Beklagte wird, unter Abänderung des Bescheides vom 27. Juli 2018 in Gestalt des Widerspruchsbescheides vom 18. Oktober 2018, verurteilt an die Kläger für den Zeitraum Juli bis Dezember 2018 monatlich weitere 154,00 € zu zahlen.

Die Beklagte hat die notwendigen außergerichtlichen Kosten der Kläger zu tragen.


Tatbestand

Die Beteiligten streiten um höhere Leistungen zur Sicherung des Lebensunterhalts nach dem Zweiten Buch Sozialgesetzbuch (SGB II) für die Zeit von Juli bis Dezember 2018 in Höhe von monatlich 154 €.

Die Klägerin zu 1) bezieht gemeinsam mit ihren Kindern den Klägern zu 2) bis 4) laufend Grundsicherungsleistungen.

Mit Schreiben der Beklagten vom 06.07.2017, 26.02.2018, 17.04.2018 und 14.05.2018 forderte sie die Klägerin zu 1) mit Belehrung über die Rechtsfolgen bei fehlender Mitwirkung dazu auf, einen Antrag auf Leistungen nach dem Unterhaltsvorschussgesetz (UVG) für die Klägerin zu 2) beim zuständigen Träger zu stellen.

Am 06.03.2018 beantragte die Klägerin zu 1) für die Klägerin zu 2) Unterhaltsvorschussleistungen.

Mit Bescheid vom 11.04.2018 lehnte das Jugendamt diesen Antrag ab. Zur Begründung führte es aus, dass die Klägerin zu 1) ihren Mitwirkungspflichten nicht nachgekommen sei. Gegen diese Entscheidung legten die Kläger Widerspruch ein.

Mit Schreiben vom 08.05.2018 teilte die Klägerin zu 1) dem Jugendamt die Adresse des Kindsvaters mit.

Mit streitgegenständlichem Bescheid vom 27.07.2018 entzog die Beklagte den Klägern für den Zeitraum Juli bis Dezember 2018 Grundsicherungsleistungen in Höhe von 154 €. Zur Begründung führte die Beklagte aus, dass die Kläger trotz Aufforderung und Belehrung ihrer Mitwirkungspflicht hinsichtlich der Beantragung von Leistungen nach dem UVG nicht erfüllt hätten.

Hiergegen legten die Kläger unter dem 06.08.2018 Widerspruch ein. Zur Begründung führten sie im Wesentlichen aus, dass ein Einkommen angerechnet werde, welches jedoch nicht zufließe.
Mit Schreiben vom 28.08.2018 bat die Klägerin zu 1) das Jugendamt um Bescheidung ihres Widerspruchs vom 08.05.2018 und teilte dem Jugendamt erneut die Adresse des Kindsvaters mit.

Mit Widerspruchsbescheid vom 18.10.2018 wies die Beklagte den Widerspruch zurück. Zur Begründung führte sie im Wesentlichen aus, dass sie die Leistungen nach § 5 Abs. 3 S. 3 SGB II analog ab Juli 2018 wirksam entzogen habe. Eine Analogie anzuwenden, da dies dem gesetzgeberischen Wille entspreche. Eine Vergleichbarkeit zwischen § 66 Erstes Buch Sozialgesetzbuch (SGB I) und § 1 Abs. 3 UVG sei gegeben. Die Klägerin zu 2) hätte bei vollständiger Mitwirkung einen Anspruch auf monatlich 154 € gehabt. Daraus ergebe sich den entzogenen Betrag. Die Entziehung könne rückwirkend wieder aufgehoben werden, sobald die unterlassene Mitwirkung nachgeholt werde.

Am 24.10.2018 haben die Kläger Klage erhoben. Sie führen aus, dass die Klägerin zu 1) durch Mitteilung der Adresse des Kindsvaters ihrer Mitwirkungspflicht nachgekommen sei. Sie gingen davon aus, dass der Bescheid des Jugendamts vom 11.04.2018 nicht bestandskräftig geworden sei, da das Schreiben vom 08.05.2018 als Widerspruch zu werten sei. Die Angelegenheit werde derzeit noch vom Jugendamt geprüft. Die Leistungen dürften nicht entzogen werden solange der Bescheid des Jugendamts noch nicht bestandskräftig geworden sei. Ferner sei die Entziehung zeitlich bis zum Zeitpunkt zu beschränken, indem die leistungsberechtigte Person ihrer Mitwirkungspflicht nachgekommen sei. Dies sei mit Schreiben vom 08.05.2018 und 28.08.2018 geschehen, in dem die Adresse des Kindsvaters angegeben worden sei. Ein gerichtliches Verfahren zur Feststellung der Vaterschaft könne von der Klägerin zu 1) nicht gefordert werden.

Die Kläger beantragen,
die Beklagte zu verurteilen, ihnen unter Abänderung des Bescheides vom 27. Juli 2018 in der Fassung des Widerspruchsbescheides vom 18. Oktober 2018, Leistungen zur Sicherung des Lebensunterhaltes für die Zeit vom 01. Juli 2018 bis 31. Dezember 2018 ohne die Entziehung von Leistungen in Höhe von monatlich 154,00 € zu gewähren.

Die Beklagte beantragt,
die Klage abzuweisen.

Die Beklagte beruft sich im Wesentlichen auf ihre Ausführungen im Verwaltungsverfahren. Ergänzend trägt sie vor, dass der Bescheid der Unterhaltsvorschussstelle bestandskräftig sei. Die Kläger hätten das dort geführte Widerspruchsverfahren zwischenzeitlich für erledigt erklärt. Eine Nachholung der Mitwirkung gegenüber der Unterhaltsvorschussstelle sei nicht belegt.

Der Bescheid des Jugendamtes vom 11.04.2018 ist zwischenzeitlich bestandskräftig geworden.

Zur Ergänzung des Tatbestandes wird Bezug genommen auf den Inhalt der Gerichtsakte und den Inhalt der Verwaltungsakte der Beklagten, die Gegenstand der mündlichen Verhandlung gewesen sind.


E n t s c h e i d u n g s g r ü n d e

Die kombinierte Anfechtungs- und Leistungsklage ist zulässig und begründet.

Der Bescheid der Beklagten vom 27.07.2018 in Gestalt des Widerspruchsbescheides vom 18.10.2018 ist insoweit rechtswidrig, als er den Klägern einen Betrag in Höhe von 154 € monatlich entzieht und verletzt die Kläger insoweit in ihren Rechten (§ 54 Abs. 2 S. 1 Sozialgerichtsgesetz (SGG)).

Entgegen der Ansicht der Beklagten ist es den Klägern im vorliegenden Fall möglich, nicht nur eine reine Anfechtungsklage zu erheben, sondern auch auf Leistungsgewährung zu klagen, da sich eine Leistungsverurteilung im vorliegenden Fall aufdrängt. Grundsätzlich ist gegen die Versagung einer Sozialleistung wegen fehlender Mitwirkung nur die reine Anfechtungsklage gegeben. Eine unmittelbare Klage auf existenzsichernde Leistungen kommt jedoch in Betracht, wenn sich eine Leistungsverurteilung aufdrängt, da sich bei einer Aufhebung der Entscheidung das Verwaltungsverfahren lediglich wiederholen würde (vgl. Urteil des Bundessozialgerichts vom 01.07.2009 – B 4 AS 78/08 R, m.w.N.). Bei dem Bescheid vom 27.07.2018 handelt es sich nicht um einen originären Entziehungsbescheid, da die Beklagte in diesem Bescheid zeitgleich eine Bewilligung und eine Teilversagung vornimmt. Die teilweise Aufhebung des Bescheides hat somit auch unmittelbar Auswirkungen auf die Höhe der bewilligten Leistungen, sodass sich nicht nur die Aufhebung, sondern auch die Zahlung aufdrängt. Ferner wird durch die teilweise Aufhebung des Bescheides und Verurteilung zur Leistung eine bloße Wiederholung des Verwaltungsverfahrens vermieden, da der Sachverhalt zwischen den Beteiligten unstreitig ist und die Beteiligten lediglich um die Rechtsfrage der Anwendbarkeit des § 5 Abs. 3 S. 3 SGB II streiten.

Zunächst bleibt festzuhalten, dass es sich zwar bei dem Unterhaltsvorschuss um ein Einkommen des Kindes handelt, sodass grundsätzlich nur das entsprechende Kind von einer Entziehung der Leistung betroffen ist. Im vorliegenden Fall sind jedoch aufgrund der variierenden Einkommensverteilung des Einkommens der Klägerin zu 1), alle Kläger von der Entziehung des Unterhaltsvorschusses betroffen.

Die Beklagte stützt die teilweise Entziehung der Grundsicherungsleistung in Höhe von 154 € auf § 5 Abs. 3 S. 3 SGB II, obwohl die Tatbestandsvoraussetzungen der Norm nicht erfüllt sind. Nach § 5 Abs. 3 S. 3 SGB II sind die Leistungen zur Sicherung des Lebensunterhalts nach dem SGB II ganz oder teilweise so lange zu entziehen oder zu versagen, bis die leistungsberechtigte Person ihrer Verpflichtung nach den §§ 60 bis 64 des Ersten Buches gegenüber dem anderen Träger nachgekommen ist, sofern eine Leistung aufgrund eines Antrages nach Satz 1 von einem anderen Träger nach § 66 SGB I bestandskräftig entzogen oder versagt wird. Die Regelung des § 5 Abs. 3 S. 3 SGB II kann für den Unterhaltsvorschuss keine Anwendung finden, da § 1 Abs. 3 UVG bei mangelnder Mitwirkung nur zur Ablehnung, nicht aber zur Versagung berechtigt (vgl. Groth/Siebel-Huffmann in: NJW 2016, S. 3404). Im vorliegenden Fall hat das Jugendamt Unterhaltsvorschussleistungen nach § 1 Abs. 3 UVG abgelehnt. Diese Ablehnung kann nicht mit einer Versagung oder Entziehung nach § 66 SGB I gleichgesetzt werden. Eine Ablehnung unterscheidet sich nicht nur der Wortbedeutung nach erheblich von einer Versagung oder Entziehung, sondern auch rechtlich und strukturell. Dies wird vor allen Dingen deutlich, wenn man § 66 SGB I mit § 1 Abs. 3 UVG vergleicht. Diese Normen können rechtlich nicht gleichgesetzt werden, da sie dem Träger völlig differenzierte Entscheidungsspielräume eröffnen. § 66 SGB I räumt dem Träger eine Ermessensentscheidung ein. Dahingehend handelt es sich bei einer Ablehnung nach § 1 Abs. 3 UVG um eine bindende Entscheidung des Trägers, sofern die Tatbestandsvoraussetzungen erfüllt sind.

Sofern die Beklagte vorträgt, § 5 Abs. 3 S. 3 SGB II müsse dahingehend ausgelegt werden, dass auch eine Ablehnung eines anderen Trägers von der Norm gedeckt wird, so ist dem nicht zu folgen. Einer Auslegung der Norm steht deren eindeutiger Wortlaut entgegen. 

Im Übrigen scheidet eine analoge Anwendung von § 5 Abs. 3 S. 3 SGB II aus, da es hierfür an einer planwidrigen Regelungslücke fehlt. Der Gesetzgeber hat die Norm des § 5 Abs. 3 S. 3 SGB II in der heute gültigen Form mit Wirkung zum 01.01.2017 durch das Gesetz vom 26.07.2016 (BGBl. I S. 1824) in das SGB II aufgenommen. Zu diesem Zeitpunkt war § 1 Abs. 3 UVG bereits in der heute gültigen Fassung in Kraft. Dem Gesetzgeber musste folglich bewusst gewesen sein, dass das UVG nur eine Ablehnung von Unterhaltsvorschussleistungen vorsieht. Hätte er den vorliegenden Fall regeln wollen, so hätte er dies durch Verwendung von anderen Begrifflichkeiten in die Fassung des § 5 Abs. 3 S. 3 SGB II nF aufnehmen können. Etwas anderes ergibt sich auch nicht aus dem Umstand, dass in der Bundestagsdrucksache 18/8909 auf Seite 29 ausdrücklich der Unterhaltsvorschuss genannt wird. Durch diese Formulierung wird deutlich, dass dem Gesetzgeber die Regelung der Ablehnung der Unterhaltsvorschussleistung nach dem UVG bekannt war. Nachdem der Gesetzgeber diesen Fall - trotz Kenntnis - nicht in die Regelung des § 5 Abs. 3 S. 3 SGB II aufgenommen hat, kann gerade nicht von einer Planwidrigkeit ausgegangen werden. Auch vor dem Hintergrund der Berücksichtigung eines Unterhaltsvorschusses als Einkommen des Kindes ist eine (analoge) Anwendung des § 5 Abs. 3 S. 3 SGB II auf derartige Fallkonstellationen abzulehnen, da dies eine teilweise Leistungsentziehung in Bezug auf Grundsicherungsleistungen des Kindes bedeuten würde, welche auf einen bestandskräftigen Bescheid aufgrund der Nichtmitwirkung der Mutter erfolgen würde. Dies stellt eine Minderung des Leistungsanspruches des Kindes dar, obwohl dieses das Verhalten der Mutter in Bezug auf die Mitwirkung vor dem Jugendamt nicht beeinflussen kann. 

Die Kostenentscheidung beruht auf § 193 SGG und entspricht dem Ausgang des Verfahrens.
 

Rechtskraft
Aus
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