S 1 KR 163/17 ER

Land
Hessen
Sozialgericht
SG Wiesbaden (HES)
Sachgebiet
Krankenversicherung
1. Instanz
SG Wiesbaden (HES)
Aktenzeichen
S 1 KR 163/17 ER
Datum
2. Instanz
Hessisches LSG
Aktenzeichen
L 8 KR 255/19 B ER
Datum
3. Instanz
-
Aktenzeichen
-
Datum
-
Kategorie
Beschluss

Der Antrag auf Erlass einer einstweiligen Anordnung wird abgelehnt.

Die Beteiligten haben einander keine Kosten zu erstatten.

Gründe

I.

Die Beteiligten streiten um die Bewilligung einer Versorgung mit Cannabis.

Der im Jahre 1962 geborene Antragsteller beantragte am 15.3.2017 die Kostenübernahme für die Versorgung mit Cannabis. Er legte vor ein ärztliches Attest des behandelnden Hausarztes Dr. C. vom 10.3.2017, in dem dieser angibt, dass der Antragsteller unter starken chronischen Schmerzen leide und nach Ausschöpfung medikamentöser und physikalischer Therapie weiterhin so starke Schmerzen bestünden, dass eine Cannabis- Therapie indiziert sei.

Die Antragstellerin holte eine Stellungnahme des MDK ein. Dieser gab an, dass Ziel eine Besserung der Mobilität durch Schmerzlinderung sei. Die vorgelegten Befundberichte beträfen hauptsächlich ein Schmerzsyndrom in den Ellenbogen sowie eine Cervikobrachialgie. Hierbei handele es sich nicht um schwerwiegende Erkrankungen. Aktuell bestehe keine ausreichende Evidenz, Patienten mit chronischen Schmerzen bei rheumatischen Erkrankungen mit Cannabis zu behandeln. Bei Fibromyalgie bestehe laut der AW- MF-Leitlinien (Arbeitsgemeinschaft der Wissenschaftlichen Medizinischen Fachgesellschaften e.V.) sogar eine negative Empfehlung für Cannabis. Mit Bescheid vom 3.4.2017 lehnte die Antragsgegnerin daraufhin unter Bezugnahme auf die MDK-Stellungnahme eine Kostenübernahme für das Medikament Cannabis ab.

Mit am 9.4.2017 bei dem Sozialgericht Wiesbaden eingegangenem Antrag begehrt der Antragsteller die Versorgung mit Cannabis im einstweiligen Rechtsschutzverfahren. Zur Begründung trägt er vor, dass er seit dem 10.3.2017 Anspruch auf die Versorgung mit Cannabis gemäß § 31 Abs. 6 SGB V habe. Voraussetzung sei dafür, dass eine allgemein anerkannte Leistung nicht zur Verfügung stehe. Dies sei bei ihm gegeben, da er wegen starker Nebenwirkungen anderer Medikamente keine anderen Behandlungsmöglichkeiten hätte. Insbesondere seit der Interferontherapie vertrage er chemische Medikamente nur schlecht. Seit Jahren leide er unter chronischen Schmerzen in Arm, Schulter und Rücken. Er könne seinen Beruf als Maler/Lackierer nicht mehr ausüben und sei auf Alg II angewiesen. Das Cannabis wirke gut. Der Antragsteller legt eine Medikamentenliste vor, der zu Folge er seit dem Jahr 2013 Cannabis nimmt, seit Anfang 2015 ständig Tramal-Tropfen sowie seit Oktober 2016 Fentanyl-Pflaster. Unter Einsatz von Cannabis benötige er nur geringere Mengen der Tramal-Tropfen. Sowohl bei Fentanyl-Pflaster als auch bei Tramal bestünden Sehstörungen, Schlafstörungen sowie Übelkeit. Im Übrigen sei das Vorbringen der Antragsgegnerin nicht zutreffend, dass Cannabis bei ihm kontraindiziert sei. Der Antragsteller liegt Artikel über Einsatzgebiete für Cannabis vor, wonach Cannabis- basierte Medikamente bei neuropathischen und chronischen Schmerzen gut einzusetzen seien. Er legt zudem ein weiteres Attest Hausarztes Dr. C. vom 8.5.2017 vor, wonach eine Versorgung mit Cannabis bei ihm erfolgen solle. Zum Nachweis dafür, dass er Cannabis nicht aus eigenen Mitteln finanzieren könne, legt der Antragsteller den Bescheid der Landeshauptstadt Wiesbaden -Amt für Grundsicherung und Flüchtlinge- vom 15.2.2017 über die Bewilligung von SGB XII-Leistungen vor.

Der Antragsteller beantragt,

die Antragsgegnerin im Wege der einstweiligen Anordnung zu verpflichten, ab sofort die Kosten für medizinische Cannabisblüten zu übernehmen. 

Die Antragsgegnerin beantragt,

den Antrag auf Erlass einer einstweiligen Anordnung abzulehnen. 

Sie führt zur Begründung aus, dass vorliegend kein Einzelfall im Sinne von § 31 Abs. 6 SGB V gegeben sei, da für den Antragsteller auch allgemein anerkannte medizinische Leistungen zur Verfügung stünden. Zum einen werde keinerlei Opiatunverträglichkeit beschrieben. Zum anderen seien keine schwerwiegenden Erkrankungen bei Epicondylitis und Cervikobrachialgie gegeben. Im Übrigen habe der Antragsteller selbst eingeräumt, dass bei einer Versorgung mit Tramal-Tropfen bei hoher Dosis eine Schmerzlinderung erfolge. Er gebe darüber hinaus an, Tramal teilweise neben Cannabis einzunehmen. Schwerwiegende Symptome seien bei ihm nicht belegt. Die Antragsgegnerin legt einen Auszug der Leitlinien Fibromyalgie- Syndrom vor, der zu Folge Cannabinoide bei dieser Erkrankung nicht empfohlen werden sollten. Darüber hinaus bestehe auch kein Anordnungsgrund, da dem Antragsteller das Abwarten des Hauptsacheverfahrens zumutbar sei.

Wegen der weiteren Einzelheiten, auch im Vorbringen der Beteiligten, wird auf die Gerichtsakte und die Verwaltungsakte der Antragsgegnerin Bezug genommen.

II.

Der Antrag auf einstweilige Anordnung ist zulässig, jedoch nicht begründet. 

Nach § 86 b Abs. 2 SGG kann das Gericht auf Antrag eine einstweilige Anordnung in Bezug auf den Streitgegenstand treffen, wenn die Gefahr besteht, dass durch eine Veränderung des bestehenden Zustandes die Verwirklichung des Rechts des Antragstellers vereitelt oder wesentlich erschwert werden könnte. Nach Satz 2 der Vorschrift sind einstweilige Anordnungen auch für Regelungen eines vorläufigen Zustandes in Bezug auf ein streitiges Rechtsverhältnis zulässig, wenn eine solche Regelung zur Abwendung wesentlicher Nachteile notwendig erscheint. 

Die Gewährung einstweiligen Rechtsschutzes setzt in diesem Zusammenhang einen Anordnungsanspruch voraus, mithin einen materiell-rechtlichen Anspruch auf die Leistung, zu der die Antragsgegnerin im Wege des einstweiligen Rechtsschutzes verpflichtet werden soll. Darüber hinaus ist ein Anordnungsgrund erforderlich, was bedeutet, dass der Erlass der einstweiligen Anordnung zur Abwendung wesentlicher Nachteile notwendig sein muss, um zu vermeiden, dass Antragsteller vor vollendete Tatsachen gestellt werden, bevor sie wirksamen Rechtsschutz erlangen können. Dies liegt unter anderem dann vor, wenn es nach den Umständen des Einzelfalles für den Antragsteller unzumutbar ist, bis zur Entscheidung in der Hauptsache abzuwarten, zum Beispiel dann, wenn eine konkrete Gefährdung der Existenz droht. 

Zwischen Anordnungsanspruch und Anordnungsgrund besteht eine Wechselbeziehung derart, als das die Anforderungen an den Anordnungsanspruch mit zunehmender Eilbedürftigkeit bzw. Schwere des drohenden Nachteils zu verringern sind und umgekehrt. Maßgeblich sind die Erfolgsaussichten einer entsprechenden Klage im Hauptsacheverfahren. Ist die Klage im Hauptsacheverfahren offensichtlich unzulässig oder unbegründet, ist die einstweilige Anordnung ohne Rücksicht auf den Anordnungsgrund grundsätzlich abzulehnen, da ein schützenswertes Recht nicht existiert. Ist die Klage in der Hauptsache offensichtlich begründet, vermindern sich die Anforderungen an einen Anordnungsgrund. 

Bei offenem Ausgang des Hauptsacheverfahrens ist im Wege einer Folgenabwägung zu entscheiden. Es sind die Folgen abzuwägen, die auf der einen Seite entstehen würden, wenn das Gericht die einstweilige Anordnung nicht erließe, sich jedoch im Hauptsacheverfahren herausstellt, dass der Anspruch besteht, und auf der anderen Seite die Folgen, die entstehen würden, wenn das Gericht die einstweilige Anordnung erließe, sich aber im Hauptsacheverfahren herausstellt, dass der Anspruch nicht besteht. 

Schließlich sind sowohl Anordnungsanspruch als auch Anordnungsgrund gemäß § 920 Abs. 2 Zivilprozessordnung (ZPO) i. V. m. § 86 b Abs. 2 SGG glaubhaft zu machen. 

Das Gericht hat bereits erhebliche Zweifel, ob vorliegend ein Anordnungsanspruch besteht. Rechtsgrundlage für die Versorgung mit medizinischem Cannabis ist § 31 Abs. 6 SGB V in der seit 10.3.2017 geltenden Fassung. Danach haben Versicherte mit einer schwerwiegenden Erkrankung Anspruch auf Versorgung mit Cannabis in Form von getrockneten Blüten oder Extrakten in standardisierter Qualität und auf Versorgung mit Arzneimitteln mit den Wirkstoffen Dronabinol oder Nabilon, wenn eine allgemein anerkannte, dem medizinischen Standard entsprechende Leistung nicht zur Verfügung steht oder im Einzelfall nach der begründeten Einschätzung der behandelnden Vertragsärztin oder des behandelnden Vertragsarztes unter Abwägung der zu erwartenden Nebenwirkungen und unter Berücksichtigung des Krankheitszustandes der oder des Versicherten nicht zur Anwendung kommen kann sowie eine nicht ganz entfernt liegende Aussicht auf eine spürbare positive Einwirkung auf den Krankheitsverlauf oder auf schwer wiegende Symptome besteht.

Vorliegend hat zwar der behandelnde Hausarzt Dr. C. bescheinigt, dass der Antragsteller unter starken chronischen Schmerzen leidet. Ob dies als „schwerwiegende Erkrankung“ im Sinne von § 31 Abs. 6 SGB V gewertet werden kann, erscheint zweifelhaft. Eine Legaldefinition dazu, was eine „schwerwiegende Erkrankung“ ist, liegt nicht vor. In § 12 Abs. 3 der Arzneimittel-Richtlinien wird eine Krankheit als schwerwiegend definiert, wenn sie lebensbedrohlich ist oder wenn sie aufgrund der Schwere der durch sie verursachten Gesundheitsstörungen die Lebensqualität auf Dauer nachhaltig beeinträchtigt. Eine lebensbedrohliche Krankheit liegt hier indes erkennbar nicht vor. Dr. C. gibt an, dass nach Ausschöpfung medikamentöser und physikalischer Therapie, Krankengymnastik und Bewegungstherapie, weiterhin so starke Schmerzen bestünden, dass eine Cannabis- Therapie indiziert sei. Inwieweit die bisherige Medikation bzw. deren Nebenwirkungen die Lebensqualität auf Dauer beeinträchtigt, wird ärztlicherseits nicht angegeben. Ungeachtet dessen steht diesen Ausführungen die Stellungnahme des MDK vom 31.3.2017 entgegen, wonach aktuell keine ausreichende Evidenz dafür bestehe, Patienten mit chronischen Schmerzen bei rheumatischen Erkrankungen mit Cannabis zu behandeln. Im Weiteren führt der MDK aus, dass im Gegenteil bei Fibromyalgie in den AWMF- Leitlinien sogar eine negative Empfehlung für Cannabis abgegeben werde. 

Zweifel am Vorliegen der Anspruchsvoraussetzungen des § 31 Abs. 6 SGB V ergeben sich für das Gericht zudem daraus, dass eine allgemein anerkannte, dem medizinischen Standard entsprechende Leistung zur Verfügung steht, nämlich Tramal-Tropfen bzw. Fentanyl-Pflaster. Dass diese Leistung wegen zu erwartender Nebenwirkungen und unter Berücksichtigung des Krankheitszustandes nicht zur Anwendung kommen kann, ist vorliegend nicht wahrscheinlich gemacht. Denn der Antragsteller erhält diese Leistung aufgrund Verordnung seitens seines Hausarztes. Allein der Umstand, dass diese Medikamente offensichtlich starke Nebenwirkungen haben und der Antragsteller der Auffassung ist, dass bei zusätzlichem Einsatz von Cannabis diese Beschwerden geringer seien, begründet nach Überzeugung des Gerichtes nicht die Einschätzung, dass hier eine schwerwiegende Erkrankung im Sinne von § 31 Abs. 6 SGB V vorliegt. Ob der Antragsteller und gegebenenfalls mit welchem Erfolg eine nichtmedikamentöse Therapie z.B. in Form von elektrischer Nervenstimulation (TENS-Gerät) oder Behandlungsversuche mithilfe psychotherapeutischer Intervention erhalten hat, ist weder vorgetragen noch glaubhaft gemacht. 

Selbst wenn aber zu Gunsten des Antragstellers davon auszugehen wäre, dass der Ausgang des Hauptsacheverfahrens als offen zu bezeichnen wäre, würde der Antrag auf einstweiligen Rechtsschutz allein wegen Fehlens des Anordnungsgrundes scheitern.

Sofern der Anordnungsanspruch zumindest möglicherweise besteht, aber eine abschließende Beurteilung in angemessener Zeit nicht möglich ist, ist die begehrte einstweilige Anordnung zu erlassen, wenn ansonsten mit schweren und unzumutbaren gesundheitlichen Nachteilen zu rechnen ist und der Betroffene nicht in der Lage ist, die Kosten der Behandlung vorläufig selbst zu tragen (s. Meyer-Ladewig/Keller/Leitherer § 86 Buchst. b SGG). Diese Voraussetzung liegt beim Antragsteller nicht vor. Denn es besteht für ihn die Möglichkeit, sich mit den genannten konventionellen Medikamenten behandeln zu lassen. Nach Ansicht des Gerichtes ist es für ihn nicht unzumutbar, im Widerspruchsverfahren und gegebenenfalls anschließenden Klageverfahren seine Ansprüche weiter zu verfolgen. 

Die Kostenentscheidung beruht auf § 193 SGG

Rechtskraft
Aus
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