S 21 KR 225/17 ER

Land
Hessen
Sozialgericht
SG Wiesbaden (HES)
Sachgebiet
Krankenversicherung
1. Instanz
SG Wiesbaden (HES)
Aktenzeichen
S 21 KR 225/17 ER
Datum
2. Instanz
Hessisches LSG
Aktenzeichen
L 8 KR 366/17 B ER
Datum
3. Instanz
-
Aktenzeichen
-
Datum
-
Kategorie
Beschluss

1.    Der Antrag auf Erlass einer einstweiligen Anordnung wird abgelehnt.

2.    Kosten sind nicht zu erstatten.

Gründe

I.

Der 1960 geborene Antragsteller begehrt die vorläufige Versorgung mit Medizinal-Cannabisblüten mit dem Handelsnamen Penelope als Sachleistung (Bl. 1 Gerichtsakte), hilfsweise die vorläufige Versorgung mit Sativex und/oder Dronabinol als Sachleistung (Bl. 56 Gerichtsakte).

Er leidet unter anderem an Fibromyalgie. Als weitere Erkrankungen sind Akromioklavikulargelenksarthrose links, Bursitis subacrominalis links, Gonarthrose links, Meniskuseinriss links, depressives Syndrom, arterielle Hypertonie, chronische Schmerzstörung mit somatischen und psychischen Faktoren bekannt. 

Am 20.03.2017 beantragte der Antragsteller bei der Antragsgegnerin die Versorgung mit Medizinal-Cannabisblüten Penelope. Zur Unterstützung des Antrags legte er eine Bescheinigung seines behandelnden Schmerztherapeuten, Herrn Prof. Dr. C., vom 17.03.2017 vor, wonach für die Behandlung der Fibromyalgie mit dem Produkt Cannabis Penelope in der Darreichungsform Blüten, Dosis 25 mg mit dem Behandlungsziel Schmerzreduzierung und Ermöglichung der Teilnahme am Arbeitsleben verordnet werden soll (Bl. 47 Gerichtsakte). Am 24.03.2017 legte er den Arztfragebogen zu Cannabinoiden nach § 31 Abs. 6 SGB V vor (Bl. 45 Gerichtsakte). Die Antragsgegnerin legte diese Unterlagen dem MDK zur Bewertung und Stellungnahme vor. Mit sozialmedizinischer Stellungnahme vom 05.04.2017 (Bl. 40 Gerichtsakte) teilte der begutachtende Arzt, Dr. D., mit, dass schwerwiegende Symptome gemäß CTCAE Grad 3 und 4 nicht dokumentiert seien. Zur Fibromyalgie existiere eine AWMF Leitlinie mit zahlreichen Therapievorschlägen; Cannabinoide sollten hiernach nicht eingesetzt werden. Mit Bescheid vom 06.04.2017 (Bl. 38 Gerichtsakte) lehnte die Antragsgegnerin die Kostenübernahme für Medizinal-Cannabisblüten ab, da die Voraussetzungen im Sinne der Gesetzgebung anhand der bislang übermittelten Unterlagen nicht nachvollziehbar seien.

Hiergegen legte der Antragsteller, vertreten durch seinen Prozessbevollmächtigten, mit Schreiben vom 11.05.2017 Widerspruch ein. Die Antragsgegnerin legte diese Unterlagen dem MDK zu einer erneuten Bewertung und Stellungnahme vor. Mit sozialmedizinischer Stellungnahme vom 24.05.2017 (Bl. 28 Gerichtsakte) teilte der begutachtende Arzt, Dr. D., mit, dass schwerwiegende Symptome nach wie vor nicht dokumentiert seien. Die Auswirkungen der Erkrankung auf das tägliche Leben müssten schon schwerwiegend sein wie beim Endstadium einer rheumatoiden Arthritis. Aktuell bestehe keine ausreichende Evidenz, eine symptomatische Behandlung von Patienten mit chronischen Schmerzen bei rheumatischen Erkrankungen mit Cannabispräparaten zu empfehlen. Bei der Diagnose Fibromyalgie gebe es sogar eine negative Evidenz aus Studien. Daraufhin wurde der Prozessbevollmächtigte des Antragstellers mit Schreiben vom 24.08.2017 über die Gründe für die Ablehnung der Kostenübernahme informiert, der in der Folge mit Schreiben vom 11.05.2017 mitteilte, dass der Widerspruch nicht zurückgenommen wird.

Am 22.05.2017 hat der Antragsteller, vertreten durch seinen Prozessbevollmächtigten, den vorliegenden Antrag auf einstweiligen Rechtsschutz gestellt. Er ist der Auffassung, dass die Ablehnung der Kostenübernahme für Medizinal-Cannabisblüten zu Unrecht erfolgt sei. Eine Genehmigung dürfe nur in begründeten Ausnahmefällen abgelehnt werden, ein solcher sei hier nicht ersichtlich. Ausweislich der Gesetzesbegründung habe der Vertragsarzt die Behandlungshoheit. Im Übrigen genüge eine ganz entfernt liegende Aussicht auf eine spürbare positive Entwicklung des Krankheitsverlaufes; nach Auffassung des Vertragsarztes gebe es entsprechende Studien. Soweit sich die Antragsgegnerin im Eilverfahren darauf beruft, wirtschaftlich und besser untersucht seien die Alternativen Sativex und Dronabinol, so habe der behandelnde Arzt sicherlich hinreichende Gründe für die Verordnung von Cannabis-Blüten. Rein vosorglich und hilfsweise werde aber eine entsprechende Verordnung ebenfalls beantragt. Der Antragsteller, der im Bezug von Leistunge nach dem SGB II stehe, verfüge nicht um die notwendigen Mittel, um in Vorleistung zu treten. 

Der Antragsteller beantragt,

die Antragsgegnerin im Wege der einstweiligen Anordnung zu verpflichten, dem Antragsteller vorläufig eine Versorgung mit Cannabisblüten Penelope, hilfsweise mit Sativex und/oder Dronabinol als Sachleistung zu gewähren.

Die Antragsgegnerin beantragt,

den Antrag abzulehnen.

Die Antragsgegnerin ist der Ansicht, dass ein Anordnungsanspruch nicht bestehe. Die Versorgung mit Cannabis in Form von Blüten oder Extrakten in standardisierter Form setze das Vorliegen einer schwerwiegenden Erkrankung voraus. Unter Bezugnahme auf die eingeholten sozialmedizinischen Stellungnahmen ist sie der Auffassung, dass bereits keine schwerwiegende Erkrankung vorliegt, da schwerwiegende Symptome gemäß CTCAE Grad 3 und 4 nicht dokumentiert seien. Zudem verweist sie darauf, dass nach einer AWMF-Leitlinie mit zahlreichen Therapievorschlägen eine negative Empfehlung bei der Behandlung von Fibromyalgie bestehe. Die Verordnung von Cannabinoiden sei nicht aufgrund der Überzeugung des Verordners, die Cannabis Blüte als „ultimo ratio“ zu rezeptieren erfolgt, sondern ausschließlich auf Wunsch des Antragstellers. Dieser Wunsch sei ausweislich eines Eintrages vom 08.03.2017 in der Arztdokumentation mit der aktuellen Gesetzesänderung zusammengefallen. 

Mit Widerspruchsbescheid vom 07.07.2017 hat die Antragsgegnerin den Widerspruch gegen den Bescheid vom 06.04.2017 (Bl. 116 Gerichtsakte) zurückgewiesen. 

Am 27.07.2017 hat der Antragsteller, vertreten durch seinen Prozessbevollmächtigten, Klage gegen den Bescheid vom 06.04.2017 in Gestalt des Widerspruchsbescheides vom 07.07.2017 erhoben (S 21 KR 337/17) und begehrt dort die Versorgung mit Cannabisblüten Penelope als Sachleistung.

Zur weiteren Aufklärung des Sachverhaltes hat die Kammer Befundberichte bei den behandelnden Ärzten des Antragstellers Dr. E. vom 12.07.2017 (Bl. 89 Gerichtsakte), Dr. F. vom 13.07.2017 (Bl. 93 ff. Gerichtsakte), Dr. G. vom 20.07.2017 (Bl. 96 Gerichtsakte) und Prof. Dr. C. vom 14.08.2017 (Bl. 150 ff. Gerichtsakte) eingeholt, auf deren Inhalt verwiesen wird.

Die Antragsgegnerin hat eine erneute sozialmedizinische Stellungnahme des Dr. D. vom 07.06.2017 zur Gerichtsakte gereicht (Bl. 62 Gerichtsakte), auf deren Inhalt verwiesen wird.

Zum Sach- und Streitstand im Einzelnen wird auf die Gerichtsakte sowie auf die Leistungsakte des Antragstellers bei dem Antragsgegner, die dem Gericht zum Zeitpunkt der Entscheidung vorlag, Bezug genommen. 

II.

Der zulässige Antrag auf einstweiligen Rechtsschutz ist unbegründet. Der Antragssteller hat die Voraussetzungen für einen Antrag auf Erlass einer einstweiligen Anordnung nicht glaubhaft gemacht.

Im sozialgerichtlichen Verfahren kann gemäß § 86b Abs. 2 Satz 1 Sozialgerichtsgesetz (SGG) eine einstweilige Anordnung dann erlassen werden, wenn die Gefahr besteht, dass durch eine Veränderung des bestehenden Zustands die Verwirklichung eines Rechts des Antragstellers vereitelt oder wesentlich erschwert werden könnte (sog. Sicherungsanordnung). Einstweilige Anordnungen sind gemäß § 86b Abs. 2 Satz 2 SGG auch zur Regelung eines vorläufigen Zustands in Bezug auf ein streitiges Rechtsverhältnis zulässig, wenn eine solche Regelung zur Abwendung wesentlicher Nachteile nötig erscheint (sog. Regelungsanordnung). 

Voraussetzung für den Erlass einer Regelungsanordnung ist sowohl ein Anordnungsanspruch (d.h. die hinreichende Wahrscheinlichkeit eines materiellen Leistungsanspruchs) als auch ein Anordnungsgrund (d.h. die Eilbedürftigkeit der Regelung zur Abwendung wesentlicher Nachteile). Der Antragsteller muss glaubhaft machen (vgl. § 86b Abs. 2 Satz 4 SGG i.V.m. § 920 Zivilprozessordnung (ZPO), dass ihm aus dem streitigen Rechtsverhältnis ein Recht zusteht, für das wesentliche Gefahren drohen und weiteres Zuwarten für ihn mit besonderen, wesentlichen Nachteilen verbunden wäre. Weiter ist zu berücksichtigen, dass Anordnungsanspruch und Anordnungsgrund nicht isoliert nebeneinander stehen, sondern eine Wechselbeziehung besteht. Die Anforderungen an den Anordnungsanspruch sind mit zunehmender Eilbedürftigkeit bzw. Schwere des drohenden Nachteils (dem Anordnungsgrund) zu verringern und umgekehrt. Anordnungsanspruch und Anordnungsgrund bilden nämlich aufgrund ihres funktionalen Zusammenhangs ein bewegliches System (Beschluss des Hessischen Landessozialgerichts vom 29. Juni 2005 – L 7 AS 1/05 ER; Meyer-Ladewig/Keller/Leitherer, SGG, § 86b, Rdnr. 27 und 29 m.w.N.)

Ist die Klage in der Hauptsache offensichtlich unzulässig oder unbegründet, so ist der Antrag auf einstweilige Anordnung ohne Rücksicht auf den Anordnungsgrund grundsätzlich abzulehnen, weil ein schützenswertes Recht nicht vorhanden ist. Ist die Klage in der Hauptsache dagegen offensichtlich begründet und das angegriffene Verwaltungshandeln offensichtlich rechtswidrig bzw. bestehen ernstliche Zweifel an der Rechtmäßigkeit des Vorgehens des Leistungsträgers, so vermindern sich die Anforderungen an den Anordnungsgrund (vgl. Landessozialgericht Nordrhein-Westfalen, Beschluss vom 24.05.2004, Az. L 16 B 15/04 KR ER; Bayerisches Landessozialgericht, Beschluss vom 31.07.2002, Az. L 18 B 237/01 V ER). In der Regel ist dann dem Antrag auf Erlass der einstweiligen Anordnung stattzugeben, wobei jedoch auf einen Anordnungsgrund nicht gänzlich verzichtet werden kann. Bei offenem Ausgang des Hauptsacheverfahrens, wenn etwa eine vollständige Aufklärung der Sach- und Rechtslage im Eilverfahren nicht möglich ist, ist im Wege einer Folgenabwägung zu entscheiden (SG Gießen, Beschl. vom 20.03.2009 – S 29 AS 3/09 ER).

Dabei sind grundrechtliche Belange des Antragstellers umfassend in der Abwägung zu berücksichtigen. Insbesondere bei Ansprüchen, die darauf gerichtet sind, als Ausfluss der grundrechtlich geschützten Menschenwürde das soziokulturelle Existenzminimum zu sichern (Art. 1 Abs. 1 Grundgesetz (GG) in Verbindung mit dem Sozialstaatsprinzip) ist ein nur möglicherweise bestehender Anordnungsanspruch, vor allem wenn er eine für die soziokulturelle Teilhabe unverzichtbare Leistungshöhe erreicht und für einen nicht nur kurzfristigen Zeitraum zu gewähren ist, in der Regel vorläufig zu befriedigen, wenn sich die Sach- oder Rechtslage im Eilverfahren nicht vollständig klären lässt (BVerfG vom 12. Mai 2005 – 1 BvR 569/05). Denn im Rahmen der gebotenen Folgenabwägung hat dann regelmäßig das Interesse des Leistungsträgers an einer Vermeidung ungerechtfertigter Leistungen gegenüber der Sicherstellung des ausschließlich gegenwärtig für den Antragsteller verwirklichbaren soziokulturellen Existenzminimums zurückzutreten (vgl. Beschluss des Hessischen Landessozialgerichts vom 27. Juli 2005 – L 7 AS 18/05 ER). Die einstweilige Anordnung darf andererseits aber grundsätzlich die endgültige Entscheidung in der Hauptsache nicht vorwegnehmen (vgl. dazu Meyer-Ladewig/Keller/Leitherer, § 86b SGG Rn. 31).

Sowohl Anordnungsanspruch und Anordnungsgrund sind gemäß § 920 Abs. 2 Zivilprozessordnung (ZPO) in Verbindung mit § 86b Abs. 2 Satz 4 SGG glaubhaft zu machen. Je gewichtiger eine möglicherweise drohende Grundrechtsverletzung und je höher ihre Eintrittswahrscheinlichkeit ist, desto intensiver hat die tatsächliche und rechtliche Durchdringung der Sache bereits im Verfahren des vorläufigen Rechtsschutzes zu erfolgen (vgl. BVerfG, Beschluss vom 25. Oktober 1988 – 2 BvR 745/88). Ist eine der drohenden Grundrechtsverletzung entsprechende Klärung der Sach- und Rechtslage im Eilverfahren nicht möglich – etwa weil es dafür weiterer, in der Kürze der zur Verfügung stehenden Zeit nicht zu verwirklichender tatsächlicher Aufklärungsmaßnahmen bedürfte  , ist es von Verfassungs wegen nicht zu beanstanden, wenn die Entscheidung über die Gewährung vorläufigen Rechtsschutzes dann auf der Grundlage einer Folgenabwägung erfolgt (BVerfG, Beschluss vom 6. Februar 2013 – 1 BvR 2366/12). Übernimmt das einstweilige Rechtsschutzverfahren allerdings vollständig die Bedeutung des Hauptsacheverfahrens und droht eine endgültige Verhinderung der Grundrechtsverwirklichung der Beteiligten (vgl. BVerfG, Beschluss vom 27. Mai 1998 – 2 BvR 378/98), müssen die Gerichte bei den Anforderungen an die Glaubhaftmachung zur Begründung von Leistungen zur Existenzsicherung in den Verfahren des einstweiligen Rechtsschutzes Rechnung tragen. Die Anforderungen an die Glaubhaftmachung haben sich am Rechtsschutzziel zu orientieren, das mit dem jeweiligen Rechtsschutzbegehren verfolgt wird (vgl. BVerfG, Beschluss vom 29. Juli 2003 – 2 BvR 311/03). Die Glaubhaftmachung bezieht sich im Übrigen lediglich auf die reduzierte Prüfungsdichte und die nur eine überwiegende Wahrscheinlichkeit erfordernde Überzeugungsgewissheit für die tatsächlichen Voraussetzungen des Anordnungsanspruchs und des Anordnungsgrundes (vgl. Beschluss des Hessischen Landessozialgerichts vom 29. Juni 2005 – L 7 AS 1/05 ER; Meyer-Ladewig/Keller/Leitherer, a.a.O., Rn. 16b, 16c, 40). Maßgebend für die Beurteilung der Anordnungsvoraussetzungen sind regelmäßig die Verhältnisse im Zeitpunkt der gerichtlichen Entscheidung (vgl. etwa Meyer-Ladewig/Keller/Leitherer, a.a.O., Rn. 42). Denn der elementare Lebensbedarf eines Menschen muss in dem Augenblick befriedigt werden, in dem er entsteht (vgl. BVerfG, Urteil vom 9. Februar 2010 – 1 BvL 1/09, 1 BvL 3/09, 1 BvL 4/09). Bei der Prüfung der Hilfebedürftigkeit als Voraussetzung eines Anspruchs auf Leistungen zur Sicherung des Lebensunterhalts (§ 7 Abs. 1 S 1 Nr. 3, § 9 SGB II) ist daher auf die gegenwärtige tatsächliche Situation der Antragsteller abzustellen (vgl. BVerfG, Nichtannahmebeschluss vom 6. August 2014 – 1 BvR 1453/12). Umstände aus der Vergangenheit dürfen aber insoweit herangezogen werden, als sie Erkenntnisse über die gegenwärtige Lage ermöglichen (vgl. BVerfG, Stattgebender Kammerbeschluss vom 12. Mai 2005 – 1 BvR 569/05; Hessisches Landessozialgericht, Beschluss vom 29. September 2015 – L 6 AS 265/15 ER).

Ausgehend von diesen Grundsätzen sind die Voraussetzungen für die Gewährung vorläufigen Rechtsschutzes nicht gegeben. 

Gem. § 31 Abs. 6 Satz 1 SGB V haben Versicherte mit einer schwerwiegenden Erkrankung Anspruch auf Versorgung mit Cannabis in Form von getrockneten Blüten oder Extrakten in standardisierter Qualität und auf Versorgung mit Arzneimitteln mit den Wirkstoffen Dronabinol oder Nabilon, wenn 

1.    eine allgemein anerkannte, dem medizinischen Standard entsprechende Leistung

a) nicht zur Verfügung steht oder
b) im Einzelfall nach der begründeten Einschätzung der behandelnden Vertragsärztin oder des behandelnden Vertragsarztes unter Abwägung der zu erwartenden Nebenwirkungen und unter Berücksichtigung des Krankheitszustandes der oder des Versicherten nicht zur Anwendung kommen kann,

2.    eine nicht ganz entfernt liegende Aussicht auf eine spürbare positive Einwirkung auf den Krankheitsverlauf oder auf schwerwiegende Symptome besteht.

Gem. § 31 Abs. 6 Satz 2 SGB V bedarf die Leistung bei der ersten Verordnung für eine Versicherte oder einen Versicherten der nur in begründeten Ausnahmefällen abzulehnenden Genehmigung der Krankenkasse, die vor Beginn der Leistung zu erteilen ist. Verordnet die Vertragsärztin oder der Vertragsarzt die Leistung nach Satz 1 im Rahmen der Versorgung nach § 37b SGB V, ist über den Antrag auf Genehmigung nach Satz 2 abweichend von § 13 Absatz 3a Satz 1 innerhalb von drei Tagen nach Antragseingang zu entscheiden (§ 31 Abs. 6 Satz 3 SGB V).

Vorliegend ist nicht glaubhaft gemacht, dass die Voraussetzungen des § 31 Abs. 6 SGB V erfüllt sind. 

1. Voraussetzung für einen Anspruch nach § 31 Abs. 6 SGB V ist zunächst das Vorliegen einer schwerwiegenden Erkrankung. Das Gesetz definiert den Begriff der „schwerwiegenden Erkrankung“ nicht. Das Bundessozialgericht geht in seiner Rechtsprechung zum sog. „off-label-use“ von einer schwerwiegenden Erkrankung aus, wenn „sie lebensbedrohlich ist oder wenn sie aufgrund der Schwere der durch sie verursachten Gesundheitsstörungen die Lebensqualität auf Dauer nachhaltig beeinträchtigt“. Das Bundessozialgericht nennt – ebenfalls in Anlehnung an seine Rechtsprechung zum „off-label-use“ – folgende Beispiele für eine „schwerwiegende Erkrankung“: schwere Verlaufsform der Neurodermitis (BSGE 110, 183), fortgeschrittene Bronchialkarzinome und Tumore der Thoraxorgane (BeckRS 2011, 68184), metastasierende Karzinome der Eileiter (BSGE 106, 110), sekundäre pulmonale Hypertonie bei CREST-Syndrom im Stadium IV (BSGE 97, 112), Restless-Legs-Syndrom mit massiven Schlafstörungen und daraus resultierenden erheblichen körperlichen und seelischen Beeinträchtigungen (NJOZ 2007, 4106), Myoadenylate-Deaminase-Mangel mit belastungsabhängigen, muskelkaterähnlichen Schmerzen, schmerzhaften Muskelversteifungen und (sehr selten) Untergang von Muskelgewebe (BSGE 96, 153) und Multiple Sklerose (BSGE 89, 184). Diese Aspekte sind auch bei der Auslegung des Begriffs in § 31 Abs. 6 SGB V zu berücksichtigen (BeckOK SozR/Bischofs SGB V § 31 Rn. 89-90, beck-online).

Dr. F. teilt in seinem Befundbericht vom 13.07.2017 mit, dass im angefragten Zeitraum seit März 2017 keine Behandlung erfolgte. Zur chronischen Schmerzerkrankung habe er ab 03/2017 keine aktuellen Informationen vorliegen. Eine Kortison- oder Cannabisbehandlung sei bislang weder angefragt worden noch verwende er diese Therapieoption. Die letzte, einmalige Vorstellung erfolgte am 04.01.2016. Dort wurden Schmerzen in der Schulter geklagt, welche mittels Cortisoninfiltration behandelt wurden. Danach erfolgte keine Vorstellung mehr. Dr. E. berichtet in seinem Befundbericht vom 12.07.2017 von den Diagnosen Fibromyalgie-Syndrom (M79.0), RM Läsion Schulter li., Impegiment Schulter li., Z. n. ASK Schulter li., RM Läsion. Der im April 2017 erhobene Befund belegte ein unauffälliges Kontroll-MRT. Das Vorliegen einer schwerwiegenden Erkrankung wie auch die Notwendigkeit einer Schmerzbehandlung seit März 2017 lässt sich den Befundberichten der behandelnden Orthopäden Dr. E. und Dr. F. nicht entnehmen.

Der behandelnde Internist Dr. G. schildert am 24.07.2017 die Diagnosen arterielle Hypertonie (I10.90+G), Fibromyalgie (M79.7+G), chronisches Schmerzsyndrom (R52.2+G), Akromioklavikulargelenksarthrose links (M19.91+LG), depressives Syndrom (32.9+G), chronische Schmerzstörung mit somatischen und psychischen Faktoren (F45.41+G), Bandscheibenprotusion (M51.2+G) und Z. n. Arthroskopie links mit Bursektomie (Z98.8+G). Es berichtet von ständigen starken Schmerzen. Dem Befundbericht lag ein Entlassungsbericht des Otto-Fricke-Krankenhauses vom 13.06.2017 (Bl. 100 ff. Gerichtsakte) bei. Hiernach führte die dortige Behandlung schon kurzfristig zu einem mittelgradigen Schmerzrückgang, was gegen das (Fort-) Bestehen einer schwerwiegenden Erkrankung spricht.  

Prof. C. berichtet in seinem Befundbericht vom 14.08.2017 von folgenden Diagnosen: Akromioklavikulargelenksarthrose links (M19.91+LG), Bursitis subacrominalis links (M75.5+LG), Gonarthrose links (M17.9+LG), Meniskuseinriss links (S83.2+LG), depressives Syndrom (F32.9+G), arterielle Hypertonie (I10.90+G), chronische Schmerzstörung mit somatischen und psychischen Faktoren (F45.41+G), Spinalkanalstenose L4/5, L5/S1 (M48.09+G). Dabei gibt Prof. C. als therapiebegründende Diagnose Fibromyalgie an. Dementsprechend hat er auch im Arztfragebogen vom 24.03.2017 angegeben, dass die Fibromyalgie mit Cannabisblüten Penelope behandelt werden solle. Prof. C. wertet die Fibromyalgie als schwerwiegende Erkrankung mit der Begründung, dass die Arbeitsfähigkeit des Antragstellers eingeschränkt sei; der Antragsteller leide unter Ganzkörperschmerzen mit wechselnder Ausprägung, Schlafstörungen und Reizdarmsymptomatik. Den Ausführungen des behandelnden Arztes kann nicht entnommen werden, dass des sich hinsichtlich des Schweregrades um eine schwerwiegende Erkrankung im Sinne von § 31 Abs. 6 SGB V handelt. Allein die Tatsache, dass die Arbeitsfähigkeit eingeschränkt ist, spricht im Übrigen nicht für das Vorliegen einer schwerwiegenden Erkrankung. 

2. Darüber hinaus ist erforderlich, dass eine allgemein anerkannte, dem medizinischen Standard entsprechende Leistung nicht zur Verfügungen steht (§ 31 Abs. 6 S. 1 Nr. 1 lit. a SGB V) oder im Einzelfall nach begründeter vertragsärztlicher Einschätzung nicht zur Anwendung kommen kann (§ 31 Abs. 6 S. 1 Nr. 1 lit. b SGB V). Mit diesen Regelungen soll den Versicherten ermöglicht werden, bei Versagen etablierter Behandlungsmethoden einen Therapieversuch mit cannabishaltigen Arzneimitteln zu unternehmen (RegE BT-Drs. 18/8965, 24). Die Formulierung des § 31 Abs. 6 S. 1 Nr. 1 lit. b SGB V macht deutlich, dass ein Leistungsanspruch nicht nur dann besteht, wenn eine allgemein anerkannte Behandlungsmethode schon nicht vorhanden ist, sondern bereits dann, wenn bei abstrakter Betrachtung zwar eine Standardbehandlung existiert, diese aber nach begründeter vertragsärztlicher Einschätzung bei Abwägung der zu erwartenden Nebenwirkungen sowie unter Berücksichtigung des Krankheitszustandes des Versicherten nicht zur Anwendung kommen kann (KassKomm/Nolte SGB V § 31 Rn. 75c-75g, beck-online). Für den Fall der Nichtanwendbarkeit einer Standardtherapie im Hinblick auf die Nebenwirkungen und den Krankheitszustand ist eine begründete Einschätzung der behandelnden Vertragsärztin/des behandelnden Vertragsarzt erforderlich, welche zwingend den hier vorzunehmenden Abwägungsprozess erkennen lassen muss. Hier hat eine letztlich eine Folgenabwägung dahingehend zu erfolgen, womit im Falle der schulmedizinischen Standardbehandlung zu rechnen sein wird und wie sich dies konkret auf die versicherte Person auswirkt. Die Nebenwirkungen von Cannabisarzneimitteln müssen in diesem Zusammenhang ebenfalls mit in die Abwägung einfließen (BeckOK SozR/Bischofs SGB V § 31 Rn. 91-92, beck-online).

Nach dem Bericht des Schmerztherapeuten Prof. C. stellt die Verordnung von Seratoninaufnahmehemmern eine sinnvolle Therapieoption dar. Diese sei jedoch mit unerwünschten Nebenwirkungen, wie Libidoverlust und Gewichtszunahme, verbunden. Der Entlassungsbericht des Otto-Fricke-Krankenhauses vom 13.06.2017 allerdings dokumentiert bezüglich künftiger Therapiemaßnahmen, dass empfohlen wird, die physiotherapeutischen Maßnahmen intensiv fortzuführen und die eingeleitete Schmerzmedikation unverändert fortzuführen (Bl. 104 Gerichtsakte). Zuvor war die Therapie der Fibromyalgie durch Prof. C. in der Zeit vom 05.10.2016 bis 10.01.2017 vorzeitig abgebrochen worden. Die vom Antragsteller begehrte Versorgung mit Cannabis in Form von getrockneten Blüten oder auch Extrakten wird hierdurch insgesamt nicht gestützt. Der Antragsgegner führt ferner nachvollziehbar aus, dass weitere gemäß aktueller Leitlinienempfehlungen bestehende therapeutische Möglichkeiten bei Fibromyalgie noch nicht ausgeschöpft seien. So sei das mit einer positiven Empfehlung versehene Antidepressivum Amitryptilin noch nicht als Co-Analgetikum verordnet worden. Die Einbindung eines Neurologen/Psychiaters sei bislang nicht erfolgt (Bl. 167 Gerichtsakte). 

3. Gemäß Abs. 6 S. 1 Nr. 2 SGB V muss schließlich eine nicht ganz entfernt liegende Aussicht auf eine spürbare positive Einwirkung auf den Krankheitsverlauf oder auf schwerwiegende Symptome bestehen. Bei dieser anzustellenden Erfolgsprognose einer Behandlung mit entsprechenden Cannabisprodukten handelt es sich um ein kumulativ zu forderndes Tatbestandsmerkmal. Erforderlich ist die nicht ganz entfernt liegende Aussicht auf spürbar positive Entwicklung auf den Krankheitsverlauf oder auf schwerwiegende Symptome. Diese Formulierung ist weit gefasst, allerdings ist allgemein anerkannt, dass die entsprechende Prognose, auf Indizien gestützt, zu begründen ist (BSG BeckRS 2011, 68184 Rn. 33; BVerfGE 115, 25–51; BeckOK SozR/Bischofs SGB V § 31 Rn. 93-95, beck-online). 

Es ist nicht erkennbar, dass vorliegend eine derartige Erfolgsprognose gestellt werden könnte. Dr. E. (Bl. 89 Gerichtsakte) und Dr. G. (Bl. 96 Gerichtsakte) teilen zur Indikation oder Einsetzbarkeit jeweils mit, dass ihnen eine inhaltliche Stellungnahme aktuell nicht möglich sei, da sie keine Erfahrungen mit der Verordnung hätten. Ebenso gibt Dr. F. (Bl. 95 Gerichtsakte) an, hierzu keine Antwort geben zu können. Prof. C. teilt mit, dass in klinischen Studien bislang kein positiver Effekt von Cannabinoiden bei der Behandlung er Fibromyalgie nachgewiesen werden konnte; dies sei dem Antragsteller auch so gesagt worden. Aus den Befundberichten der behandelnden Ärzte lässt sich demnach eine nicht ganz entfernt liegende Aussicht auf eine spürbare positive Einwirkung auf den Krankheitsverlauf oder auf schwerwiegende Symptome nicht entnehmen. Seine Bestätigung findet dies im Gutachten des Dr. D. vom 24.05.2017, wonach aktuell keine ausreichende Evidenz bestehe, eine symptomatische Behandlung von Patienten mit chronischen Schmerzen bei rheumatischen Erkrankungen mit Cannabispräparaten zu empfehlen. Bei der Diagnose Fibromyalgie gebe es sogar eine negative Evidenz aus Studien (Bl. 29 f. Gerichtsakte).

Weitere Ermittlungen von Amts wegen – etwa durch Einholung eines medizinischen Sachverständigengutachtens – waren im vorliegenden Eilverfahren nach alledem nicht veranlasst.

Die Kostenentscheidung folgt aus der entsprechenden Anwendung des § 193 SGG.

Die Beschwerde ist zulässig, da der Antragsteller durch diese Entscheidung mit mehr als 750,00 € beschwert ist, §§ 172 Abs. 3 Nr. 1, 143, 144 SGG (Hessisches Landessozialgericht, Beschluss vom 12.01.2009, L 7 AS 421/08 B ER, Juris-Rn. 7 ff. m.w.N).

Rechtskraft
Aus
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