B 2 U 15/19 R

Land
Bundesrepublik Deutschland
Sozialgericht
Bundessozialgericht
Sachgebiet
Unfallversicherung
1. Instanz
SG Schleswig (SHS)
Aktenzeichen
S 7 U 50/13
Datum
2. Instanz
Schleswig-Holsteinisches LSG
Aktenzeichen
L 8 U 24/16
Datum
3. Instanz
Bundessozialgericht
Aktenzeichen
B 2 U 15/19 R
Datum
Kategorie
Urteil
Leitsätze

Auch ein alltäglicher Vorgang kann als ein von außen auf den Körper einwirkendes Ereignis ein Arbeitsunfall sein.

 

Auf die Revision der Klägerin wird das Urteil des Schleswig-Holsteinischen Landessozialgerichts vom 23. Januar 2019 aufgehoben und der Rechtsstreit zur erneuten Verhandlung und Entscheidung an das Landessozialgericht zurückverwiesen.

 

G r ü n d e :

I

 

1

Die Beteiligten streiten darüber, ob die Klägerin einen Arbeitsunfall erlitten hat.

 

2

Die 1987 geborene Klägerin kollabierte am 12.4.2010 an ihrem Arbeitsplatz auf einem Schreibtischstuhl sitzend. Der Notarzt reanimierte sie und wies sie in ein Krankenhaus ein, wo ihr ein Defibrillator implantiert wurde. Die Beklagte verneinte einen Arbeitsunfall, weil kein plötzliches äußeres Ereignis vorliege und es damit schon begrifflich an einem "Unfall" fehle. Die Klägerin habe bei der üblichen Arbeit einen "Herzinfarkt" erlitten und auf telefonische Nachfrage selbst angegeben, dass an diesem Tag keine Besonderheiten aufgetreten seien (Bescheid vom 22.9.2011).

 

3

Im April 2012 beantragte die Klägerin, diesen Bescheid zu überprüfen, weil sie keinen Herzinfarkt, sondern einen Herzstillstand erlitten habe. Es habe sich keinesfalls um eine normale berufliche Situation gehandelt, sondern vielmehr um einen sehr stressigen Tag. Nach Geschäftsschluss sei eine Kassendifferenz festgestellt worden. Die Filialleiterin sei krankheitsbedingt abwesend gewesen. Sie habe mit dem Kollegen, der die "offizielle Stellvertretung" übernommen habe, gestritten, weil dieser dem Gebietsleiter eine Kassendifferenz melden wollte, die ein anderer Kollege verursacht habe. Sie habe diesen Kollegen in Schutz nehmen wollen und eine Meldung für entbehrlich gehalten. Nach der Auseinandersetzung sei sie an ihren Schreibtisch zurückgekehrt und dann kollabiert. Die Beklagte lehnte es gleichwohl ab, den Verwaltungsakt vom 22.9.2011 zurückzunehmen (Bescheid vom 16.11.2012 und Widerspruchsbescheid vom 29.5.2013).

 

4

Hiergegen hat die Klägerin Klage erhoben. Das SG hat den Vertreter der Filialleiterin als Zeugen vernommen und die Klage abgewiesen (Urteil vom 23.11.2015). Das LSG hat die Berufung zurückgewiesen (Urteil vom 23.1.2019). Der "Herzstillstand" der Klägerin sei kein Arbeitsunfall, weil bereits kein von außen auf den Körper einwirkendes Ereignis vorliege. Es habe keine Extremsituation vorgelegen. Verbale Differenzen und das Verhalten von Menschen, über das man sich in hohem Grade aufregen könne, seien überall anzutreffen. Wie stark die Reaktion auf Herausforderungen sei, hänge von dem jeweiligen Temperament des Betroffenen ab. Das Gespräch mit dem Vertreter der Filialleiterin, in dessen Verlauf unterschiedliche Standpunkte sachlich und in einem angemessenen Ton ausgetauscht worden seien, habe zwar "unschön, unharmonisch und frostig" geendet. Dieser habe solche Gespräche jedoch als Alltagsgeschäft bezeichnet. Eine persönliche Haftung der Klägerin für den Kassenfehlbestand habe nicht zur Debatte gestanden. Zudem werde der "plötzliche Herztod" gerade als ein kardialer Tod aus vollem Wohlbefinden definiert. Besondere Dispositionen, die den akuten Herztod unmittelbar verursachten, seien nicht bekannt. Bei einer Untersuchung von 955 akuten Todesfällen seien besondere psychische Belastungen nur in 1,7 % der Fälle vorausgegangen. Unerheblich sei auch, dass die Beklagte im Ursprungsbescheid von einem Herzinfarkt statt von einem plötzlichen Herztod ausgegangen sei.

 

5

Mit der Revision rügt die Klägerin eine Verletzung des § 44 Abs 1 SGB X und des § 8 Abs 1 Satz 2 SGB VII. Ihr Gespräch mit dem Kollegen, der die Filialleiterin vertreten habe, habe optisch und akustisch auf sie eingewirkt und einen Herzstillstand als Gesundheitsschaden verursacht. Für ein von außen auf den Körper einwirkendes Ereignis bedürfe es keines besonderen oder ungewöhnlichen Geschehens.

 

6

Die Klägerin beantragt,
die Urteile des Schleswig-Holsteinischen Landessozialgerichts vom 23. Januar 2019 und des Sozialgerichts Schleswig vom 23. November 2015 sowie den Bescheid der Beklagten vom 16. November 2012 in der Gestalt des Widerspruchsbescheides vom 29. Mai 2013 aufzuheben und die Beklagte zu verpflichten, den Bescheid vom 22. September 2011 aufzuheben und das Ereignis vom 12. April 2010 als Arbeitsunfall anzuerkennen.

 

7

Die Beklagte beantragt,
die Revision zurückzuweisen.

 

8

Wesentliche Faktoren für den Kollaps der Klägerin seien die "Torsade-de-Pointes-Tachykardien" mit anfallsartigem Herzrasen als innerer Ursache sowie die Einnahme eines Allergiemedikaments gewesen. Es sei auch zweifelhaft, ob die psychische Einwirkung überhaupt geeignet gewesen sei, einen kardiologischen Gesundheitsschaden hervorzurufen.

 

II

 

9

Die zulässige Revision der Klägerin ist im Sinne der Aufhebung des angefochtenen Urteils des LSG und Zurückverweisung der Sache an dieses Gericht begründet (§ 170 Abs 2 Satz 2 SGG).

 

10

Die dem Berufungsurteil zugrunde liegenden tatsächlichen Feststellungen (§ 163 Halbsatz 1 SGG) genügen nicht, um abschließend zu entscheiden, ob das LSG die Berufung der Klägerin gegen das klageabweisende Urteil des SG zu Recht zurückgewiesen und es zutreffend abgelehnt hat, den Bescheid vom 16.11.2012 in der Gestalt des Widerspruchsbescheides vom 29.5.2013 aufzuheben, die Beklagte zu verpflichten, den Bescheid vom 22.9.2011 zurückzunehmen und das Ereignis vom 12.4.2010 als Arbeitsunfall festzustellen. Auf der Grundlage des angefochtenen Urteils lässt sich nicht beurteilen, ob der sachliche Zusammenhang zwischen der versicherten Tätigkeit als beschäftigte Bankkauffrau und dem Gespräch mit dem Stellvertreter der Filialleiterin gegeben ist und welche äußeren Einwirkungen ggf welche Gesundheitsschäden (Herzstillstand, ‑infarkt oder ‑tod) kausal und rechtlich wesentlich hervorgerufen haben.

 

11

1. Im Revisionsverfahren verfolgt die Klägerin ihr Begehren zulässigerweise mit der kombinierten Anfechtungs‑ (§ 54 Abs 1 Satz 1 Var 1 SGG) und mehreren Verpflichtungsklagen (§ 54 Abs 1 Satz 1 Var 2, § 56 SGG; vgl BSG Urteil vom 30.1.2020 ‑ B 2 U 2/18 R ‑ BSGE 130, 1 = SozR 4‑2700 § 8 Nr 70, RdNr 9). Mit der Anfechtungsklage begehrt sie die gerichtliche Aufhebung der Ablehnungsentscheidung in dem Bescheid vom 16.11.2012 in der Gestalt des Widerspruchsbescheides vom 29.5.2013 (§ 95 SGG). Die Verpflichtungsklagen zielen auf die behördliche Rücknahme des ablehnenden Verwaltungsakts in dem (Ursprungs‑)Bescheid vom 22.9.2011 und die behördliche Feststellung des Ereignisses vom 12.4.2010 als Arbeitsunfall. Den Verpflichtungsklagen steht nicht entgegen, dass die Klägerin ‑ orientiert an dem Senatsurteil vom 5.9.2006 (B 2 U 24/05 R ‑ BSGE 97, 54 = SozR 4‑2700 § 8 Nr 18, RdNr 9) ‑ vor dem LSG sowohl die gerichtliche Aufhebung des Ursprungsbescheids als auch die gerichtliche Feststellung des Arbeitsunfalls beantragt hatte, obwohl Klageänderungen (§ 99 SGG) im Revisionsverfahren gemäß § 168 Satz 1 SGG unzulässig sind. Denn nach § 165 Satz 1, § 153 Abs 1, § 99 Abs 3 Nr 2 SGG ist es nicht als eine Änderung der Klage anzusehen, wenn ‑ wie hier ‑ ohne Änderung des Klagegrundes der Klageantrag in der Hauptsache erweitert oder beschränkt wird. Eine solche schlichte Antragsänderung liegt beim Übergang von der Anfechtungs- zur Verpflichtungs- und von der Feststellungs- zur Verpflichtungsklage jedenfalls in der gesetzlichen Unfallversicherung bei Streitigkeiten über die Feststellung eines Versicherungsfalles vor (vgl BSG Urteil vom 19.6.2018 ‑ B 2 U 1/17 R ‑ SozR 4‑2700 § 2 Nr 42 RdNr 8 mwN).

 

12

2. Die erstrebte Rücknahme des ablehnenden Verwaltungsakts in dem (Ursprungs‑)Bescheid vom 22.9.2011 richtet sich nach § 44 SGB X. Danach ist ein (iS von § 44 Abs 1 SGB X) nicht begünstigender Verwaltungsakt zurückzunehmen, soweit er (anfänglich) rechtswidrig ist. Der Verwaltungsakt ist immer mit Wirkung für die Zukunft zurückzunehmen (§ 44 Abs 2 Satz 1 SGB X), soweit er noch Rechtswirkungen hat, also noch nicht iS des § 39 Abs 2 SGB X erledigt ist. Die Rücknahme hat (gebundene Entscheidung) für die Vergangenheit zu erfolgen, wenn wegen der Rechtswidrigkeit des Verwaltungsaktes "Sozialleistungen" zu Unrecht nicht erbracht worden sind (§ 44 Abs 1 Satz 1 SGB X). Das Gebot zur rückwirkenden Rücknahme gilt nicht in bestimmten Fällen der Bösgläubigkeit (§ 44 Abs 1 Satz 2 SGB X). Im Übrigen "kann" (Ermessen) der anfänglich rechtswidrige Verwaltungsakt auch in sonstigen Fällen, dh außerhalb des § 44 Abs 1 Satz 1 SGB X, für die Vergangenheit zurückgenommen werden (§ 44 Abs 2 Satz 2 SGB X; vgl BSG Urteil vom 6.9.2018 ‑ B 2 U 10/17 R ‑ BSGE 126, 244 = SozR 4‑5671 Anl 1 Nr 2108 Nr 9, RdNr 9). Ob die ursprüngliche Entscheidung der Beklagten in dem Bescheid vom 22.9.2011, einen Arbeitsunfall abzulehnen, anfänglich rechtswidrig gewesen und somit zu Unrecht ergangen ist, kann der Senat mangels ausreichender Feststellungen des LSG nicht abschließend entscheiden.

 

13

Arbeitsunfälle sind nach § 8 Abs 1 Satz 1 SGB VII Unfälle von Versicherten infolge einer den Versicherungsschutz nach §§ 23 oder 6 SGB VII begründenden Tätigkeit (versicherte Tätigkeit). Unfälle sind nach § 8 Abs 1 Satz 2 SGB VII zeitlich begrenzte, von außen auf den Körper einwirkende Ereignisse, die zu einem Gesundheitsschaden oder zum Tod führen. Ein Arbeitsunfall setzt daher voraus, dass die Verrichtung zurzeit des Unfalls der versicherten Tätigkeit zuzurechnen ist (innerer oder sachlicher Zusammenhang). Die Verrichtung muss zu einem zeitlich begrenzten, von außen auf den Körper einwirkenden Ereignis ‑ dem Unfallereignis ‑ geführt haben (Unfallkausalität) und das Unfallereignis muss einen Gesundheitsschaden oder den Tod des Versicherten objektiv und rechtlich wesentlich verursacht (haftungsbegründende Kausalität) haben (stRspr; vgl zuletzt zB BSG Urteile vom 23.6.2020 ‑ B 2 U 12/18 R ‑ SozR 4‑2700 § 2 Nr 54 RdNr 8 und vom 6.10.2020 ‑ B 2 U 9/19 R ‑ juris RdNr 18 sowie B 2 U 13/19 R ‑ juris RdNr 8, beide zur Veröffentlichung in SozR 4 vorgesehen jeweils mwN). Unerheblich ist, ob die Erkrankung den Leistungsfall auslösende Folgen nach sich zieht (haftungsausfüllende Kausalität). "Versicherte Tätigkeit", "Verrichtung", "Einwirkungen" und "Krankheit" müssen im Vollbeweis ‑ also mit an Sicherheit grenzender Wahrscheinlichkeit ‑ vorliegen. Für die nach der Theorie der wesentlichen Bedingung zu beurteilenden Ursachenzusammenhänge genügt indes die hinreichende Wahrscheinlichkeit, aber nicht die bloße Möglichkeit (stRspr; zuletzt BSG Urteil vom 6.9.2018 ‑ B 2 U 10/17 R ‑ BSGE 126, 244 = SozR 4‑5671 Anl 1 Nr 2108 Nr 9, RdNr 13 mwN). Die Feststellungen des LSG reichen nicht aus, um abschließend zu beurteilen, ob die Klägerin infolge einer Verrichtung, die mit ihrer grundsätzlich versicherten Tätigkeit als beschäftigte Bankangestellte in einem sachlichen Zusammenhang stand (dazu a), einen Unfall erlitten hat, weil ein zeitlich begrenztes, von außen auf den Körper einwirkendes Ereignis (dazu b) einen Gesundheitsschaden (dazu c) objektiv und rechtlich wesentlich verursacht hat (dazu d).

 

14

a) Es ist bereits unklar, ob das Gespräch mit dem Vertreter der Filialleiterin am 12.4.2010 überhaupt im Rahmen der grundsätzlich versicherten Tätigkeit der Klägerin als beschäftigte Bankkauffrau stattfand. Eine nach § 2 Abs 1 Nr 1 SGB VII versicherte Tätigkeit erfordert das Vorliegen einer Verrichtung, deren Ergebnis nicht der Beschäftigten selbst, sondern dem Unternehmer unmittelbar zum Vor‑ oder Nachteil gereicht (vgl § 136 Abs 3 Nr 1 SGB VII). Eine Beschäftigung (§ 7 Abs 1 SGB IV) wird ausgeübt, wenn die Verrichtung zumindest dazu ansetzt und darauf gerichtet ist, entweder eine eigene objektiv bestehende Haupt- oder Nebenpflicht aus dem zugrunde liegenden Rechtsverhältnis zu erfüllen (dazu aa) oder die Betroffene eigene unternehmensbezogene Rechte aus der Beschäftigung ausübt (dazu bb) oder sie eine objektiv nicht geschuldete Handlung vornimmt, um eine vermeintliche Pflicht aus dem Rechtsverhältnis zu erfüllen, sofern sie nach den besonderen Umständen ihrer Beschäftigung zur Zeit der Verrichtung annehmen durfte, sie treffe eine solche Pflicht (dazu cc; zum Ganzen BSG Urteile vom 6.10.2020 ‑ B 2 U 13/19 R ‑ juris RdNr 16 ‑ "Hüpfkissen" ‑ zur Veröffentlichung in SozR 4 vorgesehen; vom 26.11.2019 ‑ B 2 U 8/18 R ‑ SozR 4‑2700 § 8 Nr 71 RdNr 13 ‑ "Fahrdienstleiter"; vom 27.11.2018 ‑ B 2 U 7/17 R ‑ SozR 4‑2700 § 8 Nr 66 ‑ "Hauswirtschafterin"; vom 6.9.2018 ‑ B 2 U 18/17 R ‑ SozR 4‑2700 § 2 Nr 47 RdNr 21 ‑ "Stöberhundeführer"; vom 30.3.2017 ‑ B 2 U 15/15 R ‑ NJW 2017, 2858 RdNr 15 ‑ "Barbesuch"; vom 5.7.2016 ‑ B 2 U 19/14 R ‑ BSGE 121, 297 = SozR 4‑2700 § 2 Nr 36, RdNr 12; grundlegend Urteil vom 15.5.2012 ‑ B 2 U 8/11 R ‑ BSGE 111, 37 = SozR 4‑2700 § 2 Nr 20, RdNr 27 ff). Auf der Grundlage des festgestellten Sachverhalts lässt sich schon nicht beurteilen, ob die Handlungstendenz der Klägerin während des Gesprächs mit dem Stellvertreter der Filialleiterin überhaupt darauf gerichtet war, eine versicherte Verrichtung im soeben aufgezeigten Sinne auszuüben. Insofern wird das LSG Anlass, Inhalt sowie die konkreten (Begleit‑)Umstände des Gesprächs festzustellen und ggf zu ermitteln haben.

 

15

aa) Wie sich aus dem Tatbestand des angefochtenen Urteils ergibt (Bl 4 f des LSG-Urteils), hat die Klägerin ihre Klage ua damit begründet, sie habe den Zeugen, der als offizieller Vertreter der  Filialleiterin fungiert habe, in dem (Streit‑)Gespräch am 12.4.2010 auf einen zweifachen Verstoß gegen bankinterne "Bearbeitungsvorschriften" hingewiesen, wonach eine Kassendifferenz der "nächsthöheren Stelle" erst zu melden sei, wenn ein filialinternes Kontrollverfahren eine "echte Differenz" in bestimmter Höhe ergeben habe und nicht nur ein "Bearbeitungsfehler" vorliege. Dieses "bestimmte Meldeverfahren" sei "im Unterschied zu früheren Kassendifferenzen … am fraglichen Tag … nicht eingehalten worden". Sollte dies zutreffen, hätte die Klägerin ‑ im fremdnützigen Interesse der Unternehmerin ‑ ihre tatsächlich bestehende allgemeine Nebenpflicht aus dem Arbeitsverhältnis erfüllt, auf die Einhaltung regelkonformen Verhaltens (auch durch "Remonstration") und die Wahrung der betrieblichen Ordnung hinzuwirken (BSG Urteil vom 11.5.1995 ‑ 2 RU 8/94 ‑ juris RdNr 18; vgl auch Preis in Erfurter Kommentar, 21. Aufl 2021, § 611a BGB RdNr 738) und die Unternehmerin auf Verstöße gegen selbst gesetzte Regelungen im Unternehmen hinzuweisen. Dazu wird das LSG ggf die unternehmensinternen Weisungen (§ 106 Satz 2 Gewerbeordnung) der Unternehmerin über den Umgang mit Kassendifferenzen beiziehen müssen. Sollte das Verfahren regelkonform gewesen und es "nur um Konsequenzen für den Kollegen gegangen" sein (Bl 10 des LSG-Urteils), den die Klägerin altruistisch habe in Schutz nehmen wollen (Bl 3 des LSG-Urteils), hätte sie ‑ vorbehaltlich spezieller Regelungen ‑ keine eigene objektiv bestehende Haupt‑ oder Nebenpflicht aus ihrem Arbeitsverhältnis mit der Unternehmerin erfüllt. Denn für Beschäftigte besteht grundsätzlich keine Rechtspflicht, sich bei Vorgesetzten oder der Unternehmerin für Arbeitskollegen einzusetzen.

 

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bb) Sollte die Klägerin, wie sie im Klageverfahren behauptet hat (Bl 5 des LSG-Urteils), "auch persönlich und arbeitsrechtlich von der Kassendifferenz betroffen gewesen" sein, "da eine Teamhaftung bestanden und eine Abmahnung gedroht habe", hätte sie eigene unternehmensbezogene Rechte aus der Beschäftigung geltend gemacht, als sie den Vertreter der Filialleiterin zur Rede stellte. Dasselbe würde gelten, wenn sie in dem Gespräch für andere, eigene Belange im weitesten Sinne eingetreten wäre, ihr der Kassenfehlbestand zB indirekt-mittelbar als Mitglied eines Teams hätte angelastet werden können, auch wenn sie nach Ansicht der Beklagten "tatsächlich nicht die unmittelbare Verantwortung für den Kassenfehler … getragen" habe (Bl 3 des LSG-Urteils). Sollte dagegen ‑ wie der Vertreter der Filialleiterin als Zeuge ausgesagt hat ‑ "eine persönliche Haftung seitens der Klägerin … nicht zur Debatte gestanden" haben, sondern nur die Mankohaftung des Kollegen mit drohenden persönlichen oder arbeitsrechtlichen Konsequenzen allein für ihn, käme Versicherungsschutz unter dem Gesichtspunkt der Wahrnehmung eigener unternehmensbezogener Rechte bei der Regelung innerbetrieblicher Belange bzw sozialer Angelegenheiten in Betracht (dazu BSG Urteil vom 15.5.2012 ‑ B 2 U 8/11 R ‑ BSGE 111, 37 = SozR 4-2700 § 2 Nr 20, RdNr 60; Keller in Hauck/Noftz, SGB VII, Stand 2/21, § 8 RdNr 18b, 57). Denn im Arbeitsverhältnis dürfte in der Regel "jedermann" (vgl nur Art 9 Abs 3 Satz 1 GG) als mündiger Beschäftigter und mündige Beschäftigte berechtigt sein, auf vermeintliche Missstände hinzuweisen, mutmaßliche Fehlentwicklungen unternehmensintern zur Sprache zu bringen und sich ad hoc mit anderen zu solidarisieren, insbesondere wenn es um Arbeitsbedingungen und den fairen Umgang mit Arbeitskollegen geht. Ein damit korrespondierendes Gebot an den Arbeitgeber, "die Arbeitnehmerinnen und Arbeitnehmer oder ihre Vertreter … auf den geeigneten Ebenen" anzuhören, ist beispielsweise auch in Art 27 Charta der Grundrechte der EU zumindest angelegt (zur Verbindlichkeit, Anwendbarkeit und Umsetzungsbedürftigkeit dieses Rechtsgrundsatzes, vgl nur Jarass, Charta der Grundrechte der EU, 4. Aufl 2021, Art 27 RdNr 10 ff). Der Versicherungsschutz der Klägerin hängt somit nicht davon ab, ob sie zB Mitglied des Betriebsrates oder Vertrauensperson schwerbehinderter Menschen (§ 179 SGB IX) war und sich in dieser Funktion für den Arbeitskollegen eingesetzt hat (zur versicherten Betriebsratstätigkeit vgl BSG Urteile vom 15.5.2012 ‑ B 2 U 8/11 R ‑ BSGE 111, 37 = SozR 4‑2700 § 2 Nr 20, RdNr 60, vom 20.2.2001 ‑ B 2 U 7/00 R ‑ BSGE 87, 294, 295 f = SozR 3‑2200 § 539 Nr 54 S 229 f und vom 20.5.1976 ‑ 8 RU 76/75 ‑ BSGE 42, 36, 37 = SozR 2200 § 539 Nr 19 S 44 f).

 

17

cc) Gegebenenfalls wird das LSG zu klären haben, ob die Klägerin nach den besonderen Umständen des Einzelfalls jedenfalls subjektiv davon ausgehen konnte, sie erfülle mit dem Eintreten für ihren Kollegen auch eine Verpflichtung aus dem Beschäftigungsverhältnis oder nehme unternehmensbezogene Rechte aus dem Rechtsverhältnis wahr.

 

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b) Soweit das LSG "bereits das Vorliegen eines von außen auf den Körper der Klägerin einwirkendes Ereignisses" verneint hat, weil keine "Extremsituation" vorgelegen habe, sondern in dem Gespräch mit dem Vertreter der Filialleiterin "unterschiedliche Standpunkte … sachlich und in einem angemessenen Ton" ausgetauscht worden seien, hat es einen "Unfall" mit rechtlich unzutreffenden Erwägungen abgelehnt. Denn für den Unfallbegriff ist nicht konstitutiv, dass ein besonderes, ungewöhnliches oder gar "extremes" Geschehen vorliegt. Auch alltägliche Vorgänge können ein von außen auf den Körper einwirkendes Ereignis sein (vgl BSG Urteile vom 29.11.2011 ‑ B 2 U 23/10 R ‑ NZS 2012, 390 RdNr 15; vom 17.2.2009 ‑ B 2 U 18/07 R ‑ SozR 4‑2700 § 8 Nr 31 RdNr 10 und vom 12.4.2005 ‑ B 2 U 27/04 R ‑ BSGE 94, 269 = SozR 4‑2700 § 8 Nr 15, RdNr 7). Für die erforderliche Einwirkung von außen genügt es daher, dass die Klägerin die gesprochenen Worte mit den Hörzellen ihrer Ohren und die Gestik sowie Mimik ihres Gesprächspartners mit den Sehzellen ihrer Augen wahrnahm, sodass sich ihr physiologischer Körperzustand änderte (vgl dazu BSG Urteile vom 26.11.2019 ‑ B 2 U 8/18 R ‑ SozR 4-2700 § 8 Nr 71 RdNr 18 mwN und vom 24.7.2012 ‑ B 2 U 9/11 R ‑ SozR 4‑2700 § 8 Nr 44 RdNr 42). Insofern können bereits bloße Wahrnehmungen (Sehen, Hören, Schmecken, Ertasten, Riechen) äußere Ereignisse darstellen (BSG Urteil vom 26.11.2019 ‑ B 2 U 8/18 R ‑ SozR 4‑2700 § 8 Nr 71 RdNr 18). Ein solches Ereignis lag hier in dem intensiven Gespräch zwischen der Klägerin und dem Stellvertreter der Filialleiterin, in dessen Verlauf unterschiedliche Standpunkte ausgetauscht wurden und das unschön, unharmonisch und frostig endete. Auch wenn das LSG festgestellt hat, dass dieses Gespräch sachlich und in einem angemessenen Ton geführt wurde, wirkte die Wahrnehmung der Äußerungen des stellvertretenden Filialleiters auf den Körper der Klägerin ein. Das LSG hat insofern festgestellt, dass sie bei dem Gespräch psychisch erregt reagierte. Allerdings fehlen weitere Feststellungen zu dem genauen Inhalt und den sonstigen Umständen des Gesprächs. Sie werden nicht dadurch ersetzt, dass das LSG auf die Unfallschilderung der Klägerin und den Inhalt der Verwaltungsakte Bezug genommen, die Ausführungen des SG zur Vernehmung des Vertreters der Filialleiterin als Zeugen wiedergegeben und auf dessen protokollierte Aussagen verwiesen hat. Denn Feststellungen, die das BSG nach § 163 Halbsatz 1 SGG binden, erfordern eine eigene Entscheidung des Tatrichters, dass er die entscheidungserheblichen Tatsachen als wahr ansieht. Nach § 128 Abs 1 Satz 1 SGG entscheidet das Gericht nach seiner freien, aus dem Gesamtergebnis des Verfahrens gewonnenen Überzeugung, von welchem Sachverhalt bei der rechtlichen Beurteilung auszugehen ist; das Ergebnis dieses Entscheidungsprozesses und die für die Überzeugungsbildung maßgebenden Gründe sind im Urteil anzugeben (Satz 2). Es genügt deshalb nicht, wenn die Darstellung der Beteiligten oder die Aussagen von Zeugen inhaltlich oder sogar wörtlich referiert werden oder auf Aktenbestandteile bzw Sitzungsniederschriften verwiesen wird. Entscheidend ist vielmehr, dass das Gericht die Aussagen bewertet und mitteilt, welche Angaben es für wahr hält und deshalb seiner rechtlichen Beurteilung zugrunde legt. Die § 128 Abs 1 SGG inhaltlich entsprechende Regelung in § 286 Abs 1 ZPO bringt dies deutlicher zum Ausdruck, wenn es dort heißt, das Gericht habe nach freier Überzeugung "zu entscheiden", ob eine tatsächliche Behauptung für wahr oder für nicht wahr "zu erachten" sei. Das Gericht muss sich ein Beweisergebnis "zu eigen machen", dh es muss "eigene Feststellungen treffen" (vgl BSG Urteil vom 16.3.2021 ‑ B 2 U 11/19 R ‑ juris RdNr 16 ‑ zur Veröffentlichung in SozR 4 vorgesehen; Hübschmann, BeckOGK, SGG, Stand 1.5.2021, § 128 RdNr 16, 18; Krasney/Udsching, Handbuch des sozialgerichtlichen Verfahrens, 7. Aufl 2016, IX. Kap, RdNr 377; Aussprung in Roos/Wahrendorf, SGG, 2014, § 128 RdNr 8 f). Demgegenüber ist es dem Revisionsgericht grundsätzlich verwehrt, Beweisergebnisse und sonstige Umstände selbst zu würdigen und auf dieser Grundlage Tatumstände festzustellen (vgl Leitherer in Meyer-Ladewig/Keller/Leitherer/Schmidt, SGG, 13. Aufl 2020, § 163 RdNr 1, 5 ff mwN).

 

19

c) Weiterhin fehlen Feststellungen dazu, welche Gesundheitsschäden bei der Klägerin entstanden sind. Das LSG hat lediglich festgestellt, dass sie auf ihrem Stuhl sitzend kollabiert sei. Welche Gesundheitsstörung dem zugrunde lag und welcher Gesundheitsschaden eingetreten ist, bleibt unklar. Das LSG benennt einerseits eine "Herzrhythmusstörung" und einen "Herzstillstand", diskutiert aber andererseits auch einen "plötzlichen Herztod". Ohne Feststellung der konkreten Gesundheitsstörungen kann ihre Ursache jedoch nicht beurteilt werden (vgl dazu BSG Urteile vom 6.10.2020 ‑ B 2 U 10/19 R ‑ juris RdNr 21 <zur Veröffentlichung in SozR 4 vorgesehen> und vom 26.11.2019 ‑ B 2 U 8/18 R ‑ SozR 4‑2700 § 8 Nr 71 RdNr 19). Das LSG wird daher ‑ ggf mit sachverständiger Hilfe ‑ präzise ermitteln und prüfen müssen, ob und welche Gesundheitsstörungen bei der Klägerin im Zusammenhang mit dem Gespräch aufgetreten sind.

 

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d) Ebenso wird das LSG noch festzustellen haben, ob das Gespräch als einwirkendes Ereignis diesen noch konkret festzustellenden Gesundheitsschaden im naturwissenschaftlich-philosophischen Sinne objektiv (1. Stufe) und rechtlich wesentlich (2. Stufe) verursacht hat. Ob die Wahrnehmungen der Klägerin während des Gesprächs mit dem Vorgesetzten auf der 1. Stufe einen Gesundheitsschaden hinreichend wahrscheinlich hervorgerufen haben, wird das LSG mithilfe medizinischer Sachverständiger ermitteln müssen, die dabei den aktuellen wissenschaftlichen Erkenntnisstand zugrunde zu legen haben (vgl BSG Urteil vom 6.10.2020 ‑ B 2 U 10/19 R ‑ juris RdNr 27, mwN zur Veröffentlichung in SozR 4 vorgesehen). Ob die versicherte Einwirkung eine Ursache für den Gesundheitsschaden war, ist eine rein tatsächliche Frage (vgl BSG Urteile vom 17.12.2015 ‑ B 2 U 8/14 R ‑ SozR 4‑2700 § 8 Nr 55 RdNr 19 mwN und vom 18.6.2013 ‑ B 2 U 10/12 R ‑ SozR 4‑2700 § 8 Nr 47 RdNr 16). Steht fest, dass das Streitgespräch mit dem Vertreter der Filialleiterin eine (äußere) Ursache des Kollaps im naturwissenschaftlich-philosophischen Sinne war, wird das LSG weiter zu erforschen haben, ob daneben ‑ wie die Beklagte behauptet ‑ kardiale Dispositionen, langjährige Vorerkrankungen (anfallartiges Herzrasen durch Tachykardien, generelle Kollapsneigung, etwaige Verengung der Herzkranzgefäße) bzw die Nebenwirkungen eines tags zuvor angeblich erstmals eingenommenen Medikaments zur Behandlung einer Allergieerkrankung als weitere (Mit‑)Ursachen wirksam geworden sind. Auch insoweit wird sich das LSG der Hilfe medizinischen Sachverstandes bedienen müssen. Keinesfalls verdrängt die bloße Möglichkeit der Mitverursachung durch eine nicht versicherte Ursache die festgestellte Ursächlichkeit der versicherten Tätigkeit, weil hypothetische Ereignisse als Ursachen ausscheiden. Insoweit ist zu beachten, dass für die Feststellung eines Arbeitsunfalls der volle Beweis für das Vorliegen sowohl einer versicherten als auch einer nicht versicherten Ursache geführt sein muss und lediglich für die Feststellung des Ursachenzusammenhangs eine hinreichende Wahrscheinlichkeit genügt (vgl BSG Urteil vom 17.2.2009 ‑ B 2 U 18/07 R ‑ SozR 4‑2700 § 8 Nr 31 RdNr 15 mwN).

 

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Steht fest, dass neben der versicherten auch eine konkurrierende, nicht versicherte Ursache das Unfallereignis objektiv kausal (mit-)bewirkt hat, ist auf der 2. Stufe juristisch zu entscheiden, welche der Ursachen rechtserheblich nach der Theorie der wesentlichen Bedingung gewesen sind. Selbst wenn eine versicherte Verrichtung als Ursache für einen Gesundheitsschaden feststeht, muss auf der 2. Stufe die Einwirkung rechtlich unter Würdigung auch aller auf der 1. Stufe festgestellten weiteren mitwirkenden nicht versicherten Ursachen die Realisierung einer in den Schutzbereich des jeweils erfüllten Versicherungstatbestandes fallenden Gefahr sein. Bei dieser reinen Rechtsfrage nach der "Wesentlichkeit" der versicherten Verrichtung für den Erfolg der Einwirkung muss entschieden werden, ob sich durch die Verrichtung ein Risiko verwirklicht hat, gegen das der jeweils erfüllte Versicherungstatbestand gerade Schutz gewähren soll (vgl BSG Urteil vom 17.12.2015 ‑ B 2 U 8/14 R ‑ SozR 4‑2700 § 8 Nr 55 RdNr 20). Dabei wird das LSG zu beachten haben, dass der Schutzbereich der gesetzlichen Unfallversicherung grundsätzlich auch Gesundheitsschäden erfasst, die durch psychische Einwirkungen verursacht werden. Andere nicht versicherte Mitursachen können die rechtliche Zurechnung ausschließen. Das ist der Fall, wenn die nicht versicherten (Mit‑)Ursachen das Unfallgeschehen derart geprägt haben, dass sie die versicherte Ursache verdrängen, weil sie überragende Bedeutung haben, so dass der Schaden "im Wesentlichen" rechtlich nicht mehr dem Schutzbereich des jeweiligen Versicherungstatbestandes unterfällt. Die versicherten und die auf der ersten Zurechnungsstufe festgestellten nicht versicherten Ursachen und ihre Mitwirkungsanteile sind in einer rechtlichen Gesamtbeurteilung anhand des zuvor festgestellten Schutzzwecks des Versicherungstatbestandes zu bewerten (vgl BSG Urteil vom 18.6.2013 ‑ B 2 U 10/12 R ‑ SozR 4‑2700 § 8 Nr 47 RdNr 18 mwN). Diese rein rechtliche Bewertung obliegt zunächst dem LSG als Berufungsgericht und kann derzeit wegen der fehlenden entsprechenden Feststellungen nicht durch das Revisionsgericht erfolgen.

 

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Das LSG wird auch über die Kosten des Revisionsverfahrens zu entscheiden haben.

Rechtskraft
Aus
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