L 8 SB 1463/21

Land
Baden-Württemberg
Sozialgericht
LSG Baden-Württemberg
Sachgebiet
Schwerbehindertenrecht
Abteilung
8.
1. Instanz
SG Mannheim (BWB)
Aktenzeichen
S 8 SB 424/20
Datum
2. Instanz
LSG Baden-Württemberg
Aktenzeichen
L 8 SB 1463/21
Datum
3. Instanz
-
Aktenzeichen
-
Datum
-
Kategorie
Urteil

Die Berufung des Klägers gegen den Gerichtsbescheid des Sozialgerichts Mannheim vom 15.04.2021 wird zurückgewiesen.

Außergerichtliche Kosten sind auch im Berufungsverfahren nicht zu erstatten.

 

 

Tatbestand

Die Beteiligten streiten um die Herabsetzung des Grades der Behinderung (GdB) von 80 auf 60 und die Entziehung der Merkzeichen G (erhebliche Beeinträchtigung der Bewegungsfähigkeit im Straßenverkehr) und B (Berechtigung zur Mitnahme einer Begleitperson).

Bei dem 1967 geborenen Kläger hatte der Beklagte zuletzt mit Bescheid vom 05.10.2017 einen GdB von 80 sowie die Merkzeichen G und B seit dem 24.08.2017 festgestellt. Dies beruhte auf einer versorgungsärztlichen Stellungnahme von S, in der die Funktionsbeeinträchtigungen wie folgt mit einem Gesamt-GdB von 80 bewertet worden waren: Hirndurchblutungstörungen, Anfallsleiden – Einzel-GdB 70; Entzündlich-rheumatische Erkrankung der Gelenke – Einzel-GdB 30. Die Voraussetzungen der Merkzeichen G und B seien gegeben.

Im Januar 2019 leitete der Beklagte das Nachprüfungsverfahren ein. Der Kläger beantragte hierzu auf dem ihm übersandten Formular zugleich die Erhöhung des GdB und die Feststellung der Merkzeichen G und B. Der Beklagte zog medizinische Unterlagen bei, so u.a. einen Befundbericht des D vom 13.03.2019, in dem dieser von einem komplexen, schwer einzustellenden Anfallsleiden berichtete. Seit 04.04.2018 bestehe unter aktueller Medikation Anfallsfreiheit. Das Gehvermögen sei nicht eingeschränkt.

Nach einer ersten versorgungsärztlichen Stellungnahme von S vom 28.05.2019 waren die „Hirndurchblutungsstörungen, Anfallsleiden“ mit einem Einzel-GdB von nur noch 50 neben dem anderen Einzel-GdB von 30 zu bewerten.

Mit Schreiben vom 27.06.2019 hörte der Beklagte den Kläger daher zu einer beabsichtigten Aufhebung des Bescheides vom 05.10.2017 und Feststellung eines GdB von 60 wegen der seit 04.04.2018 bestehenden Anfallsfreiheit an. Die Voraussetzungen der Merkzeichen G und B lägen nicht mehr vor.

Die Ehefrau des Klägers teilte mit Schreiben vom 01.07.2019 für den Kläger mit, dass er noch immer die bei ihm diagnostizierte Erkrankung habe. Er habe am 06.04.2018 und damit nach dem 04.04.2018 einen Anfall gehabt. Er sei nach dem Bericht der Eklinik in K vom 16.08.2017 „bis an den oberen Rand der Verträglichkeit“ aufdosiert. D habe ihn zudem noch unbedingt in M vorstellen wollen, wo die Überdosierung noch erhöht worden sei. Er habe noch immer ein medizinisches Fahrverbot, dürfe seinem Beruf als Maschinist nicht nachgehen, habe eine ungewöhnliche Gewichtszunahme, habe als ehemaliger Rettungsschwimmer Badeverbot, solle Kino/Konzerte und Massenveranstaltungen meiden und habe auch bei seiner „Unterbringung“ eine eingeschränkte Lebensqualität.

Der Beklagte zog noch einen Befundbericht des Uklinikums M vom 19.02.2019 über eine Verlaufskontrolle vom 19.10.2018 bei, wonach nach Erhöhung der Medikation mit Lacosamid keine neuen Anfälle aufgetreten waren, ferner einen dortigen Ambulanzbrief vom 29.04.2019, wonach über Anfallsfreiheit seit April 2018 berichtet worden sei. Die Medikation mit Lacosamid 500 mg/d und Lamotrigin 350 mg/d werde gut vertragen.

Nach erneuter versorgungsärztlicher Stellungnahme von S vom 25.07.2019 verblieb es bei der Bewertung der Funktionsbeeinträchtigung durch „Hirndurchblutungsstörungen, Anfallsleiden“ mit einem Einzel-GdB von nunmehr 50 neben dem Einzel-GdB von 30 für die entzündlich-rheumatische Erkrankung der Gelenke. Bei Anfallsfreiheit seit April 2018 sei eine wesentliche Besserung eingetreten. Die Voraussetzungen für die Merkzeichen G und B lägen nicht mehr vor.

Mit Bescheid vom 25.07.2019 stellte der Beklagte gestützt hierauf fest, dass die Voraussetzungen für eine höhere Bewertung des GdB nicht vorlägen. Der Bescheid vom 05.10.2017 werde nach § 48 SGB X von Amts wegen geändert. Der GdB betrage ab 27.07.2019 nur noch 60. Die Voraussetzungen für die Feststellung der Merkmale G und B lägen ab diesem Zeitpunkt nicht mehr vor. Nach dem aktuellen Bericht des Uklinikums M habe sich der letzte Anfall im April 2018 ereignet, so dass eine Anfallsfrequenz mit Pausen von mehr als einem Jahr vorliege.

Der Kläger legte hiergegen am 30.07.2019 Widerspruch ein, da die Krankheit nicht beseitigt worden sei und sich sein Krankheitsbild nicht reduziert habe. Es sei lediglich aufgrund der permanenten Medikamenteneinnahme unterdrückt, die auch mit Nebenwirkungen verbunden sei. Er könne jederzeit einen neuen Anfall haben.

Nach versorgungsärztlicher Stellungnahme von B vom 07.10.2019 war an den bisherigen Feststellungen festzuhalten. In der Zukunft möglicherweise eintretende Anfälle begründeten keine Höherbewertung.

Mit Widerspruchsbescheid vom 12.02.2020 wies der Beklagte den Widerspruch daher zurück. In den Verhältnissen bei Erlass des Bescheides vom 05.10.2017 sei insoweit eine wesentliche Änderung eingetreten, als sich die Funktionsbeeinträchtigung „Hirndurchblutungsstörung, Anfallsleiden“ gebessert habe. Es liege Anfallsfreiheit seit mehr als einem Jahr vor. Der Teil-GdB sei daher auf 50 herabzusetzen. Mögliche Anfälle in der Zukunft könnten eine Höherbewertung derzeit nicht begründen. Ein höherer GdB als 60 könne nicht festgestellt werden. Die Voraussetzungen für die Merkzeichen G und B lägen nicht mehr vor.

Der Kläger hat am 20.02.2020 Klage zum Sozialgericht Mannheim (SG) erhoben, da er unter drei unheilbaren, lebenseinschränkenden bis hin zu lebensbedrohlichen Erkrankungen leide. Er habe daher innerbetrieblich versetzt werden müssen, da er seinen Beruf nicht mehr ausüben könne. Der neue Arbeitsplatz sei nicht mit öffentlichen Verkehrsmitteln erreichbar, so dass er auf das Wohlwollen von fahrenden Kollegen angewiesen sei. Er könne nicht mehr Pkw oder andere Fahrzeuge führen. Der Widerspruchsbescheid sei daher abzuweisen und der bis dahin anerkannte Grad seiner Behinderung sei fortzusetzen. Eine weitere von der damaligen Bevollmächtigten in Unkenntnis der Klageerhebung erhobene Klage (S 8 SB 581/20) hat diese wegen doppelter Rechtshängigkeit zurückgenommen.

Das SG hat durch schriftliche Vernehmung von behandelnden Ärzten Beweis erhoben. Die D und E1 haben in ihrer Aussage vom 09.04.2020 von einer Anfallsfreiheit seit „17.07.2019“ mit unauffälligen Elektroencephalographien berichtet. Die Epilepsie habe sich positiv entwickelt, als seit Frühjahr 2018 unter Medikation Anfallsfreiheit herrsche. Vom 31.10. bis 12.12.2019 sei der Kläger wegen einer schweren depressiven Episode im PZN W stationär behandelt worden. Aktuell sei er dort wieder in Behandlung. Der Verlauf sei abzuwarten.

Der H hat in seiner Aussage vom 20.04.2020 von einer Behandlung seit 2016 berichtet. Zuletzt sei am 30.03.2020 eine stationäre Einweisung ins ZfP/PZN W erfolgt. Der Kläger leide an chronischen Erkrankungen unter einer chronischen Polyathritis, die unter regelmäßiger Medikamenteneinnahme stabilisiert sei. Er leide daneben unter Epilepsie nach Ischämie mit lange extrem schwieriger Einstellung, aber Anfallsfreiheit seit Frühjahr 2018 unter aktueller Dauertherapie mit Antikonvulsiva. Von Oktober bis Dezember 2019 sei eine erstmalige stationäre Behandlung wegen schwerer depressiver Episode erfolgt. Aufgrund der schwierigen finanziellen, partnerschaftlichen und wohnlichen Situation sei im März 2020 eine erneute Episode eingetreten. Bis Oktober 2019 habe der Kläger aber nie über depressive Symptome geklagt oder solche gezeigt. H hat den vorläufigen Entlassungsbericht des ZfP/PZN vom 02.12.2019 vorgelegt, in dem über eine stationäre Behandlung ab 31.10.2019 wegen schwerer depressiver Episode ohne psychotische Symptome und Problemen in Bezug auf Schwierigkeiten bei der Lebensbewältigung berichtet wird. Die Aufnahme sei bei Z.n. Suizidversuch geschehen. Die Entlassung sei in remittiertem Zustand unter Medikation mit Amitriptylin 50 mg erfolgt.

Die damalige Bevollmächtigte des Klägers hat sodann mit am 05.06.2020 bei dem SG eingegangenen Schriftsatz die Aufhebung des Bescheides vom 25.07.2020 in der Gestalt des Widerspruchsbescheides vom 12.02.2020 beantragt, da der Kläger sich nicht als anfallsfrei ansehe und die hohe Dosierung der Medikation den Leidensdruck und die Belastung des Klägers nachvollziehbar mache. Der Zeitraum der Anfallsfreiheit sei von D nicht eindeutig angegeben worden und sei daher gegebenenfalls von ihm klarzustellen. Zudem sei bereits am 25.04.2017 die Verdachtsdiagnose der Anpassungsreaktion mit depressiven und Angstsymptomen auf Epilepsieerkrankung gestellt worden. Die psychische Lage habe sich stark verschlechtert. Der Kläger gehe davon aus, dass der GdB von 80 und die Merkzeichen G und B weiterhin festzustellen seien. Er habe bei der gebotenen Auslegung mit der Klage nicht nur die Überprüfung des GdB, sondern auch des Entzuges der Merkzeichen gewollt. Der Kläger hat ferner mit Schreiben vom 22.06.2020 noch seine aktuellen Beschwerden angegeben und hat sein Vorbringen vertieft.

Mit Gerichtsbescheid vom 15.04.2021 hat das SG – nach Anhörung der Beteiligten – die Klage abgewiesen. Die Klage sei unzulässig, soweit sie sich auf die Merkzeichen G und B richte, da der Kläger dies erst am 05.06.2020 geltend gemacht habe und der Bescheid zu diesem Zeitpunkt insoweit bereits bestandskräftig geworden sei und eine Klageänderung nicht zulässig sein könne. Im Übrigen sei die Klage zulässig, aber unbegründet. Maßgeblicher Zeitpunkt zur Beurteilung der Sach- und Rechtslage bei der hier erhobenen Anfechtungsklage sei der Zeitpunkt der letzten Verwaltungsentscheidung und hier des Widerspruchsbescheides vom 12.02.2020. Insoweit sei seit Erlass des Bescheides vom 05.10.2017 zur Überzeugung der Kammer eine wesentliche Änderung des Gesundheitszustandes des Klägers eingetreten, die zu einer Herabsetzung des GdB auf 60 führe. Für den Bereich Gehirn und Psyche sei kein höherer Einzel-GdB als 50 mehr zu begründen. Die beiden gehörten sachverständigen Zeugen hätten bei bestehender Epilepsie nach altem Hirninfarkt eine Anfallsfreiheit seit Frühjahr 2018 und damit von mehr als einem Jahr bestätigt. „D/E“ hätten zudem ein unauffälliges EEG mitgeteilt. Die Anfallsfreiheit seit April 2018 sei auch den Arztbriefen von D/E vom 13.03.2019 und des Uklinikums M vom 29.04.2019 zu entnehmen. Dem Arztbrief des Uklinikums M vom 19.02.2019 sei zudem ein im Wesentlichen unauffälliger Befund zu entnehmen. Dass nach Auffassung des Klägers in Zukunft möglicherweise Anfälle auftreten könnten, könne eine Höherbewertung nicht begründen. Nach Erlass des Widerspruchsbescheides eingetretene Verschlimmerungen seien im Wege eines Neufeststellungsantrages geltend zu machen. Damit komme es auch nicht entscheidend auf die Aufenthalte des Klägers im PZN ab dem 31.10.2019 mit der Diagnose einer schweren depressiven Episode ohne psychotische Symptome an, zumal insoweit (bis zum Erlass des Widerspruchsbescheides) noch keine sechs Monate vergangen gewesen seien. Zudem sei dem Entlassbericht des PZN vom 02.12.2019 eine Remission der Erkrankung zu entnehmen. Nach der Auskunft von H sei der Kläger in den Sprechstundenkontakten auch nie niedergestimmt oder antriebslos gewesen.

Da nach der Auskunft von H unter regelmäßiger Medikamenteneinnahme eine Stabilisierung der entzündlich-rheumatischen Erkrankung und ein ruhiger Verlauf zu entnehmen sei, könne insoweit bei nur geringen Auswirkungen kein Einzel-GdB von mehr als 30 begründet werden. Der Gesamt-GdB sei ausgehend von dem Einzel-GdB von 50 für den Bereich Gehirn und Psyche durch die ein anderes Funktionssystem betreffenden, aber gering ausgeprägten Beeinträchtigungen mit 60 zu bewerten. Im Übrigen sei auch dann, wenn von der Zulässigkeit der Klage hinsichtlich der Merkzeichen G und B ausgegangen würde, nach der Aussage von D/E und deren Arztbrief vom 13.03.2019 das Gehvermögen nicht eingeschränkt und keine erhebliche Beeinträchtigung der Bewegungsfähigkeit im Straßenverkehr bzw. die Notwendigkeit regelmäßiger Begleitung mit der Berechtigung zur Mitnahme einer Begleitperson nicht mehr zu begründen.

Der Kläger hat am 26.04.2021 Berufung zum Landessozialgericht (LSG) Baden-Württemberg eingelegt. Zur Begründung hat er ausgeführt, dass er trotz Vorerkrankungen jederzeit Schwerarbeit unter Dauerstress habe leisten können. Er habe nach einem Schock über eine mutwillige Fehloperation seines Sohnes und seine fast sofortige Entlassung trotz weiteren Behandlungsbedarfes am 17.09.2016 im häuslichen Bereich einen Totalkollaps mit Atemstillstand erlitten, der damals als Epilepsie behandelt worden sei, jetzt aber als Schlaganfall interpretiert werde. Seine Erkrankungen seien unheilbar, so dass es keinen Grund gebe, den 2017 festgestellten GdB von 80 zu reduzieren. Dieser erhöhe sich eher noch aufgrund der Dauermedikation und der daraus resultierenden Folgen. Der Kläger hat noch einen Lebenslauf vorgelegt. Er hat ferner eine (bereits im Verwaltungsverfahren vorgelegte) chronologische Darstellung seines Krankheitsverlaufs bis zu dem Kollaps am 06.04.2018 vorgelegt. Seit Vergabe spezieller Medizin-Chemikalien kollabiere er periodisch alle 4 oder 5 Wochen, offensichtlich als Abwehrreaktion auf die bereits in Höchstdosis erhaltene Medizin, die seine inneren Organe vergifte, was als versuchter Totschlag anzusehen sei. Er hat hierzu noch eine Patienteninformation des W1 über die Behandlung der chronischen Arthritis mit Hydrohychloroquin und Sulfalazin vorgelegt. Dieser Spezialist sei schockiert gewesen, welche Chemikalien dem Kläger sonst noch zugetragen würden. Diese Erkrankung sei nach einem vorgelegten Ausdruck einer Internetseite nicht heilbar. Der Kläger hat ferner eine ausführliche Schilderung bezüglich eines „Überfalls“ auf ihn am 30.10.2019 mit Anlagen vorgelegt. Diesbezüglich sei ein Antrag auf Opferentschädigung gestellt werden, der bei dem Versorgungsamt Heidelberg bearbeitet werde. Er hat neben bereits aktenkundigen Befundberichten des W1 vom 23.11.2010 und des Epilepsiezentrums Diakonie K vom 16.08.2017 noch ein Attest von D vom 10.05.2021 vorgelegt, wonach es mittlerweile zu einer schweren depressiven Episode gekommen sei, die im PZN W habe behandelt werden müssen. Das Anfallsleiden bestehe trotz Anfallsfreiheit weiterhin.

Der Kläger beantragt (sinngemäß),

den Gerichtsbescheid des Sozialgerichts Mannheim vom 15.04.2021 und den Bescheid vom 25.07.2019 in der Gestalt des Widerspruchsbescheides vom 12.02.2020 aufzuheben.

Der Beklagte beantragt,

die Berufung zurückzuweisen.

Er verweist auf den Gerichtsbescheid. Der Kläger halte seine Erkrankungen für unheilbar.

Der Kläger hat hiergegen eingewandt, dass seine Erkrankungen nicht nur nach seiner Einschätzung, sondern tatsächlich unheilbar seien. Falls dies anders gesehen werde, könne er ja mit seinen Ärzten über das Absetzen der Chemikalien kommunizieren. Der Kläger hat ferner noch drei jeweils mit Erläuterungen versehene Fotos von sich übersandt.

Der Berichterstatter hat den Kläger mit Verfügung vom 05.08.2021 darauf hingewiesen, dass die Berufung wohl keine Aussicht auf Erfolg haben dürfte, da der GdB bei Anfallsfreiheit seit April 2018 wohl zu Recht herabgesetzt worden sein dürfte. Dies dürfte auch zum Wegfall der Voraussetzungen des Merkzeichens G und damit auch des Merkzeichens B geführt haben.

Der Kläger hat hierauf an seiner Berufung festgehalten. Der „Schwerstbehindertenausweis“ mit einem GdB von 80 sei ihm nicht ausgestellt worden, weil er wiederholt kollabiert sei. Er sei vielmehr ausgestellt worden, weil er seit dem ersten Vorfall nur noch unter einer Gehirnhälfte leide, so dass er seinen eigentlichen Beruf nicht mehr ausüben könne und er seinen ehelichen Verpflichtungen und seinen gewohnten Freizeitaktivitäten wie z.B. Schwimmen nicht mehr nachkommen könne. Er sei außerdem unheilbar durch Rheuma und Arthrose und Gicht beeinträchtigt. Hieraus ergebe sich eine erhebliche Gehbehinderung und die Notwendigkeit, eine medizinische Fußpflege in Anspruch zu nehmen. Er sei zudem für den Rest seines Lebens gezwungen, sich mit medizinischer Chemie zu vergiften. Dies führe zu beeinträchtigenden optischen Veränderungen und dazu, dass er teurere Bekleidung kaufen müsse. Schuhe und Hosen seien bei seiner Gewichtsklasse schneller verschlissen. Auch gebe es keine Garantie, ob und wie ein neuer Anfall auftrete. Lediglich beim Schlafen sei er davon befreit. Er müsse sich doch nicht als Vorsichtsmaßnahme „einschläfern“ lassen. Er müsse sich auch nicht „asozialisieren“ lassen, weil er nicht mehr funktional verfügbar sei wie zuvor. Der GdB beziehe sich auf die Auswirkungen von Funktionsbeeinträchtigungen in allen Lebensbereichen und nicht nur im allgemeinen Erwerbsleben. Er hat dazu noch eine Skizze der von ihm, seiner Ehefrau und seinem Sohn seit 2014 „zwangsweise“ bewohnten Wohnung vorgelegt. Er hat ferner einen Schriftwechsel mit der Bezirksärztekammer Nordbaden wegen einer Beschwerde gegen G vorgelegt, der den Kläger nach einem epileptischen Anfall am Arbeitsplatz am 02.11.2016 in der Kopfklinik Heidelberg behandelt und ihn (aus Sicht des Klägers vorzeitig bzw. nicht sachgerecht) wegen fehlender Notwendigkeit einer Krankenhausbehandlung und ohne Taxischein nach Hause entlassen hatte. Der Kläger hat zuletzt noch einen Durchgangsarztbericht vom 11.11.2021 und Arbeitsunfähigkeitsbescheinigungen ab dem 04.11.2021 bis 20.11.2021 u.a. wegen einer Prellung des rechten Unterschenkels (ICD-10 GM: S80.1 GR) sowie u.a. ein von ihm im Zusammenhang mit dem Arbeitsunfall aufgesetztes Schreiben an die Unfallkasse Baden-Württemberg vom 16.11.2021 vorgelegt.

Hinsichtlich der weiteren Einzelheiten des Sachverhaltes wird auf den Inhalt der Gerichtsakte dieses Verfahrens sowie des erstinstanzlichen Verfahrens und auf den Inhalt der beigezogenen Verwaltungsakte des Beklagten Bezug genommen.

 

Entscheidungsgründe

Die nach § 151 SGG form- und fristgerecht eingelegte Berufung des Klägers ist gemäß §§ 143, 144 SGG auch im Übrigen zulässig.

Dem steht hier nicht entgegen, dass der erstinstanzliche Gerichtsbescheid entgegen § 65a Abs. 7 Satz 1 SGG i.V.m. §§ 105 Abs. 1 Satz 3, 134 Abs. 1 SGG zwar mit einer qualifizierten elektronischen Signatur, nicht aber auch am Ende des Dokuments mit dem Namen des Kammervorsitzenden als verantwortender Person versehen ist. Die fehlende Nennung des Namens des Kammervorsitzenden am Ende des Gerichtsbescheids macht diesen nicht zu einer sogenannten Scheinentscheidung, da er durch die Zustellung wirksam geworden ist und durch die Namensnennung im Rubrum und die qualifizierte elektronische Signatur dem Kammervorsitzenden als gesetzlich bestimmtem Richter zuzuordnen ist (vgl. hierzu ausführlich: Urteil des erkennenden Senats vom 17.09.2021 – L 8 SB 1856/20 –, in juris Rn. 26ff. sowie bereits das Senatsurteil vom 23.07.2021 – L 8 AL 3122/20 –, in juris; nachgehend BSG, Beschluss vom 04.11.2021 – B 11 AL 14/21 BH). Der Verfahrensfehler des SG führt hier auch nicht zur Zurückverweisung des Rechtsstreits, da die Voraussetzungen des § 159 Abs. 1 Nr. 1 und 2 SGG für eine entsprechende Ermessensentscheidung des Senats bereits nicht gegeben sind.  Denn das SG hat in der Sache selbst entschieden; der in dem Verstoß gegen § 65a Abs. 7 SGG liegende Verfahrensmangel macht auch keine umfangreiche und aufwändige Beweisaufnahme notwendig.

Die Berufung ist jedoch nicht begründet. Der angefochtene Bescheid vom 25.07.2019 in der Gestalt des Widerspruchsbescheides vom 12.02.2020 ist rechtmäßig und verletzt den Kläger nicht in seinen Rechten. Der Gerichtsbescheid des Sozialgerichts Mannheim vom 15.04.2021 ist daher nicht zu beanstanden.

Zu entscheiden ist hier nur über eine isolierte Anfechtungsklage (§ 54 Abs. 1 SGG) gegen den genannten Bescheid in der Gestalt des Widerspruchsbescheides. Der Beklagte hat zwar mit dem angefochtenen Bescheid zugleich auch einen auf dem übersandten Formular gestellten Antrag auf höhere Neufeststellung des GdB und Feststellung der Merkzeichen G und B abgelehnt. Dem Vorbringen des Klägers und seiner Bevollmächtigten im Klageverfahren wie auch dem in rechtskundiger Vertretung gestellten Klageantrag vor dem SG lässt sich jedoch eindeutig ein auf eine Anfechtung der Aufhebung der bisherigen GdB-Feststellung und der Feststellung der beiden Merkzeichen beschränktes Klagebegehren entnehmen (§ 123 SGG).

Entgegen der Auffassung des SG war dabei auch bereits die von dem Kläger selbst erhobene Klage so auszulegen, dass neben der Aufhebung der bisherigen Feststellung des GdB auch die Aufhebung der Feststellung der Merkzeichen G und B angefochten sein sollte. Insoweit war die Klageschrift des rechtskundigen Klägers nach der ständigen Rechtsprechung des BSG nach dem Meistbegünstigungsgrundsatz im Sinne eines umfassenden Rechtsschutzbegehrens auszulegen (vgl. etwa BSG, Beschluss vom 06.12.2018 — B 8 SO 38/18 B –, in juris, m.w.N.). Eine eindeutige Einschränkung des Klagebegehrens auf die Feststellung des GdB ergab sich hier auch nicht aus der Formulierung, dass der „bis dahin anerkannte Grad seiner Behinderung“ fortzusetzen sei. Denn dieser Ausdruck war bereits nicht zwingend als GdB i.S.d. SGB IX zu verstehen, sondern konnte aus Sicht des Klägers auch die aufgrund dieser Behinderung im selben Bescheid zugleich anerkannten Merkzeichen umfassen. Im Übrigen hätte das SG bei bestehenden Zweifeln an dem Gewollten nach § 106 Abs. 1 SGG auf die Klarstellung der Anträge hinwirken müssen (BSG, Beschluss vom 06.12.2018 – a.a.O.).

Der Beklagte war jedoch zur Überzeugung des Senats berechtigt und zugleich auch verpflichtet, die Feststellung des GdB und der Merkzeichen abzuändern bzw. aufzuheben.

Rechtsgrundlage für die Neufeststellung des GdB ist § 48 Abs. 1 Satz 1 SGB X. Danach ist ein Verwaltungsakt mit Dauerwirkung für die Zukunft aufzuheben, soweit in den tatsächlichen oder rechtlichen Verhältnissen, die bei seinem Erlass vorgelegen haben, eine wesentliche Änderung eintritt. Wesentlich ist eine Änderung dann, wenn sich der GdB um wenigstens 10 erhöht oder vermindert. Im Falle einer solchen Änderung ist der Verwaltungsakt aufzuheben und durch eine zutreffende Bewertung zu ersetzen. Die den einzelnen Behinderungen, welche ihrerseits nicht zum sogenannten Verfügungssatz des Bescheides gehören, zugrunde gelegten GdB-Sätze erwachsen nicht in Bindungswirkung (BSG, Urteil vom  10.09.1997 - 9 RVs 15/96 -, in juris). Hierbei handelt es sich nämlich nur um Bewertungsfaktoren, die wie der hierfür (ausdrücklich) angesetzte Einzel-GdB nicht der Bindungswirkung des § 77 SGG unterliegen. Ob eine wesentliche Änderung eingetreten ist, muss damit durch einen Vergleich des gegenwärtigen Zustands mit dem bindend festgestellten früheren Behinderungszustand ermittelt werden.

Rechtsgrundlage für die GdB-Feststellung ist § 2 Abs. 1 SGB IX in den bis zum 31.12.2017 und ab dem 01.01.2018 geltenden Fassungen in Verbindung mit § 69 SGB IX in den bis zum 14.01.2015, 29.12.2016 und 31.12.2017 geltenden Fassungen beziehungsweise in Verbindung mit § 152 Abs. 1 und 3 SGB IX in der ab dem 01.01.2018 geltenden Fassung. Im Hinblick auf die den vorliegend zu beurteilenden Zeitraum betreffenden unterschiedlichen Gesetzesfassungen sind diese – da Übergangsregelungen fehlen – nach dem Grundsatz anzuwenden, dass die Entstehung und der Fortbestand des sozialrechtlichen Anspruchs auf Leistungen nach dem Recht zu beurteilen ist, welches zur Zeit der anspruchsbegründenden Ereignisse oder Umstände jeweils gegolten hat (BSG, Urteil vom 16.12.2014 – B 9 SB 2/13 R –; BSG, Urteil vom 04.09.2013 – B 10 EG 6/12 R –, beide in juris; hingegen auf die Rechtslage zum Zeitpunkt der gerichtlichen Entscheidung abstellend: LSG Baden-Württemberg, Urteil vom 18.03.2021 – L 6 SB 3843/19 –, in juris Rn. 53).

Nach § 2 Abs. 1 SGB IX in der bis zum 31.12.2017 geltenden Fassung sind Menschen behindert, wenn ihre körperliche Funktion, geistige Fähigkeit oder seelische Gesundheit mit hoher Wahrscheinlichkeit länger als 6 Monate von dem für das Lebensalter typischen Zustand abweichen und daher ihre Teilhabe am Leben in der Gesellschaft beeinträchtigt ist. Nach § 2 Abs. 1 SGB IX in der ab dem 01.01.2018 geltenden Fassung sind Menschen mit Behinderungen Menschen, die körperliche, seelische, geistige oder Sinnesbeeinträchtigungen haben, die sie in Wechselwirkung mit einstellungs- und umweltbedingten Barrieren an der gleichberechtigten Teilhabe an der Gesellschaft mit hoher Wahrscheinlichkeit länger als 6 Monate hindern können, wobei eine Beeinträchtigung in diesem Sinne vorliegt, wenn der Körper- und Gesundheitszustand von dem für das Lebensalter typischen Zustand abweicht. 

Nach § 69 Abs. 1 Satz 1 SGB IX in den bis zum 14.01.2015 und 29.12.2016 geltenden Fassungen stellen die für die Durchführung des BVG zuständigen Behörden auf Antrag eines behinderten Menschen in einem besonderen Verfahren das Vorliegen einer Behinderung und den GdB fest. Nach § 69 Abs. 1 Satz 1 SGB IX in der bis zum 31.12.2017 geltenden Fassung beziehungsweise nach § 152 Abs. 1 Satz 1 SGB IX in der ab dem 01.01.2018 geltenden Fassung gilt ergänzend, dass der GdB zum Zeitpunkt der Antragstellung festgestellt wird. Als GdB werden dabei nach § 69 Abs. 1 Satz 4 und 5 SGB IX in den bis zum 14.01.2015 und 29.12.2016 geltenden Fassungen, nach § 69 Abs. 1 Satz 5 und 6 SGB IX in der bis zum 31.12.2017 geltenden Fassung beziehungsweise nach § 152 Abs. 1 Satz 5 und 6 SGB IX in der ab dem 01.01.2018 geltenden Fassung die Auswirkungen auf die Teilhabe am Leben in der Gesellschaft nach Zehnergraden abgestuft festgestellt, wobei eine Feststellung hierbei nur dann zu treffen ist, wenn ein GdB von wenigstens 20 vorliegt.

Nach § 70 Abs. 2 SGB IX in der bis zum 29.12.2016 geltenden Fassung wird das Bundesministerium für Arbeit und Soziales ermächtigt, durch Rechtsverordnung mit Zustimmung des Bundesrates die Grundsätze aufzustellen, die für die medizinische Bewertung des GdB und die medizinischen Voraussetzungen für die Vergabe von Merkzeichen maßgebend sind, die nach Bundesrecht im Schwerbehindertenausweis einzutragen sind. Nach § 70 Abs. 2 SGB IX in der bis zum 31.12.2017 geltenden Fassung beziehungsweise nach § 153 Abs. 2 SGB IX in der ab dem 01.01.2018 geltenden Fassung gilt diese Ermächtigung für die allgemeine – also nicht nur für die medizinische – Bewertung des GdB und die Voraussetzungen für die Vergabe von Merkzeichen sowie auch für die Kriterien für die Bewertung der Hilflosigkeit. Zwar ist von dieser Ermächtigung noch kein Gebrauch gemacht worden. Indes bestimmt § 159 Abs. 7 SGB IX in der bis zum 31.12.2017 geltenden Fassung beziehungsweise § 241 Abs. 5 SGB IX in der ab dem 01.01.2018 geltenden Fassung, dass – soweit eine solche Verordnung nicht erlassen ist – die Maßstäbe des § 30 Abs. 1 BVG und der auf Grund des § 30 Abs. 17 BVG in der bis zum 30.06.2011 geltenden Fassung beziehungsweise § 30 Abs. 16 BVG in der ab dem 01.07.2011 geltenden Fassung erlassenen Rechtsverordnungen entsprechend gelten. Mithin ist für die konkrete Bewertung von Funktionsbeeinträchtigungen die ab dem 01.01.2009 an die Stelle der „Anhaltspunkte für die ärztliche Gutachtertätigkeit im sozialen Entschädigungsrecht und nach dem Schwerbehindertengesetz“ (AHP) getretene Anlage „Versorgungsmedizinische Grundsätze“ (VG) zu § 2 Verordnung zur Durchführung des § 1 Abs. 1 und 3, § 30 Abs. 1 und § 35 Abs. 1 BVG (VersMedV) vom 10.12.2008 (BGBl. I S. 2412), die durch die Verordnungen vom 01.03.2010 (BGBl. I S. 249), 14.07.2010 (BGBl. I S. 928), 17.12.2010 (BGBl. I S. 2124), 28.10.2011 (BGBl. I S. 2153) und 11.10.2012 (BGBl. I S. 2122) sowie das Gesetz vom 23.12.2016 (BGBl. I S. 3234) geändert worden ist, heranzuziehen. In den VG sind unter anderem die Grundsätze für die Feststellung des Grades der Schädigungsfolgen (GdS) im Sinne des § 30 Abs. 1 BVG festgelegt worden. Diese sind nach den VG, Teil A, Nr. 2 auch für die Feststellung des GdB maßgebend. Die VG stellen ihrem Inhalt nach antizipierte Sachverständigengutachten dar. Dabei beruht das für die Auswirkungen von Gesundheitsstörungen auf die Teilhabe an der Gesellschaft relevante Maß nicht allein auf der Anwendung medizinischen Wissens. Vielmehr ist die Bewertung des GdB auch unter Beachtung der rechtlichen Vorgaben sowie unter Heranziehung des Sachverstandes anderer Wissenszweige zu entwickeln (BSG, Urteil vom 17.04.2013 – B 9 SB 3/12 R –, in juris). Die Bemessung des GdB ist grundsätzlich tatrichterliche Aufgabe. Dabei hat insbesondere die Feststellung der nicht nur vorübergehenden Gesundheitsstörungen unter Heranziehung ärztlichen Fachwissens zu erfolgen (BSG, Urteil vom 17.04.2013 – a.a.O.). Ein von dem Gericht zu beachtender Ermessensspielraum ist dem versorgungsärztlichen Dienst bzw. dem Beklagten dabei nicht eingeräumt.

Nach diesen Maßgaben hat der Beklagte die in dem Bescheid vom 05.10.2017 enthaltenen Verwaltungsakte bezüglich des GdB und der Merkzeichen nach ordnungsgemäßer Anhörung des Klägers (§ 24 Abs. 1 SGB X) zu Recht gemäß § 48 Abs. 1 Satz 1 SGB X aufgehoben. Denn im entscheidungserheblichen Zeitpunkt des Widerspruchsbescheides vom 12.02.2020 als letzter maßgeblicher Verwaltungsentscheidung (vgl. BSG, Urteil vom 11.08.2015 – B 9 SB 2/15 R –, in juris Rn. 13) lag eine wesentliche Änderung als materiell-rechtliche Voraussetzung des § 48 Abs. 1 Satz 1 SGB X vor, aufgrund derer dem Kläger nur noch ein Gesamt-GdB von 60 zustand. Zugleich waren die Voraussetzungen für die Feststellung der Merkzeichen G und B nicht mehr erfüllt.

Im Vordergrund der Funktionsbeeinträchtigungen steht das Anfallsleiden des Klägers. Dabei handelt es sich entgegen seiner Auffassung um eine Epilepsie. Dies ergibt sich etwa aus dem von dem Kläger selbst erneut vorgelegten Bericht des Epilepsiezentrums Diakonie K vom 16.08.2017 mit der Diagnose einer strukturellen Epilepsie mit tonisch-klonischen Anfällen bei altem Hirninfarkt im linken Anteriorstromgebiet und auch aus der Aussage der Fachärzte D bzw. E vor dem SG. Die Diagnose ist im Übrigen auch von dem Uklinikum M bestätigt worden. Die Epilepsie ist nur noch mit einem Einzel-GdB von 50 zu bewerten.

Nach den VG Teil B Nr. 3.1.2 bestimmt sich der GdB bei epileptischen Anfällen nach Art, Schwere, Häufigkeit und tageszeitlicher Verteilung. Bei sehr seltenen Anfällen (generalisierte [große] und komplex-fokale Anfälle mit Pausen von mehr als einem Jahr; kleine und einfach-fokale Anfälle mit Pausen von Monaten) ist ein GdB von 40 angemessen. Bei seltenen Anfällen (generalisierte [große] und komplex-fokale Anfälle mit Pausen von Monaten; kleine und einfach-fokale Anfälle mit Pausen von Wochen) beträgt der GdB hingegen 50 bis 60. Erst bei Anfällen mittlerer Häufigkeit (generalisierte [große] und komplex-fokale Anfälle mit Pausen von Wochen; kleine und einfach-fokale Anfälle mit Pausen von Tagen) sehen die VG einen GdB-Rahmen von 60 bis 80 vor. Erst nach drei Jahren Anfallsfreiheit bei weiterer Notwendigkeit antikonvulsiver Behandlung ist von einem GdB von 30 auszugehen. Ein Anfallsleiden gilt als abgeklungen, wenn ohne Medikation drei Jahre Anfallsfreiheit besteht. Ohne nachgewiesenen Hirnschaden ist dann kein GdB mehr anzunehmen.

Ausgehend hiervon ist der Einzel-GdB jedenfalls zum Zeitpunkt des Erlasses des Widerspruchsbescheides mit 50 angemessen bewertet. Denn nach dem von der Klinik Sinsheim berichteten Grand-Mal-Anfall vom 06.04.2018 (Bl. 70 der Verwaltungsakte) sind bis dahin keine epileptischen Anfälle mehr geschehen. Dies ergibt sich aus dem Befundbericht von D vom 13.03.2019, in dem unter aktueller Medikation Anfallsfreiheit seit dem 04.04.2018 genannt wurde, wie auch aus der Aussage von D bzw. E. Bei dem genauen Datum handelt es sich ebenso wie bei dem Datum 17.07.2019 in der Aussage von D bzw. E um einen offenbaren Schreibfehler. Für die Aussage ergibt sich dies schon daraus, dass dort ausdrücklich eine Anfallsfreiheit seit Frühjahr 2018 bestätigt wurde. Die Anfallsfreiheit ergibt sich daneben auch aus dem Bericht des Uklinikums M vom 29.04.2019. Für weitere Anfälle gibt es hier keine Hinweise, so dass seit dem 06.04.2018 jedenfalls bis zum 27.07.2019 und auch bis zum 12.02.2020 Anfallsfreiheit bestand. Der Kläger hat im Übrigen auch in seiner eigenen genauen chronologischen Aufstellung seines Krankheitsverlaufs nichts Gegenteiliges ausgeführt. Der dort abschließend enthaltene Hinweis auf ein häufiges Kollabieren ist offensichtlich aus der älteren Fassung der Aufstellung in der Verwaltungsakte übernommen worden und beschreibt nicht den aktuelleren Zustand.

Ausgehend von dem GdB von 40 bei damit sehr seltenen Anfällen i.S.d. VG Teil B Nr. 3.1.2 ist die von dem versorgungsärztlichen Dienst vorgenommene Bewertung des GdB mit 50 nachvollziehbar. Denn der Kläger erreicht – worauf er zu Recht hinweist – diese Anfallsfreiheit nur unter hochdosierter antikonvulsiver Medikation, auch wenn diese nach dem Bericht des Uklinikums M vom 29.04.2019 gut vertragen wird. D hat in seinem Befundbericht vom 13.03.2019 schon von einem komplexen, schwer einzustellenden Anfallsleiden berichtet. Dies wird auch durch die von dem Kläger in seiner chronologischen Darstellung zutreffend referierte Anfallshäufigkeit ab dem 17.09.2016 bis zum 06.04.2018 belegt, die einer seltenen bis mittleren Häufigkeit i.S.d. VG Teil B Nr. 3.1.2 entsprach und daher den zunächst berücksichtigten Einzel-GdB von 70 alleine infolge des Anfallsleidens rechtfertigte. Die von dem Kläger angeführte Möglichkeit, dass zukünftig Anfälle auftreten können, ist in dem Einzel-GdB von 50 bereits berücksichtigt. Entgegen seiner Auffassung geht hier auch der Beklagte nicht von einer Heilung der Erkrankung bzw. einer Anfallsfreiheit ohne Medikation aus, was sich an dem weiterhin angesetzten Einzel-GdB von 50 zeigt. Dabei handelt es sich entgegen der Wahrnehmung des Klägers um einen erheblichen GdB, der nach § 2 Abs. 2 SGB IX in seinem Falle für sich alleine schon die Schwerbehinderteneigenschaft begründen würde.

Daneben ist in dem hier entscheidungserheblichen Zeitpunkt 12.02.2020 keine depressive Störung als weitere Erkrankung im Funktionssystem „Gehirn einschließlich Psyche“ zu berücksichtigen. Der Senat verweist insoweit auf die Entscheidungsgründe des angefochtenen Gerichtsbescheides und sieht von einer eigenen Darstellung ab (§ 153 Abs. 2 SGG). Soweit die frühere Bevollmächtigte geltend gemacht hat, dass bereits am 25.04.2017 die Verdachtsdiagnose der Anpassungsreaktion mit depressiven und Angstsymptomen auf Epilepsieerkrankung gestellt worden sei, ergibt sich hieraus gerade nicht das gesicherte Vorliegen einer solchen Erkrankung. Den fachärztlichen Befundberichten und der Aussage von D bzw. E ist keine eigene Feststellung einer depressiven Erkrankung bis zum Beginn der stationären Behandlung 31.10.2019 zu entnehmen. Das SG weist auch zu Recht darauf hin, dass auch H in seiner Aussage bei häufigen hausärztlichen Kontakten keine depressiven Symptome wahrgenommen hat. Die in dem Bericht des PZN ab dem 31.10.2019 gestellte Diagnose einer schweren depressiven Episode beschrieb zum erheblichen Entscheidungszeitpunkt im Februar 2020 auch keinen Zustand von wenigstens 6 Monaten Dauer, da in der stationären Behandlung bis Anfang Dezember 2019 eine Remission der Symptome erreicht wurde. Der Senat verkennt dabei nicht, dass nach der Aussage von D bzw. E eine erneute Einweisung im März 2020 erfolgte. Dies liegt jedoch jenseits des hier entscheidungserheblichen Zeitpunkts und wäre daher nur bei einem – hier nicht gegenständlichen – Antrag auf Neufeststellung des GdB zu berücksichtigen. Dasselbe gilt für die von den sachverständigen Zeugen geäußerte Annahme eines nicht nur vorübergehenden Zustandes bzw. eines rezidivierenden Verlaufs. Denn diese Einschätzung beruhte gerade auf der erneuten Einweisung im März 2020 und damit nach Erlass des Widerspruchsbescheides. Dem Entlassungsbericht des PZN vom 02.12.2019 ließ sich über die einmalige Episode hinaus jedoch keine Diagnose einer rezidivierenden Störung entnehmen. Aus diesem Grund kommt auch keine Bildung eines Durchschnitts-GdB in Betracht. Denn hier fehlt es an den dafür vorausgesetzten Schwankungen im Gesundheitszustand bei längerem Leidensverlauf (vgl. VG Teil A Nr. 2 Buchst. f).

Der Kläger leidet daneben unter einer entzündlich-rheumatischen Erkrankung der Gelenke, die bei geringen Auswirkungen i.S.d. VG Teil B Nr. 18.2.1 keinen höheren Einzel-GdB als 30 rechtfertigt. Danach ist bei entzündlich-rheumatischen Krankheiten der Gelenke und/oder der Wirbelsäule und leichtgradigen Funktionseinbußen und Beschwerden, je nach Art und Umfang des Gelenkbefalls, geringer Krankheitsaktivität ein GdB von 20 bis 40 angemessen. Nach dem Bericht des W1 vom 10.04.2018 besteht die chronische Polyarthritis mit beginnend erosivem Verlauf mit Arthritiden an kleinen Gelenken und aktuell niedriger Krankheitsaktivität bzw. klinisch ruhigem Verlauf unter Medikation (Bl. 68 Verwaltungsakte).  Auch aus dem Karteiauszug von H ergibt sich bis zum 12.02.2020 ein leichter Verlauf der Erkrankung unter der Medikation (25.09.2019 „Rheuma im Griff“; 14.01.2020: „merkt kein Rheuma“, Bl. 37 bzw. 39 der SG-Akte). Damit ist allenfalls der von dem versorgungsärztlichen Dienst angenommene Einzel-GdB von 30 gerechtfertigt.

Weitere Funktionsbeeinträchtigungen, die einen Einzel-GdB von mindestens 10 rechtfertigen könnten, sind hier nicht ersichtlich. Die in dem Karteiauszug von H erwähnte Adipositas Grad II bedingt ohne Begleitschäden keinen GdB (VG Teil B Nr. 15.3).

Liegen – wie hier – mehrere Beeinträchtigungen der Teilhabe am Leben in der Gesellschaft vor, so wird der GdB nach § 69 Abs. 3 Satz 1 SGB IX in den bis zum 14.01.2015, 29.12.2016 und 31.12.2017 geltenden Fassungen beziehungsweise nach § 152 Abs. 3 Satz 1 SGB IX in der ab dem 01.01.2018 geltenden Fassung nach den Auswirkungen der Beeinträchtigungen in ihrer Gesamtheit unter Berücksichtigung ihrer wechselseitigen Beziehungen festgestellt. Zur Feststellung des GdB werden in einem ersten Schritt die einzelnen nicht nur vorübergehenden Gesundheitsstörungen im Sinne von regelwidrigen (von der Norm abweichenden) Zuständen nach § 2 Abs. 1 SGB IX und die sich daraus ableitenden, für eine Teilhabebeeinträchtigung bedeutsamen Umstände festgestellt. In einem zweiten Schritt sind diese dann den in den VG genannten Funktionssystemen zuzuordnen und mit einem Einzel-GdB zu bewerten. In einem dritten Schritt ist dann in einer Gesamtschau unter Berücksichtigung der wechselseitigen Beziehungen der einzelnen Beeinträchtigungen der Gesamt-GdB zu bilden. Dabei können die Auswirkungen der einzelnen Beeinträchtigungen ineinander aufgehen (sich decken), sich überschneiden, sich verstärken oder beziehungslos nebeneinanderstehen (BSG, Urteil vom 17.04.2013 – B 9 SB 3/12 R –, in juris). Nach den VG, Teil A, Nr. 3 Buchst. c ist bei der Bildung des Gesamt-GdB in der Regel von der Beeinträchtigung mit dem höchsten Einzel-GdB auszugehen und sodann im Hinblick auf alle weiteren Funktionsbeeinträchtigungen zu prüfen, ob und inwieweit hierdurch das Ausmaß der Behinderung größer wird, ob der Ausgangswert also wegen der weiteren Funktionsbeeinträchtigungen um 10, 20 oder mehr Punkte zu erhöhen ist, um der Behinderung insgesamt gerecht zu werden. Insoweit führen nach den VG, Teil A, Nr. 3 Buchst. d, von Ausnahmefällen abgesehen, zusätzliche leichte Gesundheitsstörungen, die nur einen GdB von 10 bedingen, nicht zu einer Zunahme des Ausmaßes der Gesamtbeeinträchtigung, die bei der Gesamtbeurteilung berücksichtigt werden könnte, auch dann nicht, wenn mehrere derartige leichte Gesundheitsstörungen nebeneinander bestehen. Auch bei leichten Funktionsbeeinträchtigungen mit einem GdB von 20 ist es danach vielfach nicht gerechtfertigt, auf eine wesentliche Zunahme des Ausmaßes der Behinderung zu schließen. Außerdem sind nach den VG, Teil A, Nr. 3 Buchst. b bei der Gesamtwürdigung die Auswirkungen mit denjenigen zu vergleichen, für die in der GdB-Tabelle der VG feste Grade angegeben sind.

Ausgehend von dem Anfallsleiden mit einem Einzel-GdB von 50 erhöht sich der Gesamt-GdB hier durch das Hinzutreten der davon unabhängigen entzündlich-rheumatischen Erkrankung der Gelenke mit einem Einzel-GdB von allenfalls 30 auf nicht mehr als 60. Eine wesentliche Zunahme der Behinderung, die bei einem weiteren Einzel-GdB von 30 zu einer Erhöhung um 20 und nicht nur um 10 Punkte führen könnte (vgl. LSG Baden-Württemberg, Urteil vom 13.11.2020 – L 8 SB 2/19 –, in juris Rn. 52), liegt hier jedoch nicht vor.

Die Voraussetzungen des Merkzeichens G lagen zum entscheidungserheblichen Zeitpunkt nicht mehr vor. Dieses Merkzeichen ist nach § 3 Abs. 1 Nr. 7 der Schwerbehindertenausweisverordnung einzutragen, wenn der schwerbehinderte Mensch in seiner Bewegungsfähigkeit im Straßenverkehr erheblich beeinträchtigt im Sinne des § 229 Absatz 1 Satz 1 des Neunten Buches Sozialgesetzbuch oder entsprechender Vorschriften ist. Der Kläger ist bei einem GdB von 60 weiterhin schwerbehindert (§ 2 Abs. 2 SGB IX). Die Feststellungen für weitere gesundheitliche Merkmale als Voraussetzung für die Inanspruchnahme von Nachteilsausgleichen sind ebenfalls von dem Beklagten im Verfahren zu treffen (§ 69 Abs. 4 SGB IX i.d.F. bis 31.12.2017 bzw. § 152 Abs. 4 SGB IX i.d.F. ab 01.01.2018).

Das Merkzeichen G kann nach den entsprechenden Vorgaben der VG (Teil D Nr. 1) hier nur mit Störungen der Orientierungsfähigkeit durch das Anfallsleiden begründet werden. Denn das Gehvermögen des Klägers ist nicht beeinträchtigt, wie sich etwa aus dem Befundbericht von D vom 13.03.2019 ergibt. Auch bestehen keine Hinweise auf andere Störungen der Orientierungsfähigkeit. Nach den VG Teil D Nr. 1 Buchst. e) ist bei hirnorganischen Anfällen die Beurteilung von der Art und Häufigkeit der Anfälle sowie von der Tageszeit des Auftretens abhängig. Im Allgemeinen ist auf eine erhebliche Beeinträchtigung der Bewegungsfähigkeit erst ab einer mittleren Anfallshäufigkeit mit einem GdB von wenigstens 70 zu schließen, wenn die Anfälle überwiegend am Tage auftreten. Der Kläger litt zu dem hier entscheidungserheblichen Zeitpunkt jedoch unter einer sehr seltenen Anfallshäufigkeit, so dass die Voraussetzungen für das Merkzeichen nicht mehr gegeben waren.

Das Merkzeichen B ist hier bereits deshalb nicht mehr festzustellen, weil das nach § 228 Abs. 6 Nr. 1 SGB IX (bzw. zuvor § 145 Abs. 2 Nr. 1 SGB IX a.F.) durch den Verweis auf § 228 Abs. 1 SGB IX (bzw. zuvor § 145 Abs. 1 SGB IX a.F.) hierfür vorausgesetzte Merkzeichen G nicht festgestellt und – wie ausgeführt – auch nicht mehr festzustellen ist. Die in § 228 Abs. 1 SGB IX alternativ vorausgesetzten Merkzeichen Gl (gehörlos) und H (hilflos) sind hier ebenfalls nicht festgestellt und auch nicht streitgegenständlich.

Der Sachverhalt ist vollständig aufgeklärt. Der Senat hält weitere Ermittlungen von Amts wegen nicht für erforderlich. Die vorliegenden ärztlichen Unterlagen haben dem Senat zusammen mit den im erstinstanzlichen Verfahren eingeholten sachverständigen Zeugenaussagen die für die richterliche Überzeugungsbildung notwendigen sachlichen Grundlagen vermittelt (§ 118 Abs. 1 Satz 1 SGG, § 412 Abs. 1 ZPO). Denn der festgestellte medizinische Sachverhalt bietet die Basis für die alleine vom Senat vorzunehmende rechtliche Bewertung des GdB unter Einschluss der Bewertung der sich zwischen den einzelnen Erkrankungen und Funktionsbehinderungen ergebenden Überschneidungen und Wechselwirkungen. Das Gericht muss sich das dafür notwendige ärztliche Fachwissen nicht nur (ausschließlich) in Form von Sachverständigengutachten verschaffen. Vielmehr kann hierfür auch etwa die Einholung von Befundberichten der behandelnden Ärzte oder die Beiziehung von ärztlichen Entlassungsberichten aus Krankenhäusern oder medizinischen Rehabilitationseinrichtungen ausreichend sein (BSG, Beschluss vom 24.02.2021 – B 9 SB 39/20 B –, juris). Dies ist hier zur Überzeugung des Senats der Fall.

Es bleibt dem Kläger unbenommen, bei einer zwischenzeitlichen Verschlechterung seines Gesundheitszustandes einen Antrag auf höhere Neufeststellung des GdB und gegebenenfalls Zuerkennung der begehrten Merkzeichen G und B zu stellen.

Die Berufung war daher zurückzuweisen.

Die Kostenentscheidung beruht auf § 193 SGG.

Gründe für die Zulassung der Revision liegen nicht vor.

Rechtskraft
Aus
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