L 10 KR 122/17

Land
Schleswig-Holstein
Sozialgericht
Schleswig-Holsteinisches LSG
Sachgebiet
Krankenversicherung
Abteilung
10.
1. Instanz
SG Kiel (SHS)
Aktenzeichen
S 10 KR 222/16
Datum
2. Instanz
Schleswig-Holsteinisches LSG
Aktenzeichen
L 10 KR 122/17
Datum
-
3. Instanz
-
Aktenzeichen
-
Datum
-
Kategorie
Urteil
Leitsätze

1. Schließt eine Krankenkasse für die Versorgung mit einem Hilfsmittel (hier: Echthaarperücke) keinen Versorgungsvertrag mit Leistungserbringern oder deren Verbänden nach § 127 Abs. 1 SGB V und trifft sie auch keine Einzelfallvereinbarung nach § 127 Abs. 3 SGB V, liegt ein Systemversagen vor.

2. Bei der dadurch erzwungenen Selbstbeschaffung des Hilfsmittels durch die Versicherte trifft diese eine Schadenminderungspflicht; die Versicherte hat dabei aber nur Vorsatz und grobe Fahrlässigkeit zu vertreten. Eine Beschränkung des Kostenerstattungsanspruchs aus § 13 Abs. 3 SGB V kommt daher nur in Betracht, wenn die Versicherte bei der Selbstbeschaffung des Hilfsmittels die erforderliche Sorgfalt in besonders schwerem Maß verletzt.

Auf die Berufung der Klägerin wird der Gerichtsbescheid des Sozialgerichts Kiel vom 13. Juni 2017 aufgehoben und der Bescheid der Beklagten vom 10. Juli 2015 in Gestalt des Widerspruchsbescheids vom 22. Juni 2016 geändert.

Die Beklagte wird verurteilt, der Klägerin für die selbstbeschaffte Perücke Kartho KHI-03009 entstandene Kosten in Höhe von 1.135,00 EUR zu erstatten.

Die Beklagte hat außerdem die notwendigen außergerichtlichen Auslagen der Klägerin im Vor-, Klage- und Berufungsverfahren zu erstatten.

Die Revision wird nicht zugelassen.

Tatbestand

Die Klägerin begehrt Erstattung restlicher Kosten für die Beschaffung einer Echthaarperücke.

Die am 1. Juli 1965 geborene Klägerin ist als Mitglied der Beklagten gesetzlich krankenversichert. Bei ihr besteht jedenfalls seit Juni 2015 eine Alopecia cranialis totalis, dh ihr sind sämtliche Haare auf der gesamten Kopfhaut dauerhaft ausgefallen. Unter dem 16. Juni 2015 verordneten die Dermatologen und Allergologen B und M aus Neumünster der Klägerin „1 Haarersatz (Kunsthaar-TeilPerücke)“. Das Wort „Kunsthaar“ wurde auf dem der Beklagten eingereichten Verordnungsvordruck handschriftlich durchgestrichen und durch das Wort „Echthaar“ ersetzt. Die Einreichung der Verordnung bei der Beklagten erfolgte am 30. Juni 2015 durch die Leistungserbringerin, ein unter „E“ firmierendes Unternehmen aus N, das von der S betrieben wird, zusammen mit einem Kostenvoranschlag dieser Leistungserbringerin über eine mit Monofilament auf Baumwolltüll geknüpfte Einzelhaarperücke aus indischem Echthaar zu einem Preis von 1.485,00 EUR inklusive Umsatzsteuer.

Mit Bescheid vom 10. Juli 2015 teilte die Beklagte, die im Jahr 2015 keinen Versorgungsvertrag mit der Leistungserbringerin oder einem Verband, dessen Mitglied die Leistungserbringerin etwa gewesen wäre, abgeschlossen hatte, der Klägerin mit, dass sie – die Beklagte – sich an diesen Kosten mit einem Betrag in Höhe von 350,00 EUR abzüglich eines Eigenanteils in Höhe von 10,00 EUR beteilige. Am 14. Juli 2015 erwarb die Klägerin bei der vorgenannten Leistungserbringerin eine Perücke „Medizinischer Echthaar-Haarersatz Kartho KHI-03009“. Ausweislich der – in schlechter Bildqualität vorliegenden – Fotodokumentation wies diese Perücke eine mittellange bzw. schulterlange Haarlänge auf. Die diesbezügliche Rechnung weist einen Betrag in Höhe von 1.485,00 EUR abzüglich eines Krankenkassenzuschusses in Höhe von 340,00 EUR und mithin einen Brutto-Rechnungsbetrag von 1.145,00 EUR aus. Ausweislich eines handschriftlichen Vermerks auf der Rechnung soll die Klägerin den Rechnungsbetrag per EC-Karte bezahlt haben.

Am 11. August 2015 erhob die Klägerin, vertreten durch ihren Prozessbevollmächtigten, Widerspruch gegen den Teil-Bewilligungs-/Ablehnungsbescheid vom 10. Juli 2015, den sie damit begründete, dass sie einen Sachleistungsanspruch auf Versorgung mit einer Echthaarperücke als unmittelbaren Behinderungsausgleich innehabe. Die Beklagte sei nicht befugt, diesen Anspruch unter Heranziehung von zwischen ihr und anderen Leistungserbringern geschlossenen Versorgungsverträgen zu verkürzen, indem sie ihr, der Klägerin, lediglich einen Teilbetrag zu den Versorgungskosten zuschieße bzw einen Festbetrag gewähre, der unterhalb der tatsächlichen Versorgungskosten liege. Zudem reiche der von der Beklagten bewilligte Betrag lediglich zur Beschaffung einer einfachen Kunsthaarperücke im unteren Preissegment, die eine Haltbarkeitsdauer von allenfalls sechs Monaten aufweise, aus. Wegen dieser geringen Haltbarkeit die Versorgung mit einer solchen Perücke unwirtschaftlich.

In einem schriftlichen Gutachten vom 26. April 2016 führte ein T für den von der Beklagten im Widerspruchsverfahren beauftragten Medizinischen Dienst der Krankenversicherung Nord (MDK) folgendes aus:

          „(…)

Grundsätzlich unterscheiden kann man Kunsthaar- und Echthaarperücken. Moderne Kunsthaarperücken werden zB aus Betex-Fasern (Polyester) gefertigt. Hierbei ist auf den ersten Blick und für den Laien auch beim Betasten kein Unterschied zum Echthaar mehr erkennbar. (…)

Der Aufbau von Kunst- und Echthaarperücken ist jedoch identisch. Für die Montur (Grundkonstruktion) der Perücke wird überwiegend Nylon, Polyester und Polyurethan verwendet. Bei empfindlicher Kopfhaut kann auf der Innen-seite eine Baumwollgaze eingearbeitet werden. Aufgrund der deutlich geringeren Haltbarkeit und fehlenden Formstabilität wird heutzutage jedoch überwiegend auf natürliche Grundmaterialien wie Naturseide und Baumwolle verzichtet. Angebracht werden die Haare auf der Perückengrundkonstruktion entweder über Klebeverfahren oder Knüpfung. Am aufwändigsten sind hierbei die in einem feinen Netzeinsatz (Monofilament) des Oberteils der Perücke handgeknüpft eingearbeiteten Haare.

Bessere, nicht mehr von Echthaar zu unterscheidende Kunsthaarperücken gibt es in der Preisklasse von € 200,- bis 500,-. Echthaarperücken (bis schulterlang) sind in einer Preisklasse von € 300,- bis 600,- erwerbbar. Hierbei ist allerdings zu beachten, dass bei zusätzlich vorhandenem Zwischenhändler sich die Perückenpreise verdoppeln können. Hand-/maß-gefertigte Echthaarperücken können jedoch bis zu € 2.500,- kosten.

Echthaarperücken haben eine durchschnittliche Haltbarkeit von 12 – 18 Monaten (2 – 3 Jahre möglich); hierbei ist jedoch eine aufwändige Pflege mit Shampoospülung und Haarkuren notwendig. (…) Die Haltbarkeit von Kunsthaarperücken wird als gleichwertig bis länger, auch von Echthaarperückenherstellern, angegeben. Kunsthaarperücken müssen nur gelegentlich (kalt) gewaschen werden. (…)

Medizinische Perücken existieren in der Herstellung nicht. Dieses ist lediglich als Ausdruck dafür zu werten, dass eine Perücke aus medizinischer Indikation erforderlich ist. Dieses ist aber nicht zu verwechseln mit einer nicht vorhandenen Andersartigkeit des Produktes.

Aufgrund des dargestellten Sachverhaltes kann keine sozialmedizinische Indikation für die Kostenerstattung einer höherpreisigen (über € 260,-) Perücke zu Lasten der GKV gesehen werden. Bei gleichen Unterkonstruktionsmöglichkeiten von Echt- und Kunsthaarperücken ist auch nicht von einer besseren Verträglichkeit einer der beiden Produkte auszugehen.“

Mit Widerspruchsbescheid vom 22. Juni 2016 wies die Beklagte den Widerspruch der Klägerin zurück. Man habe dieser rechtmäßigerweise einen Betrag in Höhe des marktüblichen Preises für eine Kunsthaarperücke bewilligt, weil es für medizinischen Haarersatz keine Vertragspreise oder Festzuschüsse gebe. Das Bundessozialgericht (BSG) gehe davon aus, dass der Behinderungsausgleich mittels Perückenversorgung bei kompletter Haarlosigkeit einer Frau nur so weit reiche, dass sichergestellt sein müsse, dass durch den Haarersatz für einen unbefangenen Beobachter nicht sogleich erkennbar sei, dass ein Verlust des natürlichen Haupthaares vorliege. Um dieses Ziel bei der Klägerin zu erreichen, sei die begehrte Versorgung mit einer hochpreisigen Echthaarperücke nicht (medizinisch) erforderlich, was sich aus den Ausführungen des von dem MDK eingesetzten Gutachters in dessen Gutachten vom 26. April 2016 ergebe. Auch aus der ärztlichen Verordnung könne die Klägerin den von ihr verfolgten Anspruch nicht herleiten, weil eine ärztliche Verordnung die Krankenkasse im Verhältnis zum Versicherten nach höchstrichterlicher Rechtsprechung nicht zu binden vermöge.

Gegen diese, dem Prozessbevollmächtigten der Klägerin am 30. Juni 2016 zugestellte Entscheidung hat die Klägerin am 25. Juli 2016 Klage vor dem Sozialgericht Kiel erhoben. Zur Begründung hat sie zum einen auf ihr Vorbringen im Widerspruchsverfahren Bezug genommen, zum anderen hat sie auf die ihrer Ansicht nach ihr Klagbegehren stützende Rechtsprechung des BSG in seinem Urteil vom 22. April 2015 zum Aktenzeichen B 3 KR 3/14 R sowie auf ein Urteil des Sozialgerichts Gießen vom 24. Juni 2016 (S 7 KR 363/15) verwiesen, in dem die Auffassung vertreten wird, es läge nahe, die Versorgung mit einer Perücke als Hilfsmittel als einen Fall des unmittelbaren Behinderungsausgleichs zu qualifizieren. Zur Höhe der Kosten für die Versorgung mit einer Echthaarperücke hat die Klägerin schließlich ein Protokoll über eine Berufungsverhandlung vor dem 5. Senat des Schleswig-Holsteinischen Landessozialgerichts am 14. Januar 2016 in dem Verfahren L 5 KR 45/13 zur Akte gereicht, in der ein als Sachverständiger gehörter Friseurmeister Fricke aus Schleswig den Preis für eine blondierte Echthaarperücke mit 1.500,00 bis 2.000,00 EUR angegeben hatte.

Die Klägerin hat vor dem Sozialgericht – nach Auslegung durch dieses – beantragt,

den Bescheid der Beklagten vom 10. Juli 2015 in Gestalt des Widerspruchsbescheides vom 22. Juni 2016 abzuändern und die Beklagte zu verurteilen, ihr – der Klägerin – für die Perückenversorgung am 14. Juli 2015 weitere 1.135,00 EUR zu erstatten.

Die Beklagte hat beantragt,

          die Klage abzuweisen.

Zur Begründung hat die Beklagte geltend gemacht, dass sich der von ihr bewilligte Betrag in Höhe von 350,00 EUR als angemessene und ausreichende Leistung zum Erwerb einer Kunsthaarperücke durch die Klägerin verstehe, damit dieser dadurch ein unmittelbarer Behinderungsausgleich verschafft werden könne. Dass der bewilligte Betrag insoweit zureichend sei, ergebe sich nicht nur aus dem Umstand, dass in der Vergangenheit mehrere (von der Beklagten explizit benannte) Zweithaarausrüster eine Kunsthaarperückenversorgung zu einem solchen (oder einem geringeren) Preis durchgeführt hätten (darunter auch das unter „E“ firmierende Unternehmen), sondern auch aus den Darlegungen des MDK-Gutachters T in seiner Ausarbeitung vom 26. April 2016. Bei den bewilligten 350,00 EUR handele es sich insoweit um einen marktüblichen Preis. Das gesetzliche Wirtschaftlichkeitsgebot erfordere eine verhältnismäßige Versorgung, weshalb Umfang und Notwendigkeit der Hilfsmittelversorgung in jedem Einzelfall in einem angemessenen Verhältnis zu den Kosten des Hilfsmittels stehen müssten. Der von der Klägerin hier an die Leistungserbringerin gezahlte Preis sei unverhältnismäßig teuer. Dies gelte umso mehr, wenn man sich den im Vergleich zu einer Kunsthaarperücke höheren Pflegeaufwand für eine Echthaarperücke sowie die – je nach Beanspruchung – vergleichsweise höhere Haltbarkeit bzw Lebensdauer einer Kunsthaarperücke vor Augen führe.

Mit Gerichtsbescheid vom 13. Juni 2017 hat das Sozialgericht die Klage abgewiesen. Der von der Klägerin geltend gemachte Kostenerstattungsanspruch stehe ihr nicht zu, weil sie – vor Selbstbeschaffung der Echthaarperücke am 14. Juli 2015 – keinen Anspruch auf Versorgung mit einer solchen Perücke gegen die Beklagte innegehabt habe, die den entsprechenden Antrag der Klägerin daher nicht im Sinne des § 13 Abs 3 Satz 1 2. Alt Sozialgesetzbuch Fünftes Buch (SGB V) zu Unrecht abgelehnt habe. Nach gefestigter Rechtsprechung des BSG komme vollständiger Kahlköpfigkeit bei Frauen Krankheitswert im Sinne einer entstellenden Wirkung zu, so dass in einem solchen Fall grundsätzlich ein Anspruch auf Versorgung mit einer Perücke als Hilfsmittel gegen die Krankenkasse bestehe. Betroffen sei nach höchstrichterlicher Rechtsprechung insoweit jedoch der Behinderungsausgleich im Sinne des § 33 Abs 1 Satz 1 3. Var SGB V. Weil mit einer Perücken-versorgung nicht die Funktion des ausgefallenen Haupthaares (Schutz vor Kälte und Hitze) ersetzt, sondern der betroffenen Versicherten vielmehr die Teilhabe am gesellschaftlichen Leben dadurch ermöglicht werden solle, dass diese sich unbefangen in der Öffentlichkeit bewegen könne, sei ein Fall des mittelbaren Behinderungsausgleichs gegeben. Der insoweit von der Krankenkasse lediglich geschuldete Basisausgleich werde schon erreicht, wenn durch Verwendung einer Perücke einem unbefangenen Beobachter der Verlust des natürlichen Haares nicht sogleich erkennbar sei. Dies sei durch die Verwendung einer von der Beklagten bewilligten Kunsthaarperücke, die zudem – wie auch die Klägerin nicht bestreite – zu dem bewilligten Betrag von 350,00 EUR erworben werden könne, sichergestellt. Die Versorgung mit einer Kunsthaarperücke stelle sich auch unter Berücksichtigung der geringeren Haltbarkeit einer solchen Perücke im Vergleich zu Haarersatz aus Echthaar nicht als unwirtschaftlich dar. Denn davon hätte unter Berücksichtigung des Umstandes, dass eine Echthaarperücke nach den klägerischen Angaben in etwa viermal so teuer sei wie eine Kunsthaarperücke, nur dann auszugegangen werden müssen, wenn die Echthaarperücke mehr als viermal so lange getragen werden könne wie die Kunsthaarperücke. Dies sei nach einer prognostischen Betrachtung der Kammer aber nicht gesichert. Schließlich würde diese rechtliche Bewertung in gleicher Weise gelten, wenn nicht ein Fall des mittelbaren, sondern des unmittelbaren Behinderungsausgleichs vorliegen sollte.

Gegen diese Entscheidung, von der der Prozessbevollmächtigte der Klägerin behauptet, dass sie ihm am 22. Juni 2017 zugestellt worden sei, richtet sich die am 20. Juli 2017 vor dem Schleswig-Holsteinischen Landessozialgericht erhobene Berufung der Klägerin.

Zur Begründung ihrer Berufung bringt die Klägerin vor, dass sich aus dem Urteil des BSG vom 22. April 2015 zum Aktenzeichen B 3 KR 3/14 R ergebe, dass es sich bei der Perückenversorgung für eine weibliche Versicherte um einen Fall des unmittelbaren Behinderungsausgleichs handele. Das mithin intendierte Versorgungsziel könne mit der Nutzung einer von der Beklagten lediglich bewilligten Kunsthaarperücke aber nicht erreicht werden; die Versorgung mit einer solchen Perücke sei weder zweckmäßig noch ausreichend, da sie bereits nach kürzester Tragezeit jedem unbefangenen Dritten sogleich als Kunsthaarersatz auffiele und zudem die wärmeregulierende Funktion von Naturhaar nicht übernehmen könne. Im Übrigen habe das BSG in seinem vorzitierten Urteil vom 22. April 2015 ausdrücklich entschieden, dass kahlköpfige Frauen in der Regel Anspruch auf Versorgung mit einer Echthaarperücke als Hilfsmittel hätten. Eine solche Perücke könne zu dem von der Beklagten vorliegend bewilligten Betrag aber nicht erworben werden. Davon gehe nicht nur die schleswig-holsteinische Sozialgerichtsbarkeit aus, in der ein Durchschnittspreis für eine zum geschuldeten Behinderungsausgleich ausreichende Perücke in Höhe von ungefähr 1.500,00 EUR zugrundegelegt werde (insoweit nimmt die Klägerin Bezug auf ein Sitzungsprotokoll des 5. Senats des Schleswig-Holsteinischen Landessozialgerichts vom 19. September 2019 zum Aktenzeichen L 5 KR 123/17 sowie auf ein Sitzungsprotokoll des Sozialgerichts Itzehoe über eine Sitzung am 13. September 2019 im dortigen Verfahren S 26 KR 194/15), auch eine eigene Recherche des klägerischen Prozessbevollmächtigten habe ergeben, dass eine Versorgung mit medizinischem Echthaarersatz ab einem Preis von circa 1.500,00 EUR möglich sei.

Die Klägerin beantragt,

  1. den Gerichtsbescheid des Sozialgerichts Kiel vom 13. Juni 2017 aufzuheben und den Bescheid der Beklagten vom 10. Juli 2015 in Gestalt des Widerspruchsbescheides vom 22. Juni 2016 zu ändern;
  2.  
  1. die Beklagte zu verurteilen, die ihr – der Klägerin – durch die Selbstbeschaffung der Perücke Kartho KHI-03009 entstandenen Kosten in Höhe von 1.135,00 EUR zu erstatten.
  2.  

Die Beklagte beantragt,

          die Berufung zurückzuweisen.

Sie verteidigt den angefochtenen Gerichtsbescheid und übernimmt – im Gegensatz zu ihrer im Verfahren vor dem Sozialgericht geäußerten Ansicht – nunmehr die Auffassung des Sozialgerichts, wonach die Perückenversorgung bei einer Frau – und mithin auch bei der Klägerin – auf einen mittelbaren Behinderungsausgleich gerichtet sei. Dieser Ausgleich werde bereits erreicht, wenn für einen unbefangenen Beobachter nicht sogleich erkennbar sei, dass es sich bei dem Haar der Betroffenen nicht um ihr natürliches Haupthaar, sondern um eine Perücke handele. Dafür sei die Versorgung mit einer Kunsthaarperücke ausreichend. Zwar möge der klägerische Vortrag, wonach Kunsthaar keine wärmeregulierende Funktion zukommen könne, zutreffen. Dies sei aber auch bei einer Echthaarperücke nicht der Fall, weil es insoweit auf die Montur bzw Grundkonstruktion einer Perücke ankomme – und diese sei bei Echthaar- und Kunsthaarperücke gleich, wie der MDK in seinem Gutachten vom 26. April 2016 ausgeführt habe. Einen Anspruch auf Versorgung mit einer Echthaarperücke könne die Klägerin zudem weder aus dem Urteil des BSG vom 22. April 2015 (B 3 KR 3/14 R), das den Anspruch eines Mannes auf Perückenversorgung zum Gegenstand gehabt habe, herleiten, noch aus einer etwaigen geringeren „Lebensdauer“ einer Kunsthaarperücke – dies habe das Sozialgericht in seiner Entscheidung vom 13. Juni 2017 zutreffend ausgeführt. Schließlich weist die Beklagte noch auf den geringeren Pflegeaufwand und die höhere Formstabilität einer Kunsthaarperücke im Vergleich zu einer Echthaarperücke hin und nimmt Bezug auf die Ausführungen des MDK-Gutachters T, soweit dieser ausgeführt hatte, dass auch Echthaarperücken bereits zu einem Preis von 300,00 bis 600,00 EUR erworben werden könnten.

Der Senat hat Beweis erhoben über Unterschiede in der optischen Wahrnehmung von Kunst- und Echthaarperücken, Preisdifferenzen zwischen beiden Perückenarten sowie diesbezügliche Unterschiede in Haltbarkeit, Pflegeaufwand und Tragekomfort durch Einholung eines schriftlichen Sachverständigengutachtens des Sachverständigen für das Friseurhandwerk mit Schwerpunkt Zweithaar K. Der Sachverständige hat in seinem Gutachten vom 20. September 2021 insbesondere ausgeführt, dass ein unbefangener Beobachter üblicherweise eine Echthaarperücke für das Eigenhaar der Trägerin halten werde, wohingegen das bei Kunsthaarperücken nur unter bestimmten Bedingungen mit Sicherheit angenommen werden könne (erst kurze Tragezeit, keine starken Einflüsse durch Hitze oder Feuchtigkeit). Weiter hat der Sachverständige angegeben, dass eine Echthaarperücke in Abhängigkeit von ihrer Verarbeitungsqualität (Tresse oder Handknüpfung, Monofilament oder abgefüttertes Monofilament, mit oder ohne [Teil-] Lace-Front) in einem Preissegment zwischen 1.050,00 und 2.400,00 EUR erworben werden könne, wobei die Preise nach Haarlänge variierten. Der übliche Preis für eine Echthaar-Tressenperücke mit Monofilament liege bei mittellangem Haar (kürzer als schulterlang) bei 1.300,00 bis 1.500,00 EUR. Die Preisspanne für Kunsthaarperücken erstrecke sich demgegenüber von 340,00 EUR bis zu 980,00 EUR, der übliche Preis für eine Kunsthaar-Tressenperücke mit Monofilament liege bei mittellangem Haar bei 550,00 bis 650,00 EUR. Der Sachverständige hat darüber hinaus ausgeführt, dass unter Zugrundelegung einer täglichen Tragedauer von 8 bis 12 Stunden die Kunsthaarperücke eine durchschnittliche Haltbarkeit bzw Verwendungsdauer von 5 bis 7 Monaten aufweise, während sie für eine Echthaarperücke 10 bis 12 Monate betrage. Der Pflegeaufwand für eine Perücke aus Synthetikhaar sei pro Waschvorgang um 10 bis 20 Minuten geringer als bei einer Echthaarperücke, der Tragekomfort einer Naturhaarperücke indes wesentlich höher als der einer Kunsthaarperücke (so schaffe eine Echthaarperücke einen sehr guten Temperaturausgleich am Kopf und sei gut hautverträglich, das Risiko eines Wärme- und Feuchtigkeitsstaus unter den Haaren sei gering – bei einer Kunsthaarperücke sei das Gegenteil der Fall). Schließlich hat der Sachverständige von ihm bei Zweithaarausstattern ermittelte Preissteigerungsraten für Kunst- und Echthaarperücken seit 2011 mitgeteilt. Wegen weiterer Einzelheiten wird auf die Ausführungen des Sachverständigen Krogmann in seinem schriftlichen Gutachten vom 20. September 2021 verwiesen.

Die Klägerin sieht sich durch das Ergebnis der Beweisaufnahme in ihrer Auffassung bestätigt.

Wegen weiterer Einzelheiten des Sach- und Streitstandes wird auf den Inhalt der Gerichtsakte sowie der von der Beklagten vorgelegten Verwaltungsakte, die Gegenstand der Berufungsverhandlung und der Senatsberatung waren, Bezug genommen.

Entscheidungsgründe

I.

Die nach § 143 Sozialgerichtsgesetz (SGG) statthafte Berufung ist zulässig, insbesondere ist sie form- und fristgerecht gemäß § 151 Abs 1 SGG eingelegt worden. Einer Zulassung der Berufung bedurfte es nicht, weil der Wert des Beschwerdegegenstandes mit 1.135,00 EUR den in § 144 Abs 1 Satz 1 Nr 1 SGG genannten Wert des Beschwerdegegenstandes von 750,00 EUR übersteigt.

II .

Die Berufung ist darüber hinaus auch begründet. Das Sozialgericht hat die Klage zu Unrecht abgewiesen. Der Klägerin steht der von ihr verfolgte Kostenerstattungsanspruch gegen die Beklagte zu.

Streitgegenständlich ist der von der Klägerin verfolgte Kostenerstattungsanspruch über den Betrag, den sie selbst zum Erwerb der vorbenannten Perücke im Perückengeschäft „ E“ am 14. Juli 2015 aufgewendet hat und der nicht auf Grundlage des Bescheides vom 10. Juli 2015 von der Beklagten getragen wurde (exklusive der von der Klägerin zu leistenden gesetzlichen Zuzahlung), mithin ein Kostenerstattungsanspruch in Höhe von 1.135,00 EUR. Streitgegenständlich ist daneben auch die im Bescheid vom 10. Juli 2015 und im Widerspruchsbescheid vom 22. Juni 2016 getroffene Entscheidung der Beklagten, die Klägerin im Zusammenhang mit der Erwerb der vorbezeichneten Perücke lediglich von Kosten bis zu 350,00 EUR (bzw unter Berücksichtigung der von der Klägerin zu leistenden Zuzahlung in Höhe von 10,00 EUR nach § 33 Abs 8 Sätze 1 und 2 SGB V in Verbindung mit § 61 Satz 1 SGB V: bis zu 340,00 EUR) freizuhalten. Dies folgt aus der Regelungssystematik des hier allein als Anspruchsgrundlage des Kostenerstattungsbegehrens in Betracht kommenden § 13 Abs 3 Satz 1 2. Alt SGB V. Danach sind die für die Selbstbeschaffung einer Leistung durch einen Versicherten entstandenen Kosten von der Krankenkasse zu erstatten, soweit die Leistung notwendig war und die Kosten dadurch entstanden sind, dass die Krankenkasse die Leistung zu Unrecht abgelehnt hatte. Der Kostenerstattungsanspruch tritt – nach Ablehnung der diesbezüglichen krankenversicherungsrechtlichen Versorgung durch die Krankenkasse und dadurch bedingter Selbstbeschaffung der Leistung durch den Versicherten – an die Stelle des zuvor gemäß § 2 Abs 2 Satz 1 SGB V bestanden haben den Sachleistungsanspruchs, er bildet dessen nunmehr betragsmäßig ausgedrücktes Korrelat (vgl Helbig, in jurisPK-SGB X, 4. Aufl 2020, § 13 Rn 52). Daher ist im Rahmen der Prüfung des Bestehens eines Kostenerstattungsanspruchs nach § 13 Abs 3 SGB V als wesentlicher Punkt zu klären, ob dem Versicherten ursprünglich ein entsprechender Sachleistungs- bzw Primäranspruch zugestanden hatte. Einen auf eine Perückenversorgung zu einem den Betrag von 350,00 EUR übersteigenden Preis gerichteten Leistungsanspruch negiert der Bescheid der Beklagten vom 10. Juli 2015. Sollte dieser Bescheid bestandskräftig werden, stünde daher gemäß § 77 SGG im Rechtssinne fest, dass der Klägerin ein solch weitergehender Anspruch nicht zustünde – was wegen der inhaltlichen Deckungsgleichheit von Sachleistungs- und dem an seine Stelle tretenden Kostenerstattungsanspruch auch dem Kostenerstattungsbegehren schädlich wäre. Schon aus diesem Grund ist es richtig und aus Sicht der Klägerin auch notwendig, den Teil-Bewilligungs- und Teil-Ablehnungsbescheid vom 10. Juli 2015 in Gestalt des Widerspruchsbescheides vom 22. Juni 2016 mit der Anfechtungsklage anzugreifen, auch wenn sich diese Entscheidung auf ein Kostenerstattungsbegehren der Klägerin nicht bezieht.

1.

Ein Kostenerstattungsanspruch aus § 13 Abs 2 SGB V kommt hier nicht in Betracht, denn es ist weder von einem der Beteiligten vorgetragen, noch sonst ersichtlich, dass die Klägerin gegenüber der Beklagten eine Wahlerklärung nach

§ 13 Abs 2 Satz 1 SGB V darüber abgegeben hat, dass sie in Abweichung von dem gesetzlichen Sachleistungsprinzip ihre im Rahmen der gesetzlichen Krankenversicherung (GKV) bestehenden Ansprüche grundsätzlich auf dem Weg der Kostenerstattung geltend machen wolle.

2.

Auch ein Anspruch aus § 13 Abs 3 Satz 1 1. Alt SGB V scheidet hier aus. Danach besteht ein Kostenerstattungsanspruch für Versicherte, wenn die Krankenkasse eine unaufschiebbare Leistung nicht rechtzeitig erbringen konnte. Hier fehlt es an einer unaufschiebbaren Leistung in diesem Sinne. Eine solche liegt vor, wenn die beantragte Leistung im Zeitpunkt ihrer tatsächlichen Erbringung so dringlich ist, dass aus medizinischer Sicht keine Möglichkeit eines nennenswerten Aufschubes mehr besteht, um vor der Beschaffung die Entscheidung der Krankenkasse abzuwarten. Ein Zuwarten darf dem Versicherten aus medizinischen Gründen nicht mehr zumutbar sein, weil der angestrebte Behandlungserfolg zu einem späteren Zeitpunkt nicht mehr eintreten kann oder zB wegen der Intensität der Schmerzen ein auch nur vorübergehendes weiteres Zuwarten nicht mehr zuzumuten ist. Es kommt nicht (mehr) darauf an, ob es dem Versicherten – aus medizinischen oder anderen Gründen – nicht möglich oder nicht zuzumuten war, vor der Beschaffung die Krankenkasse einzuschalten (LSG Baden-Württemberg, Urteil vom 22. März 2017, L 5 KR 1036/16; Urteil vom 22. Februar 2017, L 5 KR 1653/15; Bayerisches LSG, Urteil vom 16. Mai 2019, L 20 KR 502/17, alle zitiert nach juris). Unaufschiebbar kann auch eine zunächst nicht eilbedürftige Behandlung werden, wenn der Versicherte mit der Ausführung so lange wartet, bis die Leistung zwingend erbracht werden muss, um den mit ihr angestrebten Erfolg noch zu erreichen oder um sicherzustellen, dass er noch innerhalb eines therapeutischen Zeitfensters die benötigte Behandlung erhalten wird. Dies gilt umso mehr, wenn der Beschaffungsvorgang aus der Natur der Sache heraus eines längeren zeitlichen Vorlaufs bedarf und der Zeitpunkt der Entscheidung der Krankenkasse nicht abzusehen ist. § 13 Abs 3 Satz 1 1. Alt SGB V erfasst auch die Fälle, in denen der Versicherte zunächst einen Antrag bei der Krankenkasse stellte, aber wegen Unaufschiebbarkeit deren Entscheidung nicht mehr abwarten konnte (LSG Baden-Württemberg, aaO; Bayerisches LSG, aaO; beide unter Verweis auf BSG, Urteil vom 8. September 2015, B 1 KR 14/14 R, zitiert nach juris). Liegt hingegen nicht nur ein Eilfall in diesem Sinne, sondern (sogar) ein (medizinischer) Notfall im Sinne des § 76 Abs 1 Satz 2 SGB V vor, muss also ein unvermittelt aufgetretener Behandlungsbedarf sofort befriedigt werden, ist der Erstattungstatbestand des § 13 Abs 3 Satz 1 1 Alt. SGB V nicht einschlägig, sondern ausgeschlossen. Der Leistungserbringer erhält seine Vergütung für Notfallleistungen nicht vom (erstattungsberechtigten) Versicherten, sondern bei ambulanter Leistungserbringung von der Kassenärztlichen Vereinigung (aus der Gesamtvergütung, § 85 SGB V) und bei stationärer Leistungserbringung von der Krankenkasse. Vorliegend bestand eine nach § 13 Abs 3 Satz 1 1. Alt SGB V vorausgesetzte Dringlichkeit für die Perückenversorgung der Klägerin nicht. Weder litt diese an unzumutbaren Schmerzen oder an einer sonstigen, die Schwelle der Zumutbarkeit überschreitenden und mit der Perückenversorgung zu behebenden Beeinträchtigung aufgrund einer Behinderung, noch war zur zielführenden Hilfsmittelversorgung nur ein bestimmtes, enges Zeitfenster eröffnet, nach dessen Schließen der Zweck der Perückenversorgung nicht mehr erreichbar gewesen wäre.

3.

Jedoch sind die – bereits oben dargelegten – Voraussetzungen eines Kostenerstattungsanspruchs nach § 13 Abs 3 Satz 1 2. Alt SGB V hier erfüllt.

a)

Der Kostenerstattungsanspruch ist zunächst dem Grunde nach gegeben.

Der Klägerin stand ein Anspruch auf Versorgung mit einer Perücke zu. Dies ist im Grundsatz zwischen den Beteiligten auch nicht umstritten. Dem Sozialgericht ist darin zu folgen, dass sich der Anspruch aus § 27 Abs 1 Satz 1, Satz 2 Nr 5 SGB V in Verbindung mit § 33 Abs 1 Satz 1 3. Var SGB V als Hilfsmittelversorgung zum Zwecke des Behinderungsausgleichs ergibt. Das entspricht der höchstrichterlichen Rechtsprechung, wonach dem Totalverlust des Haupthaares bei einer weiblichen Versicherten unter dem Aspekt der entstellenden Wirkung Krankheitswert im Sinne des § 27 Abs 1 Satz 1 SGB V zukommt (BSG, Urteil vom 22. April 2015, B 3 KR 3/14 R, NZS 2015, 662 ff; vgl auch den Krankheitsbegriff zugunsten des Behinderungsbegriffs dahingestellt sein lassend: BSG, Urteil vom 23. Juli 2002, B 3 KR 66/01 R, Breith 2003, 6 ff). Der Senat pflichtet dem Sozialgericht auch darin bei, dass insoweit ein Fall des mittelbaren Behinderungsausgleichs vorliegt. Dafür spricht, dass der Haarersatz nicht den körperfunktionalen Hauptzweck des bei der Klägerin dauerhaft und vollständig ausgefallenen Haupthaares – die Temperaturregulierung am Kopf bzw auf der Kopfhaut – ersetzen soll, sondern das Ziel der Hilfsmittelversorgung nach der Rechtsprechung des BSG vielmehr darin besteht, der betroffenen Versicherten die Teilhabe am gesellschaftlichen Leben zu gewährleisten, indem sie sich unbefangen – und mithin nicht kahlköpfig – im Alltag in der Gemeinschaft bewegen können soll. Da mithin ein Körperersatzstück eine Teilhabe der von Kahlköpfigkeit betroffenen Versicherten am Leben in der Gemeinschaft sicherstellen soll (was das BSG in diesem Zusammenhang der Leistungspflicht der GKV zuweist, obgleich die GKV nach § 5 Sozialgesetzbuch Neuntes Buch [SGB IX] in Verbindung mit § 6 Abs 1 Nr 1 SGB IX kein Rehabilitationsträger für Leistungen zur sozialen Teilhabe ist), kann denklogisch nur ein mittelbarer Ausgleich der sozialen Teilhabebeeinträchtigung erzielt werden. Denn die Nutzung einer Perücke führt nicht unmittelbar zur sozialen Integration einer Versicherten. Auch in der Rechtsprechung wird die Perückenversorgung bei Haarverlust überwiegend als Fall des mittelbaren Behinderungsausgleichs angesehen (vgl SG Frankfurt, Urteil vom 16. Januar 2020, S 14 KR 687/17, zitiert nach juris, s. dort Rn 19; bestätigt durch Hessisches LSG, Beschluss vom 11. November 2020, L 8 KR 31/20, zitiert nach juris; SG Augsburg, Urteil vom 20. Februar 2019, S 2 KR 19/18, zitiert nach juris, s. dort Rn 35; bestätigt durch Bayerisches LSG, Beschluss vom 26. Januar 2021, L 4 KR 108/19, zitiert nach juris; LSG Niedersachsen-Bremen, Urteil vom 26. März 2019, L 4 KR 50/16, zitiert nach juris, s. dort Rn 6 zu der – bestätigten – Annahme des SG Osnabrück [Urteil vom 26. November 2015, S 3 KR 286/11], dass ein Fall des mittelbaren Behinderungsausgleichs gegeben sei).

Es ist höchstrichterlich zudem geklärt, dass es sich bei dem vollständigen Haarersatz dienenden Damenperücken nicht um allgemeine Gebrauchsgegenstände des täglichen Lebens im Sinne des § 33 Abs 1 Satz 1 letzter Halbsatz SGB V handelt, weil sie regelmäßig allein von an Kahlköpfigkeit leidenden weiblichen Versicherten genutzt werden (BSG, Urteil vom 23. Juli 2002, B 3 KR 66/01 R, aaO). Zudem sind entsprechende Perücken auch nicht im Sinne des § 34 Abs 4 Satz 1 SGB V durch Verordnung des Bundesgesundheitsministeriums von der Hilfsmittelversorgung in der GKV ausgenommen (vgl Verordnung über Hilfsmittel von geringem therapeutischen Nutzen oder geringem Abgabepreis in der GKV vom 13. Dezember 1989, BGBl I, S. 2237, zuletzt geändert durch Verordnung vom 17. Januar 1995, BGBl I, S. 44, sowie die Übersicht bei Pitz, in juris-PK SGB V, 4. Aufl 2020, § 34 Rn 29 – 31).

Nach Auffassung des Senats richtete sich der primäre Sachleistungsanspruch der Klägerin auf eine Versorgung mit einer Echthaarperücke und erschöpfte sich
– entgegen der Ansicht der Beklagten und des Sozialgerichts – nicht in der Zurverfügungstellung einer Kunsthaarperücke. Das BSG definiert das Ziel des mit der Perückenversorgung intendierten Behinderungsausgleichs in seiner instruktiven Entscheidung vom 23. Juli 2002 (B 3 KR 66/01 R, aaO) wie folgt:

„Somit umfasst der Behinderungsausgleich nur die Versorgung, die notwendig ist, um den Verlust des natürlichen Haupthaares für einen unbefangenen Beobachter nicht sogleich erkennbar werden zu lassen. Denn die freie Bewegung unter den Mitmenschen ist bereits dann gewährleistet; es bedarf dazu keiner kompletten "Nachbildung" des ursprünglichen Aussehens, das ohnehin, insbesondere wenn der Haarverlust wie hier schon jahrelang zurückliegt, nur noch den wenigsten Menschen bekannt und gegenwärtig sein dürfte.  Andererseits ist es auch bei einer möglichst naturgetreuen Rekonstruktion nicht zu verhindern, dass ein geschulter Beobachter den Haarersatz als solchen erkennt. Ein ausreichender Behinderungsausgleich wird bei der Perückenversorgung nicht bereits in Frage gestellt, wenn einige wenige vertraute Personen oder Fachleute das Haupthaar als "künstlich" erkennen. Das wäre erst dann der Fall, wenn dies auch jedem unbefangenen Beobachter nach kurzem Blick auffiele.“

An diesen richterrechtlichen Vorgaben orientiert sich die Frage zu 1. in dem Beweisbeschluss des Senats vom 24. März 2021, die der Sachverständige Krogmann in seinem Gutachten vom 20. September 2021 sinngemäß dahingehend beantwortet hat, dass ein unbefangener Beobachter üblicherweise eine Echthaarperücke für das Eigenhaar der Trägerin halten werde, wohingegen das bei Kunsthaarperücken nur unter bestimmten Bedingungen mit Sicherheit angenommen werden könne (erst kurze Tragezeit, keine starken Einflüsse durch Hitze oder Feuchtigkeit). Um die Erreichung des Behinderungsausgleichs mittels Perücke möglichst sicher und möglichst langfristig zu gewährleisten, erscheint dem Senat unter Zugrundelegung der Ausführungen des Sachverständigen Krogmann – die insoweit schlüssig, nachvollziehbar und in sich widerspruchsfrei sind – die Versorgung der Klägerin mit einer Echthaarperücke angezeigt. Zudem hat das BSG in seinem Urteil vom 22. April 2015 (B 3 KR 3/14 R, aaO) ausdrücklich ausgeführt:

„Die Kahlköpfigkeit hat bei Frauen eine entstellende Wirkung, die zwar nicht zum Verlust oder zur Störung einer motorischen oder geistigen Funktion führt, es einer Frau aber erschwert oder gar unmöglich macht, sich frei und unbefangen unter den Mitmenschen zu bewegen; eine kahlköpfige Frau zieht "naturgemäß" ständig alle Blicke auf sich und wird zum Objekt der Neugier. Dies hat in aller Regel zur Folge, dass sich die Betroffene aus dem Leben in der Gemeinschaft zurückzieht und zu vereinsamen droht. Ihre Teilhabe am Leben in der Gesellschaft ist beeinträchtigt. Deshalb haben unter Kahlköpfigkeit leidende Frauen regelmäßig einen Anspruch gegen ihre Krankenkasse auf Versorgung mit einer Echthaarperücke.“

Vorliegend streitet auch die Langfristigkeit der erforderlichen Versorgung der Klägerin mit Haarersatz für einen auf Zurverfügungstellung einer Echthaarperücke gerichteten Sachleistungsanspruch. Dazu führt das LSG Hamburg in einem Urteil vom 25. Juni 2021 (L 1 KR 162/19, zitiert nach juris, s. dort Rn 25) in zustimmungswürdiger Weise aus:

„Zumindest im Falle der hier vorliegenden Langzeittherapie (…) ist nach Ansicht des Gerichts regelmäßig von der Erforderlichkeit einer Echthaarperücke auszugehen. In diesem Sinne versteht das Gericht die Ausführungen in der genannten Entscheidung des BSG (Urt. v. 22.04.2015 – B 3 KR 3/14 R, Rn. 28). Zudem resultiert dies auch aus dem Wirtschaftlichkeitsgebot in Verbindung mit der deutlich längeren Haltbarkeit einer Echthaarperücke (vgl. Sächsischen LSG, Urt. v. 15.08.2019, L 9 KR 728/17; Sozialgericht Dresden, Gerichtsbescheid v. 18.02.2021 - S 18 KR 304/18). Aus den Entscheidungsgründen des Gerichtsbescheides des Sozialgerichts Dresden (Gerichtsbescheid v. 18.02.2021 - S 18 KR 304/18) ergibt sich unter Auswertung entsprechender fachkundiger Quellen für das Gericht gut nachvollziehbar, dass die Haltbarkeit einer Echthaarperücke deutlich über die einer Kunsthaarperücke hinausgeht (…).“

Dass die Haltbarkeit einer Echthaarperücke über die einer Perücke aus Synthetikhaar hinausreicht, hat wiederum der Sachverständige Krogmann in seinem Gutachten vom 20. September 2021 in schlüssiger Weise dargelegt. Bereits das Sozialgericht hat in seinem angefochtenen Gerichtsbescheid zumindest angedeutet, dass es von einer längeren Haltbarkeit von Echthaarperücken im Vergleich zu Kunsthaarperücken ausgehe. Dieser grundsätzlichen Annahme hat die Beklagte im Berufungsverfahren nicht widersprochen. Daher geht der Senat davon aus, dass – entgegen den Ausführungen des Gutachters T im MDK-Gutachten vom 26. April 2016 – als gesichert gelten kann, dass Echthaarperücken im Vergleich zu Kunsthaarperücken durchschnittlich eine um ein Drittel bis hin zum Doppelten verlängerte „Lebensdauer“ aufweisen.

Daher kommt es letztlich hier nicht darauf an, dass – worauf die Beklagte hingewiesen hat – sich ein Anspruch der Klägerin auf Versorgung mit einer Echthaarperücke nicht bereits aus der hautärztlichen Verordnung vom 16. Mai 2015 ergibt. Es ist richtig, dass eine rechtliche Bindungswirkung einer ärztlichen Verordnung im Verhältnis zur Krankenkasse dergestalt, dass die Kasse nicht berechtigt wäre, die medizinische Erforderlichkeit der verordneten Leistung in Frage zu stellen, nicht besteht (vgl BSG, Urteil vom 24. September 2002, B 3 KR 2/02 R, zitiert nach juris; Urteil vom 30. März 2000, B 3 KR 23/99 R, BSGE 86, 101 ff). Indes ergibt sich der Primäranspruch der Klägerin auf Zurverfügungstellung einer Echthaarperücke bereits aus den vorstehenden Erwägungen, unabhängig von der vorliegenden Verordnung – deren Aussagekraft im Übrigen ohnehin fragwürdig erscheint, weil sie zwar keine Diagnose der Erkrankung der Klägerin aufweist, dafür aber die handschriftliche Änderung des Wortes „Kunsthaar“ in „Echthaar“.

Dem ursprünglichen Sachleistungsanspruch der Klägerin auf Versorgung mit einer Echthaarperücke steht hier nicht entgegen, dass die Leistungserbringerin – die Schönfeld GmbH als Betreiberin des Unternehmens „E“ – im maßgeblichen Zeitraum vor der Selbstbeschaffung der Perücke durch die Klägerin am 14. Juli 2015 nicht durch einen Versorgungsvertrag im Sinne des § 127 SGB V – hier anzuwenden idF des GKV-Versorgungsstrukturgesetzes <GKV-VStG> vom 22. Dezember 2011, BGBl. I, S 2983 ff; im folgenden: aF – mit der Beklagten verbunden war. Zwar dürfen Hilfsmittel nach § 126 Abs 1 Satz 1 SGB V nur auf der Grundlage von Verträgen nach § 127 Abs 1, 2 und 3 SGB V aF an Versicherte abgegeben werden, wobei § 126 Abs 1 Satz 2 SGB V die Anforderungen an für die Krankenkasse überhaupt nur in Betracht kommende Leistungserbringer dahin aufstellt, dass diese Leistungserbringer die Voraussetzungen für eine ausreichende, zweckmäßige und funktionsgerechte Herstellung, Abgabe und Anpassung der Hilfsmittel erfüllen müssen. Diese Systematik im Leistungserbringerrecht wirkt sich über § 33 Abs 6 SGB V auch auf die Ebene des Leistungsrechts aus. Nach Satz 1 der Vorschrift können Versicherte im Zuge der Hilfsmittelversorgung alle Leistungserbringer in Anspruch nehmen, die Vertragspartner ihrer Krankenkasse sind – woraus im Umkehrschluss der Grundsatz folgt, dass es Versicherten verwehrt ist, sich von Leistungserbringern Hilfsmittel zu verschaffen, die nicht im Wege von Versorgungsverträgen (in Betracht kommen im Wege der wettbewerbsrechtlichen Ausschreibung zustande gekommene Verträge nach § 127 Abs 1 SGB V aF, „klassische“ Versorgungsverträge, die die Krankenkasse regelmäßig mit Verbänden von Leistungserbringern vereinbaren, gemäß § 127 Abs 2 SGB V aF sowie Einzelverträge anlässlich eines konkreten Versorgungsvorgangs nach § 127 Abs 3 SGB V) mit ihrer Krankenkasse verbunden sind (vgl auch Pitz, aaO, § 33 Rn 134, wonach Versicherte ausdrücklich „nur“ solche Leistungserbringer wählen dürfen, die Vertragspartner ihrer Krankenkasse sind, und unter Hinweis auf die korrelierende Hinweispflicht der Krankenkasse gegenüber ihren Versicherten bezüglich der zur Versorgung berechtigten Leistungserbringer nach

§ 127 Abs 5 SGB V). Demgemäß wird in der Rechtsprechung davon ausgegangen, dass eine Krankenkasse aus § 126 Abs 1 Satz 1 SGB V gegenüber einem Leistungserbringer, mit dem ein Versorgungsvertrag nach § 127 SGB V nicht besteht, die Unterlassung der Annahme von ärztlichen Verordnungen verlangen kann, mit welchen Versicherten eine bestimmte Hilfsmittelversorgung verordnet wurde (SG Nürnberg, Beschluss vom 12. Mai 2014, S 11 KR 55/14 ER, zitiert nach juris). Auch die Möglichkeit, nach § 127 Abs 3 SGB V einzelfallbezogene Versorgungsverträge abschließen zu können, berechtigt nicht generell zu einer Beteiligung von nicht vertraglich zugelassenen Leistungserbringern an der Hilfsmittelversorgung (SG Nürnberg, aaO).

Die mangelnde Berechtigung der von der Klägerin zur Verschaffung der Perücke herangezogenen Leistungserbringerin wirkt sich vorliegend aber nicht zu Lasten der Klägerin aus. Die Beklagte hatte im hier interessierenden Jahr 2015 nicht nur keinen Versorgungsvertrag mit der Betreiberin des Unternehmens „E “ abgeschlossen (etwa weil diese Leistungserbringerin die Voraussetzungen nach § 126 Abs 1 Satz 2 SGB V nicht erfüllt hätte), sondern hatte mit überhaupt keinem Haarersatz-Dienstleister einen Versorgungsvertrag nach

§ 127 SGB V abgeschlossen. Vielmehr akzeptierte die Beklagte regelhaft die Inanspruchnahme von nicht vertraglich gebundenen Leistungserbringern durch ihre Versicherten und befand sodann im Wege einer „Einzelfallentscheidung“ über die Kostenübernahme für den jeweiligen Versorgungsvorgang. Diese Verwaltungspraxis stellt eine durch die Beklagte begangene Verletzung ihrer aus § 127 SGB V folgenden Verpflichtung zum Abschluss von Versorgungsverträgen mit Leistungserbringern dar (vgl zu der den Krankenkassen obliegenden Pflicht zum Abschluss von Versorgungsverträgen: Schneider, in jurisPK-SGB V, 4. Aufl 2020, § 127 Rn 29).

Im Verhältnis zur Klägerin stellt sich diese Pflichtverletzung der Beklagten als ein Versagen des Versorgungssystems der GKV dar. Die Krankenkassen haben gegenüber den bei ihr Versicherten dafür einzustehen, dass das krankenversicherungsrechtliche Naturalleistungssystem, dem sie eingegliedert sind und das sie gegenüber dem Versicherten rechtlich repräsentieren, bestehende Sach- und Dienstleistungsansprüche erfüllen kann. Dieser Garantiehaftung der einzelnen Krankenkasse für das gesetzliche Leistungssystem entspricht spiegelbildlich, dass die dem Versicherten nach den Vorschriften des SGB V durch zugelassene Leistungserbringer erbrachten Leistungen befreiende Wirkung für die zuständige Krankenkasse haben (BSG, Urteil vom 16. Dezember 1993, 4 RK 5/92, BSGE 73, 271 ff). Wird eine Krankenkasse ihrer dadurch beschriebenen Garantenfunktion für die Funktionsfähigkeit der GKV gegenüber ihren Versicherten nicht gerecht, liegt ein Systemversagen vor. Mit der Rechtsfigur des Systemversagens soll der Ausnahmefall des Versagens des Sachleistungssystems der gesetzlichen Krankenversicherung rechtsfolgenmäßig gelöst werden. Ein Systemversagen wird im Allgemeinen angenommen, wenn die Krankenkasse eine geschuldete Leistung wegen eines Mangels im Versorgungssystem der gesetzlichen Krankenversicherung dem Versicherten nicht oder zumindest nicht in der gebotenen Zeit zur Verfügung stellen kann (Hessisches LSG, Urteil vom 28. April 2011, L 8 KR 313/08, NZS 2012, 20 ff). Das SGB V selbst kennt den Begriff des Systemversagens freilich nicht, weshalb eine gesetzliche Definition des Begriffes nicht vorliegt; auch eine gefestigte höchstrichterliche Konturierung des Systemversagen fehlt bislang. In der Rechtsprechung des BSG wurde ein Systemversagen aber angenommen bei konkretem oder generellem Unvermögen des Leistungssystems (Urteil vom 16. Dezember 1993, 4 RK 5/92, aaO), zögerlicher oder willkürlicher Bearbeitung eines Antrags durch die Krankenkasse (Urteil vom 8. November 2011, B 1 KR 19/10 R, zitiert nach juris), wenn eine ausreichend erprobte bzw bewährte Untersuchungs- oder Behandlungsmethode trotz Erfüllung der formalen und inhaltlichen Voraussetzungen aus Gründen, die in den Verantwortungsbereich der Ärzte und Krankenkassen fallen – etwa weil das Verfahren vor dem Gemeinsamen Bundesausschuss (GBA) von den antragsberechtigten Stellen bzw dem GBA selbst überhaupt nicht, nicht zeitgerecht oder nicht ordnungsgemäß durchgeführt wurde – noch nicht in die Richtlinien des GBA aufgenommen wurde (Urteile vom 28. März 2000, B 1 KR 11/98 R, und vom 4. April 2006, B 1 KR 12/05 R, beide veröffentlicht in juris), wenn die Auslegung des SGB V, die mit dem europarechtlichen Diskriminierungsverbot unvereinbar war, bei der Versorgung der Leistungsberechtigten zu einer Bevorzugung der im Inland zugelassenen Leistungserbringer führte (Urteil vom 13. Juli 2004, B 1 KR 11/04 R, zitiert nach juris), wenn mangels einer hinreichenden Zahl von Therapeuten eine Versorgunglücke besteht (Urteil vom 18. Juli 2006, B 1 KR 24/05 R, zitiert nach juris) und wenn Ärzte oder Zahnärzte in einer Region in der von § 95b Abs 1 SGB V bezeichneten Form aus der Versorgung ausscheiden und die Krankenkassen in den vom Kollektivverzicht betroffenen Leistungsbereichen ihrer Sicherstellungsverpflichtung nicht umgehend nachkommen können (Urteil vom 27. Juni 2007, B 6 KA 37/06 R, SGb 2008, 235 ff). Diese Übersicht verdeutlicht, dass ein anspruchsbegründendes Systemversagen zumindest voraussetzt, dass der „Fehler“ im Verantwortungsbereich einer der Institutionen des GKV-Systems, also zB der Krankenkassen oder des GBA oder der Zulassungsgremien (§ 96, § 97 SGB V), liegt (LSG Berlin-Brandenburg, Urteil vom 27. Juni 2007, L 9 KR 244/11, zitiert nach juris, s. dort Rn 19 f).

er vorliegend für das Jahr 2015 zu beobachtende Zustand, dass es den bei der Beklagten krankenversicherten Mitgliedern (und mithin auch der Klägerin) nicht möglich war, sich zugelassener Leistungserbringer im Rahmen der Hilfsmittelversorgung zu bedienen – und sich somit das benötigte Hilfsmittel innerhalb des Versorgungssystems der GKV zu beschaffen –, weil es die Beklagte pflichtwidrig unterlassen hatte, Versorgungsverträge nach § 127 SGB V mit die gesetzlichen Anforderungen des § 126 Abs 1 Satz 2 SGB V erfüllenden Leistungserbringern abzuschließen, stellt sich als ein Fall des allgemeinen Unvermögens des Leistungssystems dar (vgl zum Nichtabschluss eines Versorgungsvertrages als Fall des Systemversagen auch LSG Nordrhein-Westfalen, Beschluss vom 30. März 2009, L 16 B 15/09 KR ER, zitiert nach juris). Rechtsfolge eines solchen Systemversagens ist, dass der betroffene Versicherte ausnahmsweise befugt ist, sich die für ihn innerhalb des Leistungssystems der GKV – systemwidrig – nicht erreichbare Leistung selbst zu beschaffen und sich die aufgewendeten Kosten hernach erstatten zu lassen. Hier besteht eine inhaltliche Nähe zum Kostenerstattungsanspruch nach § 13 Abs 3 SGB V, weshalb der Kostenerstattungsanspruch zum Teil – sehr weitgehend – als Regelung verstanden wird, die dem Zweck dienen soll, Lücken in dem durch das Sachleistungssystem der gesetzlichen Krankenversicherung garantierten Versicherungsschutz, die durch ein Systemversagen entstanden sind, zu schließen (so Hessisches LSG, aaO). Hier – im Rahmen der Prüfung des Bestehens eines primären Sachleistungsanspruchs der Klägerin auf Versorgung mit einer Echthaarperücke – muss jedenfalls und unabhängig von der dogmatischen Einordnung des § 13 Abs 3 SGBV festgehalten werden, dass der ursprüngliche Sachleistungsanspruch (als Voraussetzung eines nachgehenden Kostenerstattungsanspruchs) nicht deshalb verneint werden kann, weil es die Beklagte pflicht- und systemwidrig unterlassen hat, mit der von der Klägerin in Anspruch genommenen Leistungserbringerin und auch mit sämtlichen übrigen auf dem Zweithaarmarkt tätigen Leistungserbringern in S einen Versorgungsvertrag gemäß § 127 SGB V abzuschließen.

Daraus folgt, dass sich der Bescheid der Beklagten vom 10. Juli 2015 in Gestalt des diesbezüglichen Widerspruchsbescheides insoweit als unrechtmäßig im Sinne des § 13 Abs 3 Satz 1 2. Alt SGB V darstellt, als die Beklagte damit einen Anspruch der Klägerin auf Versorgung mit einer Echthaarperücke abgelehnt hat.

Dem von der Klägerin verfolgten Kostenerstattungsanspruch steht – dem Grunde nach – auch nicht entgegen, dass die Klägerin etwa den insoweit zu beachtenden Beschaffungsweg nicht eingehalten hätte bzw es an der Kausalität zwischen der rechtswidrigen teilweisen Leistungsablehnung durch die Beklagte und der Entstehung der Kostenlast auf Seiten der Klägerin mangelte.

Ein Versicherter hält nur dann den gesetzlichen Beschaffungsweg ein und ist berechtigt, gemäß § 13 Abs 3 Satz 1 2. Alt SGB V nach Selbstbeschaffung einer Leistung von seiner Krankenkasse Kostenerstattung zu fordern, wenn er sich die Leistung besorgt hat, nachdem er zuvor die Krankenkasse eingeschaltet und ihre Entscheidung abgewartet hat (BSG, Urteil vom 14. Dezember 2006, B 1 KR 8/06 R, BSGE 98, 26 ff; Beschluss vom 15. April 1997, 1 BK 31/96, SozR 3-2500 § 13 Nr 15), wobei grundsätzlich die Bekanntgabe der ersten Ablehnungsentscheidung ausreicht und es nicht erforderlich ist, dass der Versicherte die Entscheidung der Krankenkasse über den Widerspruch gegen die Leistungsablehnung abwartet (Helbig, in jurisPK-SGB V, 4. Aufl 2020, § 13 Rn 66). Die Klägerin hat sich die streitbefangene Perücke am 14. Juli 2015 selbst beschafft. Unter der Annahme, dass der Ausgangsbescheid der Beklagten vom 10. Juli 2015 noch an jenem Tage auf den Postweg gelangt ist – und deshalb gemäß § 37 Abs 2 Satz 1 Zehntes Buch Sozialgesetzbuch (SGB X) in Verbindung mit § 39 Abs 1 Satz 1 SGB X am 13. Juli 2015 gegenüber der Klägerin wirksam geworden ist –, erfolgte die Selbstbeschaffung hier nach der auf einen höheren Betrag als 350,00 EUR bezogenen Teil-Ablehnung des Leistungsantrags durch die Beklagte.

Für einen Kostenerstattungsanspruch nach § 13 Abs 3 Satz 1 2. Alt SGB V besteht nach ständiger Rechtsprechung zudem das strenge Erfordernis eines Kausalzusammenhangs zwischen dem die Haftung der Krankenkasse begründenden Umstand und dem Nachteil (Kostenlast) des Versicherten. Das BSG begründet dies systematisch (Verhältnis zu § 13 Abs. 1 SGB V, Unterscheidung zwischen unaufschiebbaren und sonstigen Leistungen), teleologisch (Schutzzweck des Sachleistungsgrundsatzes) und mit dem Wortlaut („dadurch“; vgl BSG, Urteil vom 24. September 1996, 1 RK 33/95, NJW 1997, 1661 f; Beschluss vom 15. April 1997, 1 BK 31/96, aaO). An einem Ursachenzusammenhang fehlt es, wenn der Versicherte sich zwar vor der Leistungsinanspruchnahme an die Krankenkasse gewandt hatte, er aber unabhängig von deren Entscheidung auf eine bestimmte Leistung festgelegt und entschlossen ist, sich diese im Ablehnungsfalle selbst zu beschaffen (BSG, Urteil vom 8. September 2015, B 1 KR 14/14 R, aaO). Für eine solche Vorfestlegung der Klägerin liegen hier keine Anhaltspunkte vor.

b)

Schließlich steht der Klägerin der von ihr verfolgte Kostenerstattungsanspruch auch in der Höhe des eingeklagten Betrages zu.

Nach § 13 Abs 3 Satz 1 2. Alt SGB V sind die für die Selbstbeschaffung aufgewendeten Kosten „in der entstandenen Höhe“ – mithin in ihrem tatsächlichen Umfang – von der Krankenkasse zu erstatten, wobei dieser Umfang aber mit dem letzten Halbsatz des § 13 Abs 3 Satz 1 SGB V dahingehend begrenzt wird, dass die entstandenen Kosten nur soweit zu erstatten sind, wie die Leistung notwendig war. Daraus folgt als Grundsatz, dass die dem Versicherten tatsächlich entstandenen Kosten in voller Höhe zu erstatten sind (Helbig, aaO, § 13 Rn 81); insbesondere darf die Krankenkasse bei ärztlicher Behandlung die Kostenerstattung nicht generell auf die von ihr sonst im Rahmen der Gesamtvergütung zu leistenden Beträge (sog Kassensätze) begrenzen (dazu BSG, Urteil vom 24. Mai 2007, B 1 KR 18/06 R, SGb 2008, 305 ff) und im Rahmen der Arznei- und Hilfsmittelversorgung dürfen die Versicherten „nicht stets“ auf geltende Festbeträge verwiesen werden (Noftz, in Hauck/Noftz, SGB, Werksstand 07/2019, § 13 SGB V, Rn 57). Versicherte, denen ihre Krankenkasse rechtswidrig Leistungen verwehrt, sind nicht prinzipiell auf die Selbstbeschaffung der Leistungen bei zugelassenen Leistungserbringern verwiesen (BSG, Urteil vom 11. September 2012, B 1 KR 3/12 R, BSGE 111, 289 ff). Will die Krankenkasse Mehrkosten vermeiden, die bei einer Selbstbeschaffung außerhalb des Naturalleistungssystems entstehen, obliegt es ihr, die Versicherten ggf auf konkrete günstigere Möglichkeiten hinweisen (BSG, aaO; Helbig, aaO).

Dieser Grundsatz wird aber durch die ständige Rechtsprechung des BSG modifiziert, wonach der Kostenerstattungsanspruch nach § 13 Abs 3 SGB V aus teleologischen Gründen auf eine Höhe beschränkt sein muss, die der Leistung entspricht, zu welcher die Krankenkasse im Falle rechtmäßiger Leistungserbringung verpflichtet gewesen wäre. Der Versicherte soll so gestellt werden, als hätte die Krankenkasse die Sachleistung rechtzeitig zur Verfügung gestellt (Helbig, aaO, § 13 Rn 82). Dies folgt aus der „Schadensersatznatur“ des Kostenerstattungsanspruchs, deren Zweck darin besteht, die Versicherten von den Aufwendungen freizustellen, die ihnen speziell wegen der nicht rechtzeitigen bzw zu Unrecht abgelehnten Leistungserbringung entstanden sind (vgl dazu BSG, Urteil vom 16. Dezember 1993, 4 RK 5/92, aaO). Das die Erstattungspflicht auslösende Verhalten der Krankenkasse muss die wesentliche Bedingung bzw Ursache für die von dem Versicherten gegenüber einem Leistungserbringer eingegangenen finanziellen Verpflichtung und deren Umfang sein (Noftz, aaO). Daran fehlt es, wenn und soweit die Versicherten mehr aufwenden, als den Leistungserbringern (zB nach der GOÄ, vgl insbes. deren §§ 2 Abs 1; 5; 6 Abs 2; 10 Abs 1) rechtmäßig zusteht (BSG, Urteil vom 23. Juli 1998, B 1 KR 3/97 R, NZS 1999, 187 f).

Letztgenannter Gesichtspunkt spricht hier zwar für eine Begrenzung der Höhe des Kostenerstattungsanspruchs auf einen (Durchschnitts-) Preis, der von der Klägerin im Jahr 2015 zur Beschaffung einer den von der Beklagten geschuldeten Behinderungsausgleich erreichenden (Echthaar-) Perücke aufzuwenden gewesen wäre (auf einen Durchschnittspreis bei Fehlen einer Vergütungsvereinbarung abstellend auch BSG, Urteil vom 16. Dezember 1993, 4 RK 5/92, aaO). Dabei dürfte davon auszugehen sein, dass der erforderliche Behinderungsausgleich im Sinne des § 33 Abs 1 Satz 1 SGB V schon durch die Nutzung einer Kurzhaar-Perücke erreicht worden wäre und sich der ursprüngliche Sachleistungsanspruch der Klägerin mithin auch lediglich auf eine solche Perücke bezog. Die von der Klägerin gewählte Ausstattung mit einer eine mittel- bzw schulterlange Haarlänge aufweisenden Perücke dürfte sich mithin als eine das Maß des Notwendigen überschreitende Überversorgung darstellen. Denn das BSG führt zur Reichweite des Hilfsmittelanspruchs auf Perückenversorgung in seinem Urteil vom 23. Juli 2002 (B 3 KR 66/01 R, aaO) aus:

„Die Teilhabe am gesellschaftlichen Leben setzt bei einer Frau nicht voraus, dass ihr ursprüngliches Aussehen durch die Perücke so weit wie möglich wiederhergestellt wird; Ziel der Hilfsmittelversorgung ist nicht die möglichst umfassende Rekonstruktion des verloren gegangenen früheren Zustands ("Naturalrestitution"), sondern nur die Gewährleistung der Teilhabe am gesellschaftlichen Leben. Daraus folgt, dass auch der Wunsch der Versicherten nach einer bestimmten Frisur dann nicht maßgeblich ist, wenn er - wie hier -  mit Mehrkosten verbunden ist. Somit umfasst der Behinderungsausgleich nur die Versorgung, die notwendig ist, um den Verlust des natürlichen Haupthaares für einen unbefangenen Beobachter nicht sogleich erkennbar werden zu lassen. Denn die freie Bewegung unter den Mitmenschen ist bereits dann gewährleistet; es bedarf dazu keiner kompletten "Nachbildung" des ursprünglichen Aussehens, das ohnehin, insbesondere wenn der Haarverlust wie hier schon jahrelang zurückliegt, nur noch den wenigsten Menschen bekannt und gegenwärtig sein dürfte.“

Legte man die von dem Sachverständigen K in seinem Gutachten vom 20. September 2021 dargelegten Preisspanne zwischen 1.050,00 EUR und 1.300,00 EUR (Circa-Werte) für eine Kurzhaarperücke aus Echthaar im Jahr 2021 sowie eine jährliche Teuerungsrate von durchschnittlich 3 % für Echthaarperücken seit 2012 (dies legen die von dem Sachverständigen übermittelten, von diesem bei Zweithaarausstattern eingeholten Auskünfte über die Preissteigerungsraten nahe) ergäbe sich ein gemittelter Durchschnittswert in Höhe von 978,75 EUR für die Beschaffung einer Kurzhaarperücke aus Echthaar im Jahr 2015. Ob die von dem Sachverständigen behaupteten Preise in einer Weise nachvollziehbar und schlüssig erscheinen, dass sie geeignet sind, die tatsächliche Grundlage eines Urteils zu bilden, bleibt hier indes ausdrücklich dahingestellt.

Denn der Senat geht nicht von einer Begrenzung des Kostenerstattungsanspruchs der Klägerin auf einen für das Jahr 2015 anzunehmenden Durchschnittspreis aus. Die Höhe des Kostenerstattungsanspruchs ist nämlich nicht rigoros und ausnahmslos auf den Betrag zu begrenzen, der dem Versicherten im Falle einer rechtmäßigen Leistungsbewilligung zugestanden hätte; vielmehr ist bei der – erzwungenen – Selbstbeschaffung wegen eines Systemversagens zugunsten der Versicherten eine wertende Risikoverteilung vorzunehmen. Es ist die mit der notwendigen Selbstbeschaffung verbundene Verschiebung des Beschaffungsrisikos zu berücksichtigen und adäquat zu begrenzen. Die Versicherten trifft hier – als Schadensminderungspflicht – die (im Krankenversicherungsverhältnis angelegte Neben-) Pflicht zu wirtschaftlichem Verhalten (§ 2 Abs 4 SGB V) lediglich in eingeschränkter Form; sie haben nur Vorsatz und grobe Fahrlässigkeit zu vertreten (Noftz, aaO). Bei Anlegung dieses – großzügigeren – Maßstabes kommt eine Begrenzung des Kostenerstattungsanspruchs der Klägerin auf den durchschnittlichen Beschaffungspreis einer Kurzhaarperücke aus Echthaar im Jahr 2015 nicht in Betracht. Denn dass die Klägerin bei Eingehung (und Begleichung) einer Verbindlichkeit in Höhe von insgesamt 1.485,00 EUR für die Selbstbeschaffung der erworbenen Perücke die erforderliche Sorgfalt in besonders schwerem Maße verletzt hat und im Hinblick auf den von der Leistungserbringerin in Rechnung gestellten Betrag einfachste, ganz naheliegende Überlegungen nicht angestellt bzw unbeachtet gelassen hätte, was im gegebenen Fall jedem hätte einleuchten müssen (vgl zum Begriff der groben Fahrlässigkeit: BSG, Urteil vom 11. April 2002, B 3 KR 46/01 R, SozR 3-5425 § 25 Nr 15), lässt sich – gerade unter Berücksichtigung der Schwierigkeiten, die in den vergangenen Jahren in der Sozialgerichtsbarkeit im Hinblick auf die Ermittlung der Beschaffungspreise für Perücken zu beobachten waren – nicht feststellen. Gleiches gilt im Hinblick auf die Haarlänge der von der Klägerin gewählten Perücke. Irgendwelche sofort ins Auge fallenden Extravaganzen sind insoweit nicht auszumachen. Eine Begrenzung des Kostenerstattungsanspruchs der Höhe nach war hier mithin nicht vorzunehmen.

III .

Die Kostenentscheidung beruht auf § 193 Abs 1 Satz 1 SGG und entspricht billigem Ermessen, weil sie sich am Ausgang des Verfahrens in der Hauptsache orientiert.

 

IV .

Gründe, die gemäß § 160 Abs 2 SGG die Zulassung der Revision erforderten, sind nicht gegeben.

Rechtskraft
Aus
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