L 5 KR 477/21

Land
Freistaat Bayern
Sozialgericht
Bayerisches LSG
Sachgebiet
Krankenversicherung
1. Instanz
SG München (FSB)
Aktenzeichen
S 44 KR 1813/19
Datum
2. Instanz
Bayerisches LSG
Aktenzeichen
L 5 KR 477/21
Datum
3. Instanz
-
Aktenzeichen
-
Datum
-
Kategorie
Urteil
Leitsätze

1. Ist der Schverhalt nicht ermittelt, kann auf die Berufung gegen einen Gerichtsbescheid die Sache an das Sozialgericht zurückverwiesen werden.
2. Zur Ermessensausübung bei Zurückverweisung.

 

I. Auf die Berufung der Klägerin wird der Gerichtsbescheid des Sozialgerichts München vom 07.09.2021 aufgehoben und der Rechtsstreit zur erneuten Verhandlung und Entscheidung an das Sozialgericht München zurückverwiesen.

II. Die Kostenentscheidung bleibt der Entscheidung des Sozialgerichts vorbehalten.

III. Die Revision wird nicht zugelassen.


T a t b e s t a n d :

Streitig ist ob die Klägerin für Gesamtsozialversicherungsbeiträge für von ihr entliehene Arbeitnehmer der G Zeitarbeitsagentur GmbH (im Folgenden: "G") in der Zeit vom 01.06.2016 bis 30.09.2016 haftet.
 
Die Klägerin ist unter anderem im Bereich der Bewirtung/Catering von Flüchtlingsunterkünften in den Städten M, I und der Regierung von O tätig. Sie beschäftigte im streitgegenständlichen Zeitraum Leiharbeitnehmer der "G", die nach dem Eintrag im Handelsregister gewerbsmäßige Arbeitnehmerüberlassung und Personalvermittlung sowie die Verwaltung eigenen Vermögens betrieb. Die Arbeitnehmer stammten aus Kroatien wurden dort für die Arbeit in Deutschland angeworben von einer Mitarbeiterin der Firma M mit Sitz in Kroatien. Entsendebescheinigungen haben nicht vorgelegen. Die M stellt sich als Vermittler- und Anwerbefirma dar. Zunächst waren die Arbeitnehmer beschäftigt bei der O GmbH (im Folgenden: "O"), die die Arbeitnehmer ohne die hierfür erforderliche Erlaubnis an die Klägerin verlieh. Ab Juni 2016 übernahm die "G" diese Beschäftigten und verlieh sie wiederum an die Klägerin. Die "G" selbst verfügte Anfang Juni 2016 ebenfalls nicht über eine gültige Erlaubnis zur Arbeitnehmerüberlassung. In der Folge kaufte sie im Laufe des Juni 2016 die Geschäftsanteile der S GmbH, die ihrerseits eine Erlaubnis zur Arbeitnehmerüberlassung innehatte. Ab 1.10.2016 war die Klägerin selbst Arbeitgeberin der betroffenen Beschäftigten.

Die "G" war eingetragen im Handelsregister des Amtsgerichts H unter der Nummer HRB xxx und wurde am 28.03.2018 wegen Vermögenslosigkeit von Amts wegen gelöscht. Daraufhin führte die Deutsche Rentenversicherung Bund eine Betriebsprüfung durch, sicherte Unterlagen über den Verleih von Arbeitnehmern in Form von Rechnungen und Stundenaufzeichnungen und stellte mit Bescheid vom 13.06.2018 gegenüber der "G" Beitragsnachforderungen zur Sozialversicherung fest für den Zeitraum vom 01.06.2016 bis zum 31.10.2016. Bis einschließlich September 2016 habe die "G" Arbeitnehmer an die Klägerin verliehen. Eine wirksame Entsendung der Arbeitnehmer aus Kroatien habe aufgrund der fehlenden Entsendebescheinigung nicht vorgelegen. Die Löhne der Mitarbeiter seien teilweise über das Geschäftskonto der "G" und teilweise in verschlossenen Umschlägen ausgezahlt worden. Im Anschluss an den streitgegenständlichen Zeitraum habe die Antragstellerin einzelne Arbeitnehmer von der "G" übernommen.

Mit Schreiben vom 13.06.2018 forderte die Deutsche Rentenversicherung Bund die Beklagte auf, die Klägerin als Entleiher für die nicht entrichteten Gesamtsozialversicherungsbeiträge in Haftung zu nehmen. Zugleich übersandte sie an die Beklagte den an die "G" gerichteten Betriebsprüfungsbescheid und teilte mit, dass der Adressat des Bescheides zum Zeitpunkt des Erlasses des Bescheides nicht mehr existent gewesen sei.

Die Beklagte forderte mit Bescheid vom 12.07.2018 zunächst die Klägerin zur Zahlung von angefallenen Gesamtsozialversicherungsbeiträgen einschließlich Säumniszuschlägen in Höhe von 37.897,59 Euro auf. Beigefügt war der Betriebsprüfungsbescheid der Beigeladenen zu 1).
 
Die Klägerin erhob dagegen Widerspruch, weil die Voraussetzungen des § 28 e Abs. 2 SGB IV nicht erfüllt seien. Im Rahmen des Betriebsprüfungsbescheides gegenüber der "G" seien weder die Klägerin, noch die "G", noch deren möglicher Insolvenzverwalter vorher angehört worden. Eine wirksame Zustellung des Betriebsprüfungsbescheides sei nicht erfolgt. Zudem sei der Geschäftsführer der "G" nicht vorrangig mit der Durchgriffshaftung in Anspruch genommen worden. Die Klägerin sei Betrugsopfer der "G" geworden und habe keinerlei Kenntnis von deren Vorgehensweise gehabt.

Die Beklagte wies den Widerspruch zurück mit Widerspruchsbescheid vom 15.04.2019. Es habe eine Arbeitnehmerüberlassung vorgelegen, der Verleiher habe die Sozialversicherungsbeiträge nicht ordnungsgemäß abgeführt. Eine Mahnung des Verleihers sei vor Inanspruchnahme der Klägerin nicht erfolgt, da jener bereits im Handelsregister gelöscht gewesen sei. Mit Bescheid vom 18.10.2018 sei der ehemalige faktische Geschäftsführer nach § 823 Abs. 2 BGB i.V.m. § 266a StGB in Höhe von 28.626,71 € in Anspruch genommen worden.

Auch gegen weitere Haftungsbescheide erhob die Antragstellerin Widerspruch. Soweit diese inzwischen mit Widerspruchsbescheid zurückgewiesen wurden, hat sie jeweils Klagen erhoben zum Sozialgericht München.

Ein Verfahren im einstweiligen Rechtsschutz ist ohne Erfolg geblieben (AZ S 39 KR 1848/18 ER, Beschluss vom 26.09.2019, L 5 KR 584/19 B ER, Beschluss vom 27.04.2020).

Mit Schriftsatz vom 14.05.2019 hat die Klägerin eine Untätigkeitsklage in Sachen Betriebsprüfung kombiniert mit einer Klage gegen den Bescheid vom 12.06.2018/Widerspruchsbescheid vom 15.04.2019 erhoben (Gemeinsames AZ: S 30 BA 151/19 - die Untätigkeitsklage ist nach Erlass des vom 08.11.2019 auf eine Anfechtungsklage umgestellt). Das Sozialgericht hat aus diesem Verfahren hier vorliegende Klageverfahren abgetrennt und einem Spruchkörper zugewiesen mit Zuständigkeit für Streitigkeiten nach dem SGB V.

Während des Klageverfahrens hat die Klägerin an die Beklagte 50.127,50 € gezahlt und am 25.05.2021 die Klage S 30 BA 151/19 umgestellt auf eine Fortsetzungsfeststellungsklage. Im vorliegenden Verfahren hat das Sozialgericht nach Zustimmung der Beteiligten am 07.09.2021 im Wege des Gerichtsbescheids entschieden und die Klage abgewiesen. Über den Widerspruch gegen den Betriebsprüfungsbescheid sei noch nicht entschieden. Es habe eine legale Arbeitnehmerüberlassung vorgelegen. Die Klägerin hafte für die nicht gezahlten Sozialversicherungsbeiträge. Da die "G" zum Zeitpunkt des Erlasses des Betriebsprüfungsbescheids bereits im Handelsregister gelöscht gewesen sei, habe ihr dieser Bescheid nicht bekannt gegeben werden können. Eine Inanspruchnahme der "G" sei daher ebenfalls nicht möglich gewesen. Da sich die Klageumstellung nicht in dem Gerichtsbescheid widerspiegele sowie aus weiteren Gründen hat die Klägerin Tatbestandsberichtigung beantragt. Diesen Antrag hat das SG mit Beschluss vom 29.09.2021 abgelehnt.

Gegen den Gerichtsbescheid vom 07.09.2021 richtet sich die Berufung der Klägerin mit der sie Verfahrensfehler rügt sowie viertiefend geltend macht, dass sie nicht als zahlungsverpflichtet zu betrachten sei.

Unter dem 19.11.2021 hat die Beigeladene zu 2) mitgeteilt, dass die ehemalige S GmbH ausweislich einer Mitteilung vom 27.06.2016 erst am 10.06.2016 veräußert wurde. Dies entspreche auch dem Geschäftsanteilskauf- und abtretungsvertrag vom 10.06.2016. Insoweit hätten die verantwortlich handelnden Personen erlaubte Arbeitnehmerüberlassung vor dem 10.06.2021 nicht betreiben können. Die "O" habe unter dem 29.01.2015 einen Erlaubnisantrag gestellt. Der Antragstellerin sei mit Schreiben der Agentur für Arbeit Nürnberg vom 01.02.2016 mitgeteilt worden, dass die Bearbeitung des Antrags abgeschlossen werde, da die fällige Bearbeitungsgebühr nicht gezahlt worden sei. Eine Erlaubnis habe daher zu keinem Zeitpunkt vorgelegen.

Die Klägerin beantragt,
den Gerichtsbescheid des Sozialgerichts München vom 07.09.230221 sowie den Bescheid der Beklagten vom 12.07.2018 in der Gestalt des Widerspruchbescheides aufzuheben und 50.127,50 Euro nebst mind. 4 % Zinsen hieraus seit Zahlungsleistung zu zahlen, hilfsweise den Rechtsstreit an das Sozialgericht München zurückzuverweisen.

Die Beklagte und die Beigeladene zu 3) beantragen,
die Berufung zurückzuweisen.

Die Gerichtsakten beider Rechtszüge sowie die Verwaltungsakte der beklagten waren Gegenstand der mündlichen Verhandlung. Ergänzend wird hierauf Bezug genommen.


E n t s c h e i d u n g s g r ü n d e :

Die zulässige Berufung ist im Sinne einer Zurückverweisung erfolgreich, denn das Verfahren leidet an wesentlichen Mängeln, aufgrund derer u.a. eine umfangreiche und aufwändige Beweisaufnahme notwendig wäre, § 159 Abs. 1 Nr. 2 SGG.

1. Das Sozialgericht hat aus dem Verfahren AZ 30 BA 151/19 das vorliegende Verfahren abgetrennt dieses einem anderen Spruchkörper zugewiesen. Dieses Vorgehen begegnet wegen des engen Sachzusammenhangs der ursprünglichen Klagen erheblichen rechtlichen Bedenken, da dies zur Folge haben kann, dass über denselben Lebenssachverhalt divergierend entschieden wird. Es ist daher zunächst die Zuweisung der Klagen an den gesetzlichen Richter zu bestimmen.

2. Der der Entscheidung zugrunde gelegte Sachverhalt ist nicht ausreichend ermittelt. Zudem weist die Sache Rechtsfragen auf, die keineswegs einfacher Natur sind. Eine Entscheidung im Wege des Gerichtsbescheides gem. § 105 SGG darf grundsätzlich nur ergehen, wenn die Sache keine besonderen Schwierigkeiten tatsächlicher oder rechtlicher Art aufweist und der Sachverhalt geklärt ist. Nur wenn diese gesetzlichen Vorgaben erfüllt sind, eröffnet sich dem Gericht ein Ermessen dahingehend, ob es einen Gerichtsbescheid erlassen oder mündlich verhandeln will (vgl. hierzu Schmidt in: Meyer-Ladewig/Keller/Leitherer/Schmidt, SGG, 13. Aufl., § 105 Rn. 7 ff.) Dies gilt auch dann, wenn die Beteiligten zu einer Entscheidung durch Gerichtsbescheid ihr Einverständnis erklärt haben.

Ein Verstoß gegen § 105 Abs. 1 SGG hat zur Folge, dass die Sache nicht durch den gesetzlichen Richter entschieden worden ist, denn es wäre die Kammer in ihrer Besetzung mit zwei ehrenamtlichen Richtern zur Entscheidung berufen gewesen.

Die tatbestandlichen Voraussetzungen von § 159 Abs. 1 Nr.2 SGG sind weiter erfüllt aufgrund eines Verstoßes gegen § 103 SGG. Dieser Mangel ist wesentlich wenn die Entscheidung darauf beruhen kann (allgemeine Meinung, stellvertretend Keller in Meyer-Ladewig/Keller/Leitherer, SGG, 13., § 159 Rn 3, 3a).

a) Bereits die Rechtsfrage, ob die Bekanntgabe eines Betriebsprüfungsbescheides entbehrlich ist aufgrund der vorherigen Löschung des Unternehmens im Handelsregister, wenn dieser Betriebsprüfungsbescheid gleichzeitig die Grundlage für die Entleiherhaftung darstellt gem. § 28 e SGB IV, ist in Rechtsprechung und Schrifttum bislang nicht geklärt. Der genannten Rechtsfrage kommt grundsätzliche Bedeutung zu, eine Entscheidung durch Gerichtsbescheid ist in derartigen Fällen ausgeschlossen. Denn eine grundsätzlich bedeutsame Rechtssache i. S. des § 160 Abs. 2 Nr. 1 SGG weist "besondere Schwierigkeiten rechtlicher Art" auf und schließt deshalb eine Entscheidung durch Gerichtsbescheid aus (BSG, Urteil vom 16. März 2006 - B 4 RA 59/04 R, Rn. 17 - juris).

b) Ein wesentlicher Verfahrensmangel liegt zudem vor, als das Sozialgericht den entscheidungserheblichen Sachverhalt entgegen der Amtsermittlungspflicht (§ 103 SGG) nicht hinreichend aufgeklärt hat. Das betrifft zB den Übergang von der S GmbH auf die "G" erst im Laufe des Juni 2016, aber auch die Unterfütterung des Klagebegehrens einschließlich der Antragstellung nach Forderungstilgung. Ein Verstoß gegen den Amtsermittlungsgrundsatz ist ein wesentlicher Mangel des Verfahrens im Sinne der § 144 Abs. 2 Nr. 3 SGG und § 160 Abs. 2 Nr. 3 SGG. Weil die Beteiligten auf eine ordnungsgemäße Aufklärung des Sachverhalts nicht verzichten können, können Verstöße gegen § 103 SGG über § 202 Satz 1 SGG iVm § 295 ZPO nicht geheilt werden.

c) Es ist vorliegend weiter nicht geklärt, woraus sich die Zuständigkeit der Beklagten als Einzugsstelle ableitet, auch wenn sie sich selbst als zuständig betrachtet. Die für eine Prüfung erforderlichen Dokumente nach § 175 Abs. 3 S. 3 SGB V liegen nicht vor. Es findet sich allein ein Hinweis, dass die BKK wohl zuständig sein sollte, allerdings nicht welche BKK. Aktenkundig ist eine interne Klärung, ob die Beklagte zuständige Einzugsstelle ist, da kein echter Betriebsübergang stattgefunden habe von der "O" auf die "G". Allerdings waren die Beschäftigten Arbeitnehmer der Klägerin aufgrund der fehlenden AÜ-Erlaubnis. Dann kann die Betriebsnummer der Klägerin maßgeblich sein für die Bestimmung der zuständigen Einzugsstelle.

d) Da bei dem faktischen Geschäftsführer B mit der Verurteilung zu einer Freiheitsstrafe auch eine Vermögensabschöpfung vorgenommen wurde, ist außerdem zu klären, inwieweit die streitgegenständlichen Forderungen der Beklagten und der Beigeladenen zu 3) bereits tatsächlich befriedigt sind. Dasselbe gilt für die Inanspruchnahme von B aufgrund von § 823 Abs. 2 BGB i.V.m. § 266a StGB. Denn die vorliegend strittigen Beiträge sind nur einmal zu entrichten. Insofern kommt Gesamtschuldnerschaft in Betracht.

e) Es fehlt schließlich an der notwendigen Beiladung der betroffenen Beschäftigten. Diese sind zu ermitteln, sofern dies nicht möglich sein sollte, ist eine Beiladung vorzunehmen nach § 75 Abs. 2a SGG oder nach § 75 Abs. 3, 63 SGG i.V.m. § 185 ff. ZPO.

3. Im Rahmen des bei der Entscheidung über die Zurückverweisung auszuübenden Ermessens hat der Senat das Interesse der Klägerin an einer möglichst zeitnahen Erledigung des Rechtsstreits gegenüber den Nachteilen durch den Verlust einer Tatsacheninstanz abgewogen und sich angesichts der erheblichen Mängel der Sachverhaltsaufklärung durch das Sozialgericht für eine Zurückverweisung entschieden. Hierbei hat er berücksichtigt, dass der Rechtsstreit noch weit von einer Entscheidungsreife entfernt ist, weshalb der Verlust einer Tatsacheninstanz, wie er wegen der vom Sozialgericht unterlassenen Aufklärung praktisch eingetreten ist, besonders ins Gewicht fällt. Die Zurückverweisung stellt die dem gesetzlichen Modell entsprechenden zwei Tatsacheninstanzen wieder her. Auch der Grundsatz der Prozessökonomie führt nicht dazu, den Rechtsstreit bereits jetzt abschließend in der Berufungsinstanz zu behandeln. Denn das gesamte Verfahren vor dem Senat hat vom Eingang der Berufung am 24.09.2021 bis zum Tag der Verkündung des Urteils am 07.12.2021 nur ca. 2 1/2 Monate in Anspruch genommen. Es erscheint deshalb prozessökonomischer, dem SG zunächst Gelegenheit zur Aufklärung des Sachverhalts in rechtskonformer Weise zu geben (vgl. hierzu auch Landessozialgericht Baden-Württemberg, Urteil vom 17. Juli 2020 - L 8 R 736/20, Rn. 48, juris).

Aufgrund der Zurückverweisung unterbleibt eine Kostenentscheidung.

Gründe für die Zulassung der Revision liegen nicht vor, § 160 Abs. 2 SGG.

 

Rechtskraft
Aus
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