L 7 SO 3290/20

Land
Baden-Württemberg
Sozialgericht
LSG Baden-Württemberg
Sachgebiet
Sozialhilfe
Abteilung
7.
1. Instanz
SG Freiburg (BWB)
Aktenzeichen
S 9 SO 1808/20
Datum
2. Instanz
LSG Baden-Württemberg
Aktenzeichen
L 7 SO 3290/20
Datum
3. Instanz
-
Aktenzeichen
-
Datum
-
Kategorie
Urteil

Die Berufung des Klägers gegen das Urteil des Sozialgerichts Freiburg vom 21. September 2020 wird zurückgewiesen.

Der Kläger trägt auch die Kosten des Berufungsverfahrens.

 

Tatbestand

Zwischen den Beteiligten ist die Kostentragung für Leistungen der Eingliederungshilfe und der Grundsicherung im Alter und bei Erwerbsminderung für L. (im Weiteren: der Leistungsempfänger) ab dem 17. Dezember 2019 streitig.

Bei dem 1989 geborenen Leistungsempfänger besteht eine intellektuelle Minderbegabung, eine Entwicklungsstörung, ein Morbus Hirschsprung, eine Essstörung und Untergewicht sowie eine angeborene, operativ behandelte Lungenvenen-Fehlmündung. Durch seine gesundheitlichen Beeinträchtigungen sind insbesondere seine Auffassungsgabe und Gedächtnisfunktionen beeinträchtigt (Attest des Neurologen und Psychiaters S. vom 19. November 2008, Bl. 15 Verw.-Akte d. Kl. (Eingliederungshilfe [EGH]); Gutachten des Medizinaldirektors Dr. W. vom 10. Juni 2009, Bl. 16 Verw.-Akte d. Kl. (EGH); Gutachten S. vom 17. Januar 2008, Bl. 48 Verw.-Akte EGH d. Kl.). Bei ihm ist ein Grad der Behinderung (GdB) von 70 seit der Geburt festgestellt sowie die Merkzeichen B, G und H zuerkannt (Bl. 67 Verw.-Akte EGH d. Kl.). Seit dem Jahr 2009 war der Leistungsempfänger bei der K.Werkstatt für Menschen mit Behinderung gGmbH (K.Werkstatt) zunächst in das Eingangsverfahren, dann in den Berufsbildungsbereich und ab dem 1. Dezember 2011 in den Arbeitsbereich aufgenommen (Bl. 59 Verw.-Akte EGH d. Kl.), wo er zuletzt eine Tätigkeit als Teamhelfer im Wohnheim ausübte. Der Beklagte bewilligte dem Leistungsempfänger ab der Aufnahme in den Arbeitsbereich der K.Werkstatt Leistungen der Eingliederungshilfe in Form der Übernahme der nach Leistungstyp I.4.4 (Tagesstrukturierendes Angebot für Menschen mit Behinderungen – Arbeitsbereich einer Werkstatt für behinderte Menschen) des Rahmenvertrags nach § 79 Abs. 1 Zwölftes Buch Sozialgesetzbuch (SGB XII) anfallenden Vergütungen (Bescheide vom 18. November 2011 und vom 16. November 2016, Bl. 69, 88 Verw.-Akte EGH d. Kl.). Bis einschließlich dem 16. Dezember 2019 lebte der Leistungsempfänger bei seinen Eltern und stand nicht im Bezug von Grundsicherungsleistungen.

Die w. H gemeinnützige GmbH (w. H) teilte dem Kläger mit Schreiben vom 17. Juli 2019, am 19. Juli 2019 bei dem Kläger eingegangen, mit, dass der Leistungsempfänger Interesse an der Aufnahme in den dortigen Arbeitsbereich ab dem 1. Oktober 2019 habe und hierfür Eingliederungshilfeleistungen für das betreute Wohnen in Familien in Anspruch nehmen wolle. Er wolle zum Aufnahmetermin nach Z.-U. umziehen. Für die Aufnahme werde die Kostenzusage und Fachausschusszustimmung des Klägers benötigt. Gleichzeitig beantragte der Leistungsempfänger ab dem 1. Oktober 2019 die Gewährung von Eingliederungshilfeleistungen für das betreute Wohnen in Familien, die seitens der Lebenshilfe K.- u. E. e.V. (Lebenshilfe) erbracht werden sollten (Bl. 1 Verw.-Akte EGH d. Kl.).

Am 24. Juli 2019 erfolgte die Fachausschusszustimmung bezüglich der Aufnahme des Leistungsempfängers in den Arbeitsbereich (Schreiben der Agentur für Arbeit O., Bl. 26 Verw.-Akte EGH d. Kl.).

Der Kläger wandte sich darauf mit Schreiben vom 25. Juli 2019 an den Beklagten und bat um Überlassung der dortigen Akte zu dem Leistungsempfänger (Bl. 21 Verw.-Akte EGH d. Kl.), was, nach Anforderung und Einholung einer Einverständniserklärung des Leistungsempfängers, am 20. August 2019 erfolgte.

In einer internen E-Mail vom 26. Juli 2019 (Bl. 23 Verw.-Akte EGH d. Kl.) teilte der Sachbearbeiter des Klägers einer Kollegin mit: „LE lebt derzeit noch nicht im O.. Mit dem Umzug nach Z. sind wir jedoch zuständig."

Mit Teilhabeplan vom 28. Oktober 2019 stellte der Kläger fest, dass für den Leistungsempfänger sowohl Leistungen für betreutes Wohnen in Familien wie auch für den Arbeitsbereich erforderlich seien (Bl. 95 Verw.-Akte EGH d. Kl.).

Der Kläger teilte der Beklagten mit Schreiben vom 30. Oktober 2019 mit, dass der Leistungsempfänger ab dem 1. Dezember 2019 in die Werkstatt für behinderte Menschen und das ambulant betreute Wohnen in Familien (BWF) wechseln werde. Ursprünglich sei eine Aufnahme zum 1. Oktober 2019 vorgesehen gewesen. Es werde auf „§ 95 Abs. 5 SGB XII“ verwiesen. Danach bleibe die Zuständigkeit der Beklagten bestehen (Bl. 109 Verw.-Akte EGH d. Kl.). Hierauf teilte der Beklagte mit E-Mail vom 5. November 2019 mit, dass er zumindest noch definitiv für den Monat Dezember zuständig sei. Ab Januar 2020 gelte der tatsächliche/gewöhnliche Aufenthalt (Bl. 112 Verw.-Akte EGH d. Kl.).

Die w. H teilte dem Kläger am 11. Dezember 2019 unter anderem mit, dass die Aufnahme des Leistungsempfängers in die dortige Werkstatt für behinderte Menschen am 1. Dezember 2019 und der Umzug am 17. November 2019 erfolgt seien (Bl. 162 Verw.-Akte EGH d. Kl.).

Mit Bescheid vom 11. Dezember 2019 (Bl. 156 Verw.-Akte EGH d. Kl.) bewilligte der Kläger dem Leistungsempfänger ab dem 17. November 2019 bis zunächst zum 30. November 2021 Leistungen der Eingliederungshilfe für das „ambulant betreute Wohnen in Familien“ mit den Zielen der Förderung der Selbständigkeit und der Teilhabe am Arbeitsleben. Mit Bescheid vom 7. Februar 2020 bewilligte der Kläger dem Leistungsempfänger Eingliederungshilfe für Assistenzleistungen im ambulant betreuten Wohnen in Familien vom 1. Januar 2020 bis 30. November 2021 nach §§ 99, 113 i.V.m. § 78 SGB IX und hob die „vorhergehenden Bewilligungsbescheide“ für die Zeit ab dem 1. Januar 2020 auf (Bl. 182 Verw.-Akte EGH d. Kl.). Mit Bescheiden vom 2. November 2021 (Bl. 55 ff. Senatsakte) und vom 15. November 2021 (Bl. 106 f. Senatsakte) bewilligte der Kläger diese Leistungen vom 1. Dezember 2021 bis zum 30. November 2023 weiter.

Am 6. Januar 2020 beantragte der Leistungsempfänger unter Vorlage diesbezüglicher Unterlagen (Bl. 127 ff. Verw.-Akte Grundsicherung [GrSi] d. Kl.) bei dem Kläger Leistungen der Sozialhilfe, um seinen Lebensunterhalt zu decken. Sein Arbeitseinkommen belaufe sich auf einen Grundbetrag von 80 EUR und 52 EUR Arbeitsförderungsgeld (AfÖG). Kindergeld erhalte seine leibliche Mutter ebenso wie Pflegegeld nach dem bei ihm bestehenden Pflegegrad 2. Sein Umzug nach Z. am H. sei am 17. November 2019 erfolgt und die Miete im BWF betrage monatlich 277,20 EUR (Bl. 136 Verw.-Akte EGH d. Kl.). Diesen Antrag leitete der Kläger am 20. Januar 2020 an den Beklagten weiter (Bl. 77 Verw.-Akte GrSi d. Kl.), welcher ihn am 2. März 2020 wieder zuständigkeitshalber an den Kläger übersandte (Bl. 125 Verw.-Akte GrSi d. Kl.).

Der Kläger bewilligte dem Leistungsempfänger bereits mit Bescheid vom 17. Januar 2020 ab dem 1. Dezember 2019 bis zunächst 31. Dezember 2019 Leistungen der Eingliederungshilfe für den Besuch des Arbeitsbereichs mit den Zielen der Beschäftigung entsprechend dem individuellen Grad an Selbständigkeit und Selbstbestimmtheit in einer Werkstatt sowie des möglichst selbstbestimmten Wohnens sowie mit weiterem Bescheid vom selben Tag entsprechende Leistungen vom 1. Januar 2020 bis zunächst 30. November 2021 (Bl. 169 und 173 Verw.-Akte EGH d. Kl.) und mit Bescheiden vom 2. November 2021 (Bl. 63 f. Senatsakte) und 15. November 2021 (Bl. 60 f. Senatsakte) vom 1. Dezember 2021 bis 30. November 2023. Den Bescheid vom 17. Januar 2020 übersandte der Kläger mit einem Begleitschreiben vom selben Tag an den Beklagten, in welchem er auf die Annahme der Zuständigkeit des Beklagten für die gewährten Leistungen und eine eigene, nur vorläufige Leistungserbringung verwies.

Mit Bescheid vom 30. Januar 2020 bewilligte der Kläger dem Leistungsempfänger Leistungen der Grundsicherung im Alter und bei Erwerbsminderung ab 1. November 2019 bis 31. Oktober 2020 (Bl. 89 Verw.-Akte GrSi d. Kl.) – 562,14 EUR für den November 2019, 684,48 EUR für den Dezember 2019 und 780,42 EUR ab dem Januar 2020 – und änderte diese Entscheidung mit Bescheid vom 10. Februar 2020 ab Februar 2020 hinsichtlich der Höhe auf einen monatlichen Betrag von 813,34 EUR ab (Bl. 111 Verw.-Akte GrSi d. Kl.). Mit Bescheiden vom 14. August 2020 (Bl. 66 ff. Senatsakte), 13. Oktober 2020 (Bl. 71 ff. Senatsakte), 4. Dezember 2020 (Bl. 77 ff. Senatsakte), 16. Dezember 2020 (Bl. 81 ff. Senatsakte), 22. Dezember 2020 (Bl. 86 ff. und Bl. 91 ff. Senatsakte), 14. Oktober 2021 (Bl. 96 ff. Senatsakte) sowie 6. Dezember 2021 (Bl. 102 ff. Senatsakte) bewilligte der Kläger die Grundsicherungsleistungen ab Juli 2020 in geänderter Höhe – 750,84 EUR im Juli 2020 und ab August 2020 monatlich 764,44 EUR, ab Oktober 2020 757,14 EUR, im Januar 2021 769,32 EUR, ab Februar 2021 785,72 EUR, im November 2021 775,69 EUR, im Dezember 2021 785,69 EUR und ab Januar 2022 791,35 EUR – und bis zum 31. Dezember 2022 weiter.

Auf einen Abzweigungsantrag des Klägers vom 30. Januar 2020 entschied die Familienkasse Baden-Württemberg West mit Bescheid vom 5. Mai 2020, dass dem Kläger ab dem Monat April 2020 ein „Abzweigungsbetrag in Höhe von 204,00 Euro monatlich“ aus dem Kindergeldanspruch des J. N. – dem Vater des Leistungsempfängers – zustehe. In der Begründung führt der Bescheid demgegenüber aus, dass die Ermessensentscheidung dahingehend ausgeübt werde, dass nur die Hälfte des Kindergeldes an den Kläger abgezweigt werde. Für die Monate April und Mai 2020 ergebe sich ein Nachzahlungsbetrag von 408,00 EUR, von dem 204,00 EUR auf den Kläger entfielen (Bl. 199 f. Verw.-Akte GrSi d. Kl.). Ausweislich des nachfolgenden Buchungsprotokolls stellte der Kläger darauf eine Forderung von 102,00 EUR gegen die vorgenannte Familienkasse in ihr Abrechnungssystem ein (Bl. 201 Verw.-Akte GrSi d. Kl.).

Nachdem der Beklagte mit Schreiben vom 26. Februar 2020 (Bl. 189 Verw.-Akte EGH d. Kl.) die klägerseits zuvor bezüglich der Eingliederungshilfeleistungen begehrte Kostenerstattung abgelehnt hatte, hat der Kläger am 28. Mai 2020 Klage beim Sozialgericht Freiburg (SG) erhoben und zur Begründung vorgetragen, dass vorliegend nach einem Umzug eine bisherige ambulante Betreuung fortgesetzt worden sei bzw. unmittelbar nach dem Umzug erneut eingesetzt habe mit der Folge, dass die örtliche Zuständigkeit bei dem vorher zuständigen Sozialhilfeträger verbleibe. Auch für die Grundsicherungsleistungen sei der Beklagte zuständig, da ein einheitliches Leistungsgeschehen vorliege. Der Beklagte hat demgegenüber ausgeführt, dass eine Maßnahme des ambulant betreuten Wohnens in seinem Zuständigkeitsbereich bislang nicht stattgefunden habe. Auch könne der Fachdienst des Beklagten die Maßnahme aus pädagogischer Sicht nicht nachvollziehen. Für die Sozialhilfe örtlich zuständig sei der Träger, in dessen Bereich sich der Leistungsberechtigte tatsächlich aufhalte.

Mit Urteil vom 21. September 2020 hat das SG die Klage abgewiesen und zur Begründung ausgeführt, nach ständiger Rechtsprechung des Bundessozialgerichts (BSG) zu § 14 Abs. 4 Satz 1 Neuntes Buch Sozialgesetzbuch (SGB IX) in der bis zum 31. Dezember 2017 geltenden Fassung, die nach Überzeugung der Kammer auf die Nachfolgeregelung § 16 SGB IX in der seit 1. Januar 2018 geltenden Fassung mit den durch die Neuregelungen gebotenen Modifikationen entsprechend anwendbar bleibe, würden die allgemeinen Erstattungsansprüche nach den §§ 102 ff Zehntes Buch Sozialgesetzbuch (SGB X) durch die Erstattungsvorschriften des SGB IX als „leges speciales“ regelmäßig verdrängt bzw. den Anforderungen des SGB IX angepasst. Ein Anwendungsfall der §§ 14 ff. SGB IX liege hier vor, da es sich bei beiden Beteiligten um Rehabilitationsträger, beim Leistungsempfänger um einen Menschen mit Behinderung und bei dessen Anträgen vom 17. Juli 2019 um Rehabilitationsbegehren handele. Bezogen auf diese Rehabilitationsbegehren sei der Kläger erstangegangener Träger, denn bei ihm seien die entsprechenden Anträge ursprünglich gestellt worden. § 16 Abs. 1 SGB IX sehe nur für den zweitangegangenen Träger einen umfassenden Erstattungsanspruch vor. Für einen leistenden erstangegangenen Träger bestehe für einen derart umfassenden Erstattungsanspruch kein Bedarf, weil er den Antrag gemäß § 14 Abs. 1 Satz 2 SGB IX weiterleiten könne. § 16 SGB IX sehe nur ausnahmsweise Erstattungsansprüche des erstangegangenen gegen den objektiv zuständigen Leistungsträger vor. Diese seien hier jedoch nicht einschlägig. So habe der Kläger den Beklagten weder nach Maßgabe von § 15 SGB IX an der Feststellung des Rehabilitationsbedarfs beteiligt, sodass ein Erstattungsanspruch nach § 16 Abs. 2 SGB IX tatbestandlich nicht in Betracht komme, noch liege ein Fall der Genehmigungsfiktion für selbstbeschaffte Leistungen vor, was einen Anspruch nach § 16 Abs. 5 SGB IX ausschließe. Konsequenz sei, dass das SGB IX keine Erstattung vorsehe und § 16 Abs. 4 Satz 1 SGB IX zusätzlich bestimme, dass auch § 105 SGB X nicht anzuwenden sei. Allerdings schließe § 16 Abs. 4 SGB IX die §§ 102 ff. SGB X nicht umfassend aus; geboten sei vielmehr eine dem Ausgleichsregime des SGB IX Rechnung tragende Modifikation. Hiernach komme ein Erstattungsanspruch des erstangegangenen Leistungsträgers bei unterlassener Weiterleitung nur ausnahmsweise in Betracht. Habe etwa bei komplizierter Rechtslage die Prüfung innerhalb der Zweiwochenfrist des § 14 Abs. 1 Satz 1 SGB IX zu keinem greifbaren Ergebnis geführt, der erstangegangene Träger im Interesse der Beschleunigung eine Weitergabe des Antrags unterlassen und die Leistung bewilligt, könne ausnahmsweise die Anwendung von § 102 SGB X in Betracht kommen. In gleicher Weise sei der erstangegangene Träger schutzwürdig, der seine Zuständigkeit innerhalb der Frist des § 14 Abs. 1 Satz 1 SGB IX zutreffend bejahe und deshalb auch keine Veranlassung zu einer Weiterleitung habe, wenn seine Zuständigkeit nachträglich wegfalle. Ausnahmsweise könne schließlich auch dann ein Erstattungsanspruch des erstangegangenen Trägers gerechtfertigt sein, wenn er infolge eines Kompetenzkonflikts einem Leistungszwang ausgesetzt sei, der demjenigen des zweitangegangenen Trägers entspreche, etwa wenn er aufgrund einer gerichtlichen Entscheidung im Wege einstweiligen Rechtsschutzes zur Vorleistung verpflichtet worden sei. Leiste dagegen der erstangegangene Rehabilitationsträger ohne Vorliegen besonderer Umstände, obwohl nach dem Ergebnis seiner Prüfung ein anderer Rehabilitationsträger zuständig sei, könne er im Regelfall keine Erstattung beanspruchen. So aber liege der Sachverhalt hier: Dem Kläger seien wohl bereits aufgrund der Anträge vom 17. Juli 2019 die Umstände bekannt gewesen, die seines Erachtens die materielle Zuständigkeit des Beklagten begründeten, denn andernfalls hätte er dort nicht um Akteneinsicht nachgesucht. Jedenfalls aber habe er durch die Einsicht in die Verwaltungsakte des Beklagten die hierfür erforderlichen Informationen erlangt. Gleichwohl habe der Kläger die Anträge weder innerhalb der 2-Wochen-Frist des § 14 Abs. 1 Satz 1 SGB IX noch zu einem späteren Zeitpunkt an den Beklagten weitergeleitet, sondern vielmehr die beantragten Leistungen bewilligt, ohne den Beklagten zu beteiligen, und erst im Anschluss Erstattungsansprüche geltend gemacht. Dies aber sei genau die Konstellation, in der § 16 SGB IX die Sanktionierung des erstangegangenen Leistungsträgers durch den Ausschluss seiner Erstattungsansprüche bezwecke.

Hierauf hat der Kläger am 19. Oktober 2020 Berufung beim Landessozialgericht (LSG) Baden-Württemberg eingelegt. Zur Begründung trägt er vor, es sei zunächst bei Antragseingang nicht ersichtlich gewesen, dass sich ein möglicherweise bestehender Kostenerstattungsanspruch (ausschließlich) aus den §§ 14, 16 SGB IX ergeben könne. Die Zuständigkeit des Beklagten habe sich vielmehr zweifelsfrei aus § 98 Abs. 5 SGB XII ergeben. Es sei unrichtig, wenn das SG annehme, bei der Antragstellung am 17. Juli 2019 seien die Umstände bekannt gewesen, die die materielle Zuständigkeit des Beklagten begründeten. Gerade weil dies nicht der Fall gewesen sei, seien die Verwaltungsakten angefordert worden, die dann erst am 2. September 2019 eingegangen seien. Selbst dann habe allerdings noch Klärungsbedarf bestanden, so dass eine Entscheidung erst im Dezember habe getroffen werden können. Erschwerend komme hinzu, dass der Beklagte sich mit E-Mail vom 5. November 2019 bis einschließlich Dezember 2019 für zuständig erklärt habe. Verkannt worden sei sodann, dass ein Wechsel der Werkstatt keinen Neuantrag im Sinne von § 14 SGB IX darstelle, es sei vielmehr unerheblich, in welcher Werkstatt die Teilhabe stattfinde. Die Notwendigkeit des BWF sei von dem Beklagten angezweifelt worden, obwohl ein Hilfeplan vorgelegen habe. Insofern sei er nicht zur Kostentragung bereit gewesen, auch wenn § 98 Abs. 5 SGB XII auch für das ambulant betreute Wohnen gelte. Ein Erstattungsanspruch des erstangegangenen Trägers nach § 102 SGB X komme zudem in Betracht, wenn zwischen zwei Reha-Trägern die Zuständigkeit strittig sei und der erstangegangene Träger dem anderen gegenüber erkläre, nur vorläufig zu leisten. Der Wille, nur vorläufig zu leisten, ergebe sich vorliegend eindeutig aus dem Schreiben vom 17. Januar 2020. Im Übrigen könne nicht von einer „fahrlässigen Absehung“ von der Weiterleitung ausgegangen werden, zumal sich der Beklagte ausdrücklich (mindestens) bis 31. Dezember 2019 für zuständig erklärt habe und eben zunächst Klärungsbedarf bestanden habe.

Nachdem der Kläger sein ursprünglich auch auf die Erstattung der dem Leistungsempfänger gewährten Grundsicherungsleistungen gerichtetes Begehr mit Schreiben vom 17. Januar 2022 auf die Erstattung der Eingliederungshilfeleistungen beschränkt hat, beantragt er zuletzt noch sinngemäß,

das Urteil des Sozialgerichts Freiburg vom 21. September 2020 aufzuheben und den Beklagten zu verpflichten, für die Zeit vom 17. November 2019 bis 31. Oktober 2021 Leistungen der Eingliederungshilfe in Höhe von 54.053,51 EUR sowie die dem Kläger für den Leistungsempfänger entstehenden monatlichen Aufwendungen für die Eingliederungshilfe ab dem 1. November 2021 zu erstatten.

Der Beklagte beantragt,

die Berufung zurückzuweisen.

Er erachtet die Entscheidung des SG für zutreffend und trägt ergänzend vor, der Kläger habe bereits mit seinem Schreiben vom 30. Oktober 2019 selbst mitgeteilt, dass er aus dem Schreiben vom 17. Juli 2019 auf die Zuständigkeit des Beklagten habe schließen können, in dem zur Begründung der Zuständigkeit auf das vorgenannte Schreiben der w. H Bezug genommen habe.

Hinsichtlich der weiteren Einzelheiten des Sachverhalts und des Vorbringens der Beteiligten wird auf die Verwaltungsakten des Klägers (zwei Bände) sowie des Beklagten und die Gerichtsakten beider Instanzen Bezug genommen.

 

Entscheidungsgründe

Die Berufung, über welche der Senat im Einverständnis der Beteiligten ohne mündliche Verhandlung gemäß § 124 Abs. 2 Sozialgerichtsgesetz (SGG) entscheidet, ist statthaft (§ 143 SGG) und auch im Übrigen zulässig. Insbesondere ist die Berufung nicht zulassungsbedürftig, da der Wert des Beschwerdegegenstands in der vorliegenden Erstattungsstreitigkeit 10.000 EUR überschreitet (§ 144 Abs. 1 Satz 1 Nr. 2 SGG).

Der Senat konnte auch über die Sache entscheiden, ohne dass der Leistungsberechtigte notwendig nach § 75 Abs. 2 SGG beizuladen war. Dessen Rechtsposition wird durch den Erstattungsstreit mehrerer Sozialhilfeträger nicht berührt (vgl. BSG, Urteil vom 1. März 2018, B 8 SO 22/16 R, SozR 4-3250 § 14 Nr. 28 m. w. N.).

Die Berufung ist jedoch unbegründet. Die – nach teilweiser Klagerücknahme (§ 102 Abs. 1 SGG) noch – auf die Erstattung der klägerseits dem Leistungsempfänger bewilligten Leistungen der Eingliederungshilfe gerichtete Klage ist zwar als (echte) Leistungsklage gemäß § 54 Abs. 5 SGG zulässig, aber unbegründet.

Soweit der Kläger im Berufungsverfahren die bis Oktober 2021 aufgewendeten Leistungen der Eingliederungshilfe weiter beziffert hat, ist dies nach dem maßgeblichen objektiven Empfängerhorizont als eine (zulässige) Klageerweiterung auszulegen (§§ 133, 157 Bürgerliches Gesetzbuch). Die Erweiterung des Zahlungsantrages um die zwischen dem 1. Juni 2020 und dem 31. Oktober 2021 angefallenen Kosten der Eingliederungshilfe stellt dabei keine Klageänderung dar (§ 99 Abs. 3 Nr. 2 SGG). Sie ist daher statthaft, ohne dass sich der Beklagte rügelos einlassen muss oder nach ihrer Sachdienlichkeit zu fragen ist.

Die Klage ist jedoch unbegründet, denn der Kläger hat gegenüber dem Beklagten keinen Anspruch auf die Erstattung der von ihm ab dem 17. November 2019 dem Leistungsempfänger erbrachten Leistungen der Eingliederungshilfe gemäß §§ 53 SGB XII a. F. bzw. §§ 90 ff. SGB IX.

Der Kläger hat keinen Erstattungsanspruch aus § 16 SGB IX gegen den Beklagten. § 16 SGB IX dient im Regelungsgefüge der §§ 14 ff. SGB IX dem Ausgleich von Erstattungsansprüchen zwischen verschiedenen Rehabilitationsträgern.

Zunächst ist vorliegend eine unter das Regelungsgefüge der §§ 14 ff. SGB IX fallende Sachlage gegeben, denn der Leistungsempfänger hat bei dem Kläger am 19. Juli 2019 einen Antrag auf Eingliederungshilfeleistungen für das BWF sowie die Aufnahme in den Arbeitsbereich der w. H und mithin einen Antrag auf Teilhabeleistungen i.S.d. § 14 Abs. 1 Satz 1 SGB IX gestellt. Damit ist der Kläger erstangegangener Träger im Sinne des § 14 Abs. 1 SGB IX. Dem steht zunächst nicht entgegen, dass der Beklagte dem Leistungsempfänger zum Zeitpunkt der Antragstellung Eingliederungshilfeleistungen in Form von Leistungen zur Teilhabe am Arbeitsleben in Form der Übernahme der nach Leistungstyp I.4.4 (Tagesstrukturierendes Angebot für Menschen mit Behinderungen – Arbeitsbereich einer Werkstatt für behinderte Menschen) des Rahmenvertrags nach § 79 Abs. 1 SGB XII a.F. anfallenden Vergütungen für den Arbeitsbereich der K.Werkstatt gewährt hat. Zwar stellt eine bloße Verlängerung einer bestimmten Maßnahme keinen neuen, sondern einen einheitlichen, damit von § 14 Abs. 1 Satz 1 SGB IX nicht erfassten Leistungsfall dar, für welchen eine neue Antragstellung nicht erforderlich ist und der unter Beachtung des Rechtsgedankens von § 4 Abs. 2 Satz 2 SGB IX sowie dem Grundsatz der Leistungserbringung „aus einer Hand“ vom ursprünglich leistenden Träger abzuschließen ist (vgl. Ulrich in: Schlegel/Voelzke, jurisPK-SGB IX, 3. Aufl., § 14 SGB IX [Stand: 15. Januar 2018] Rdnr. 58; LSG Baden-Württemberg, Beschluss vom 25. März 2021 – L 4 KR 3741/20 ER-B –, juris Rdnr. 37). Vorliegend ist ein solcher einheitlicher Leistungsfall jedoch zu verneinen. Denn der Leistungsempfänger hat nicht nur die weitere Erbringung von Leistungen zur Teilhabe am Arbeitsleben im Rahmen der Eingliederungshilfe, nunmehr im Arbeitsbereich einer anderen WfbM, begehrt, sondern auch die (erstmalige) Aufnahme in das ambulant betreute Wohnen in Familien im Zuständigkeitsbereich des Klägers. Diese Ansprüche sind jedoch nicht isoliert voneinander zu betrachten, sondern stellen einen einzigen und damit neuen Antrag im Sinne des § 14 Abs. 1 Satz 1 SGB IX dar. Dies wird zum einen dadurch verdeutlicht, dass § 14 Abs. 1 Satz 2 SGB IX dem erstangegangenen Träger eine Prüfungspflicht dahingehend auferlegt, ob er für die beantragten Leistungen „insgesamt“ zuständig ist, und zum anderen dadurch, dass § 15 Abs. 1 Satz 1 SGB IX dem leistenden Rehabilitationsträger die Weiterleitung „insoweit“ eröffnet, als er feststellt, „dass der Antrag neben den nach seinem Leistungsgesetz zu erbringenden Leistungen weitere Leistungen zur Teilhabe umfasst, für die er nicht Rehabilitationsträger nach § 6 Absatz 1 [SGB IX] sein kann[.]“

Der umfassenden Anwendung der §§ 14 ff. SGB IX in der hiesigen Sache steht schließlich nicht entgegen, dass die Leistungen der Eingliederungshilfe mit Ablauf des 31. Dezember 2019 aus dem Recht der Sozialhilfe herausgelöst worden sind und seit dem 1. Januar 2020 dem neu geschaffenen Regelungsgefüge der §§ 90 ff. SGB IX unterfallen (vgl. dazu BSG, Urteil vom 28. Januar 2021 – B 8 SO 9/19 R – BSGE (vorgesehen), SozR 4-3500 § 57 Nr. 1, juris Rdnr. 19). Denn der Antrag vom 19. Juli 2019, welcher auf Leistungen erst ab dem vierten Quartal 2019 gerichtet gewesen ist, ist vorliegend bei verständiger Auslegung vom Standpunkt eines objektiven Empfängers (§§ 133, 157 Bürgerliches Gesetzbuch) nicht nur als Antrag auf Eingliederungshilfe nach dem bis Ende 2019 gültigen Recht, sondern auch als der ab 1. Januar 2020 gemäß § 108 Abs. 1 Satz 1 SGB IX erforderliche Leistungsantrag zu werten, welcher mithin insgesamt – für beide Rechtsbereiche – den Prüfungs- und Weiterleitungspflichten aus § 14 SGB IX unterfällt. Dies ist von dem Kläger, der bis 31. Dezember 2019 als Sozialhilfeträger für die Erbringung der Leistungen der Eingliederungshilfe sachlich zuständig gewesen ist und seit 1. Januar 2020 gemäß § 1 Abs. 1 Gesetz zur Ausführung des Neunten Buches Sozialgesetzbuch (AGSGB IX BW) Träger der Eingliederungshilfe ist, auch so verstanden worden. Dies ergibt sich daraus, dass der Kläger auf den Antrag vom 19. Juli 2019 die begehrten Leistungen der Eingliederungshilfe getrennt für die Zeit bis 31. Dezember 2019 und die Zeit ab 1. Januar 2020 – von Anfang an für den Besuch des Arbeitsbereichs der w. H mit den beiden Bescheiden vom 17. Januar 2020 sowie nachträglich für das ambulant betreute Wohnen in Familien mit den Bescheiden vom 11. Dezember 2019 und 7. Februar 2020 – gewährt hat. Daher kann in der hiesigen Sache dahinstehen, ob sich eine vor der Herauslösung der Eingliederungshilfe aus dem Sozialhilferecht nach § 14 SGB IX begründete Zuständigkeit eines Rechtsträgers, der auch nach dem 1. Januar 2020 Rehabilitationsträger i.S.d. § 6 SGB IX ist, ohnehin auch über den 31. Dezember 2019 hinaus erstreckt (so LSG Niedersachsen-Bremen, Beschluss vom 10. November 2020 – L 8 SO 84/20 ER – juris Rdnrn. 10 ff.; a.A. Eicher in: Schlegel/Voelzke, jurisPK-SGB XII, 3. Aufl., Anhang zu § 19 SGB XII – Stand: 17. Dezember 2021 – Rdnr. 2.2 ff.).

Der Kläger kann sich jedoch nicht auf die in § 16 SGB IX für die Fallgestaltungen der §§ 14 und 15 SGB IX geregelten Erstattungsansprüche stützen. Ein Anspruch aus § 16 Abs. 1 i.V.m. § 14 Abs. 2 Satz 4 SGB IX scheidet bereits aus, da dieser eine Leistung des zweitangegangenen Rehabilitationsträgers – mithin des Trägers, an welchen von einem anderen, zuerst angegangenen Rehabilitationsträger ein Anspruch aus Leistungen zur Teilhabe weitergeleitet worden ist – vorsieht, der hier maßgebliche Antrag aber bei dem Kläger als mithin erstangegangenem Rehabilitationsträger gestellt worden ist. Auch soweit § 16 SGB IX dem erstangegangenen Träger Erstattungsansprüche zuspricht, sind deren Voraussetzungen nicht erfüllt. Ein Erstattungsanspruch aus § 16 Abs. 2 und 5 SGB IX scheidet aus, da der Kläger keinen anderen Rehabilitationsträger im Sinne des § 15 SGB IX beteiligt hat, daneben liegt hinsichtlich des § 16 Abs. 5 SGB IX auch kein Fall selbstbeschaffter Leistungen vor. Hierzu wird zur Vermeidung von Wiederholungen auf die zutreffenden Ausführungen des SG in dem Urteil vom 21. September 2020 Bezug genommen (§ 153 Abs. 2 SGG).

Die Voraussetzungen der speziell sozialhilferechtlichen Erstattungsregelungen sind nicht erfüllt. Insbesondere scheidet ein Anspruch nach § 106 Abs. 1 Satz 1 SGB XII, nach welchem der nach § 98 Abs. 2 Satz 1 SGB XII zuständige Träger dem nach § 98 Abs. 2 Satz 3 vorläufig leistenden Träger die aufgewendeten Kosten zu erstatten hat, bereits deswegen aus, weil der Leistungsberechtigte nicht in einer stationären Einrichtung untergebracht ist. Zwar erklärt § 107 SGB XII den § 106 SGB XII auch für die Unterbringung von Kindern und Jugendlichen u.a. in Familien für entsprechend anwendbar, jedoch ist der Leistungsempfänger bereits bei Beginn des ambulant betreuten Wohnens in Familien am 17. November 2019 volljährig (§ 2 Bürgerliches Gesetzbuch) gewesen und damit kein Jugendlicher mehr.

Damit verbleiben die allgemeinen Erstattungsregelungen der §§ 102 ff. SGB X als mögliche Grundlagen des seitens des Klägers geltend gemachten Anspruchs. Diese sind – mangels entgegenstehender Vereinbarung der Rehabilitationsträger – mit Ausnahme des § 105 SGB X (vgl. § 16 Abs. 4 Satz 1 SGB IX) auch in einer unter § 14 SGB IX unterfallenden Konstellation nicht von vorneherein für den erstangegangenen Träger, mithin hier den Kläger, ausgeschlossen. Das zunächst bis zum 31. Dezember 2016 in § 14 Abs. 4 SGB IX und nunmehr in § 16 SGB IX normierte Erstattungssystem regelt Erstattungsansprüche nicht abschließend. (vgl. BSG, Urteil vom 20. Oktober 2009 – B 5 R 44/08 R –, BSGE 104, 294-303, SozR 4-3250 § 14 Nr. 9, juris Rdnr. 15, BSG, Urteil vom 26. Juni 2007 – B 1 KR 34/06 RBSGE 98, 267 = SozR 4-3250 § 14 Nr. 4, juris Rdnr. 27 f.; BSG, Urteil vom 25. September 2014 - B 8 SO 7/13, juris). Streitigkeiten über die Zuständigkeitsfrage einschließlich der vorläufigen Leistungserbringung bei ungeklärter Zuständigkeit sollen nach § 14 Abs. 1 und 2 SGB IX nicht mehr zu Lasten der behinderten Menschen gehen (BT-Drucks 14/5074, S. 95). Deshalb soll nach § 14 Abs. 1 SGB IX der zuerst angegangene Leistungsträger kurzfristig seine Zuständigkeit prüfen und den Antrag bei negativem Ergebnis an den seiner Auffassung nach zuständigen Rehabilitationsträger weiterleiten, der dann im Verhältnis zum Versicherten zuständig und ihm gegenüber leistungspflichtig ist (BT-Drucks 14/5074, S. 102). Das System der Erstattungsansprüche muss dem Primärzweck des § 14 SGB IX, der schnellen Zuständigkeitsklärung im Außenverhältnis, dienen. Notwendiges Korrelat der schnellen und strikten Zuständigkeitsklärung im Außenverhältnis zum Versicherten unter Beibehaltung des gegliederten Sozialsystems (§ 7 SGB IX) ist ein umfassender Ausgleichsmechanismus, der sichert, dass der Rehabilitationsträger seine Zuständigkeit im Rahmen von § 14 SGB IX bejahen kann, ohne allein deshalb verpflichtet zu sein, im Verhältnis zu anderen Rehabilitationsträgern diese Lasten auch endgültig zu tragen. Hätte die Leistungserbringung durch den erstangegangenen Rehabilitationsträger zwingend den Ausschluss von Erstattungsansprüchen zur Folge, während eine nachträgliche Zuständigkeitsprüfung im Rahmen von Erstattungsstreitigkeiten des zweitangegangenen Rehabilitationsträgers stets gewährleistet wäre, könnte dies ein Anreiz sein, Rehabilitationsanträge - und sei es unter den fadenscheinigsten Vorwänden - weiterzuleiten (BSGE 98, 267 = SozR 4-3250 § 14 Nr. 4, Rdnrn. 15, 26; BSG, Urteil vom 20. Oktober 2009 – B 5 R 44/08 R –, BSGE 104, 294-303, SozR 4-3250 § 14 Nr. 9, juris Rdnr. 16).

Zunächst ist ein Anspruch aus § 102 Abs. 1 SGB X vorliegend nicht gegeben. Nach dieser Regelung ist der zur Leistung verpflichtete Leistungsträger erstattungspflichtig, wenn ein anderer Leistungsträger auf Grund gesetzlicher Vorschriften vorläufig Sozialleistungen erbracht hat. Der Kläger hat die hier zugrunde liegenden Leistungen für den Leistungsempfänger jedoch bereits nicht als vorläufige Leistungen im Sinne des § 102 SGB X erbracht. Hierfür ist zunächst erforderlich, dass die vorläufige Leistung von dem Erstattung begehrenden Sozialleistungsträger ausdrücklich als solche erbracht worden ist (Grube in: Schlegel/Voelzke, jurisPK-SGB X, 2. Aufl., § 102 SGB X [Stand: 1.Dezember 2017] Rdnr. 30). Bereits hieran fehlt es, denn weder dem Bescheid vom 11. Dezember 2019 hinsichtlich des BWF noch dem Bescheid vom 17. Januar 2020 hinsichtlich des Besuchs des Arbeitsbereichs der w. H ist aus Sicht des Leistungsempfängers ein Hinweis auf eine vorläufige Gewährung zu entnehmen. Dass der Kläger im an den Beklagten gerichteten Begleitschreiben vom 17. Januar 2020 auf die Vorläufigkeit der Leistungserbringung verwiesen hat, genügt insoweit nicht. Insbesondere aber hat der Kläger die in Rede stehenden Leistungen nicht vorläufig erbringen können. Denn § 14 SGB IX begründet keine Befugnis des aufgrund Antragsweiterleitung zuständig gewordenen zweitangegangenen oder des aufgrund unterlassener Weiterleitung zuständig gewordenen erstangegangenen Trägers zur nur vorläufigen („einstweiligen“) Rechtsgewährung und Leistungserbringung. Er muss vielmehr grundsätzlich gegenüber dem Bürger abschließend über dessen Rechte und Ansprüche entscheiden. Soweit im Gesetzgebungsverfahren auch von der Begründung einer vorläufigen Zuständigkeit des zweitangegangenen Trägers gesprochen worden ist (BT-Drucks 14/5074 S. 102) bezieht sich diese Vorläufigkeit lediglich auf das Innenverhältnis zu einem anderen Rehabilitationsträger (vgl. BSG, Urteil vom 14. Dezember 2006 – B 4 R 19/06 R, BeckRS 2007, 44146, beck-online Rdnr. 30). Im Anwendungsbereich des § 14 SGB IX a.F. scheidet ein Erstattungsanspruch nach § 102 SGB X i.V.m. daher regelmäßig aus (vgl. Groth in: Schlegel/Voelzke, jurisPK-SGB I, 3. Aufl., § 43 SGB I [Stand: 30. Juli 2018] Rdnr. 4., s. auch BSG, Urteil vom 25. September 2014 – B 8 SO 7/13 R –, BSGE 117, 53-64, SozR 4-3500 § 54 Nr. 13, juris Rdnr. 23) Seit dem 1. Januar 2018 schließt § 24 Satz 3 SGB IX folgerichtig die Anwendung des – eine vorläufige Leistungsgewährung bei Zuständigkeitsstreitigkeiten grundsätzlich ermöglichenden – § 43 SGB I für den Bereich des Teilhaberechts denn auch ausdrücklich aus.

Ein Erstattungsanspruch aus § 103 SGB X scheidet bereits deswegen aus, da eine ursprünglich gegebene Zuständigkeit des Klägers nicht nachträglich weggefallen ist.

Ebenso besteht kein Erstattungsanspruch nach § 104 SGB X sowohl in der bis zum 31. Dezember 2019 gültigen Fassung als auch der seit dem 1. Januar 2020 gültigen, als einziger Neuerung die geänderte Trägerschaft der Eingliederungshilfe berücksichtigenden Fassung. Nach § 104 Abs. 1 Satz 1 SGB X ist, wenn ein nachrangig verpflichteter Leistungsträger Sozialleistungen erbracht hat, ohne dass die Voraussetzungen von § 103 Abs. 1 SGB X vorliegen, der Leistungsträger erstattungspflichtig, gegen den der Berechtigte vorrangig einen Anspruch hat oder hatte, soweit der Leistungsträger nicht bereits selbst geleistet hat, bevor er von der Leistung des anderen Leistungsträgers Kenntnis erlangt hat. Nachrangig verpflichtet ist ein Leistungsträger, soweit dieser bei rechtzeitiger Erfüllung der Leistungsverpflichtung eines anderen Leistungsträgers selbst nicht zur Leistung verpflichtet gewesen wäre (§ 104 Abs. 1 Satz 2 SGB X). Der Erstattungsanspruch des § 104 SGB X, der auch die Geltendmachung von Aufwendungsersatz und die Erhebung von Kostenbeiträgen seitens der Träger der Sozialhilfe erfasst (§ 104 Abs. 1 Satz 4 SGB X a.F.), setzt damit als Grundkonstellation voraus, dass gestufte Leistungspflichten (mindestens) zweier Leistungsträger nebeneinander bestehen (BSG, Urteil vom 25. September 2014 – B 8 SO 7/13 R –, BSGE 117, 53-64, SozR 4-3500 § 54 Nr. 13, juris Rdnr. 24).

Prüft und bejaht ein zuerst angegangener Rehabilitationsträger auf einen bei ihm gestellten Antrag auf Teilhabeleistungen seine Zuständigkeit, begründet § 14 Abs. 1 Satz 1, Abs. 2 Satz 1 und 2 SGB IX für das Erstattungsverhältnis zwischen den Trägern eine nachrangige Zuständigkeit des erstangegangenen Trägers, wenn er nach den Zuständigkeitsregelungen außerhalb von § 14 SGB IX unzuständig, ein anderer Träger aber zuständig gewesen wäre. Dies ermöglicht es, dass der erstangegangene Rehabilitationsträger im Rahmen eines Erstattungsstreits sich die Kosten der Rehabilitationsmaßnahme nach § 104 SGB X vom vorrangig zuständigen Rehabilitationsträger erstatten lässt (BSG, Urteil vom 26. Juni 2007 – B 1 KR 34/06 R –, BSGE 98, 267-277, SozR 4-3250 § 14 Nr. 4, juris Rdnr. 9; BSG, Urteil vom 4. April 2019 - B 8 SO 11/17 R - juris Rdnr. 12).

Ein solcher Erstattungsanspruch scheidet jedoch dann aus, wenn der erstangegangene Rehabilitationsträger aufgrund des Antrages bei ihm seine Zuständigkeit geprüft und verneint hat, er aber dennoch leistet. Denn er greift dann zielgerichtet in fremde Zuständigkeiten ein und missachtet das Weiterleitungsgebot des § 14 Abs. 1 Satz 2 SGB IX (vgl. BSG, Urteil vom 11. September 2018 – B 1 KR 6/18 R –, BSGE 126, 269-277, SozR 4-3250 § 14 Nr. 29, juris Rdnr. 15; BSG, Urteil vom 8. März 2016 – B 1 KR 27/15 R –, SozR 4-3250 § 14 Nr. 23, juris Rdnr. 18, BSG, Urteil vom 26. Juni 2007 – B 1 KR 34/06 R –, BSGE 98, 267-277, SozR 4-3250 § 14 Nr. 4, juris Rdnr. 25).

Doch gerade so verhält es sich in der vorliegenden Sache. Wie seitens des Klägers durch den zuständigen Sachbearbeiter im Erörterungstermin vom 2. Dezember 2021 bestätigt worden ist, ist klägerseits der Beklagte für die am 17. Juli 2019 beantragte Kombination der Maßnahme im Arbeitsbereich der w. H mit dem betreuten Wohnen in Familien von Anfang an als zuständig erachtet worden war. Dennoch ist eine Weiterleitung nicht binnen der Zweiwochenfrist aus § 14 Abs. 1 Satz 1 SGB IX erfolgt. Klägerseits ist insoweit in dem Erörterungstermin auch klargestellt worden, dass sich eine Annahme eigener Zuständigkeit, wie sie sich (einzig) aus der E-Mail vom 26. Juli 2019 ablesen lässt, ausschließlich auf eine isolierte Werkstattaufnahme des Leistungsempfängers im örtlichen Bereich des Klägers bezogen hat, nicht jedoch auf die - von Anfang an beantragte - Kombination dieser Maßnahme mit dem ambulant betreuten Wohnen in Familien. Soweit klägerseits demgegenüber zuvor noch, etwa in der schriftlichen Berufungsbegründung, vorgetragen worden ist, es seien bei Antragstellung und auch im Weiteren zunächst nicht die Umstände bekannt gewesen, die nach Auffassung des Klägers die Zuständigkeit des Beklagten begründet hätten, erachtet der Senat diesen Vortrag vor dem Hintergrund der Angaben im Erörterungstermin vom 2. Dezember 2021 als überholt und nicht weiter aufrechterhalten. Darüber hinaus steht dieser Vortrag auch in Widerspruch zu der weiteren Darstellung in der Berufungsbegründung, die Zuständigkeit des Beklagten habe sich „zweifelsfrei“ aus § 98 Abs. 5 SGB XII ergeben und man habe gerade deswegen nicht erkannt, dass ein Fall des § 14 SGB IX vorliege. Auch ist bereits nicht dargelegt worden, welche konkreten Erkenntnisse für die Beurteilung der Zuständigkeit dem Kläger denn noch gefehlt haben sollen.

Dass trotz der erkannten Zuständigkeit eines anderen Leistungsträgers eine Weiterleitung nicht vorgenommen wurde, erscheint schwerlich nachvollziehbar, verdeutlicht aber die sehenden Auges erfolgte Erbringung von Leistungen trotz selbst angenommener fehlender Zuständigkeit als erstangegangener Träger, welche hier im Regelungsgefüge der in Betracht kommenden Erstattungsansprüche nach § 16 SGB IX und §§ 102 ff. SGB X einen Kostenerstattungsanspruch für die erbrachten Leistungen der Eingliederungshilfe ausschließt. Denn – wie bereits dargestellt – hat ein Träger seine Zuständigkeit verneint und leistet er, obwohl ein anderer Rehabilitationsträger nach dem Ergebnis seiner Prüfung zuständig ist, greift er zielgerichtet in fremde Zuständigkeiten ein und missachtet das Weiterleitungsgebot des § 14 Abs. 1 Satz 2 SGB IX, weswegen er – von den seitens des SG angeführten, hier nicht vorliegenden Ausnahmefällen abgesehen – im Ergebnis von jeglicher Erstattung ausgeschlossen ist (vgl. BSG, Urteil vom 8. März 2016 – B 1 KR 27/15 R –, SozR 4-3250 § 14 Nr. 23, Rdnr. 18 m.w.N.; LSG Hamburg, Urteil vom 30. Juni 2020 – L 3 R 135/18 – juris Rdnr. 40). Der Umstand, dass seitens des Beklagten nach Ablauf des Zweiwochenzeitraums nach Antragstellung zeitweise eine eigene Zuständigkeit angenommen worden ist, ändert an dieser Sach- und Rechtslage nichts.

Die Kostenentscheidung beruht auf § 197a Abs. 1 Satz 1, Abs. 3 SGG i. V. m. §§ 154 Abs. 1, 155 Abs. 2 Verwaltungsgerichtsordnung (VwGO). Die Beteiligten sind im vorliegenden Erstattungsstreit nicht von den Gerichtskosten freigestellt (§ 197a Abs. 3 SGG; vgl. BSG, Beschluss vom 28. Januar 2016 - B 13 SF 3/16 S - juris Rdnr. 8).

Die Revision war nicht zuzulassen, da Gründe hierfür (vgl. § 160 Abs. 2 SGG) nicht vorliegen.

Rechtskraft
Aus
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