Die Berufung der Beklagten gegen das Urteil des Sozialgerichts Reutlingen vom 20. Januar 2021 wird zurückgewiesen.
Die Beklagte erstattet dem Kläger die außergerichtlichen Kosten für das Berufungsverfahren in voller Höhe. Für die erste Instanz verbleibt es bei der Kostenentscheidung des Sozialgerichts Reutlingen.
Gründe
I.
Die Beklagte wendet sich mit ihrer Berufung gegen ihre Verurteilung zur Gewährung einer Verletztenrente und weiterer Heilbehandlung wegen der Folgen eines anerkannten Arbeitsunfalls.
Der Kläger ist im Jahre 1961 geboren und wohnt im Inland. Er war als Heizkörperinstallateur in einem Mitgliedsunternehmen der Beklagten beschäftigt und in dieser Eigenschaft gesetzlich unfallversichert. Nach dem Unfall wurde er zum 31. März 2018 entlassen.
Am 15. Februar 2018 rutschte er während der Arbeit auf einer Eisplatte aus und stürzte auf die rechte Körperseite. S stellte am selben Tage Schürfwunden im Gesicht und eine Kortikalis-Unterbrechung am distalen Radius dorsalseitig ohne Dislokation (körperferner Speichenbruch) rechts fest. Der Speichenbruch wurde mit einer Gipsschiene zur Ruhigstellung von Handgelenk und Unterarm sowie mit Schmerzmedikamenten behandelt.
Die Beklagte erfuhr nach Aktenlage am 28. Februar 2018 von dem Unfall. Der Arbeitgeber erstattete auf ihre Aufforderung hin am 21. März 2018 Unfallanzeige.
Der Kläger wurde - durchgängig mit der Diagnose „distale Radiusfraktur re.“ - physiotherapeutisch bei „Reha-Aktiv“ in M. behandelt. Dort wurden ab Ende März nach der Abnahme der Schiene Beeinträchtigungen der rechten Schulter bemerkt und behandelt. Entsprechende Berichte gingen jedoch nicht bei der Beklagten ein.
Erst in einem Zwischenbericht vom 22. Juni 2018 teilte S1 mit, die rechte Schulter des Klägers sei „schmerzhaft eingeschränkt“ mit einer Anteversion von 60° und einer Abduktion von 40°. Er äußerte den Verdacht auf eine adhäsive Kapsulitis. Bei einer Vorstellung in der Bklinik T am 19. Juli 2018 berichtete der Kläger, die Schmerzen in der rechten Schulter seien unmittelbar nach dem Ablegen der Schiene etwa sechs Wochen nach dem Unfall aufgetreten. Die Klinik bestätigte den Verdacht einer „frozen shoulder“. Es liege ein relativ hartes Kapselmuster vor, der Jobe-Test sei leicht positiv bei Schmerzhaftigkeit, die sonstigen Rotatorenmanschetten-Tests seien negativ. Eine MRT-Untersuchung am 23. Juli 2018 ergab eine AC-Gelenksarthrose und eine Partialläsion im Musculus supraspinatus ansatznah sowie Flüssigkeit in der Bursa subdeltoidea subacromialis ohne Nachweis eines Knochenödems (Bericht S2 vom 8. August 2018). Auch auf Grund dieser Untersuchung stellte die Bklinik am 2. August 2018 die gesicherte Diagnose einer Kapsulitis. Die Schultergelenksarthrose sei degenerativ, die Kapsulitis dagegen Folge der unfallbedingten Ruhigstellung.
F führte unter dem 2. Oktober 2018 aus, er habe in vielen Textquellen keinen Hinweis finden können, dass eine Ruhigstellung durch Unterarmschiene zu einer „frozen shoulder“ führe. Bei dieser Art der Ruhigstellung sei die Schulter frei beweglich. Ferner zeige die MRT keine typischen Zeichen einer Kapsulitis, aber sehr starke degenerative Veränderungen. Die Beklagte stellte daraufhin die Behandlung der „frozen shoulder“ zu ihren Lasten ein.
Die Bklinik teilte am 2. Oktober 2018 mit, die distale Radiusfraktur sei knöchern konsolidiert ausgeheilt. Beschwerdeführend sei die - „unfallabhängige“ - adhäsive Kapsulitis rechts. S führte auf Nachfrage der Beklagten am 20. Dezember 2018 aus, die weiterhin nötige Behandlung der Schulter sei auf Krankenkassenkosten zu veranlassen.
Der Kläger war wegen des Speichenbruchs bis 21. Dezember 2018 arbeitsunfähig und erhielt Verletztengeld. Danach war er arbeitslos. Ab Sommer 2019 bewilligte die Beklagte mehrere Leistungen zur Teilhabe am Arbeitsleben („Berufswege-Coaching“ und Eingliederungszuschüsse). Die endgültige Wiedereingliederung gelang ab September 2020.
Nachdem sich der Kläger im August 2019 nach einer Rente erkundigt hatte, erstattete Orthopäde F1 im Auftrag der Beklagten den „abschließenden Untersuchungsbericht“ vom 25. September 2019. Er teilte mit, die Armhebung betrage rechts seitwärts 60° und vorwärts 120° (links 180°). Der Kläger sei auf den ausgestreckten Arm gefallen. Aus der Radiusfraktur sei zu schließen, dass dabei erhebliche Kraft eingewirkt habe. Diese Kraft sei über den Arm in die Schulter eingeleitet worden. Der Kläger habe initial über Schmerzen dort geklagt, diese hätten die behandelnden Ärzte jedoch nicht dokumentiert. Auch habe er den Arm wegen der Schiene über mehrere Wochen ruhig gehalten. Es sei daher durchaus von einer Stauchung der Schulter mit Reizung der Supraspinatussehne und der Bursa subacromialis auszugehen, die sekundär auf Grund der primären Schonhaltung zu einer „frozen shoulder“ geführt habe. Konkurrierende Faktoren seien nicht ersichtlich. Der Unfall sei die Hauptursache. An dieser Einschätzung hielt F1 in einem Telefonat am 14. Oktober 2019 fest, als eine Mitarbeiterin der Beklagten Nachfragen stellte. Er führte hier ergänzend aus, die „frozen shoulder“ des Klägers lasse sich physiotherapeutisch noch weitergehend behandeln, sodass keine rentenberechtigende MdE zu erwarten sei.
F teilte am 8. November 2019 mit, natürlich könne eine „frozen shoulder“ auch unfallbedingt entstehen. Hier jedoch sei der Zusammenhang sehr unwahrscheinlich. Diese Diagnose komme auch ohne Unfall oder Ruhigstellung vor. Auch habe es vier Monate lang keine Hinweise auf eine Schädigung der Schulter als Erstkörperschaden gegeben.
Mit Bescheid vom 4. Dezember 2019 erkannte die Beklagte das Ereignis als Arbeitsunfall und als unfallbedingte Gesundheitsschäden Schürfwunden und einen folgenlos ausgeheilten Speichenbruch an. Die arthrotischen und entzündlichen Veränderungen am rechten Handgelenk, die Veränderungen am rechten Obergrätenmuskel (M. supraspinatus) und die adhäsive Kapsulitis seien unfallunabhängig. Ansprüche auf Heilbehandlung und Verletztengeld über den 21. Dezember 2018 hinaus oder auf Gewährung einer Verletztenrente beständen nicht. Sie führte aus, die Schulter sei jederzeit frei beweglich gewesen. Auch seien die Beschwerden nicht unmittelbar nach der Gipsabnahme, sondern erst etwa vier Monate später geäußert worden.
Den Widerspruch des Klägers wies die Beklagte am 23. April 2020 zurück.
Der Kläger hat am 7. Mai 2020 Klage zum Sozialgericht (SG) Reutlingen erhoben und die Gewährung von Heilbehandlung und Verletztengeld über den 21. Dezember 2018 hinaus sowie die Feststellung „einer rentenberechtigenden MdE“ begehrt. Er hat vorgetragen, die Funktionsfähigkeit des Schultergelenks sei weiterhin schlecht, eine Armhebung sei nur noch bis 45° möglich.
Das SG hat von Amts wegen den H mit der Erstellung des Gutachtens vom 29. Oktober 2020 beauftragt. Der Sachverständige hat bekundet, die schmerzfreie Bewegungseinschränkung am Handgelenk des Klägers sei degenerativ bedingt. An der rechten Schulter bestehe eine adhäsive Kapsulitis mit einer schmerzhaften Bewegungseinschränkung (Armhebung 90° vor- und 85° seitwärts [links 150°]). Diese sei durch den Unfall bedingt. Natürlich könne eine „frozen shoulder“ unfallunabhängig auftreten. Hier jedoch habe der Arbeitsunfall zu einer Stauchung im Schultergelenk geführt. Der Verlauf passe in idealer Weise zu einem Auslöser um den Zeitpunkt des Unfalls herum. Dies sei deutlich wahrscheinlicher als eine zufällige Entstehung ohne Bezug zum Unfall.
Auf die Einwände der Beklagten, es gebe keine Hinweise auf ein unfallbedingtes Trauma und es bestehe mit der AC-Gelenksarthrose eine konkurrierende Ursache, hat H am 12. November 2020 erwidert. Die Stauchungskräfte, die zur Rissbildung in der Speiche geführt hätten, müssten sich aus einfachen biomechanischen Überlegungen heraus in irgendeiner Form in Oberarm und Schulter fortgesetzt haben. Dass das Ellenbogengelenk ungeschädigt geblieben sei, schließe keineswegs eine Verletzung der Schulter aus. Die Arztberichte nach dem Unfall seien insgesamt inhaltsfrei, sie verzeichneten sogar an der Speiche keine Beschwerden, obwohl dort ein Knochenbruch vorgelegen habe. Eine AC-Gelenkarthrose mit Impingement sei bei einem 56-jährigen kein relevanter pathologischer Befund. Auch passten die Schädigungen weder zu einer symptomatischen AC-Gelenkarthrose noch zu einem klassischen Impingement.
Mit Urteil vom 20. Januar 2021, im Einvernehmen mit beiden Beteiligten ohne mündliche Verhandlung, hat das SG die Beklagte „unter Abänderung des Bescheids vom 4. Dezember 2019 in der Gestalt des Widerspruchsbescheids vom 23. April 2020 verurteilt, dem Kläger ab 22. Dezember 2018 eine Verletztenrente nach einer MdE um 20 vH und weiter(e) Heilbehandlung zu gewähren“. Im Übrigen hat es die Klage abgewiesen und eine Kostenquote von 4/5 ausgesprochen. Der Antrag auf Feststellung einer rentenberechtigenden MdE sei auf die Gewährung einer Verletztenrente gerichtet. Er sei begründet; ebenso könne der Kläger ab dem 22. Dezember 2018 weitere Heilbehandlung wegen der Schulter verlangen. Dass die Kapsulitis unfallbedingt sei, folge aus den Ausführungen Hs. Die Bewegungseinschränkung führe zu einer MdE um 20 vH. Dagegen sei der Antrag wegen Verletztengeldes über den 21. Dezember 2018 hinaus unbegründet, da der Kläger nicht mehr arbeitsunfähig gewesen sei.
Gegen dieses Urteil hat die Beklagte am 16. Februar 2021 Berufung erhoben. Eine traumatische Schädigung der Schulter im Sinne eines Unfallerstschadens sei weiterhin nicht im Vollbeweis festzustellen. Bei der Untersuchung am Unfalltag seien keine eindeutigen Zeichen einer Schulterverletzung, etwa ein „drop-arm-sign“, bemerkt worden. Vielmehr habe der Kläger erstmals am 22. Juni 2018 Beschwerden angegeben. Ein Abstand von vier Monaten sei zu lang, um für einen Unfallzusammenhang zu sprechen.
Die Beklagte beantragt,
das Urteil des Sozialgerichts Reutlingen vom 20. Januar 2021 aufzuheben und die Klage - insgesamt - abzuweisen.
Der Kläger beantragt,
die Berufung zurückzuweisen.
Er hat behauptet, schon vor dem 22. Juni 2018 Beschwerden angegeben zu haben, und insoweit angeregt, seinen Physiotherapeuten zu befragen.
Der Senat hat S1 uneidlich als Zeugen vernommen und das Vorerkrankungsverzeichnis des Klägers von der AOK Baden-Württemberg sowie die Behandlungsunterlagen des Physiotherapeuten „Reha-Aktiv“ in M. beigezogen. Danach ist von Amts wegen W mit einer weiteren Begutachtung, insbesondere einer Würdigung der neu eingeführten Aussagen und Unterlagen, beauftragt worden. Der Sachverständige hat sich in seinem Gutachten vom 23. Juni 2021 vollen Umfangs den Feststellungen und Schlussfolgerungen Hs angeschlossen.
Ebenso folgt nunmehr der Beratungsarzt der Beklagten, W1, der Einschätzung der Gerichtssachverständigen, die Kapsulitis sei unfallbedingt und habe zu einer rentenberechtigenden MdE geführt (Stellungnahme vom 26. Juli mit Ergänzung vom 2. August 2021).
Nachdem die Beklagte gleichwohl an ihrem Antrag festhält, hat der Senat mit Schreiben vom 11. August 2021 eine Entscheidung durch Beschluss angekündigt und Gelegenheit zur Stellungnahme binnen vier Wochen (bis zum 8. September 2021) gegeben. Die Beklagte hat am 9. September 2021 ergänzend zur Sache, aber nicht zum Verfahren Stellung genommen.
Wegen der Ergebnisse der Beweisaufnahme im Einzelnen verweist der Senat auf die beigezogenen Unterlagen, die schriftliche Aussage S1s sowie die Gutachten von H und W und die beratungsärztliche Stellungnahme von W1.
II.
Der Senat entscheidet nach § 153 Abs. 4 SGG durch Beschluss über die Berufung der Beklagten Er ist einstimmig der Meinung, dass die Berufung unbegründet ist. Eine mündliche Verhandlung ist nicht notwendig, daher sind auch die ehrenamtlichen Richter nicht hinzuziehen. Die Beteiligten sind zu dieser Verfahrensweise gehört worden und haben keine Einwände erhoben.
Die Berufung ist statthaft (§ 143 SGG), insbesondere nicht zulassungsbedürftig, weil die Beklagte zu einer laufenden Sozialleistung über mehr als ein Jahr verurteilt worden ist (§ 144 Abs. 1 Satz 2 SGG). Sie ist auch im Übrigen zulässig (§ 151 SGG). Sie ist aber nicht begründet. Das angegriffene Urteil des SG trifft zu und ist rechtmäßig.
Zu Recht hat das SG den Antrag des Klägers auf Feststellung einer MdE als Klage wegen einer Verletztenrente ausgelegt. Wörtlich genommen wäre er unzulässig gewesen, da er auf eine Elementenfeststellung abzielte, die nicht in § 55 Abs. 1 Halbsatz 1 SGG zugelassen ist.
Mit dieser Maßgabe war die Klage zulässig. Die Beklagte hatte in dem angegriffenen Bescheid konkret über die geltend gemachten Leistungen entschieden und ein Vorverfahren hat stattgefunden. Es ist auch nicht zu beanstanden, dass das SG Heilbehandlung auf einen Leistungsantrag des Klägers hin dem Grunde nach (§ 130 Abs. 1 SGG) zugesprochen hat. Zwar entscheiden die Unfallversicherungsträger nach § 26 Abs. 5 SGB VII im Ermessenswege über konkrete Heilbehandlungsmaßnahmen, sodass regelmäßig nur eine Verpflichtungsklage auf Bescheidung (§ 131 Abs. 3 SGG) in Betracht kommt. Hier jedoch betrifft der Antrag im Wesentlichen bereits durchgeführte Heilbehandlungsmaßnahmen zwischen Ende 2018 und heute, die zu Lasten der Krankenkasse des Klägers abgerechnet worden sind. Insoweit wird sich der Streit um konkrete Maßnahmen in das Erstattungsverfahren verlagern.
Ob die Klage wegen Verletztengeldes zulässig und begründet war, muss der Senat mangels Berufung oder Anschlussberufung des Klägers nicht entscheiden. Die anderen geltend gemachten Ansprüche auf Verletztenrente ab dem 22. Dezember 2018 und weitere Heilbehandlung der Schulter hat das SG zu Recht bejaht.
Diese beiden Ansprüche (§§ 56 Abs. 1, § 26 Abs. 1 SGB VII) setzen jeweils voraus, dass die Gesundheitsstörung, die Grundlage der arbeitsmarktrelevanten Funktionseinschränkungen ist oder die einer Heilbehandlung bedarf, durch den Versicherungsfall, hier also den Arbeitsunfall (§ 8 Abs. 1 SGG), entstanden ist. Hinzu kommt zum einen, dass die Funktionsstörungen ein rentenberechtigendes Ausmaß erreichen, als - in der Regel – eine MdE um 20 vH. Zum anderen muss Behandlungsbedürftigkeit bestehen. Alle diese Voraussetzungen liegen hier vor.
Eine Gesundheitsstörung ist „durch“ einen Arbeitsunfall entstanden, wenn sie durch den Unfall selbst (Gesundheitserstschaden) oder mittelbar durch diesen Schaden (Folgeschaden) wesentlich verursacht worden ist. Eine besondere Form der mittelbaren Verursachung liegt - unter anderem - nach § 11 Abs. 1 Nr. 1 SGB VII vor, wenn der weitere Schaden erst durch eine Heilbehandlungsmaßnahme betreffend den Erstschaden entstanden ist. Der Anspruch setzt grundsätzlich eine „objektive“, d.h. verifizierbare, Gesundheitsstörung voraus, die spezifisch durch den Unfall oder den Gesundheitserstschaden verursacht worden ist (vgl. BSG, Urteil vom 5. Juli 2011 - B 2 U 17/10 R - BSGE 108, 274 = SozR 4-2700 § 11 Nr. 1 m.w.N.). Dieser Gesundheitsschaden muss mit dem Maße des Vollbeweises, also mit an Sicherheit grenzender Wahrscheinlichkeit, für das Gericht feststehen. Dagegen genügt für den Nachweis der (wesentlichen) Ursachenzusammenhänge zwischen dem Unfallereignis und dem Erst- bzw. dem Folgeschaden die (hinreichende) Wahrscheinlichkeit, nicht allerdings nur die bloße Möglichkeit (BSG, Urteil vom 2. April 2009 - B 2 U 29/07 R -, juris, Rn 16). Eine „spezifische“ Verursachung liegt dann vor, wenn der Unfall - mit Wahrscheinlichkeit - die rechtlich wesentliche Ursache des Gesundheitsschadens war. Sofern ein einheitlicher Gesundheitsschaden mehrere Ursachen hat, ist rechtlich wesentlich nur die bei wertender Betrachtung überwiegende Ursache. Nur bei abgrenzbaren Anteilen des Gesundheitsschadens kommt eine Verursachung durch mehrere Umstände in Betracht (vgl. im Einzelnen BSG, Urteil vom 9. Mai 2006 - B 2 U 1/05 R -, Juris).
Auf dieser Grundlage kommt auch der Senat zu der Entscheidung, dass die „frozen shoulder“ des Klägers, also die adhäsive Kapsulitis in der rechten Schulter, Folge des Unfalls vom 15. Februar 2021 ist. Diese Einschätzung haben nicht nur die beiden Gerichtssachverständigen H und W geteilt, sondern auch im Verwaltungsverfahren F1, den die Beklagte mit der abschließenden Untersuchung betraut hatte, sowie jetzt im Berufungsverfahren der W1. Der Senat sieht keine durchschlagenden Argumente, wieso dieser übereinstimmenden Einschätzung nicht zu folgen sei.
Insbesondere steht nach dem Ergebnis der Beweisaufnahme auch zur Überzeugung des Senats fest, dass der Kläger durch seinen Sturz einen „Erstschaden“ erlitten hat, und zwar eine Stauchung der Schulter und ggfs. auch schon eine geringfügige Schädigung des M. supraspinatus. Dieser Schaden kann als - vollbeweislich - gesichert angenommen werden.
Vollbeweis heißt nicht absolute Sicherheit (vgl. § 286 ZPO, § 128 Abs. 1 SGG). Rein theoretische Zweifel, die immer vorliegen können, schaden nicht. Vielmehr ist nur ein „für das praktische Leben brauchbarer Grad von Gewissheit“ notwendig (BSG, Urteil vom 31. Januar 2012 – B 2 U 2/11 R –, SozR 4-2700 § 8 Nr 43, Rn. 28, juris; unter Hinweis auf Reichold, in: Thomas/Putzo, ZPO, 32. Aufl 2011, § 286 Rn. 2 mwN). Insbesondere muss auch ein „Gesundheitserstschaden“ nicht zwingend bildgebend oder klinisch auf Grund eindeutiger Symptome unmittelbar nach dem Unfall gesichert werden. Zwar kommt dem zeitlichen Abstand zwischen Ereignis und Sicherung des Gesundheitsschadens Bedeutung zu: So besteht bei einer sehr viel späteren Feststellung eher die Möglichkeit, dass zwischenzeitliche andere Ereignisse oder das Fortschreiten einer degenerativen Veränderung den Schaden verursacht haben. Aber grundsätzlich können die Umstände (Indizien), die den Schluss auf die Entstehung eines Erstschadens tragen sollen, auch nach längerer Zeit festgestellt werden. Dies gilt zum Beispiel, wenn eine nachvollziehbare Erklärung dafür vorliegt, dass es bis zur ersten (ärztlichen) Feststellung länger gedauert hat als zu erwarten.
Vor diesem Hintergrund spricht es nicht ausschlaggebend gegen einen Zusammenhang, dass die als Erstschaden angeschuldigte Stauchung der Schulter bzw. eventuell schon vorhandene Risse im M. supraspinatus nicht unmittelbar nach dem Unfall festgestellt worden sind. Eine bildgebende Untersuchung hatte D-Arzt S nicht durchgeführt. Und dass z.B. keine erhebliche Bewegungseinschränkung der Schulter festgestellt worden ist, entspricht dem Bild der Entstehung einer „frozen shoulder“. Dies hat nicht nur bereits H ausgeführt, auch W hat darauf hingewiesen, dass die Entstehung der Symptomatik wie beim Kläger – gerade wenn kein Makrotrauma als Erstschaden vorliegt – einige Zeit benötigen kann, dass dies aber nicht gegen einen Zusammenhang spricht, wenn aussagekräftige Brückensymptome vorliegen. Dies entspricht dem wissenschaftlichen Meinungsstand, der lediglich einen „fassbaren zeitlichen Zusammenhang“ fordert (vgl. Schönberger/Mehrtens/Valentin, Arbeitsunfall und Berufskrankheit, 9. Aufl. 2017, S. 559).
Der Abstand bis zur Feststellung des Schadens war im Falle des Klägers auch nicht so lang, dass ein Rückschluss auf den Unfall als Ursache ausgeschlossen ist.
Wie lange ein „zeitlich fassbarer Zusammenhang“ angenommen werden kann, ist dabei nicht konkret festgelegt. Es mag daher angegangen sein, einen Zusammenhang zu verneinen, solange nach Aktenlage die ersten Beschwerden erst vier Monate nach dem Unfall bei der Untersuchung bei S1 gesichert worden waren. Nunmehr, im Berufungsverfahren, hat sich aber geklärt, dass bereits ab dem 26. März 2018 erhebliche Einschränkungen der Schulter, auch der Beweglichkeit, vorlagen. Die behandelnden Physiotherapeuten bei „Reha-Aktiv“ haben dies in den Unterlagen notiert und ihre Behandlung in den nächsten Wochen (z.B. am 18. April und ab 30. Mai 2018) anscheinend sogar vorrangig auf die Schulter gerichtet und nichtmehr auf den Unterarm. Hinzu kommt, dass der Unterarm des Klägers bis zum 23. März 2018 ruhiggestellt war, zunächst durch eine Gips- und ab dem 5. März 2018 durch eine „Krewi“-Schiene. Diese Ruhigstellung kommt zwar eher nicht selbst als (mittelbare) Ursache der Kapsulitis in Betracht, wie vor allem W ausführt. Aber die Ruhigstellung erklärt, dass die Schmerzen und die Bewegungseinschränkung der Schulter zunächst nicht bemerkt wurden, eventuell auch nicht vom Kläger selbst. Es ist nachvollziehbar, dass ein eingeschienter Arm weniger benutzt wird, auch bei an sich freier Schulterbeweglichkeit.
Der Senat würdigt in diesem Zusammenhang auch die beratungsärztliche Stellungnahme von W1, der ebenfalls ausgeführt hat, dass ein idiopathisches Auftreten der Schultersteife nur fünfeinhalb Wochen nach diesem Unfall sehr unwahrscheinlich erscheint und dass wegen dieses geringen zeitlichen Abstands zu dem Unfall die Beschwerden des Klägers ab Ende März auch als Brückensymptome einer primär nicht erfassten Schultergelenksverletzung angesehen werden können, die bei der Behandlung der distalen Radiusfraktur in den Hintergrund getreten ist.
Für einen Zusammenhang spricht ferner, dass der Hergang des Unfalls, wie ihn der Kläger unwidersprochen schildert, geeignet war, eine Schulterschädigung mit der Folge einer Kapsulitis zu verursachen. Für das Eintreten einer sekundären Schultersteife (posttraumatisch/postoperativ) wird ein primäres Trauma im Bereich des Schultergelenks vorausgesetzt. Neben Frakturen oder Weichteilverletzungen können aber auch sogenannte einfache Schulterprellungen oder Zerrungen als Primärverletzung in Frage kommen (Schönberger/Mehrtens/Valentin, a.a.O., S. 559). Eine solche Prellung kann hier angenommen werden, auch wenn ihre Folgen erst bildgebend im August 2018 festgestellt worden sind. Diesen Punkt hat insbesondere H in seiner ergänzenden Stellungnahme vom 12. November 2020 herausgearbeitet. Er hat ausgeführt, dass die Kräfte, die bei dem Sturz auf den ausgestreckten Arm aufgetreten sind und die so erheblich waren, dass sie zu einer Radiusfraktur führten, sich auch in weiter oben gelegenen Bereichen des Arms werden ausgewirkt haben („biomechanischen Überlegungen“, solche Kräfte „verschwinden nicht im Nirvana“). Sie mögen dort schwächer gewesen sein, aber wie ausgeführt reicht nach der medizinischen Literatur auch ein Mikrotrauma der Schulter als Ursache einer Kapsulitis aus. Danach ist es auch nachvollziehbar, das Ellenbogen und Oberarmknochen nicht verletzt worden sind. Dass ein Knochen stabiler ist als ein komplexes Gelenk wie die Schulter, ist offenkundig. Und hinsichtlich des Ellenbogens hat H überzeugend dargelegt, dass der im Vergleich zur Schulter andere Gelenkaufbau dazu führen kann, dass dort kein Schaden entstanden ist.
Nach dieser Einschätzung ist es nicht mehr relevant, ob - auch - die Ruhigstellung des Unterarms durch die Schienen eine (mittelbare) Ursache der Kapsulitis war (§ 11 Abs. 1 Nr. 1 SGB VII). Allerdings erscheint auch diese Form der Verursachung denkbar, worauf auch das SG hingewiesen hat. Entgegen den Ausführungen des Beratungsarztes F im Verwaltungsverfahren kennt die medizinische Literatur die Entstehung einer Kapsulitis durch „Immobilisation, insbesondere die Blockierung bestimmter Bewegungen des Schultergelenks“ (Schönberger/Mehrtens/Valentin, a.a.O., S. 559 m.w.N.). Im Falle des Klägers war zwar die Schulter selbst nicht immobilisiert, aber es erscheint - wie ausgeführt - denkbar, dass sie der Kläger wegen der Unterarmschiene kaum oder gar nicht benutzt hat.
Es liegen auch keine Alternativursachen vor, die ebenfalls ganz oder zumindest als wesentliche (unversicherte) Mitursache die Schultersteife des Klägers verursacht haben. Insbesondere scheiden die - anlässlich der Untersuchungen nach dem Unfall bildgebend festgestellte - AC-Gelenksarthrose und das leichte Impingement aus. Dies entnimmt der Senat den beiden Gerichtsgutachten. H hat seine Erwägung, diese Schäden des Klägers hätten noch kein pathologisches Ausmaß erreicht, in seiner ergänzenden Stellungnahme durch Verweise auf mehrere Studien untermauert. Danach sind Schäden wie beim Kläger in seiner Altersgruppe bei bis zu 93 % der Untersuchten festgestellt worden. Hinzu kommt, dass der Kläger vor dem Unfall keine Beschwerden an der Schulter hatte, also auch keine Hinweise auf eine idiopathische Genese vorliegen. Dies ergibt sich aus dem Vorerkrankungsverzeichnis der AOK Baden-Württemberg, das der Senat im Berufungsverfahren beigezogen hat. H hat letztlich noch darauf hingewiesen, dass weder eine AC-Gelenksarthrose noch ein Impingement zu einer Schädigung führen können, die zu den Befunden bei dem Kläger passt. Dieser Hinweis deckt sich mit der wissenschaftlichen Literatur. Als mögliche Ursachen einer idiopathischen Kapsulitis (die also nicht traumatisch bedingt ist) werden dort ein CRPS, der M. Dupuytren, Diabetes mellitus, Fettstoffwechselstörungen, Schilddrüsenerkrankungen, Myokardinfarkte, Apoplexe, der M. Parkinson und das metabolische Syndrom diskutiert (Schönberger/Mehrtens/Valentin, a.a.O.), aber keine Arthrosen der Schultergelenke oder ein Impingement-Syndrom. Hinzu kommt, dass die idiopathische Schultersteife in der Gesamtbevölkerung nur sehr selten auftritt. Hierzu hat W in seinem Gutachten vom 23. Juni 2021 ausgeführt, dass die Wahrscheinlichkeit, dass der 56-jährige Kläger im Frühjahr 2018 eine idiopathische Kapselschrumpfung ohne Unfall erlitten hätte, deutlich geringer als ein Promille war, dies umso mehr als bei ihm keine der genannten Erkrankungen vorlag, insbesondere kein Diabetes. Diese Wahrscheinlichkeit erscheint vernachlässigenswert.
Hiernach besteht zunächst der Anspruch auf weitere Heilbehandlung. Die Kapsulitis des Klägers hat auch zu Behandlungsbedürftigkeit über November bzw. den 21. Dezember 2018 hinaus geführt. Bereits in der Verwaltungsakte ist eine fortlaufende Physiotherapie verzeichnet. Bereits F1 hatte sogar noch in seinem Untersuchungsbericht vom 25. September 2019 bzw. in dem Telefonat am 14. Oktober 2019 darauf hingewiesen, dass sich die „frozen shoulder“ des Klägers physiotherapeutisch noch weitergehend behandeln lasse.
Auch für den Rentenanspruch liegen die weiteren Voraussetzungen vor.
Zunächst folgen aus der Schädigung Funktionseinbußen, die zu einer MdE um 20 vH führen.
Die MdE richtet sich nach § 56 Abs. 2 Satz 1 SGB VII nach dem Umfang der sich aus der Beeinträchtigung des körperlichen und geistigen Leistungsvermögens ergebenden verminderten Arbeitsmöglichkeiten auf dem gesamten Gebiet des Erwerbslebens (Schönberger/Mehrtens/Valentin, a.a.O., S. 123). Die Bemessung der MdE ist Tatsachenfeststellung des Gerichts gemäß § 128 Abs. 1 Satz 1 SGG (BSG, Urteil vom 18. Januar 2011 – B 2 U 5/10 R –, SozR 4-2700 § 200 Nr. 3, Juris, Rn. 16). Die dazu in Rechtsprechung und Schrifttum herausgearbeiteten Erfahrungssätze sind zu beachten (Schönberger/Mehrtens/Valentin, a.a.O., S. 124). Sie sind zwar nicht für die Entscheidung im Einzelfall bindend, bilden aber die Grundlage für eine gleiche und gerechte Bewertung der MdE in zahlreichen Parallelfällen der täglichen Praxis und unterliegen ständigem Wandel (BSG, Urteil vom 22. Juni 2004 - B 2 U 14/03 R -, BSGE 93, 63 <65>, juris).
Die Höhe der MdE richtet sich bei Schulterverletzungen gemäß der unfallmedizinischen Fachliteratur (vgl. Schönberger/Mehrtens/Valentin, a.a.O., S. 560) maßgeblich nach den Bewegungseinschränkungen. Danach kommt eine MdE um 20 vH ab einem Bewegungsmaß bei der Armhebung vorwärts/seitwärts bis 90° in Betracht. Maßgeblich ist insoweit die aktive Beweglichkeit, grundsätzlich gemessen nach der Neutral-Null-Methode (Schönberger/Mehrtens/Valentin, a.a.O., S. 110 f.). Diese Bewertung gilt schon bei freier Drehfähigkeit. Bei einer zusätzlichen Einschränkung der Rotationsfähigkeit, die zu einer konzentrischen Bewegungseinschränkung um die Hälfte führt, kommt sogar eine MdE um 25 vH in Betracht (Schönberger/Mehrtens/Valentin, a.a.O., S. 560). Bei dem Kläger ist vor allem die Armhebung auf weniger als die Waagerechte eingeschränkt, hinzu kommen Einschränkungen der Innen- und Außenrotation. Diese Einschränkung lag schon Ende 2018 vor, wie S1 in seiner Zeugenaussage gegenüber dem Senat bekundet hat. Danach hatte er damals zuletzt (26. Februar 2019) die Beweglichkeit vorwärts mit 95° und seitwärts nur mit 90° gemessen, die Außenrotation betrug sogar nur 10°. Bis zu den Begutachtungen im Gerichtsverfahren hatte sich diese Bewegungseinschränkung nicht gebessert. Bei H war die Armhebung nur noch bis 85° bzw. 90° möglich, dagegen lag eine verbesserte Rotation vor (auswärts/einwärts 30/0/50°). Zweifel an diesen Messwerten hat keine Seite geäußert. Vielmehr haben sowohl W als auch W1 bestätigt, dass diese Einschränkung bei dem Kläger zu einer MdE um 20 vH führt.
Ferner hat das SG den Rentenbeginn zutreffend auf den 22. Dezember 2018 gelegt. Dies war der Tag nach dem Tag, an dem der Anspruch auf Verletztengeld endete (vgl. § 72 Abs. 1 Nr. 1 SGB VII).
Die Entscheidung über die Kosten des Berufungsverfahrens beruht auf § 193 Abs. 1 SGG.
Gründe für eine Zulassung der Revision (§ 160 Abs. 2 SGG) liegen nicht vor