L 8 AY 33/16

Land
Niedersachsen-Bremen
Sozialgericht
LSG Niedersachsen-Bremen
Sachgebiet
Asylbewerberleistungsgesetz
1. Instanz
SG Hildesheim (NSB)
Aktenzeichen
S 42 AY 41/15
Datum
2. Instanz
LSG Niedersachsen-Bremen
Aktenzeichen
L 8 AY 33/16
Datum
3. Instanz
-
Aktenzeichen
-
Datum
-
Kategorie
Urteil
Leitsätze

1. Voraussetzung der Anspruchseinschränkung nach § 1a Nr. 1 AsylbLG a.F. bzw. § 1a Abs 2 S 1 AsylbLG ist, dass der Leistungsbezug das prägende Motiv für die Einreise nach Deutschland gewesen ist. Bei der Beurteilung der Motivationslage sind alle konkreten Umstände des Einzelfalles zu berücksichtigen. 2. Erfolgt die Einreise nach Deutschland, um eine im vorherigen Aufenthaltsland unabweisbare materielle Notlage zu beenden, ist das ggf. weitere Einreisemotiv der Lebensunterhaltssicherung durch staatliche Leistungen unter Umständen nicht in der Weise als prägend anzusehen sein, dass eine Einschränkung nach § 1a Nr 1 AsylbLG aF bzw. § 1a Abs 2 S 1 AsylbLG gerechtfertigt ist. Dies ist in aller Regel anzunehmen, wenn die leistungsberechtigte Person vor der Einreise einer extremen materiellen Notlage ausgesetzt gewesen ist, die der ernsthaften Gefahr einer unmenschlichen oder erniedrigenden Behandlung i.S.d. Art. 4 GRCh/Art. 3 EMRK gleichkommt. 3. Die Anspruchseinschränkung nach § 1a Nr 2 AsylbLG aF bzw. § 1a Abs 3 S 1 AsylbLG setzt ein Fehlverhalten des Leistungsberechtigten voraus, das monokausal für seine Nichtabschiebung ist. Das Erfordernis der Kausalität ist nur erfüllt, wenn keine außerhalb des Verantwortungsbereichs des Leistungsberechtigten liegenden Sachverhalte mitursächlich für den Nichtvollzug der Abschiebung sind (vgl. BSG v. 27.02.2019 - B 7 AY 1/17 R - juris Rn. 27).

Auf die Berufung der Klägerin werden das Urteil des Sozialgerichts Hildesheim vom 10. Juni 2016 aufgehoben und die Bescheide der Beklagten vom 15. und 21. Mai 2015 in Gestalt des Widerspruchsbescheides vom 24. August 2015 geändert.

Die Beklagte wird verurteilt, der Klägerin für die Zeit vom 13. Februar bis zum 30. Juni 2015 unter Anrechnung für diesen Zeitraum bereits gewährter Leistungen Grundleistungen nach § 3 AsylbLG zu bewilligen.

Die Beklagte hat die außergerichtlichen Kosten der Klägerin für das Verfahren zu erstatten.

Die Revision wird zugelassen.

 

Tatbestand

Die Beteiligten streiten um die Rechtmäßigkeit einer Leistungseinschränkung nach § 1a AsylbLG für die Zeit vom 13.2. bis 30.6.2015, insbesondere wegen des Vorwurfs einer Einreise zum Zwecke des Leistungsbezugs.

Die 1985 geborene Klägerin ist Staatsangehörige Nigerias und alleinerziehende Mutter ihrer kurz nach der Einreise nach Italien Mitte 2009 geborenen Tochter. Nach Anerkennung Internationalen Schutzes durch Italien reiste sie Anfang März 2014 nach Deutschland ein und gab bei der Stellung der Asylanträge (für sich und ihre Tochter) an, Staatsangehörige der Elfenbeinküste zu sein. Das BAMF lehnte die Asylanträge nach einem Treffer in der europäischen Datenbank zur Speicherung von Fingerabdrücken (EURODAC) - aber ohne Kenntnis von der Flüchtlingsanerkennung - wegen einer vorrangigen Zuständigkeit Italiens für den Asylantrag nach der sog. Dublin-III-Verordnung, VO (EU) 604/2013, ab und ordnete die Abschiebung in dieses Land an (Bescheid vom 13.5.2014). Die der Klägerin Anfang Oktober 2014 angekündigte Abschiebung scheiterte am 14.10.2014, weil ihr und ihrer Tochter von der Kirchengemeinde H. ab dem 13.10.2014 „Kirchenasyl“ gewährt wurde. Nachdem bereits die Abschiebungsanordnung wegen des Ablaufs der Überstellungsfrist nach Italien vom BAMF aufgehoben worden war, hatte die gegen den Bescheid vom 13.5.2014 beim Verwaltungsgericht Göttingen erhobene Klage auch insoweit Erfolg, dass die Ablehnung des Asylantrags als unzulässig aufgehoben wurde und damit eine erneute Entscheidung über die Asylanträge durch das BAMF erfolgen musste (Urteil vom 26.2.2015 - 3 A 278/14 -).

Nach Beendigung des Kirchenasyls, Einweisung in eine Obdachlosenunterkunft und Ausstellung einer Duldung beantragte die Klägerin bei der Beklagten am 13.2.2015 Leistungen nach dem AsylbLG, die ihr und ihrem Kind zunächst als Abschlag bzw. Notzahlung in monatlicher Höhe von 506,81 € gewährt wurden (in unterschiedlicher Höhe ausgezahlt am 13., 19. und 25.2., 16. und 30.3. sowie am 14. und 30.4.2015). Mitte März 2015 hörte die Beklagte die Klägerin zu einer beabsichtigten Einschränkung der Leistungen an, weil aufenthaltsbeendende Maßnahmen aus von der Klägerin zu vertretenden Gründen nicht vollzogen werden könnten. Diese machte daraufhin geltend, die Inanspruchnahme von Kirchenasyl stelle kein vorwerfbares Untertauchen dar, und erklärte bei einer persönlichen Vorsprache bei der Beklagten (Fachbereich Soziales) am 26.3.2015 u.a. zu ihren Einreisemotiven, sie habe nicht mehr gewusst, wovon ihr Kind und sie in Italien leben sollten, und sich keine Gedanken gemacht, wovon sie in Deutschland leben wollte. Sie habe auf Hilfe gehofft.

Mit Bescheid vom 15.5.2015 bewilligte die Beklagte der Klägerin und ihrer Tochter wegen des Vorwurfs der Verhinderung aufenthaltsbeendender Maßnahmen und der Einreise zum Zwecke des Leistungsbezugs für die Zeit vom 13.2. bis 31.5.2015 nach § 1a AsylbLG eingeschränkte Leistungen in Höhe der bereits ausgezahlten Beträge, wobei auf die Klägerin neben der als Sachleistung gewährten Unterkunft (einschließlich Heizung) Geldleistungen in monatlicher Höhe von 295,13 € entfielen. Die Beklagte kürzte hierbei den nach § 3 AsylbLG a.F. maßgeblichen Bedarfssatz für Alleinstehende um die darin berücksichtigten Verbrauchsausgaben für Freizeit, Unterhaltung, Kultur und Beherbungs- und Gaststättendienstleistungen in Höhe von 35,75 € sowie Haushaltsstrom von 28,12 €. Eine der Höhe nach entsprechende Bewilligungsentscheidung erging für Juni 2015 durch Bescheid der Beklagten vom 21.5.2015. Den gegen diese Bescheide gerichteten Widerspruch wies die Beklagte in der Sache zurück (Widerspruchsbescheid vom 24.8.2015).

Während des hiergegen am 18.9.2015 beim Sozialgericht (SG) Hildesheim angestrengten Klageverfahrens hat das BAMF die Asylanträge der Klägerin und ihrer Tochter wegen des bereits in Italien anerkannten Flüchtlingsschutzes erneut als unzulässig abgelehnt, zugleich aber Abschiebungsverbote hinsichtlich Italien und Nigeria festgestellt, weil bei einer Abschiebung der Klägerin und ihrer Tochter nach Italien aufgrund der derzeitigen Rückkehrbedingungen für Schutzberechtigte eine unmenschliche oder erniedrigende Behandlung i.S. des Art. 3 der Europäischen Menschenrechtskonvention (EMRK) anzunehmen sei. Eine Abschiebung nach Nigeria komme wegen des Flüchtlingsstatus nicht in Betracht (Bescheid des BAMF vom 25.5.2016). Nach Anhörung der Klägerin zu ihren Motiven für eine Einreise nach Deutschland - danach seien ursächlich die prekären Verhältnisse in Italien, zur Bestreitung ihres Lebensunterhaltes habe sie ohne festen Wohnsitz betteln und sich prostituieren müssen - in mündlicher Verhandlung, hat das SG die Klage auf höhere Leistungen nach dem AsylbLG u.a. mit der Begründung abgewiesen, die Einschränkung der Leistungen sei nach § 1a Nr. 1 AsylbLG a.F. dem Grunde und der Höhe nach rechtmäßig. Das prägende und bestimmende Einreisemotiv sei die Erlangung von Leistungen nach dem AsylbLG gewesen, weil für die Ausreise aus Italien allein wirtschaftliche, aber keine politischen oder familiären Gründe ausschlaggebend gewesen seien (Urteil des SG vom 10.6.2016, der Klägerin zugestellt am 28.6.2016).

Hiergegen richtet sich die vom SG zugelassene und am 27.7.2016 eingelegte Berufung der Klägerin, die sich zuvor für etwa zwei Wochen in Italien aufgehalten hat, u.a. um ein italienisches Identitätsdokument zu verlängern und ihre bei einem Bekannten noch vorhandenen Habseligkeiten abzuholen. Unter Vertiefung ihres erstinstanzlichen Vorbringens macht sie geltend, dass das in der Vergangenheit liegende Kirchenasyl aufenthaltsbeendenden Maßnahmen nicht mehr entgegenstehe und auch kein vorwerfbares „Untertauchen“ darstelle, weil den Behörden ihr Aufenthaltsort bekannt gewesen sei. Zudem sei der Leistungsbezug nach dem AsylbLG nicht das prägende Motiv für ihre Einreise nach Deutschland gewesen, sondern ihre Angst um Leib und Leben - auch ihrer Tochter - wegen der Verhältnisse in Italien.

Die Klägerin beantragt schriftsätzlich,

das Urteil des Sozialgerichts Hildesheim vom 10.6.2016 aufzuheben, die Bescheide der Beklagten vom 15. und 21.5.2015 in Gestalt des Widerspruchsbescheides vom 24.8.2015 zu ändern und die Beklagte zu verurteilen, der Klägerin für die Zeit vom 13.2. bis zum 30.6.2015 unter Anrechnung für diesen Zeitraum bereits gewährter Leistungen Grundleistungen nach § 3 AsylbLG zu bewilligen.

Die Beklagte beantragt schriftsätzlich,

          die Berufung zurückzuweisen.

Sie hält die Entscheidung des SG für zutreffend.

Die Beteiligten haben sich mit einer Entscheidung ohne mündliche Verhandlung durch Urteil einverstanden erklärt (Schriftsätze vom 27.1. und 10.2.2021).

Wegen der weiteren Einzelheiten des Sach- und Streitstandes wird auf den Inhalt der Prozessakte und der beigezogenen Leistungs- und Ausländerakten der Beklagten Bezug genommen. Diese Akten haben dem Senat vorgelegen und sind Gegenstand der Entscheidungsfindung gewesen.

 

Entscheidungsgründe

Der Senat entscheidet über die Berufung mit dem Einverständnis der Beteiligten ohne mündliche Verhandlung durch Urteil (§ 124 Abs. 2 SGG).

Die form- und fristgerecht (§ 151 SGG) eingelegte und auch im Übrigen zulässige, insbesondere wegen der Zulassung durch das SG statthafte (§§ 143, 144 Abs. 1 und 3 SGG) Berufung ist begründet. Das SG hat die Klage zu Unrecht abgewiesen, weil die Klägerin gegen die Beklagte für die streitgegenständliche Zeit einen Anspruch auf Grundleistungen nach § 3 AsylbLG hat (bis 28.2.2015 nach der Übergangsregelung des BVerfG vom 18.7.2012 - 1 BvL 10/10, 1 BvL 2/11 - juris Rn. 98 ff. bzw. von März bis Juni 2015 nach § 3 AsylbLG i.d.F.v. 10. und 23.12.2014, BGBl. I 2187 und 2439, im Weiteren a.F.).

Gegenstand der kombinierten Anfechtungs- und Leistungsklage (§§ 54 Abs. 1 und 4, 56 SGG) sind die Bescheide der Beklagten vom 15. und 21.5.2015 in Gestalt des Widerspruchsbescheides vom 24.8.2015 (§ 95 SGG), wobei dahinstehen kann, ob die Entscheidungen über die der Klägerin zunächst ohne schriftlichen Bescheid gewährten Leistungen bloß vorläufig als Abschläge bzw. Notzahlungen oder konkludent und damit unbedingt (vgl. dazu BSG, Urteil vom 17.6.2008 - B 8 AY 11/07 R - juris Rn. 10) erfolgt sind. Diese Entscheidungen sind durch die angefochtene Leistungsbewilligung ersetzt worden und haben sich damit erledigt (§ 41 Abs. 2 VwVfG i.V.m. § 1 Nds. VwVfG).

Der Senat entscheidet über den von der Klägerin geltend gemachten Anspruch auf höhere Grundleistungen nach § 3 AsylbLG anstelle von nach § 1a Nr. 2 AsylbLG (bis 28.2.2015 i.d.F.v. 25.8.1998, BGBl. I 2505 bzw. ab 1.3.2015 i.d.F.v. 10.12.2014, BGBl. I 2187, im Weiteren a.F., die in den o.g. Fassungen unterschiedlich angegebenen Normadressaten sind für den vorliegenden Fall nicht von Belang) eingeschränkten Leistungen in zulässiger Weise durch ein Grundurteil i.S. des § 130 Abs. 1 Satz 1 SGG (vgl. dazu BSG, Urteil vom 26.6.2013 - B 7 AY 6/11 R - juris Rn. 11).

Der als Geduldete nach § 1 Abs. 1 Nr. 4 AsylbLG leistungsberechtigten Klägerin stehen (höhere) Leistungen nach § 2 Abs. 1 AsylbLG (bis 28.2.2015 i.d.F.v. 19.8.2007, BGBl. I 1970 und ab 1.3.2015 i.d.F.v. 10.12.2014, BGBl. I 2187) bereits wegen der dafür vorausgesetzten Vorbezugszeit (bis 28.2.2015) bzw. Aufenthaltsdauer in Deutschland von 15 Monaten (ab 1.3.2015) nicht zu. Wegen ihrer Einreise nach Deutschland am 3.3.2014 ist eine Umstellung der Leistungen frühestens zum 3.8.2015 in Betracht gekommen (zur Fristberechnung unter Heranziehung von §§ 187 Abs. 1, 188 Abs. 2 Halbsatz 1 BGB vgl. LSG Nordrhein-Westfalen, Urteil vom 8.6.2020 - L 20 AY 40/19 - juris Rn. 32 ff.). Ihr Leistungsanspruch bemisst sich nach § 3 AsylbLG a.F. (dazu später).

Die Voraussetzungen für eine Einschränkung der Leistungen nach § 1a AsylbLG a.F. haben vom 13.2. bis zum 30.6.2015 nicht vorgelegen.

Gemäß § 1a Nr. 1 AsylbLG a.F. (seit 21.8.2019 § 1a Abs. 2 AsylbLG i.d.F.v. 15.8.2019, BGBl. I 1294) erhalten u.a. Leistungsberechtigte nach § 1 Abs. 1 Nr. 4 AsylbLG, also Geduldete wie die Klägerin, die sich in den Geltungsbereich dieses Gesetzes begeben haben, um Leistungen nach diesem Gesetz zu erlangen, Leistungen nach diesem Gesetz nur, soweit dies im Einzelfall nach den Umständen unabweisbar geboten ist. Ungeachtet der grundsätzlichen Frage, ob eine nicht auf dem Nachranggrundsatz beruhende Leistungseinschränkung mit dem Grundrecht auf Gewährleistung eines menschenwürdigen Existenzminimums (Art. 1 Abs. 1 GG i.V.m. Art. 20 Abs. 1 GG) überhaupt vereinbar sein kann (vgl. dazu Hessisches LSG, Beschluss vom 31.3.2020 - L 4 AY 4/20 B ER - juris Rn. 37 ff. „repressiver Sanktionstatbestand“; vgl. auch Senatsbeschluss vom 4.12.2019 - L 8 AY 36/19 B ER - juris Rn. 5; zu Sanktionen im Recht der Grundsicherung nach dem SGB II grundlegend BVerfG, Urteil vom 5.11.2019 - 1 BvL 7/16 - juris Rn. 123 ff.), muss bei der sog. „Um-zu-Einreise“ i.S. des § 1a AsylbLG der Leistungsbezug das prägende Motiv zum Zeitpunkt der Einreise gewesen sein (Oppermann in jurisPK-SGB XII, 3. Aufl. 2020, § 1a AsylbLG Rn. 51 m.w.N.); ein billigendes Inkaufnehmen reicht nicht aus. Allein aus einer bindenden Ablehnung des Asylantrags kann nicht ohne weiteres auf die Absicht geschlossen werden, dass die Einreise nur zum Zwecke des Leistungsbezugs erfolgt ist (vgl. BVerwG, Urteil vom 4.6.1992 - 5 C 22/87 - juris Rn. 11 ff. zu § 120 BSHG). Anhaltspunkt für den Missbrauchstatbestand kann die Ablehnung als offensichtlich unbegründet sein, wenn die Begründung der Entscheidung deutliche Anzeichen für den Missbrauch enthält. Dabei ist jedoch zu beachten, dass die Leistungseinschränkung nach § 1a AsylbLG restriktiv auszulegen ist: so müssen weitere Indizien hinzutreten, die einen sicheren Schluss auf die prägende Einreisemotivation zulassen, wozu auch die Schaffung einer Lebensgrundlage durch Erwerbstätigkeit gehört (Senatsurteil vom 24.5.2018 - L 8 AY 7/17 - juris Rn. 31 sowie Senatsbeschluss vom 9.4.2020 - L 8 AY 4/20 B ER - juris Rn. 28; LSG Berlin-Brandenburg, Urteil vom 28.3.2018 - L 15 AY 15/14 - juris Rn. 43 f.; SG München, Beschluss vom 31.1.2017 - S 51 AY 122/16 ER). Für jedes einzelne erwachsene Familienmitglied ist die Motivationslage im Einzelnen zu untersuchen. Dabei sind alle konkreten Umstände des Einzelfalls maßgeblich (Oppermann in jurisPK-SGB XII, 3. Aufl. 2020, § 1a AsylbLG Rn. 63).

Der Senat hat bereits entschieden, dass bei der Beurteilung des Einreisemotivs auch die Umstände im Herkunftsland zu berücksichtigen sein können (Senatsurteil vom 24.5.2018 - L 8 AY 7/17 - juris Rn. 31; Senatsbeschluss vom 9.4.2020 - L 8 AY 4/20 B ER - juris Rn. 28; offen gelassen durch Senatsbeschluss vom 4.12.2019 - L 8 AY 36/19 B ER - juris Rn. 5). Auch hier sind stets die Umstände des Einzelfalls entscheidend. Wegen des vorliegenden Sachverhaltes sieht sich der Senat aber veranlasst, seine Rechtsprechung über die Maßstäbe für die Beurteilung des Einreisemotivs nach § 1a Nr. 1 AsylbLG a.F. (seit 21.8.2019 § 1a Abs. 2 AsylbLG) zu präzisieren: Erfolgt die Einreise nach Deutschland, um eine im vorherigen Aufenthaltsland unabweisbare materielle Notlage zu beenden, ist das ggf. weitere Einreisemotiv der Lebensunterhaltssicherung durch staatliche Leistungen unter Umständen nicht in der Weise als prägend anzusehen, dass eine Einschränkung nach § 1a Nr. 1 AsylbLG a.F. gerechtfertigt ist. Dies ist in aller Regel anzunehmen, wenn die leistungsberechtigte Person vor der Einreise einer extremen materiellen Notlage ausgesetzt gewesen ist, die der ernsthaften Gefahr einer unmenschlichen oder erniedrigenden Behandlung i.S. des Art. 4 GRCh/Art. 3 EMRK gleichkommt. Soweit überhaupt der Zweck, eine Zuwanderung nach Deutschland aus einem Drittstaat oder eine Sekundärmigration innerhalb der Europäischen Union (vgl. dazu Oppermann, ZESAR 2020, 305 ff.) zu verhindern, es rechtfertigen kann, Leistungen an Asylbewerber und Flüchtlinge niedrig zu halten (vgl. dazu Hessisches LSG, Beschluss vom 31.3.2020 - L 4 AY 4/20 B ER - juris Rn. 45 unter Bezugnahme auf BVerfG, Urteil vom 18.7.2012 - 1 BvL 10/10, 1 BvL 2/11 - juris Rn. 95; zum Leistungsausschluss nach § 1 Abs. 4 AsylbLG vgl. auch Frerichs in jurisPK-SGB XII, 3. Aufl. 2020, § 1 AsylbLG Rn. 180 ff.), tritt in diesen Fällen das migrationspolitische Interesse des deutschen Staates gegenüber seiner Gewährleistungspflicht aus Art. 1 Abs. 1 GG i.V.m. Art. 20 Abs. 1 GG (dazu BVerfG, Urteil vom 9.2.2010 - 1 BvL 1/09, 1 BvL 3/09, 1 BvL 4/09 - juris 133 ff. und Urteil vom 18.7.2012 - 1 BvL 10/10, 1 BvL 2/11 - juris Rn. 62 ff.) zurück. Der Zweck und ein mögliches Handlungsunrecht der (illegalen) Einreise rechtfertigen keine Leistungseinschränkung aufgrund des Einreisemotivs nach § 1a Nr. 1 AsylbLG a.F. bzw. § 1a Abs. 2 AsylbLG, wenn die betroffene Person im Herkunftsland drohenden Menschenrechtsverletzungen ggf. aufgrund systemischer Mängel des Europäischen Asylsystems ausgesetzt ist und dieser Umstand sogar einer Abschiebung entgegenstehen kann, etwa dann, wenn ein Flüchtling in dem Mitgliedstaat völlig auf sich allein gestellt ist und er über einen langen Zeitraum gezwungen sein wird, auf der Straße zu leben (vgl. EGMR, Urteil vom 4.11.2014 - 29217/12 - Tarakhel ./. Schweiz - juris; EuGH v. 19.3.2019 - C-297/17, C-318/17, C-319/17 und C-438/17 - <Ibrahim u.a.> und EuGH v. 19.3.2019 - C-163/17 -  <Jawo>; BVerfG, Beschluss vom 10.10.2019 - 2 BvR 1380/19 - juris; BVerfG, Beschluss vom 31.7.2018 - 2 BvR 714/18 - juris; BVerfG, Beschluss vom 17.1.2017 - 2 BvR 2013/16 - juris; BVerwG, Beschluss vom 17.4.2019 - 1 C 2/17 - juris und BVerwG, Beschluss vom 24.4.2019 - 1 C 37/16 - juris).

So liegt der Fall hier. Nach den glaubhaften Ausführungen der Klägerin in der mündlichen Verhandlung beim SG hat sie in Italien keine staatliche Unterstützung zur Existenzsicherung erhalten und trotz Bemühungen auch nicht in zumutbarer Weise erhalten können. Um ihren Lebensunterhalt und denjenigen ihrer Tochter sichern zu können, hat sie um Almosen betteln und sich prostituieren müssen. Einen eigenen Wohnsitz hat sie überwiegend nicht gehabt, gelegentlich hat sie mit ihrer Tochter im Haus eines Freundes gewohnt bzw. übernachtet. Dies stimmt mit ihren Angaben bei der Vernehmung durch die Bundespolizeiinspektion I. anlässlich ihrer Wiedereinreise nach Deutschland im Juli 2016 überein sowie mit verwaltungsgerichtlicher Rechtsprechung, die die Lebenssituation anerkannter Flüchtlinge in Italien betrifft (vgl. etwa Aussetzungsbeschlüsse des BVerwG vom 27.6.2017 - 1 C 26/16 - juris Rn. 33 ff. und des VGH Baden-Württemberg vom 15.3.2017 - A 11 S 2151/16 - juris), und dem Bericht der Schweizerischen Flüchtlingshilfe über die Aufnahmebedingungen in Italien (aktualisierte Fassung abrufbar unter www.fluechtlingshilfe.ch). Danach basiert das italienische System auf der Annahme, dass Personen mit Schutzstatus sich um sich selbst kümmern können und müssen. Es gibt nur wenige Plätze in Unterkünften für sie, die generell auch nur temporär genutzt werden können. Personen mit Schutzstatus, einschließlich Frauen, alleinerziehenden Müttern, Familien und psychisch Kranken und Behinderten droht in Italien Obdachlosigkeit (S. 62 des Berichts). Nicht zuletzt hat das BAMF durch Bescheid vom 25.5.2016 im Falle der alleinerziehenden Klägerin und ihrer Tochter festgestellt, dass aus diesen Gründen ein Abschiebeverbot nach § 60 Abs. 5 AufenthG hinsichtlich Italien besteht. Unerheblich ist in diesem Zusammenhang der nur vorübergehende Aufenthalt der Klägerin in Italien Mitte 2016 (für zwei Wochen) zur Erledigung persönlicher Angelegenheiten.

Die Voraussetzungen für eine Einschränkung von Leistungen nach § 1a Nr. 2 AsylbLG a.F. (seit 24.10.2015 § 1a Abs. 3 AsylbLG i.d.F.v. 20.10.2015, BGBl. I 1722 bzw. seit 21.8.2019 i.d.F.v. 15.8.2019, BGBl. I 1294) liegen ebenfalls nicht vor. Danach erhalten u.a. Leistungsberechtigte nach § 1 Abs. 1 Nr. 4 AsylbLG, bei denen aus von ihnen selbst zu vertretenden Gründen aufenthaltsbeendende Maßnahmen nicht vollzogen werden können, Leistungen nach diesem Gesetz nur, soweit dies im Einzelfall nach den Umständen unabweisbar geboten ist.

Eine Anspruchseinschränkung nach § 1a Nr. 2 AsylbLG a.F. bzw. § 1a Abs. 3 AsylbLG setzt u.a. voraus, dass ein dem Ausländer vorwerfbares Verhalten vorliegt und dieses Verhalten ursächlich für die Nichtvollziehbarkeit aufenthaltsbeendender Maßnahmen ist, wobei noch nicht höchstrichterlich geklärt ist, ob auch ein bloß fahrlässiges Verhalten den Tatbestand einer Anspruchseinschränkung erfüllen kann (BSG, Urteil vom 12.5.2017 - B 7 AY 1/16 R - juris Rn. 17). Im Anwendungsbereich des § 1a Nr. 2 AsylbLG a.F. ist das Erfordernis der Kausalität nur erfüllt, wenn keine außerhalb des Verantwortungsbereichs des Leistungsberechtigten liegenden Sachverhalte mitursächlich für den Nichtvollzug der Abschiebung sind. Nur in den Fällen eines Fehlverhaltens des Leistungsberechtigten, das monokausal für seine Nichtabschiebung ist, ist die Gewährung von auf das unabweisbar Gebotene beschränkten Leistungen verfassungsgemäß und verstößt die damit verbundene Einschränkung im Einzelfall insbesondere nicht gegen das Verhältnismäßigkeitsprinzip (BSG, Urteil vom 27.2.2019 - B 7 AY 1/17 R - juris Rn. 27 m.w.N.; vgl. auch BSG vom 12.5.2017 - B 7 AY 1/16 R - juris Rn. 18, 34; Senatsurteil vom 26.9.2019 - L 8 AY 70/15 - juris Rn. 28). Diese Voraussetzung liegt hier nicht vor. Weder die Täuschung über die Staatsangehörigkeit noch das Kirchenasyl (für die Zeit vom 13.10.2014 bis zum 12.2.2015) haben im streitgegenständlichen Zeitraum einer Abschiebung entgegengestanden. Eine Rückführung nach Italien ist im streitigen Zeitraum wegen des Ablaufs der Überstellungsfrist am 20.12.2014 nicht möglich gewesen, eine Abschiebung der Klägerin nach Nigeria wegen der Anerkennung Internationalen Schutzes.

Der Anspruch der Klägerin auf Grundleistungen bemisst sich für die Zeit vom 13. bis zum 28.2.2015 nach der Übergangsregelung des BVerfG vom 18.7.2012 (- 1 BvL 10/10, 1 BvL 2/11 - juris Rn. 98 ff.) und vom 1.3. bis zum 30.6.2015 nach § 3 AsylbLG a.F. nach der Bedarfsstufe 1 für eine alleinstehende erwachsene Person.

Wie in der angefochtenen Leistungsentscheidung erfolgt, ist hier nach den Grundsätzen der sog. Mischform der Leistungsgewährung eine wertmäßige Kürzung der Geldleistungen zulässig, weil der Klägerin und ihrer Tochter aufgrund der Unterbringung Haushaltsstrom und damit nach der bis zum 31.8.2019 geltenden Rechtslage ein Teil der Leistungen zur Deckung des notwendigen Bedarfs (Abteilung 4 der EVS 2008) als Sachleistung gewährt worden ist. Methodisch erfolgt die wertmäßige Kürzung der Geldbeträge durch eine analoge Anwendung des § 27a Abs. 4 Satz 1 Nr. 1 SGB XII, nach dem im Einzelfall eine abweichende Regelsatzfestsetzung erfolgt, wenn ein durch die Regelbedarfe abgedeckter Bedarf nicht nur einmalig, sondern für eine Dauer von voraussichtlich mehr als einem Monat nachweisbar vollständig oder teilweise anderweitig gedeckt ist (so auch Bayerisches LSG, Beschluss vom 15.11.2019 - L 8 AY 43/19 B ER - juris Rn. 39; SG Hamburg, Beschluss vom 7.10.2013 - S 20 AY 65/13 ER - juris Rn. 24; Frerichs in jurisPK-SGB XII, 3. Aufl. 2020, § 3a AsylbLG Rn. 80 ff. m.w.N.). Zur Bestimmung der Kürzungsbeträge kann orientierend auf die Einzelbeträge der Abteilungen der EVS für die jeweilige Regelbedarfsstufe nach dem SGB XII zurückgegriffen werden (Bayerisches LSG, Beschluss vom 15.11.2019 - L 8 AY 43/19 B ER - juris Rn. 39; Wrackmeyer-Schoene in Grube/Wahrendorf, SGB XII, 7. Aufl. 2020, § 27a Rn. 53; Schwabe, ZfF 2016, 25, 29 f.), auch wenn diese Werte für die jeweiligen Einzelbedarfe keine (konkreten) Berechnungspositionen darstellen, anhand derer die rechtmäßige Höhe des verbliebenen Teils der Geldleistungen exakt bestimmt werden könnte.

Die Kostenentscheidung beruht auf § 193 SGG.

Die Revision ist wegen der grundsätzlichen Bedeutung der Rechtssache zuzulassen (§ 160 Abs. 2 Nr. 1 SGG).

Rechtskraft
Aus
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