L 13 AS 161/20

Land
Niedersachsen-Bremen
Sozialgericht
LSG Niedersachsen-Bremen
Sachgebiet
Grundsicherung für Arbeitsuchende
1. Instanz
SG Aurich (NSB)
Aktenzeichen
S 55 AS 386/18
Datum
2. Instanz
LSG Niedersachsen-Bremen
Aktenzeichen
L 13 AS 161/20
Datum
3. Instanz
-
Aktenzeichen
-
Datum
-
Kategorie
Urteil
Leitsätze

1. Der Nichtantritt einer Arbeitstelle stellt nicht ohne weiteres ein sozialwidriges Verhalten i. S. des § 34 SGB II dar. 2. Eine zeitliche Begrenzung des Ersatzanspruchs in Anlehnung an den Sperrzeittatbestand des § 159 Abs. 3 SGB III findet im Wortlaut des § 34 Abs. 1 S. 1 SGB II keine Stütze.

Die Berufung des Beklagten wird zurückgewiesen.

Der Beklagte hat dem Kläger auch die notwendigen außergerichtlichen Kosten des Berufungsverfahrens zu erstatten.

Die Revision wird nicht zugelassen.

 

Tatbestand

Zwischen den Beteiligten ist noch die Geltendmachung eines Ersatzanspruchs nach § 34 Zweites Buch Sozialgesetzbuch (SGB II) für im Zeitraum vom 1. Juni 2017 bis zum 28. Februar 2018 gewährte Leistungen im Streit. Soweit der Beklagte auch einen Ersatzanspruch für den Zeitraum März bis Mai 2017 geltend gemacht hat und das Sozialgericht (SG) Aurich die Klage insoweit abgewiesen hat, ist dies vom Kläger nicht mit der Berufung angegriffen worden.

 

Der 1979 geborene Kläger stand u.a. vom 1. Januar 2017 bis zum 30. Juni 2019 beim Beklagten im Bezug von Leistungen nach dem SGB II. Bzgl. der Leistungshöhe wird auf die Bescheide vom 27. Dezember 2016, 21. August 2017, 12. Dezember 2017, 5. Februar 2018, 14. August 2018 und 23. Januar 2019 verwiesen.

 

Der Kläger hatte am 30. Januar 2017 ein Vorstellungsgespräch auf dem Gelände des Bauhofs der Gemeinde I., welches dazu führte, dass der Kläger dort eine durch den Europäischen Sozialfond (ESF) geförderte Stelle antreten sollte. Welches Datum hierbei und in der Folgezeit für den Arbeitsbeginn vereinbart wurde (1. März oder 1. April 2017) ist zwischen den Beteiligten umstritten. Im Februar 2017 war der Kläger zur Einkleidung bei der Gemeinde I.. Am 2. März 2017 teilte eine Mitarbeiterin des Personalamts der Gemeinde I. dem Beklagten mit, dass der Kläger die Arbeitsstelle nicht angetreten habe, man erfolglos versucht habe, ihn telefonisch zu erreichen und nunmehr auf ihn verzichte.

 

Der Kläger teilte am 7. März 2017 mit, dass er von einem Arbeitsbeginn am 1. April 2017 ausgegangen sei und er auch nichts Anderes schriftlich bekommen habe.

 

Der Beklagte hörte den Kläger mit Schreiben vom 20. März 2017 zu einer beabsichtigten Minderung der Leistungen nach dem SGB II aufgrund des Nichtantritts der Arbeitsstelle an. Er sah aber – nach den Ausführungen in der Verwaltungsakte mangels Rechtsfolgenbelehrung und Arbeitsvertrag – von einer tatsächlichen Minderung der Leistungen ab.

 

Aus dem in der Verwaltungsakte befindlichen Antragsvordruck bzgl. des Lohnkostenzuschusses war als Beschäftigungszeitraum der 1. März 2017 bis 28. Februar 2019 sowie ein Bruttogehalt von 2.152,51 € ersichtlich.

 

Der Beklagte hörte den Kläger mit Schreiben vom 20. November 2017 zur Geltendmachung eines Ersatzanspruches nach § 34 SGB II für den Zeitraum 1. März 2017 bis 31. August 2017 aufgrund des Nichtantritts des Arbeitsverhältnisses bei der Gemeinde I. an.

 

Mit Bescheid vom 5. Februar 2018, der den Ausgangspunkt des hiesigen Verfahrens bildet, forderte der Beklagte den Kläger zum Ersatz der für den Zeitraum 1. März 2017 bis 28. Februar 2018 gezahlten Leistungen i. H. v. 10.268,57 € auf. Der Kläger habe zum 1. März 2017 eine Vollzeitbeschäftigung bei der Gemeinde I. antreten können, er sei jedoch nicht erschienen. Durch das zu erwartende Arbeitseinkommen wäre die Hilfebedürftigkeit ganz entfallen. Es sei zu berücksichtigen, dass § 34 SGB II der Wiederherstellung des Nachranges diene. Sein Verhalten sei demzufolge als sozialwidrig zu bezeichnen, weil aufgrund seines Verhaltens das Arbeitsverhältnis nicht zustande gekommen sei. Der Kläger habe dadurch eine Lage geschaffen, die den Beklagten gezwungen habe, Leistungen zu gewähren. Er habe die Leistungsgewährung durch schuldhaftes Verhalten, zumindest grob fahrlässig, herbeigeführt. Ein wichtiger Grund und eine besondere Härte seien nicht ersichtlich. Es seien insgesamt 10.268,57 € zu erstatten.

 

Den hiergegen eingelegten Widerspruch begründete der Kläger insbesondere damit, dass er die Beschäftigung gern angetreten hätte. Ihm sei aber gesagt worden, dass es nicht vor dem 1. April 2017 losgehe, da die Gelder erst noch bewilligt werden müssten. Auch bei der Kleidungsanprobe sei ihm der frühere Termin nicht mitgeteilt worden. Ein Arbeitsvertrag habe ihm noch nicht vorgelegen. Er sei davon ausgegangen, schriftlich Bescheid zu bekommen.

 

Mit Widerspruchsbescheid vom 27. April 2018, der dem Prozessbevollmächtigtem des Klägers am 2. Mai 2018 zugestellt wurde, wies der Beklagte den Widerspruch zurück. Zur Begründung führte er insbesondere aus, der Kläger habe am 30. Januar 2017 ein Vorstellungsgespräch bei der Gemeinde I. geführt. Am 22. Februar 2017 habe das Zentrum für Arbeit (ZfA) dem Kläger auf seinen Anrufbeantworter gesprochen und ihm mitgeteilt, dass er eine Zusage für die Tätigkeit zum 1. März 2017 habe, und er sich dort umgehend melden solle. Der Kläger habe sich am gleichen Tage telefonisch gemeldet und ihm sei nochmals der Arbeitsbeginn am 1. März 2017 mitgeteilt worden. Am 23. Februar 2017 sei der Kläger zur Einkleidung gewesen, hierbei sei ihm erneut der Arbeitsbeginn am 1. März 2017 mitgeteilt worden. Da der Arbeitsbeginn sehr kurzfristig gewesen sei und noch Fördermittel beantragt werden mussten, habe noch kein schriftlicher Arbeitsvertrag im Vorfeld gefertigt werden können. Der Kläger sei zum Arbeitsbeginn und auch einen Tag später nicht erschienen, er sei auch nicht erreichbar gewesen. Am 2. März 2017 habe die Gemeinde dann mitgeteilt, dass man an dem mündlich vereinbarten Arbeitsverhältnis nicht mehr festhalten wolle. Da es dem Kläger zuzumuten gewesen sei, die Beschäftigung aufzunehmen, habe er die Gewährung von Leistungen zur Sicherung des Lebensunterhalts grob fahrlässig und ohne wichtigen Grund herbeigeführt. Das Arbeitsverhältnis sei vom 1. März 2017 bis zum 28. Februar 2019 beabsichtigt gewesen, so dass die Leistungen für den Zeitraum 1. März 2017 bis 28. Februar 2018 erstattet werden müssten.

 

Der Kläger hat am 4. Juni 2018 (einem Montag) Klage beim SG Aurich erhoben. Ihn treffe kein Verschulden. Er habe die Beschäftigung beim Bauhof gern aufnehmen wollen. Bei dem Gespräch, in welchem es um den Abschluss des Zwei-Jahres-Vertrages gegangen sei, habe Herr J. gesagt, er bekomme die Stelle, aber nicht vor dem 1. April 2017. Es müssten erst die Gelder bewilligt werden, er bekomme schriftlich Bescheid. Auch bei einer Kleidungsanprobe, zu der er gegangen sei, sei ihm nicht mitgeteilt worden, dass es bereits am 1. März 2017 losgehe. Ein Vertrag sei ihm ebenfalls nicht zugesandt worden. Der in diesem Zusammenhang ergangene Sanktionsbescheid sei zwischenzeitlich wieder aufgehoben worden. Es werde bestritten, dass der Arbeitsbeginn zum 1. März 2017 auf den Anrufbeantworter gesprochen worden sei. Unklar sei auch, warum das Arbeitsverhältnis nach Klärung des Missverständnisses nicht zum 8. März 2017 habe begonnen werden können. Darüber hinaus sei die Erstattung für ein Jahr völlig unangemessen und schon als sittenwidrig zu bezeichnen.

 

Der Beklagte hat zur Klageerwiderung auf eine am 22. Februar 2017 auf dem Anrufbeantworter des Klägers hinterlassene Nachricht sowie einen insoweit erfolgten Rückruf verwiesen. Bei beiden Gelegenheiten sei der Arbeitsbeginn mit dem 1. März 2017 mitgeteilt worden. Der Vortrag des Klägers, er sei von einem Arbeitsbeginn am 1. April 2017 ausgegangen, könne daher nicht überzeugen. Es sei nachvollziehbar, dass die Gemeinde I. angesichts des unentschuldigten Nichterscheinens kein Interesse mehr an einer Beschäftigung des Klägers gehabt habe. Ein wichtiger Grund sei nicht ersichtlich. Es handele sich um ein aus Sicht der Solidargemeinschaft zu missbilligendes Verhalten.

 

Das SG hat in der mündlichen Verhandlung am 2. September 2020 Beweis durch Vernehmung der Zeugen K. J. (Leiter des Bauhofs der Gemeinde I.) und L. J. (Arbeitsvermittler beim ZfA des Beklagten) erhoben. Der Zeuge J. hat hierbei u.a. ausgesagt, dass es bzgl. des Arbeitsantritts immer um den 1. März 2017 gegangen sei. Er sei bei dem Vorstellungsgespräch des Klägers dabei gewesen. Auch der Zeuge J. hat ausgeführt, sich sicher zu sein, dass er dem Kläger den Arbeitsbeginn mit dem 1. März 2017 mitgeteilt habe. Hinsichtlich der Beweisaufnahme wird im Übrigen auf das Sitzungsprotokoll verwiesen.

 

Das SG hat mit Urteil vom 2. September 2020 den Bescheid des Beklagten vom 5. Februar 2018 in der Gestalt des Widerspruchsbescheides vom 27. April 2018 aufgehoben, soweit Leistungen für die Zeit nach dem 31. Mai 2017 vom Kläger gefordert werden. Im Übrigen hat es die Klage abgewiesen. Zur Begründung hat das SG insbesondere ausgeführt, dass der Bescheid für den Zeitraum September 2017 bis Februar 2018 bereits formell rechtswidrig sei wegen Verstoß gegen das Anhörungserfordernis. Er sei nur zu einer Erstattung für den Zeitraum März bis August 2017 angehört worden. Der Kläger habe den Leistungsbezug für den Zeitraum März bis Mai 2017 sozialwidrig herbeigeführt. Dies sei jedoch für den Zeitraum ab 1. Juni 2017 nicht festzustellen. Der Kläger habe es nicht vermocht, das SG davon zu überzeugen, dass er von einem Arbeitsbeginn am 1. April 2017 ausgegangen sei. Sein Vorbringen, es sei nie vom 1. März 2017 gesprochen worden, stelle sich als fernliegend, ja geradezu abwegig dar. Dies folge aus mehreren Vermerken bzgl. Telefonaten des Zeugen J. mit dem Kläger. Der Kläger habe sich bzgl. der Einkleidung auch mit der Gemeinde I. in Verbindung gesetzt. Der schriftliche Antrag auf Einstiegsgeld sei für die Zeit ab dem 1. März 2017 formuliert. Bei evtl. Zweifeln hinsichtlich des Arbeitsbeginnes hätte der Kläger Kontakt zum Arbeitgeber aufnehmen müssen. Ein wichtiger Grund liege nicht vor. Der Leistungsbezug sei jedoch nicht über den 31. Mai 2017 hinaus durch das Verhalten des Klägers herbeigeführt worden. Hinsichtlich der Dauer habe das SG sich an der Sperrzeit des § 159 Drittes Buch Sozialgesetzbuch (SGB III) orientiert. Es sei fernliegend, dass der Kläger ohne Hinzutreten weiterer Umstände mit Sicherheit zwei weitere Jahre die Arbeitsstelle hätte ausüben und ein entsprechendes Entgelt erhalten hätte. Im Rahmen einer Prognose sei es wahrscheinlicher, dass das Arbeitsverhältnis nicht zwei Jahre gedauert hätte. Es sei zwar theoretisch nachvollziehbar, dass die Kausalität bereits mit der Meldung des Klägers am 7. März 2017 entfalle. Dies stelle sich aber nicht als überzeugend dar. Denn bei ordnungsgemäßen Antritt sei eine Beendigung bereits nach einer Woche der Tätigkeit nicht wahrscheinlich. Eine Anlehnung an den Sperrzeittatbestand sei auch wegen eines Gleichlaufs der Sozialversicherungssysteme überzeugend. Es erscheine aufgrund der individuellen Situation des Klägers wahrscheinlich, dass er die Tätigkeit habe ein bis drei Monate ausüben können. Ein längerer Zeitraum scheine aber aufgrund des persönlichen Eindrucks des Gerichts nicht nachweisbar. Einen Härtefall habe der Kläger nicht nachgewiesen. Die fehlende Sanktionierung habe keinen Einfluss auf den streitigen Anspruch.

 

Der Beklagte hat gegen das am 22. September 2020 zugestellte Urteil am 21. Oktober 2020 Berufung eingelegt. Der Kläger habe im gesamten Zeitraum vom 1. März 2017 bis zum 28. Februar 2019 die Leistungsgewährung sozialwidrig herbeigeführt. Das SG habe das Nichtantreten der Arbeitsstelle zutreffend als sozialwidriges Verhalten bewertet. Entgegen den Ausführungen des SG liege der Ursachenzusammenhang jedoch auch über den 31. Mai 2017 hinaus vor. Die Anlehnung an den Sperrzeittatbestand überzeuge nicht. Eine solche folge weder aus dem Wortlaut der Vorschrift noch aus dem Charakter der Vorschriften. § 159 SGB III diene der Sanktionierung und begründe hierneben gerade keine Erstattungspflicht. Ein Gleichlauf der Systeme liege nicht vor, so dass eine Beschränkung der Dauer hiermit nicht überzeugend begründet werden könne. Die Prognose, wie lange ein Fehlverhalten den Leistungsbezug herbeigeführt habe, müsse sich nach den Umständen des Einzelfalles richten. Hiernach sei davon auszugehen, dass der Kläger den Leistungsbezug bis zum 28. Februar 2019 herbeigeführt habe. Die Stelle sei auf zwei Jahre ausgelegt gewesen. Das Bruttoeinkommen hätte den Bedarf des Klägers gedeckt und eine Hilfebedürftigkeit hätte vermieden werden können. Auch die Langzeitarbeitslosigkeit des Klägers spreche u.a. wegen des Förderprogrammes nicht gegen die Dauer von zwei Jahren. Neben einem Zuschuss sei auch ein Coaching vorgesehen gewesen. Der Kläger sei zudem ab dem 30. Juni 2019 wegen der Aufnahme einer Beschäftigung nicht mehr im Leistungsbezug.

 

Mit Schreiben vom 25. November 2020 hat der Beklagte sich außergerichtlich an den Kläger gewandt und ihn zur Geltendmachung eines Ersatzanspruches für den Zeitraum 1. März 2017 bis 28. Februar 2018 sowie den Zeitraum 1. März 2018 bis 28. Februar 2019 angehört. Nachdem der Kläger sich auf die Schreiben nicht gemeldet hatte, hat der Beklagte mit Schreiben vom 10. Dezember 2020 ausgeführt, bei seinen bisherigen Entscheidungen zu bleiben.

 

Der Beklagte beantragt,

das Urteil des SG Aurich vom 2. September 2020 aufzuheben und die Klage abzuweisen.

 

Der Kläger beantragt,

die Berufung des Beklagten zurückzuweisen.

 

Zur Berufungserwiderung führt er aus, er habe sich nicht schuldhaft falsch verhalten und den Leistungsbezug nicht herbeigeführt. Er verweist insoweit auf seinen erstinstanzlichen Vortrag. Er habe sich am 7. März 2017 von sich aus bei der Gemeinde gemeldet. Die Stelle sei damals noch nicht wieder vergeben gewesen. Er könne nichts dafür, dass man ihm die Stelle nicht mehr habe geben wollen. Im Übrigen verweist er auf die erstinstanzliche Entscheidung. Der vom Beklagten behauptete Kausalzusammenhang liege nicht vor. Der Arbeitgeber habe kein Interesse an seiner Beschäftigung gehabt, dies folge bereits daraus, dass er ihn am 7. März 2017 nicht mehr habe beschäftigen wollen. Ihm sei weder der Arbeitsbeginn mit dem 1. März 2017 mitgeteilt worden, noch habe er bereits einen Arbeitsvertrag gehabt. Der Beklagte habe bereits dieses zu Beginn auftretende Problem nicht lösen können. Es treffe zu, dass nur der Zeitraum ab 1. Juni 2017 im Streit sei.

 

Die Beteiligten haben ihr Einverständnis mit einer Entscheidung des Senats durch Urteil ohne mündliche Verhandlung erklärt.

 

Wegen der weiteren Einzelheiten des Sach- und Streitstandes wird auf die Gerichtakte sowie die beigezogene Verwaltungsakte des Beklagten verwiesen, die vorgelegen haben und Gegenstand von Beratung und Entscheidung gewesen sind.

 

Entscheidungsgründe

Die zulässige Berufung des Beklagten, über die der Senat mit dem Einverständnis der Beteiligten ohne mündliche Verhandlung entscheidet (§ 153 Abs. 1 i. V. m. § 124 Abs. 2 SGG), ist unbegründet. Das Urteil des SG vom 2. September 2020 ist – soweit es vom Beklagten angegriffen und damit Gegenstand des Berufungsverfahrens ist – rechtmäßig und verletzt den Beklagten nicht in seinen Rechten. Zutreffend hat das SG entschieden, dass dem Beklagten ein Ersatzanspruch nach § 34 SGB II gegen den Kläger für den Zeitraum ab dem 1. Juni 2017 nicht zur Seite steht. Der Bescheid des Beklagten vom 5. Februar 2018 in der Gestalt des Widerspruchsbescheides vom 27. April 2018 ist – soweit er Gegenstand des Berufungsverfahrens ist – rechtswidrig und verletzt den Kläger in seinen Rechten.

 

Rechtsgrundlage für den geltend gemachten Ersatzanspruch ist § 34 SGB II.

 

Ersatzansprüche nach § 34 SGB II wegen der Herbeiführung, der Erhöhung, dem Aufrechterhalten oder Nicht-Verringern von Hilfebedürftigkeit nach dem SGB II bestehen nur "bei sozialwidrigem Verhalten". Der einen Ersatzanspruch nach § 34 SGB II hierbei tragende Vorwurf der Sozialwidrigkeit ist darin begründet, dass der Betreffende - im Sinne eines objektiven Unwerturteils - in zu missbilligender Weise sich selbst oder seine unterhaltsberechtigten Angehörigen in die Lage gebracht hat, existenzsichernde Leistungen in Anspruch nehmen zu müssen. Einzubeziehen bei dieser Einordnung sind schließlich auch die im SGB II festgeschriebenen Wertmaßstäbe, in denen sich ausdrückt, welches Verhalten als dem Grundsatz der Eigenverantwortung vor Inanspruchnahme der Leistungen zur Sicherung des Lebensunterhalts zuwiderlaufend angesehen wird (vgl. hierzu insgesamt Bundessozialgericht [BSG], Urteil vom 29. August 2019 - B 14 AS 49/18 R – juris).

 

Hierbei erfordert nach der Rechtsprechung des BSG die Geltendmachung eines Ersatzanspruchs bei Sozialwidrigkeit im Vergleich zu einer Minderung der Leistungen im Rahmen einer Sanktion nach § 31 SGB II regelmäßig einen gesteigerten Verschuldensvorwurf.

 

Die Tatbestände des § 31 SGB II drücken zwar aus Sicht des SGB II nicht zu billigende Verhaltensweisen aus, deren Verletzung Ersatzansprüche nach § 34 SGB II begründen kann (BSG vom 2. November 2012 - B 4 AS 39/12 R - juris), hieraus folgt jedoch nicht, dass jede Verwirklichung eines nach § 31 SGB II sanktionsbewehrten Tatbestands zugleich einen Ersatzanspruch nach § 34 SGB II begründet. Soll dasselbe Verhalten neben den Minderungsfolgen der §§ 31a und 31b SGB II zusätzlich eine Ersatzpflicht nach § 34 SGB II auslösen, setzt das mit Blick auf die u. U. erheblich schwerer wiegenden Folgen der Inanspruchnahme nach § 34 SGB II nach der Regelungssystematik regelmäßig vielmehr einen grundsätzlich gesteigerten Verschuldensvorwurf voraus, der den unterschiedlichen Belastungswirkungen der §§ 31 ff SGB II auf der einen und des § 34 SGB II auf der anderen Seite gerecht wird; ansonsten bedürfte es der Minderungsregelung der §§ 31 ff SGB II und ihrer differenzierten Rechtsfolgen nicht.

 

Die Regelungen der §§ 31 ff und des § 34 SGB II knüpfen an jeweils unterschiedliche Voraussetzungen an und schließen es deshalb nicht aus, dass dasselbe Verhalten eine Leistungsminderung bei Pflichtverletzung ("Sanktion") und einen Ersatzanspruch bei sozialwidrigem Verhalten auslöst (BSG vom 8. Februar 2017 - B 14 AS 3/16 R – juris). Nach dem in der Rechtsprechung des Bundesverwaltungsgerichts zu § 92a BSHG entwickelten und vom Gesetzgeber des SGB II mit der Bezeichnung "Ersatzansprüche bei sozialwidrigem Verhalten" aufgegriffenen Verständnis des § 34 SGB II als engem, deliktsähnlichem Ausnahmetatbestand (vgl. BSG a.a.O. m. w. N.) stehen die Vorschriften in einem Stufenverhältnis, nach dem auf die Verwirklichung eines nach § 31 SGB II sanktionsbewehrten Tatbestands regelhaft mit einer Minderung nach den §§ 31a und 31b SGB II zu reagieren und (nur) in einem besonderen Ausnahmefall zusätzlich ein Ersatzanspruch nach § 34 SGB II geltend zu machen ist. Kennzeichen dessen ist, dass – deliktsähnlich – die in den Tatbeständen des § 31 SGB II ausgedrückten Verhaltenserwartungen in besonders hohem Maß verletzt worden sind (BSG, Urteil vom 3. September 2020 – B 14 AS 43/19 – juris Rn. 14 f.).

 

Aus dem Umstand, dass der Beklagte im vorliegenden Verfahren die zunächst ebenfalls vorgesehene „Sanktion“ nicht aufrechterhalten hat, da der Kläger im Vorfeld nicht über die Rechtsfolgen belehrt worden war, folgt nicht ohne weiteres die Berechtigung, stattdessen einen Ersatzanspruch nach § 34 SGB II geltend zu machen. Denn – wie oben bereits ausgeführt – vermag nicht jedes grundsätzlich sanktionsbewehrte Verhalten des Leistungsempfängers einen Ersatzanspruch nach § 34 SGB II zu rechtfertigen, vielmehr müssen die aus § 31 SGB II ersichtlichen Verhaltenserwartungen in besonders hohem Maß verletzt sein, damit ein Verhalten als sozialwidrig i. S. d. § 34 SGB II gelten kann. Diese Voraussetzungen sind im vorliegenden Fall nicht erfüllt.

 

Zwar sind der Beklagte und das SG zutreffend davon ausgegangen, dass das Beschäftigungsverhältnis mit der Gemeinde I. aufgrund des Nichterscheinens des Klägers am 1. März 2017 nicht zustande gekommen ist. Unter Berücksichtigung der Umstände kommt diesem Verhalten des Klägers jedoch ein deliktsähnlicher Charakter nicht zu. Dahinstehen kann insoweit, ob es sich um ein arbeitsvertragswidriges Verhalten handelt, da das Zustandekommen eines Arbeitsvertrages bereits fraglich ist. Unklar ist, ob die Vertragsparteien sich über die wesentlichen Vertragsbestandteile, zu denen jedenfalls auch die Höhe der zu erwartenden Vergütung gehört, geeinigt haben. Gegen den Abschluss eines Arbeitsvertrages spricht auch das Verhalten der Gemeinde I., die eine Kündigung der Arbeitsverhältnisses nicht vorgenommen hat, sondern lediglich den Beklagten darüber informierte, dass sie an einer Tätigkeit des Klägers nicht mehr interessiert war. Das bloße Nichterscheinen zur Arbeit ist zwar als nicht erwünschtes Verhalten nach § 31 SGB II grundsätzlich – bei Einhalten der sonstigen formellen Voraussetzungen durch den Beklagten - sanktionsbewehrt, ein deliktsähnlicher Charakter kommt dem Nichterscheinen jedoch im hier zu entscheidenden Fall nicht zu. Dies gilt insbesondere im Hinblick darauf, dass auch der Mitarbeiter des Beklagten mitgeteilt hat, dass ihm klar war, dass der Abschluss eines schriftlichen Arbeitsvertrages für den Kläger wichtig war. Zwar hatte der Kläger nach dem Nachweisgesetz einen Anspruch hierauf nicht bereits vor Antritt des Arbeitsverhältnisses, insbesondere im Hinblick auf die zuvor – auch zwischen der Gemeinde und dem Beklagten getroffenen Absprachen - erscheint jedoch nachvollziehbar, dass der Kläger auf die schriftliche Mitteilung hinsichtlich der Förderung und des Arbeitsvertrages wartete. Zudem ist nach dem Tarifvertrag für den öffentlichen Dienst (TVöD) der Abschluss eines schriftlichen Arbeitsvertrages vorgeschrieben (§ 2 TVöD). Vor diesem Hintergrund ist auch der Wunsch des Klägers nach einem schriftlichen Arbeitsvertrag nicht sozialwidrig. Jedenfalls ist ein gesteigerter Vorwurf gegenüber der Verwirklichung eines Sanktionstatbestandes nach § 31 SGB II im Verhalten des Klägers nicht ersichtlich. Der Umstand, dass der Beklagte es vor der Einladung zum Vorstellungsgespräch, welches auf seine Initiative erfolgte, unterließ, eine den Anforderungen des § 31 SGB II genügende Rechtsfolgenbelehrung an den Kläger zu übersenden, vermag die ungleich schwereren Folgen des § 34 SGB II nicht zu rechtfertigen. Vielmehr spricht der Umstand, dass dem Kläger die Folgen seines Nicht-Antritts der Arbeitsstelle nicht vor Augen geführt worden waren, gerade gegen die Annahme eines gesteigerten Schuldvorwurfs. Das Verhalten des Klägers ist insbesondere nicht vergleichbar mit dem “Verschleudern“ einer Erbschaft. Dies wird auch dadurch deutlich, dass der Kläger der Gemeinde seine Arbeitsleistung am 7. März 2017 angeboten hat. Warum trotz Förderung durch Lohnkostenzuschuss und Coaching bereits zu diesem Zeitpunkt eine Beschäftigung nicht mehr zustande kam, ist kaum nachzuvollziehen. Es wäre insoweit auch zu erwarten gewesen, dass das begleitende Coaching eingegriffen hätte und eine Vermittlung zwischen Gemeinde und Kläger versucht worden wäre. Dies ist jedoch nicht ersichtlich, obwohl nach der Förderrichtlinie zum ESF-Bundesprogramm zur Eingliederung langzeitarbeitsloser Leistungsberechtigter nach dem SGB II auf dem allgemeinen Arbeitsmarkt vom 19. November 2014 mit der Förderung den häufig komplexen Problemlagen dieser Personengruppe, zu der der Beklagte auch den Kläger zählte, begegnet werden soll. So soll das intensive individuelle Coaching u.a. eine soziale Aktivierung (z.B. pünktlicher Arbeitsbeginn) sowie die Konfliktbewältigung am Arbeitsplatz zum Inhalt haben (vgl. Punkt 2.2.2. der Richtlinie). Der Lohnkostenzuschuss soll insbesondere das anfänglich geminderte Leistungsvermögen der Teilnehmenden und den erhöhten Einarbeitungsaufwand ausgleichen. Es ist auch nicht nachgewiesen, dass der Kläger es darauf angelegt hat, dass das Arbeitsverhältnis nicht zustande kommt. Insgesamt hat der Kläger mit seinem Verhalten vielmehr den Tatbestand des § 31 Abs. 1 Nr. 2 SGB II verwirklicht und die Aufnahme eines Arbeitsverhältnisses verhindert, wobei sich sein Verhalten nicht – im Sinne eines gesteigerten Unrechtsvorwurfs – von dem grundsätzlich mit diesem Sanktionstatbestand verbundenen Verhalten unterscheidet.

 

Nach alledem kann dahinstehen, in welchem zeitlichen Umfang der Kläger im Falle eines sozialwidrigen Verhaltens seine Hilfebedürftigkeit herbeigeführt hätte. Der Rechtsauffassung des SG, es sei eine zeitliche Begrenzung in Anlehnung an den Sperrzeittatbestand des § 159 Abs. 3 SGB III vorzunehmen, dürfte indes nicht zu folgen sein, da der Wortlaut des § 34 Abs. 1 S. 1 SGB II für eine derartige zeitliche Begrenzung des Ersatzanspruchs nichts hergibt. Vielmehr besteht der Ersatzanspruch grundsätzlich für die gesamte Dauer des pflichtwidrig verursachten Leistungsbezugs (vgl. BSG, Urteil vom 3. September 2020 – B 14 AS 43/19 R - juris Rn. 15), was gerade der Grund dafür ist, dass § 34 SGB II mit Augenmaß anzuwenden ist, um nicht den Grundsatz zu konterkarieren, dass existenzsichernde Leistungen regelmäßig unabhängig von der Ursache der entstandenen Notlage und einem vorwerfbaren Verhalten in der Vergangenheit zu leisten sind (vgl. hierzu ausführlich BSG, Urteil vom 2. November 2012 – B 4 AS 39/12 R – juris Rn. 17 ff.). Ob eine Kausalbeziehung zwischen dem sozialwidrigen Verhalten einerseits und dem Leistungsbezug andererseits besteht, lässt sich – wie das BSG bereits entschieden hat (Urteil vom 29. August 2019 – B 14 AS 49/18 R – juris Rn. 21 f.) – nur einzelfallbezogen und zeitabschnittsweise mit Blick auf die für diesen Zeitraum jeweils konkreten Ursachen der Hilfebedürftigkeit beurteilen.

 

Die Kostenentscheidung beruht auf § 193 SGG.

 

Gründe für die Zulassung der Revision, § 160 Abs. 2 SGG, liegen nicht vor.

Rechtskraft
Aus
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