S 86 KR 1317/18

Land
Niedersachsen-Bremen
Sozialgericht
SG Hannover (NSB)
Sachgebiet
Krankenversicherung
1. Instanz
SG Hannover (NSB)
Aktenzeichen
S 86 KR 1317/18
Datum
2. Instanz
-
Aktenzeichen
-
Datum
-
3. Instanz
-
Aktenzeichen
-
Datum
-
Kategorie
 
Leitsätze

1. An die begründete Einschätzung im Sinne von § 31 Abs. 6 SGB V dürfen keine überspannten Anforderungen gestellt werden.. 2. Eine weitere Sachaufklärung durch Sachverständigengutachten ist nicht ausgeschlossen. 3. Eine vertragsärztliche Verordnung ist für die Genehmigung nach § 31 Abs. 6 SGB V nicht erforderlich (aA: Landessozialgericht Baden-Württemberg, Beschl. v. 19.09.2017, Az: L 11 KR 3414/17 ER-B, Rn. 24, juris; Pitz in: Schlegel/Voelzke, jurisPK-SGB V, 4. Aufl., § 31 SGB V, Stand: 05.11.2020, Rn. 127mwN).

1. Der Bescheid der Beklagten vom 07.03.2018 in der Gestalt des Widerspruchsbescheides vom 30.08.2018 wird aufgehoben.

2. Die Beklagte wird verurteilt, die Klägerin mit Cannabis in Form von getrockneten Blüten zu versorgen.

3. Die Beklagte trägt die notwendigen außergerichtlichen Kosten der Klägerin.

Tatbestand

Die Klägerin begehrt von der Beklagten die Gewährung einer Therapie mit Medizinal-Cannabisblüten zur Behandlung einer komplexen psychiatrischen Erkrankung mit den Diagnosen Gilles-de-la-Tourette-Syndrom, Persönlichkeitsstörung, posttraumatische Belastungsstörung und rezidivierende Depression.

Die am H. geborene Klägerin ist bei der Beklagten gesetzlich krankenversichert. Am 18.01.2018 stellte sie bei der Beklagten einen Antrag auf Übernahme der Kosten für eine Behandlung mit Cannabisblüten. Die Beklagte forderte einen Fragebogen der behandelnden Ärztin, Frau I. vom 26.01.2018 an. Hierin ist ausgeführt, dass eine Therapie des Gilles-de-la-Tourette-Syndroms und der posttraumatischen Belastungsstörung mit Medizinalcannabisblüten mit einer Dosierung von 1g pro Tag durch Inhalation mit Hilfe eines Vaporasiteurs erfolgen soll. Beigefügt waren der Arztbrief vom 25.01.2018 sowie zwei medizinische Aufsätze zur Behandlung des Tourette-Syndroms mit Cannabis. Im Arztbrief vom 25.01.2018 ist ausgeführt, dass Aripiprazol (Abilify), Sertralin und eine Verhaltenstherapie mittels Habit-Reversal-Training keine positiven Effekte (gehabt) hätten. Über die Behandlungsmöglichkeiten sei ausführlich gesprochen worden. Eine Therapie mit Medizinalcannabisblüten solle eingeleitet werden. Aus dem beigefügten Aufsatz „Treatment of Tourette syndrome with cannabinoids“, Behavioural Neurology 27(2013) 119-124, gehen als Kontraindikationen auf S. 122 psychotische Erkrankungen hervor. Daneben solle die Anwendung bei Patienten mit Substanzmissbrauch, Schwangerschaft, Stillzeit, Kinder unter 18 Jahren sowie Patienten mit Herzproblemen oder Hepatitis C unter Beachtung besonderer Vorsicht erfolgen.

Die Beklagte holte ein Gutachten des Medizinischen Dienstes der Krankenversicherung (MDK) vom 15.02.2018 ein, welches zu dem Ergebnis einer Unwirtschaftlichkeit gelangte. Zur Therapie der komplexen psychiatrischen Erkrankungssituation stehe eine fachpsychiatrische/psychotherapeutische Behandlung (stationär oder ambulant) sowie Psychopharmakotherapie ggf. in Kombination zur Verfügung.

Die Beklagte lehnte den Antrag der Klägerin mit Bescheid vom 07.03.2018 ab.

Hiergegen erhob die Klägerin mit Faxschreiben vom 04.04.2018 Widerspruch und bat um eine Untersuchung durch den MDK.

Dies lehnte die Beklagte mit Schreiben vom 24.04.2018 ab und begründete ihre Einschätzung umfassend.

Die Klägerin hielt mit Schreiben vom 23.04.2018 an ihrem Widerspruch fest.

Die Beklage wies den Widerspruch mit Widerspruchsbescheid vom 30.08.2018 zurück und begründete dies umfassend, im Wesentlichen mit Therapiealternativen und einer Nutzen-Risiko-Abwägung.

Hiergegen hat die Klägerin am 04.10.2018 Klage erhoben. Sie ist im Wesentlichen der Auffassung, dass sie gegenüber der Beklagten einen Anspruch auf Kostenübernahme für eine Therapie mit Cannabisblüten habe. Die behandelnde Ärztin habe sich ausreichend zum Nutzen der Therapie und zur Erfolglosigkeit der bisherigen Therapien geäußert. Die in § 31 Abs. 6 SGB V vorgesehene Genehmigung dürfe nur in Ausnahmefällen nicht erteilt werden. Ein solcher Ausnahmefall liege nicht vor.

Die Klägerin beantragt,

1.     den Bescheid der Beklagten vom 07.03.2018 in der Gestalt des Widerspruchsbescheides vom 30.08.2018 aufzuheben, und

2.     die Beklagte zu verurteilen, die Klägerin mit Cannabis in Form von getrockneten Blüten zu versorgen.

 

Die Beklagte beantragt,

              die Klage abzuweisen.

Die Nachteile der Einnahme von Cannabis überwögen gegenüber einem nicht belegten Nutzen. Es fehle auch eine begründete Einschätzung im Sinne von § 31 Abs. 6 Satz 1 Nummer 1 SGB V. Die Begründung des Arztes müsse nachvollziehbar, schlüssig und in sich widerspruchsfrei sein. Aus der Persönlichkeitsstörung ergebe sich für die Verordnung von Cannabis eine Kontraindikation. Diesen Widerspruch hätten die behandelnde Ärztin und der Gutachter nicht aufgelöst.

Das Gericht hat ein Sachverständigengutachten von J. vom 13.08.2020 eingeholt. Bei der Klägerin lägen ein Gilles-de-la-Tourette-Syndrom (erstmals 2008 diagnostiziert), eine posttraumatische Belastungsstörung und eine emotional instabile Persönlichkeitsstörung vor. Seit 1998 habe man der Klägerin z. B. Diazepam, Bachblüten, Truxal, Tiapredex und Aripiprazol verordnet. Letzteres habe ein vorbestehendes Aufmerksamkeitsdefizit-Hyperaktivitätssyndrom verstärkt. Für die bei der Klägerin bestehenden Erkrankungen stehe eine allgemein anerkannte medikamentöse Therapie zur Verfügung, die jedoch bei der Klägerin wie auch in vielen vergleichbaren anderen Fällen nicht den gewünschten Effekt gezeigt habe, vielmehr unerträgliche Nebenwirkung ausgelöst habe. Mit medizinischen Cannabisprodukten stehe eine wissenschaftlich anerkannte Leistung zur Verfügung, die bisher von den Krankenkassen nicht bezahlt werde. In diesem Einzelfall könnten nach begründeter Einschätzung unter Abwägung der zu erwartenden Nebenwirkungen, vor allem jedoch unter Berücksichtigung des Krankheitszustandes der Klägerin erfolgreichere Maßnahmen durchgeführt werden, wie sie bereits auf eigene Kosten der Klägerin und unter der ärztlichen Überwachung durch Frau K. erfolgreich durchgeführt worden seien. Diese Therapie sei auch wissenschaftlich belegt und mehrfach entsprechend kommentiert worden. Der Verlauf bei der Klägerin bestätige die positiven Erfahrungen mit dieser Therapie in anderen Fällen. Nach eigener Aussage der Klägerin, die auch von der behandelnden Neurologin bestätigt werde, hätten die Tics und Zwänge an Intensität und Ausprägung seit Konsum von Cannabisprodukten eindeutig abgenommen. Von daher bestehe eine nicht ganz entfernt liegende Aussicht auf eine spürbare positive Einwirkung auf den Krankheitsverlauf und damit einhergehende schwerwiegende Symptome durch die Versorgung mit Cannabis in Form von getrockneten Blüten oder Extrakten in standardisierter Qualität, wie auch mit Arzneimitteln, welche den Wirkstoff Dronabinol oder Nabilon enthielten. Der Erfolg dieser Therapie gegenüber den früheren Behandlungsmaßnahmen mit klassischen Tranquilizern oder auch Neuroleptika sei evident und werde von der Klägerin wie von deren behandelnder Neurologin zweifelsfrei bestätigt.

Wegen der weiteren Einzelheiten des Rechtsstreits wird auf die Gerichtsakte sowie auf die Verwaltungsakte der Beklagten, insbesondere auf den Inhalt der näher bezeichneten Schriftstücke, verwiesen.

 

Entscheidungsgründe

I.

Die zulässige Anfechtungs- und Leistungsklage der Klägerin ist begründet.

1.

Die Anfechtungsklage ist begründet, weil der Bescheid der Beklagten vom 07.03.2018 in der Gestalt des Widerspruchsbescheides vom 30.08.2018 rechtswidrig ist und die Klägerin dadurch in ihren subjektiven öffentlichen Rechten verletzt.

a)

Die Klägerin hat gegenüber der Beklagten als bei ihr gesetzlich Krankenversicherte einen Anspruch auf Versorgung mit Cannabisblüten aus §§ 27 Abs. 1, 31 Abs. 6 SGB V.

Versicherte haben nach § 27 Abs. 1 Satz 1 SGB V einen Anspruch auf Krankenbehandlung, wenn sie notwendig ist, um eine Krankheit zu erkennen, zu heilen, ihre Verschlimmerung zu verhüten oder Krankheitsbeschwerden zu lindern. Die Krankenbehandlung umfasst nach § 27 Abs. 1 Satz 2 Nr. SGB V auch die Versorgung mit Arzneimitteln. Versicherte mit einer schwerwiegenden Erkrankung (hierzu: aa) haben nach § 31 Abs. 6 SGB V Anspruch auf Versorgung mit Cannabis in Form von getrockneten Blüten oder Extrakten in standardisierter Qualität und auf Versorgung mit Arzneimitteln mit den Wirkstoffen Dronabinol oder Nabilon, wenn 1. eine allgemein anerkannte, dem medizinischen Standard entsprechende Leistung a) nicht zur Verfügung steht oder b) im Einzelfall nach der begründeten Einschätzung der behandelnden Vertragsärztin oder des behandelnden Vertragsarztes unter Abwägung der zu erwartenden Nebenwirkungen und unter Berücksichtigung des Krankheitszustandes der oder des Versicherten nicht zur Anwendung kommen kann (hierzu: bb) und 2. eine nicht ganz entfernt liegende Aussicht auf eine spürbare positive Einwirkung auf den Krankheitsverlauf oder auf schwerwiegende Symptome besteht (hierzu: cc). Diese Voraussetzungen liegen hier vor.

aa)

Zunächst liegt bei der Klägerin eine schwerwiegende Erkrankung vor. Die Voraussetzungen an eine schwerwiegende Erkrankung im Sinne von § 31 Abs. 6 SGB V sind nicht vergleichbar mit denen an eine lebensbedrohliche Erkrankung oder vergleichbare Erkrankung im Sinne von § 2 Abs. 1a SGB V. Eine Erkrankung ist nicht erst als schwerwiegend im Sinne von § 31 Abs. 6 SGB V einzustufen, wenn sie lebensbedrohlich oder vergleichbar gefährlich ist, sondern bereits wenn sie aufgrund der Schwere der durch sie verursachten Gesundheitsstörungen die Lebensqualität auf Dauer nachhaltig beeinträchtigt. Der Wortlaut in §§ 2 Abs. 1a und 31 Abs. 6 SGB V unterscheidet sich zunächst. Während in § 2 Abs. 1a SGB V eine lebensbedrohliche oder regelmäßig tödliche Erkrankung oder eine zumindest wertungsmäßig vergleichbare Erkrankung vorliegen muss, ist diese Formulierung in § 31 Abs. 6 SGB V nicht aufgegriffen. Hier ist lediglich eine schwerwiegende Erkrankung Voraussetzung für einen Anspruch. Aus dem Beschluss des Bundesverfassungsgerichts vom 10.11.2015, Az: 1 BvR 2056/12 oder vom 26.06.2018, Az: 1 BvR 733/18, lässt sich nichts anderes herleiten. Der erste Beschluss verhält sich nicht zu den Anforderungen an § 31 Abs. 6 SGB V. Im zweiten Beschluss wird nur eine Parallele für die Erfolgsaussichten der Therapie angestellt, deren Wortlaut identisch ist, nicht indes für das Tatbestandsmerkmal der erforderlichen Erkrankung. Auch wenn das Bundesverfassungsgericht (Beschl. v. 26.06.2018, Az: 1 BvR 733/18, Rn. 6, zit. nach juris) eine Anlehnung an die Rechtsprechung zu § 2 Abs. 1a SGB V nicht als willkürlich einstuft, sieht die Kammer bei beiden Normen entscheidende Unterschiede in den Grundkonstellationen. Bei Erkrankungen im Sinne von § 2 Abs. 1a SGB V liegt häufig eine nur sehr geringe bis gar nicht vorhandene Studienlage zu den anzuwendenden Arzneimitteln vor, wohingegen bei § 31 Abs. 6 SGB V eine nunmehr fortgeschrittene Studienlage zur Anwendung von Cannabisprodukten und deren Nebenwirkungen zumindest im Allgemeinen vorliegt. Der Gesetzgeber (vgl. die Plenardebatte vom 07.07.2016, BT-Plenarprotokoll 18/183, S. 1875Cff., insbesondere S. 18181A) hatte sich deshalb und aufgrund der weit überwiegenden Vorteile gegenüber den Nachteilen zur Einführung von § 31 Abs. 6 SGB V und einer erstmalig gesetzlich geregelten Versorgung mit Cannabisprodukten entschlossen. Unter anderem wurde das Tourette-Syndrom als möglicher Anwendungsfall genannt. Vor diesem Hintergrund geht die Kammer davon aus, dass der Gesetzgeber die Versorgung mit Cannabis auf der Grundlage von § 31 Abs. 6 SGB V nicht auf die Anwendung bei lebensbedrohlichen Erkrankungen oder vergleichbar schweren Erkrankungen beschränken wollte. Vielmehr ist unter schwerwiegender Erkrankung im Sinne von § 31 Abs. 6 SGB V eine Krankheit zu verstehen, die die Betroffenen nicht nur leicht, sondern eben schwerwiegend beeinträchtigt. Im Beschluss des Bundesverfassungsgerichts vom 26.06.2018, Az: 1 BvR 733/18, ist insofern auch z. B. von Cluster-Kopfschmerzen die Rede. Das Hessische Landessozialgericht (Beschl. v. 20.02.2018, Az: L 8 KR 445/17 B ER, Rn. 13, zit. nach juris) hatte im dem Beschluss des Bundesverfassungsgerichts (aaO) zu Grunde liegenden Fall unter Bezugnahme auf die Rechtsprechung des Bundessozialgerichts zum off-label-use (Urt. v. 06.03.2012, Az: B 1 KR 24/10 R, Rn. 24, zit. nach juris) eine Erkrankung als schwerwiegend eingestuft, wenn sie lebensbedrohlich ist oder wenn sie aufgrund der Schwere der durch sie verursachten Gesundheitsstörungen die Lebensqualität auf Dauer nachhaltig beeinträchtigt (vgl. hierzu auch: BSG, Ur. v. 19.03.2002, Az: B 1 KR 37/00 R = BSGE 89, 184-192, SozR 3-2500 § 31 Nr 8, Rn. 26; Pitz in: Schlegel/Voelzke, jurisPK-SGB V, 4. Aufl., § 31 SGB V (Stand: 05.11.2020), Rn. 125), und dies für Cluster-Kopfschmerzen bejaht. Die Kammer schließt sich dieser Rechtsprechung an. Von einer solch schwerwiegenden Erkrankung im Sinne einer auf Dauer die Lebensqualität nachhaltig beeinträchtigenden Gesundheitsstörung geht die Kammer vorliegend auch bei der Klägerin aus. Sachverständig diagnostiziert ist ein Tourette-Syndrom, deren Symptome die Kammer in der mündlichen Verhandlung am 20.01.2021 selbst wahrnehmen konnte. Die Klägerin schlägt in regelmäßigen und zeitlich kurzen Abständen die Ellenbogen in die Seite und grimassiert. Eine Zeitspanne von drei Minuten konnte von der Klägerin in der mündlichen Verhandlung ohne Tic nicht durchgehalten werden. Die Zuckungen sind insofern nachvollziehbar unangenehm und schmerzhaft. Aufgrund der sich ständig wiederholenden Tics ist die Lebensqualität der Klägerin nachhaltig gestört. Eine Dauerhaftigkeit der Erkrankung liegt vor. Die Klägerin leidet seit ihrer Kindheit an dieser Erkrankung und eine Heilung ist nicht in Sicht.

bb)

Im vorliegenden Einzelfall kann nach der begründeten Einschätzung der behandelnden Vertragsärztin unter Abwägung der zu erwartenden Nebenwirkungen und unter Berücksichtigung des Krankheitszustands der Klägerin eine andere (dem medizinischen Standard entsprechende) Therapie nicht zur Anwendung kommen. Inhalt, Umfang und Folge der Einschätzung und seiner Begründung sind im Gesetz nicht abschließend geregelt und bedürfen der Auslegung durch die Rechtsprechung. Als Mindestinhalt kann dem Gesetz entnommen werden, dass der behandelnde Vertragsarzt sich zum Krankheitszustand des Patienten und den Nebenwirkungen der Therapiemöglichkeiten äußert. Das ist vorliegend erfolgt. Frau I. hat den von der Beklagten übersandten Arztfragebogen am 26.01.2018 ausgefüllt und unterschrieben bzw. auf den Bericht vom 25.01.2018 Bezug genommen. Hierin hat die Behandlerin auf gute Vorerfahrungen mit Cannabisblüten Bezug genommen. Die klinisch im Vordergrund stehenden Schmerzen könnten bei der Klägerin durch Inhalation von Cannabis gemindert werden. Die schulmedizinisch zur Verfügung stehende Verhaltenstherapie habe nicht den gewünschten Erfolg herbeigeführt und die schulmedizinisch zur Verfügung stehende Medikation mit Haloperidol könne aufgrund der Nebenwirkungen nicht eingesetzt werden.

Zur Überzeugung der Kammer dürfen an die begründete Einschätzung im Sinne von § 31 Abs. 6 SGB V keine überspannten Anforderungen gestellt werden. Soweit der Rechtsprechung (vgl. hierzu: Landessozialgericht Nordrhein-Westfalen, Beschl. v. 25.02.2019, Az: L 11 KR 240/18 B ER, Rn. 71; Hessisches Landessozialgericht, Beschl. v. 16.10.2017, Az: L 8 KR 366/17 B ER, Rn. 10; Sozialgericht Wiesbaden, Beschl. v. 21.08.2017, Az: S 21 KR 225/17 ER; SG Neuruppin, Gerichtsbescheid v. 06.07.2020, Az: S 20 KR 219/17, Rn. 23, zit. nach juris) entnommen werden kann, dass die begründete Einschätzung sich mit allen Vor- und Nachteilen aller möglichen Therapieformen auseinanderzusetzen hat und hierbei nachvollziehbar, plausibel, in sich schlüssig und widerspruchsfrei sein soll, folgt die Kammer dem nicht vollständig. Insbesondere darf eine etwaige Ungenauigkeit in einem entsprechenden Arztfragebogen nicht dann zu einem Anspruchsausschluss führen, wenn die ersichtlich bestehende Möglichkeit des Anspruchs bei weiterer Aufklärung besteht. Die Kammer folgt aus diesem Grund auch nicht der Rechtsprechung des Landessozialgerichts für das Land Nordrhein-Westfalen (Beschl. v. 30.01.2019, Az: L 11 KR 442/18 B ER, Rn. 34, juris), wonach eine weitere Sachaufklärung durch Sachverständigengutachten ausgeschlossen sein soll. Der gedankliche Ansatz, dass die Versicherten schon allein aufgrund der begründeten Einschätzung einen Anspruch haben sollen, ist sachgerecht, als bei positivem Verlauf ein kurzes und effizientes Verfahren besteht, blendet aber für den Fall von Unzulänglichkeiten die Möglichkeit aus, dass die Versicherten trotz der Unzulänglichkeiten einen Anspruch haben können. Die Versicherten in diesem Fall auf ein erneutes Antragsverfahren zu verweisen, erachtet die Kammer weder für sachgerecht noch für gesetzlich geboten. Vielmehr lässt sich das Tatbestandsmerkmal der „begründeten Einschätzung“ unter Berücksichtigung der (berechtigten) Interessen der Versicherten dahingehend auslegen, dass durch den MDK und das Gericht ggf. durch Einholung von Befundberichten oder Sachverständigengutachten nachvollzogen werden kann, ob die Einschätzung als medizinisch vertretbar im Sinne von „begründet“ eingestuft werden kann. Diese Beurteilung kann insbesondere bei der sich vergleichsweise schnell entwickelnden Studienlage schwierig und ggf. nicht allein juristisch lösbar sein. Neben dem bereits aufgezeigten Problem einer unzulänglichen Begründung im Falle eines Anspruchs sind die Versicherten aber auch vor „begründeten“ Fehleinschätzungen der behandelnden Ärzte zu schützen. Dies kann nicht in allen Fällen allein durch eine Prüfung der Begründung durch das Gericht allein erfolgen. Zur Beurteilung der begründeten Einschätzung ist vielmehr medizinischer Sachverstand einzuholen.

Im streitgegenständlichen Fall bestand ein Dissens zwischen der Einschätzung der behandelnden Vertragsärztin und dem MDK aufgrund der Auswertung der Studienlage. Das Gericht sah sich nicht in der Lage, eigenständig die Auswertung der Studienlage als medizinisch vertretbar oder nicht vertretbar einzustufen. Der gerichtliche Gutachter ist der Einschätzung der behandelnden Vertragsärztin gefolgt. J. hat in seinem Sachverständigengutachten vom 13.08.2020 nachvollziehbar ausgeführt, dass bei der Klägerin ein Gilles-de-la-Tourette-Syndrom, eine posttraumatische Belastungsstörung eine emotional instabile Persönlichkeitsstörung vorliegen. Für diese Erkrankungen stehe eine allgemein anerkannte medikamentöse Therapie zur Verfügung, die jedoch bei der Klägerin wie auch in vielen vergleichbaren anderen Fällen nicht den gewünschten Effekt gezeigt habe, vielmehr unerträgliche Nebenwirkung ausgelöst habe. Mit medizinischen Cannabisprodukten stehe eine wissenschaftlich anerkannte Leistung zur Verfügung, die bisher von den Krankenkassen nicht bezahlt werde. In diesem Einzelfall könnten nach begründeter Einschätzung unter Abwägung der zu erwartenden Nebenwirkungen, vor allem jedoch unter Berücksichtigung des Krankheitszustandes der Klägerin erfolgreichere Maßnahmen durchgeführt werden, wie sie bereits auf eigene Kosten der Klägerin und unter der ärztlichen Überwachung durch Frau K. erfolgreich durchgeführt worden seien. Diese Ausführungen macht sich die Kammer zu eigen und geht dementsprechend von einer medizinisch vertretbaren begründeten Einschätzung der behandelnden Vertragsärztin aus.

Der Beklagten ist zuzugestehen, dass weder die behandelnde Vertragsärztin noch der Gutachter näher auf die Nebenwirkungen der hier begehrten Therapie eingegangen sind. Im vorliegenden Fall erachtet die Kammer diesen Umstand indes nicht als schädlich. Der Gutachter bezog sich auf die Einschätzung der behandelnden Vertragsärztin und diese wiederum bezog sich im Arztfragebogen auf den Arztbrief vom 25.01.2018 und die beigefügten Aufsätze. Aus dem einen Aufsatz („Treatment of Tourette syndrome with cannabinoids“, Behavioural Neurology 27(2013) 119-124, S. 122) geht zwar eine Kontraindikation für psychotische Erkrankungen und Substanzmissbrauch hervor, jedoch hat die behandelnde Vertragsärztin mit Bezugnahme auf den Arztbrief vom 25.01.2018 und den Aufsatz diese Angaben in ihre Einschätzung mit einbezogen, dass nämlich die aufgezeigten Vorteile der beantragten Therapie gegenüber den aufgezeigten Nachteilen und Gefahren überwiegen. Dies ist in Anbetracht des Therapie- und Krankheitsverlaufs der Klägerin auch nachvollziehbar. Es gibt derzeit keine funktionierende Therapiemöglichkeit für die Klägerin hinsichtlich der Tics und der damit verbundenen Schmerzen. Insofern sind die etwaig zu erwartenden Nebenwirkungen der vorgesehenen Therapie mit Medizinalcannabisblüten mit einer Dosierung von 1g pro Tag durch Inhalation mit Hilfe eines Vaporasiteurs wie eine psychische Abhängigkeit oder Folgen auf die psychische Gesundheit nachvollziehbar gegenüber den positiven Effekten auf die Schmerzen geringer zu gewichten.

Soweit die Auffassung vertreten wird, dass für den Anspruch nach § 31 Abs. 6 SGB V eine vertragsärztliche Verordnung erforderlich ist (Landessozialgericht Baden-Württemberg, Beschl. v. 19.09.2017, Az: L 11 KR 3414/17 ER-B, Rn. 24, juris; Pitz in: Schlegel/Voelzke, jurisPK-SGB V, 4. Aufl., § 31 SGB V, Stand: 05.11.2020, Rn. 127mwN; vgl. zum Streitstand: KassKomm/Nolte, 111. EL September 2020 Rn. 75g, SGB V § 31 Rn. 75c-75i;) folgt die Kammer dieser Auffassung nicht. Verordnungen dürfen gem. § 11 Abs. 4 Satz 1 der Richtlinie des Gemeinsamen Bundesausschusses über die Verordnung von Arzneimitteln in der vertragsärztlichen Versorgung (Arzneimittel-Richtlinie/AM-RL) in der Fassung vom 18. Dezember 2008/22.Januar 2009 veröffentlicht im Bundesanzeiger Nr. 49a (Beilage) vom 31. März 2009 in Kraft getreten am 1. April 2009 zuletzt geändert am 17. Dezember 2020 veröffentlicht im Bundesanzeiger (BAnz AT 18.01.2021 B7) in Kraft getreten am 19. Januar 2021 längstens einen Monat nach Ausstellungsdatum zu Lasten der Krankenkasse beliefert werden. Bereits das Genehmigungsverfahren bei der Krankenkasse überschreitet diesen Zeitraum in aller Regel. Dies geschieht erst Recht, wenn ein gerichtliches Verfahren nachgeschaltet ist. Daneben ist bei Betäubungsmitteln die Wochenfrist nach § 12 Abs. 1 Nr. 1c Betäubungsmittelgesetz zu beachten, innerhalb derer ein Betäubungsmittel nach Verordnung nur abgegeben werden darf. Eine vertragsärztliche Verordnung kann aufgrund des Zeitablaufs wegen der absehbaren Erledigung keine (sinnvolle) Genehmigungsvoraussetzung sein. § 31 Abs. 6 Satz 2 SGB V sieht zwar eine vertragsärztliche Verordnung, aber nicht den zeitlichen Ablauf von Genehmigung und vertragsärztlicher Verordnung vor. Aufgrund der geschilderten Umstände kann sinnvollerweise § 31 Abs. 6 Satz 2 SGB V nur der zeitliche Ablauf entnommen werden, dass zuerst die Genehmigung eingeholt und sodann die vertragsärztliche Verordnung ausgestellt wird. Es ist insofern zu beachten, dass bei Änderungen aufgrund der durch die Krankenkasse erteilte Genehmigung oder durch eine etwaige gerichtliche Entscheidung ohnehin eine andere Verordnung auszustellen wäre. Hier verbleibt es bei der vorgeschlagenen Therapie mit Medizinalcannabisblüten mit einer Dosierung von 1g pro Tag durch Inhalation mit Hilfe eines Vaporasiteurs.

cc)

Bei der Klägerin besteht auch eine nicht ganz entfernt liegende Aussicht auf eine spürbare positive Einwirkung auf den Krankheitsverlauf oder auf schwerwiegende Symptome. Diese vom Hessischen Landessozialgericht (Beschl. v. 20.02.2018, Az: L 8 KR 445/17 B ER, Rn. 16, zit. nach juris) als sog. „Mindestevidenz“ bezeichnete Voraussetzung liegt ebenfalls vor. Der Sachverständige hat in seinem gerichtlichen Gutachten ausgeführt, dass die Therapie wissenschaftlich belegt und mehrfach entsprechend kommentiert worden sei. Der Verlauf bei der Klägerin bestätige die positiven Erfahrungen mit dieser Therapie in anderen Fällen. Nach eigener Aussage der Klägerin, die auch von der behandelnden Neurologin bestätigt werde, hätten die Tics und Zwänge an Intensität und Ausprägung seit Konsum von Cannabisprodukten eindeutig abgenommen. Von daher bestehe eine nicht ganz entfernt liegende Aussicht auf eine spürbare positive Einwirkung auf den Krankheitsverlauf und damit einhergehende schwerwiegende Symptome durch die Versorgung mit Cannabis in Form von getrockneten Blüten oder Extrakten in standardisierter Qualität, wie auch mit Arzneimitteln, welche den Wirkstoff Dronabinol oder Nabilon enthielten. Der Erfolg dieser Therapie gegenüber den früheren Behandlungsmaßnahmen mit klassischen Tranquilizern oder auch Neuroleptika sei evident und werde von der Klägerin wie von deren behandelnder Neurologin zweifelsfrei bestätigt. Soweit der MDK im Gutachten vom 15.02.2018 festgestellt hat, dass keine genügende Evidenz vorliege, weil kontrollierte randomisierte Studien notwendig seien, ist ein falscher rechtlicher Maßstab angewandt worden. Für die sog. Mindestevidenz genügen schon (Wirksamkeits-)Indizien, die sich auch außerhalb von Studien oder vergleichbaren Erkenntnisquellen oder von Leitlinien der ärztlichen Fachgesellschaften finden können (Hessisches Landessozialgericht, Beschl. v. 20.02.2018, Az: L 8 KR 445/17 B ER, Rn. 16, zit. nach juris). Diese Voraussetzung ist hier erfüllt. Es liegen sogar Studien vor, die vom Gutachter benannt worden sind und anhand derer zumindest eine mögliche Wirksamkeit belegt ist. Daneben ist eine konkrete Wirksamkeit bei der Klägerin bereits festgestellt.

2.

Aus den vorgenannten Gründen ist auch die Leistungsklage begründet. Die Klägerin hat einen Anspruch auf Versorgung mit Medizinal-Cannabisblüten. Die Verurteilung war nur dem Grunde nach gem. § 130 Abs. 1 Satz 1 Sozialgerichtsgesetz (SGG) beantragt. Die Beklagte muss die im Arztfragebogen konkretisierte Therapie mit Medizinalcannabisblüten mit einer Dosierung von 1g pro Tag durch Inhalation mit Hilfe eines Vaporasiteurs zur Verfügung stellen. Eine zeitliche Befristung der Versorgung hat die Kammer nicht angeordnet, weil ein Ende der Versorgungserforderlichkeit nicht absehbar ist.

 

II.

Die Kostenentscheidung beruht auf § 193 SGG.

Rechtskraft
Aus
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