L 10 VE 50/19 B

Land
Niedersachsen-Bremen
Sozialgericht
LSG Niedersachsen-Bremen
1. Instanz
SG Braunschweig (NSB)
Aktenzeichen
S 42 VE 21/17
Datum
2. Instanz
LSG Niedersachsen-Bremen
Aktenzeichen
L 10 VE 50/19 B
Datum
3. Instanz
-
Aktenzeichen
-
Datum
-
Kategorie
Beschluss

Die Beschwerde gegen den Beschluss des Sozialgerichts Braunschweig vom 24. September 2019 wird zurückgewiesen.

Das Beschwerde führende Land hat die Kosten des Beschwerdeverfahrens zu tragen.

 

Gründe

I.

Streitig ist im Beschwerdeverfahren die Pflicht zur Tragung von Gutachtenskosten.

 

Im Ausgangsverfahren bei dem Sozialgericht Braunschweig (S 42 VE 21/17) hatte der 1993 geborene Kläger die Feststellung von Schädigungsfolgen sowie die Gewährung von Versorgungsleistungen nach dem Opferentschädigungsgesetz (OEG) geltend gemacht. Auf seinen Antrag vom Mai 2016 wegen eines Vorfalls (sexueller Missbrauch) im Januar 2008 hatte das Land Niedersachsen mit Bescheid vom 10. Januar 2017 in der Gestalt des Widerspruchsbescheides vom 15. Mai 2017 zwar festgestellt, er sei Opfer eines rechtswidrigen, tätlichen Angriffs geworden. Jedoch seien aufgrund dieses Vorfalls keine Schädigungsfolgen festzustellen und daher bestehe auch kein Anspruch auf Versorgung. Grundlage dieser Entscheidung war ein im Verwaltungsverfahren erstelltes Gutachten des Neurologen und Psychiaters Dr. D. vom 15. Dezember 2016, dem sich der medizinische Dienst des Landes (Medizinaldirektorin Dr. E.) in der Stellungnahme vom 3. Januar 2017 angeschlossen hatte. Dabei hatte der Kläger bereits im Widerspruchsverfahren das Gutachten von Dr.  D. u.a. unter Hinweis auf die Diagnosekriterien des DSM V kritisiert. Hierauf war das Land indessen im Widerspruchsverfahren nicht näher eingegangen.

 

Im sodann eingeleiteten Klageverfahren hat der Kläger seine Kritik an dem vom Land Niedersachsen seiner Entscheidung zu Grunde gelegten Gutachten von Dr. D. wiederholt. Hierauf hat das Land Niedersachsen erneut seinen medizinischen Dienst beteiligt. Der für den medizinischen Dienst des Landes Niedersachsen tätige Psychiater Dr. F. führte in seiner Stellungnahme vom 5. März 2018 aus, das Gutachten von Dr. D. weise erhebliche Mängel auf. Dieser sei zu Unrecht davon ausgegangen, dass der an dem Kläger verübte sexuelle Missbrauch nicht geeignet gewesen sei, zu psychoreaktiven Störungen zu führen und habe auch die vorliegende Funktionsbeeinträchtigung auf psychiatrischem Fachgebiet widersprüchlich bewertet. 

 

Daraufhin hat sich das Sozialgericht (SG) Braunschweig von der Fachärztin für Kinder- und Jugendpsychiatrie Dr. G. ein Sachverständigengutachten vom 11. Oktober 2018 erstatten lassen. Diese ist nach sorgfältiger Auswertung der in der Akte befindlichen medizinischen Befunde und zweimaliger Exploration des Klägers im Wesentlichen zu dem Ergebnis gelangt, bei dem Kläger lägen neben anderen Funktionsstörungen auf psychiatrischem Fachgebiet auch eine posttraumatische Belastungsstörung sowie eine Somatisierungsstörung vor, die auf das im Verfahren angeschuldigte Geschehen zurückzuführen seien. Diese schädigungsbedingten Funktionsstörungen müssten mit einem GdS von 30 bewertet werden. Daneben lägen noch andere psychiatrische Funktionsbeeinträchtigungen vor, die aber nicht schädigungsbedingt seien.

 

Daraufhin gab das Land Niedersachsen – aufgrund einer weiteren Stellungnahme seines medizinischen Dienstes - mit Schriftsatz vom 6. Dezember 2018 ein Teilanerkenntnis des Inhalts ab, das ab Dezember 2015 eine „psychoreaktive Störung“ als Schädigungsfolge anerkannt werde, die mit einem GdS von 10 bewertet werde.

 

Dazu hat Dr. G. in einer vom SG angeforderten ergänzenden Stellungnahme vom 12. Februar 2019 unter Auswertung der einschlägigen wissenschaftlichen Literatur detailliert Stellung genommen.

 

Das SG hat das beklagte Land mit Urteil vom 10. September 2019 unter Einbeziehung des abgegebenen Teilanerkenntnisses verurteilt, bei dem Kläger eine posttraumatische Belastungsstörung sowie eine Somatisierungsstörung als Schädigungsfolge festzustellen, diese mit einem Grad der Schädigungsfolgen von 30 zu bewerten sowie dem Kläger entsprechende Versorgungsleistungen seit Dezember 2015 zu gewähren. Zur Begründung hat es sich im Wesentlichen auf das Gutachten von Dr. G. nebst der ergänzenden Stellungnahme gestützt.

 

Mit hier angefochtenem Beschluss vom 24. September 2019 hat das SG – nach vorheriger Anhörung des beklagten Landes – diesem auferlegt die Kosten für das Gutachten von Dr. G. nebst der ergänzenden Stellungnahme zu tragen. Zur Begründung hat es maßgeblich darauf hingewiesen, der Kläger habe mit denselben Argumenten Klage erhoben, die er bereits im Widerspruchsverfahren vorgetragen habe. Allein diese Argumente hätten dazu geführt, dass das beklagte Land in der Gestalt von Dr. F. von der Insuffizienz des Gutachtens von Dr. D. ausgegangen sei. Daraus ergebe sich ohne weiteres, dass dieser Umstand bereits im Verwaltungsverfahren erkennbar gewesen sei. Wenn nun von Seiten des Landes argumentiert werde, dies habe im Verwaltungsverfahren nicht erkannt werden können, so sei dies widersprüchlich.

 

Gegen den am 27. September 2019 zugestellten Beschluss ist am 17. Oktober 2019 Beschwerde eingelegt worden. Zu deren Begründung macht das Land Niedersachsen nach wie vor geltend, während des Verwaltungsverfahrens hätten die Mängel in der Sachverhaltsermittlung nicht erkannt werden können. Diese seien vielmehr erst durch die Stellungnahme des medizinischen Dienstes vom 5. März 2018 (Dr. F.) zu Tage getreten.

 

II.

Die Beschwerde ist zulässig.

 

Der Zulässigkeit der Beschwerde steht nicht das Verbot eines In-sich-Prozesses entgegen. Zwar ist im Beschwerdeverfahren auf beiden Seiten das Land Niedersachsen beteiligt. Dies steht der Inanspruchnahme gerichtlichen Rechtsschutzes aber nicht entgegen, weil keine verwaltungsinterne Möglichkeit besteht, den Streit beizulegen. Das wäre insbesondere der Fall, wenn die beiden Beteiligten eine gemeinsame übergeordnete Behörde hätten, deren Weisung sie zur Klärung der umstrittenen Frage einholen könnten (vgl. dazu Senatsbeschlüsse vom 22. März 2018 – L 10 SB 126/17; 8. Januar 2018 – L 10 SB 114/17 B; sowie Keller in Meyer-Ladewig/Keller/Leitherer, Kommentar zum SGG, 13. Auflage, § 54 Rn 15). Daran fehlt es jedoch.

 

Der Beschwerde fehlt auch nicht das Rechtsschutzinteresse deswegen, weil das Beschwerde führende Land etwa ungeachtet des Bestandes des angefochtenen Beschlusses nicht zu Zahlungen herangezogen werden könnte. Ein solches Ergebnis folgt nicht aus der unmittelbaren Anwendung des § 2 Abs. 1 Satz 1 GKG. Die Voraussetzungen des § 197a Abs. 1 Satz 1 SGG für die Anwendung des Gerichtskostengesetzes lagen bei dem Hauptsacherechtsstreit nicht vor, weil der dortige Kläger in seiner Eigenschaft als Leistungsempfänger an dem Verfahren beteiligt war, § 183 Satz 1 und 3 SGG. In solchen Verfahren gilt § 2 GKG gemäß § 184 Abs. 3 SGG nur im Hinblick auf die von den anderen Verfahrensbeteiligten etwa zu zahlenden Pauschgebühren entsprechend. Um solche handelt es sich bei den hier streitigen Kosten nach § 192 Abs. 4 SGG nicht.

 

Die Beschwerde ist nicht begründet.

 

Das Sozialgericht hat die Grenzen des ihm bei der Auferlegung von Kosten der Ermittlungen in Anwendung von § 192 Abs. 4 SGG eingeräumten Ermessens nicht überschritten.

 

Gemäß § 192 Abs. 4 SGG kann das Gericht der Behörde die Kosten auferlegen, die dadurch verursacht werden, dass die Behörde erkennbare und notwendige Ermittlungen im Verwaltungsverfahren unterlassen hat, die im gerichtlichen Verfahren nachgeholt wurden. Die 2008 in das Gesetz eingefügte Regelung steuert der Praxis einzelner Leistungsträger entgegen, selbst – etwa aus Kostengründen - Ermittlungen zu unterlassen, um sie dann im sozialgerichtlichen Verfahren auf Kosten des „Justizhaushalts“ nachholen zu lassen (Jungeblut in BeckOK Sozialrecht, § 192 SGG Rn 26a; Stotz in Schlegel/Voelzke jurisPK SGG § 192 Rn 86 unter ausführlichem Hinweis auf die Gesetzesmaterialien; zu systematischen Ermittlungsdefiziten des Niedersächsischen Landesamtes für Soziales, Jugend und Familie im Schwerbehindertenrecht Kröner/Westermeyer, SGb 2020, 204 ff).

 

Dem Gericht ist mit dieser Vorschrift ein Ermessen eröffnet (Krauß in Roos/Wahrendorf, SGG, § 192 Rn 71; Stotz in Schlegel/Voelzke jurisPK SGG § 192 Rn 97). Solche erstinstanzlichen Ermessensentscheidungen sind im Beschwerdeverfahren nur auf Ermessensfehler zu überprüfen (vergleiche neben den bereits zitierten Senatsbeschlüssen den Senatsbeschluss vom 26. April 2017 AZ: L 10 SF 1/17 B SB; LSG Niedersachsen-Bremen, B. v. 26. Mai 2014 – L 11 AS 1343/13 B ER = NdsRpfl 2015, 140 f; LSG Niedersachsen-Bremen, B. v. 25. Juni 2002 – L 9 B 144/02 SB; BeckOK SozR/Jungeblut § 176 SGG Rn. 4-5 ausführlich mit zahlreichen Nachweisen zum Streitstand; Krauß in Beck-online Großkommentar, Hrsg: Roos/Wahrendorf/Müller, § 192 Rn 84; anders ohne zureichende Begründung Schmidt in Meyer-Ladewig, SGG, 13. Aufl. § 176 Rn 4 im Gegensatz zur Vorauflage). Ergeht eine erstinstanzliche Entscheidung ermessensfehlerfrei, so bleibt sie auch rechtmäßig, wenn das Beschwerdegericht im Ergebnis eine andere (möglicherweise ebenfalls rechtsfehlerfreie) Ermessensentscheidung für richtig hielte. Sinn des Beschwerdeverfahrens ist es nicht, dem Beschwerdeführenden die Möglichkeit zu geben, zu einer anderen Ermessensentscheidung zu gelangen, sondern allein eine Rechtmäßigkeitskontrolle (Jungeblut a.a.O. Rn 5). Der Gesetzgeber hat insoweit an die traditionelle Dogmatik der Ermessenskontrolle angeschlossen, wie sie auch in § 54 Abs. 2 Satz 2 SGG kodifiziert ist. Dies verkennt die Gegenmeinung (vgl. etwa Stotz in jurisPK-SGG § 192 Rn 106.1 m.w.N.), wenn sie sich auf § 157 SGG bezieht.

 

Sachliche Voraussetzung für die Ermessensausübung des Sozialgerichts ist zunächst, dass der Beschwerdeführer im Verwaltungsverfahren erkennbare und notwendige Ermittlungen unterlassen hat. Erkennbar in diesem Sinne sind Ermittlungen, wenn sich der Behörde ihre Notwendigkeit ausgehend von den gesetzlichen Bestimmungen und ihrer Auslegung erschließen musste (Krauß a.a.O., SGG, § 192 Rn 78). Notwendig in dem vorgenannten Sinn sind solche Ermittlungen, deren Kenntnis für die anstehende Sachentscheidung auf der Grundlage des geltenden Rechtes und der höchstrichterlichen Rechtsprechung unabdingbar sind (vgl. Schmidt in Meyer-Ladewig/Keller/Leitherer, a.a.O., § 192 RdNr. 18b).

 

Im hier zugrundeliegenden Verfahren wäre es schon im Verwaltungsverfahren erkennbar gewesen, dass weitere Ermittlungen notwendig waren. Das SG weist in seinem angefochtenen Beschluss vom 24. September 2019 zunächst zutreffend und nicht ergänzungsbedürftig darauf hin, dass der Prozessbevollmächtigte des Klägers bereits im Widerspruchsverfahren mit seinem Schriftsatz vom 11. April 2017 die wesentliche Kritik an dem Gutachten von Dr. D. vorgetragen hat, die dann auch im gerichtlichen Verfahren vom medizinischen Dienst des Landes (Dr. F.) geäußert wurde. Dies gilt insbesondere für die diagnostischen Kriterien für die Feststellung einer Posttraumatischen Belastungsstörung (PTBS) und die Verkennung dessen, dass es für die Möglichkeit der Auslösung von Schäden durch sexuellen Missbrauch nicht auf die Anwendung von Gewalt ankommt (vgl. S. 70 des Gutachtens von Dr. D.), was ja auch der bekannten höchstrichterlichen Rechtsprechung entspricht (vgl. etwa BSG Urteil vom 18. Oktober 1995 – 9 RVg 7/93 juris Rn 10 ff). Dieses Problem hätte dem Beschwerde führenden Land aber bereits bei der versorgungsärztlichen Überprüfung durch Medizinaldirektorin Dr. E. am 3. Januar 2017 auffallen müssen. Hierbei ist die Häufigkeit dieser Diagnose und ähnlicher Fragestellungen in versorgungsrechtlichen Verfahren insbesondere im Opferentschädigungsrecht zu berücksichtigen. Dem Verwaltungsvorgang des Landes Niedersachsen ist aber auch im Widerspruchsverfahren nicht zu entnehmen, dass auf die dezidierte Kritik des Gutachtens erneut der medizinische Dienst beteiligt wurde oder etwa Dr. D. oder Dr. E. um eine Stellungnahme zu den Einwänden des Prozessbevollmächtigten gebeten wurde.

 

Dem kann das Beschwerde führende Land nicht entgegenhalten, selbst der Prozessbevollmächtigte habe das Gutachten von Dr. D. nicht für vollkommen unbrauchbar gehalten, wie dies mehrfach vorgetragen worden ist. Immerhin hatte er ja aber bereits auf entscheidende – später von Dr. F. geteilte – Gesichtspunkte hingewiesen und auf die Notwendigkeit weiterer Ermittlungen aufmerksam gemacht.

 

Das Beschwerde führende Land kann auch nicht geltend machen, es sei ihm nicht möglich gewesen, Mängel des Gutachtens von Dr. D. bereits im Verwaltungsverfahren zu erkennen, weil erst Dr. F. im Gerichtsverfahren darauf aufmerksam gemacht habe. Insoweit ist darauf hinzuweisen, dass auch Dr. F. dem medizinischen Dienst zuzurechnen ist – es dem medizinischen Dienst im Grundsatz also offensichtlich möglich war, die möglichen Schwächen des Gutachtens zu erkennen. Eine künstliche Trennung zwischen dem medizinischen Dienst einerseits und der Verwaltung andererseits kann nicht zugrunde gelegt werden. Vielmehr rechnet der medizinische Dienst zu eben jener Verwaltung, die nach § 20 SGB X (vgl. insbesondere Abs. 2 der Vorschrift) verpflichtet ist, den Sachverhalt unparteiisch aufzuklären.

 

Mithin waren die tatbestandlichen Voraussetzungen des § 192 Abs. 4 SGG gegeben und das SG war berechtigt, das ihm eingeräumte Ermessen auszuüben. Anhaltspunkte für Ermessensfehler sind weder vom Beschwerdeführer vorgetragen noch für den Senat ersichtlich. Die Entscheidung des SG war rechtmäßig.

 

Da es sich bei dem vorliegenden Beschwerdeverfahren nach der gesetzlichen Konzeption um ein von dem Hauptsacheverfahren verschiedenes Nebenverfahren handelt, beruht die Kostenentscheidung auf der Anwendung von § 197a Abs. 1 SGG i.Vm. §§ 161 Abs. 2 VwGO, 2 Abs. 1 Satz 1 GKG, und 154 Abs. 2, 162 Abs. 2 VwGO (vgl. Senatsbeschluss v. 22. März 2018 – L 10 SB 126/17; Krauß a.a.O. Rn 84).

 

Der Beschluss ist in Anwendung von § 177 SGG nicht anfechtbar.

Rechtskraft
Aus
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