Im Regelfall ist in Konstellationen eines führenden Einzel-GdB von 30 und zweier Einzel-GdB von 20 die Annahme der Schwerbehinderteneigenschaft nur in begründeten besonderen Fällen möglich, eine Gesamtabwägung im Einzelfall führt häufiger zur Annahme eines GdB von 40.
Das Urteil des SG Oldenburg vom 18. Februar 2020 wird aufgehoben. Die Klage wird abgewiesen.
Der Beklagte hat der Klägerin 1/4 der notwendigen Kosten des Widerspruchsverfahrens, im Übrigen keine Kosten zu erstatten.
Die Revision wird nicht zugelassen.
Tatbestand
Der Beklagte wendet sich mit seiner Berufung gegen die seitens des Sozialgerichts (SG) Oldenburg ausgesprochene Verpflichtung, den Grad der Behinderung (GdB) der Klägerin mit 50 und mithin deren Schwerbehinderteneigenschaft festzustellen.
Die 1959 geborene Klägerin stellte am 11. Dezember 2014 nach einem im Oktober 2014 aufgetretenen Bandscheibenvorfall im Bereich der Lendenwirbelsäule (LWS), L 4/5, einen Erstfeststellungsantrag beim Beklagten. Sie berief sich auf einen Wirbelsäulenschaden, Schilddrüsenüberfunktion und Gelenkschmerzen und beantragte die Feststellung eines GdB sowie des Merkzeichens G. Nach Einholung ärztlicher Befundberichte, u. a. betreffend eine vom 17. Dezember 2014 bis 14. Januar 2015 durchgeführte orthopädisch ausgerichtete Rehabilitationsmaßnahme in Bad J., empfahl der Ärztliche Dienst die Feststellung eines GdB von 20 aufgrund einer Funktionseinschränkung der Wirbelsäule mit ausstrahlenden Beschwerden. Ein weiterer Bandscheibenvorfall im Bereich der Halswirbelsäule (HWS) konnte im Rahmen einer Magnetresonanztomographie (MRT) der HWS vom 4. Februar 2015 ausgeschlossen werden. Mit Bescheid vom 12. Februar 2015 stellte der Beklagte den GdB der Klägerin entsprechend mit 20 fest. Das Widerspruchsverfahren blieb erfolglos.
Bereits am 30. Juli 2015 stellte die Klägerin einen Neufeststellungsantrag, der den Ausgangspunkt des hier anhängigen Rechtsstreits darstellt. Sie berief sich auf eine zwischenzeitliche Schilddrüsenentfernung aufgrund einer Schilddrüsenerkrankung sowie auf eine inzwischen starke Depression. Nunmehr beantragte sie neben einem höheren GdB und dem Merkzeichen G auch die Feststellung der Merkzeichen aG und RF. Nach einem Bericht der Fachärztin für Psychiatrie K. befand sich die Klägerin dort seit dem 20. März 2015 in Behandlung, gemäß Befundbericht vom 14. September 2015 war die letzte Vorstellung am 2. Juli 2015 gewesen. Wegen der weiteren ärztlichen Befundberichte wird auf den Inhalt der Verwaltungsakten verwiesen. Der Ärztliche Dienst des Beklagten empfahl nunmehr die Feststellung eines weiteren Einzel-GdB von 20 aufgrund der Behinderung „seelische Störung, psychosomatisches Erschöpfungssyndrom“ und die Feststellung eines Gesamt-GdB von 30, während weitere geltend gemachte Erkrankungen keinen höheren Einzel-GdB als 10 bedingten. Dementsprechend stellte der Beklagte mit Bescheid vom 18. November 2015 den GdB der Klägerin mit 30 fest. Im nachfolgenden Widerspruchsverfahren legte die Klägerin u. a. einen radiologischen Bericht vom 30. November 2015 über eine aktuelle MRT der LWS vor, wonach ein Bandscheibenvorfall im Segment L5/S1 mit Druck auf die S1-Wurzel links festgestellt worden war. Der Ärztliche Dienst des Beklagten empfahl nunmehr die Anhebung des Einzel-GdB hinsichtlich des Wirbelsäulenleidens auf 30 und des Gesamt-GdB auf 40, was der Beklagte mit Teilabhilfebescheid vom 10. Februar 2016 entsprechend umsetzte. Im Übrigen wies der Beklagte den Widerspruch der Klägerin mit Widerspruchsbescheid vom 23. März 2016 zurück.
Die Klägerin hat am 26. April 2016 Klage erhoben. Sie hat insbesondere im Hinblick auf eine bislang nicht berücksichtigte Augenerkrankung, ihre Schilddrüsenerkrankung, Arthritis bzw. Arthrose sowie die Gesamtheit ihrer Funktionseinschränkungen die Feststellung eines GdB von mindestens 50 beantragt. Die Feststellung von Merkzeichen ist nicht Klagegegenstand geworden.
Das SG Oldenburg hat ärztliche Befundberichte eingeholt, die nach Auffassung des Ärztlichen Dienstes des Beklagten keine Änderung der Einschätzung bedingt haben. Die Behandlung bei Dr. K. ist zwischenzeitlich fortgeführt worden. Die Klägerin hat insbesondere ihre Augenerkrankung nicht hinreichend gewürdigt gesehen. Der korrigierte Visus ist seitens der Augenärztin L. mit beidseits 0,8 angegeben worden. Der Augenarzt Dr. M. hat unter dem 28. Juni 2016 ein Gutachten zur Fahrtauglichkeit erstellt und hierbei massive Gesichtsfeldeinschränkungen ausgeführt, weswegen die Klägerin nicht aktiv mit dem Auto fahren dürfe. Er hat den Visus mit rechts 0,7 und links 1,0 bestimmt. Der Medizinische Dienst der Krankenversicherung (MDK) hat zwischenzeitlich, zuletzt unter dem 25. April 2016, drei sozialmedizinische Gutachten zur Arbeitsfähigkeit angefertigt.
Anschließend hat das SG Oldenburg Beweis erhoben durch Einholung eines Sachverständigengutachtens des Sozialmediziners Dr. N. aus O., das dieser unter dem 16. Januar 2017 erstattet hat. Dort hat die Klägerin berichtet, am meisten werde sie von den Sehstörungen beeinträchtigt, bei eingeschränktem Blickfeld und ärztlichem Verbot des Autofahrens. Außerdem leide sie u. a. an Depressionen, dem Bandscheibenvorfall und Kniebeschwerden. Nach Untersuchung der Klägerin und Darstellung der Beschwerden der Klägerin hat der Sachverständige deren Sehstörungen, die seelische Störung und die Funktionseinschränkungen der Wirbelsäule jeweils mit einem Einzel-GdB von 30 bewertet, die Blutdruckregulationsstörungen und Neigung zu Herzrasen einerseits sowie die Funktionsbehinderung beider Kniegelenke andererseits bedingten jeweils einen Einzel-GdB von 20, zusammengefasst hat er dies zu einem Gesamt-GdB von 50.
Vom 5. bis 9. Januar 2017 ist die Klägerin zudem in stationärer Behandlung in der Augenambulanz des P. -Hospitals Q. gewesen, nachdem sie Schmerzen bei Augenbewegung nach oben wahrgenommen hatte. Hier ist der Fernvisus wiederum mit beidseits 0,9 bestimmt worden.
Der Ärztliche Dienst des Beklagten hat nachfolgend die Augenerkrankung im Hinblick auf die beidseitige Gesichtsfeldeinschränkung mit einem Einzel-GdB von 20 bewertet, ein GdB von 30 lasse sich nicht begründen, diese Bewertung entspräche dem Verlust eines Auges. Die Beweglichkeit der Kniegelenke sei zudem überdurchschnittlich gut, auch die Beweglichkeit der Wirbelsäule rechtfertige kaum noch die Feststellung eines Einzel-GdB von 30. Auch nicht nachvollziehbar sei die Annahme, dass bei der Klägerin eine stärker beeinträchtigende seelische Störung vorliege. Der Sachverständige Dr. N. habe sich insoweit nicht konkret zur durchgeführten Therapie geäußert, eine Medikamentenanamnese habe er überhaupt nicht erhoben und habe im Übrigen auch die Angaben der Klägerin nicht hinterfragt und keine Testdiagnostik durchgeführt. Auch erkläre die Befundbeschreibung seitens des Gutachters seinen Bewertungsvorschlag nicht. Die Klägerin verfüge über eine erhaltene Tagesstruktur, sei familiär gut eingebunden und in Konzentration und Aufmerksamkeit nicht eingeschränkt. Der Gesamt-GdB sei weiterhin nicht höher als mit 40 zu bewerten.
Mit Urteil vom 18. Februar 2020 hat das SG Oldenburg den Beklagten verurteilt, den GdB der Klägerin ab dem 28. Juni 2016 mit 50 festzustellen. Die Gesichtsfeldeinschränkung rechtfertige die Feststellung eines Einzel-GdB von 30 für die Sehstörung in Anwendung von Teil B Nr. 4.4 der Versorgungsmedizinischen Grundsätze (VMG). Die orthopädischen Leiden im Bereich der Wirbelsäule rechtfertigten einen „schwachen“ Einzel-GdB von 30, die seelische Störung einen solchen von 20. Ab der augenärztlichen Untersuchung vom 28. Juni 2016 sei die Feststellung eines Gesamt-GdB von 50 angemessen.
Gegen das ihm am 24. Februar 2020 zugestellte Urteil hat der Beklagte am 19. März 2020 Berufung eingelegt. Der Ärztliche Dienst hat weiterhin hinsichtlich der Augenerkrankung lediglich die Feststellung eines Einzel-GdB von 20 für gerechtfertigt erachtet, der Visus sei praktisch unbeeinträchtigt, die Gesichtsfeldausfälle seien zutreffend mit einem GdB von 20 bewertet. Auch eine stärker behindernde psychische Störung sei nicht beschrieben, insgesamt resultiere bei sehr günstiger Bewertung des Wirbelsäulenleidens kein GdB von 50.
Der Beklagte beantragt,
das Urteil des SG Oldenburg vom 18. Februar 2020 aufzuheben und die Klage abzuweisen.
Die Klägerin beantragt,
die Berufung zurückzuweisen.
Der Senat hat aktuelle Befundberichte der behandelnden Ärzte eingeholt. Dr. K. hat bei weiter fortgeführter Behandlung den psychischen Befund im Verlauf der letzten Jahre als wechselhaft beschrieben, die Klägerin fühle sich weiterhin nicht in der Lage zu arbeiten. Die Hausärztin R. hat im Wesentlichen gleichbleibende Beschwerden dargestellt, zuletzt habe die Klägerin über belastungsabhängige Beschwerden im linken Knie berichtet, diesbezüglich hat sie einen Bericht des Orthopäden S. vorgelegt. Sie hat zudem weitere ärztliche Berichte übersandt, der Rheumatologe Dr. T. hat bei einer Vorstellung im Januar 2019 keinen Hinweis für eine Erkrankung aus dem entzündlich-rheumatischen Formenkreis finden können, zudem liegen mehrere Berichte von Dr. K. an die Hausärztin vor, in denen regelmäßig die Wiedervorstellung zur Verlaufskontrolle in drei Monaten berichtet worden ist. Vom 7. Februar bis 15. März 2017 ist in Bad U. eine Rehabilitationsmaßnahme durchgeführt worden, die offenbar vorwiegend psychotherapeutisch, aber auch bewegungstherapeutisch ausgerichtet gewesen ist. Wegen des körperlichen Aufnahmebefundes wird auf Bl. 2.5 des Berichts verwiesen. Die Augenärztin L. hat in ihrem Befundbericht vom 20. August 2020 keine erheblichen Änderungen des Befundes seit 2017 berichtet. Auch ein aktueller Befundbericht der orthopädischen Praxis S. und Dr. V. vom 18. August 2020 liegt in den Akten vor. Unter dem 21. Juni 2018 ist dort vermerkt, die Hüftbeschwerden seien besser geworden, im Rücken seien zeitweise noch Beschwerden vorhanden. Zuletzt sind insbesondere die Kniebeschwerden links behandelt worden.
Der Ärztliche Dienst des Beklagten hat unter dem 6. Oktober 2020 insoweit Stellung genommen, aus den aktuellen Befundunterlagen ergebe sich keine anderslautende Beurteilung als bisher. Der GdB sei insgesamt mit 40 zu bewerten, bei einem Einzel-GdB von 30 in Bezug auf die Funktionseinschränkung der Wirbelsäule und jeweils 20 in Bezug auf die seelische Störung und das Augenleiden.
Die Beteiligten haben sich mit einer Entscheidung des Rechtsstreits durch Urteil ohne Durchführung einer mündlichen Verhandlung einverstanden erklärt.
Hinsichtlich des weiteren Sach- und Streitstandes wird auf die Gerichtsakten und die beigezogenen Verwaltungsakten des Beklagten verwiesen, die dem Gericht vorgelegen haben und Gegenstand der Beratung gewesen sind.
Entscheidungsgründe
Die form- und fristgerecht (§ 151 Abs. 1 Sozialgerichtsgesetz –SGG–) eingelegte Berufung, über die der Senat mit dem Einverständnis der Beteiligten ohne mündliche Verhandlung entscheidet (§§ 153 Abs. 1, 124 Abs. 2 SGG), ist zulässig (§ 143 SGG) und begründet. Der angefochtene Bescheid des Beklagten vom 18. November 2015 in der Gestalt des Teilabhilfebescheides vom 10. Februar 2016 und des Widerspruchsbescheides vom 23. März 2016 ist rechtmäßig und verletzt die Klägerin nicht in ihren Rechten. Das anderslautende Urteil des SG Oldenburg vom 18. Februar 2020 ist aufzuheben.
Rechtsgrundlage für den geltend gemachten Anspruch auf Feststellung eines höheren GdB ist § 48 Abs. 1 S. 1 Zehntes Buch Sozialgesetzbuch (SGB X) i. V. m. § 152 Neuntes Buch Sozialgesetzbuch (SGB IX) in der zum 1. Januar 2018 in Kraft getretenen Neufassung durch das Gesetz zur Stärkung der Teilhabe und Selbstbestimmung von Menschen mit Behinderungen (Bundesteilhabegesetz - BTHG, BGBl. I 2016, 3234 ff.). Nach § 48 Abs. 1 S. 1 SGB X ist ein Verwaltungsakt mit Dauerwirkung für die Zukunft aufzuheben, wenn in den tatsächlichen oder rechtlichen Verhältnissen, die bei seinem Erlass vorgelegen haben, eine wesentliche Änderung eingetreten ist. Von einer solchen ist im Schwerbehindertenrecht bei einer Änderung im Gesundheitszustand des behinderten Menschen auszugehen, wenn aus dieser die Erhöhung oder Herabsetzung des Gesamt-GdB um wenigstens 10 folgt, während das Hinzutreten weiterer Funktionsstörungen mit einem Einzel-GdB von 10 regelmäßig ohne Auswirkung auf den Gesamt-GdB bleibt (vgl. Bundessozialgericht [BSG], Urteil vom 17. April 2013 - B 9 SB 3/12 R - juris Rn. 26 m. w. N.). Dabei sind die in dem früheren Bescheid bei der Feststellung des Gesamt-GdB berücksichtigten Einzel-GdB – anders als der Gesamt-GdB selbst – nicht in Bestandskraft erwachsen (BSG, Urteil vom 5. Juli 2007 – B 9/9a SB 12/06 R – juris Rn. 17 f.) und es handelt sich bei der Neufeststellung dementsprechend nicht um eine reine Hochrechnung des im früheren Bescheid festgestellten Gesamt-GdB, sondern um dessen Neuermittlung auf der Grundlage der aktuell tatsächlich vorliegenden Funktionsbeeinträchtigungen (vgl. BSG, Urteil vom 19. September 2000 – B 9 SB 3/00 R – juris Rn. 14).
Nach dem zum 1. Januar 2018 in Kraft getretenen § 152 SGB IX, der im Rahmen der vorliegenden Anfechtungs- und Verpflichtungsklage anwendbar ist und der die bisherigen Regelungen des § 69 SGB IX (Fassung bis zum 31. Dezember 2017) im Wesentlichen unverändert übernommen hat, stellen die für die Durchführung des Bundesversorgungsgesetzes (BVG) zuständigen Behörden auf Antrag eines behinderten Menschen das Vorliegen einer Behinderung und den GdB zum Zeitpunkt der Antragstellung fest (Abs. 1 S. 1). Als GdB werden dabei nach § 152 Abs. 1 S. 5 SGB IX n. F. die Auswirkungen auf die Teilhabe am Leben in der Gesellschaft nach Zehnergraden abgestuft festgestellt. Grundlage der Bewertung waren dabei bis zum 31. Dezember 2008 die aus den Erfahrungen der Versorgungsverwaltung und den Erkenntnissen der medizinischen Wissenschaft gewonnenen Tabellenwerte der "Anhaltspunkte für die ärztliche Gutachtertätigkeit im sozialen Entschädigungsrecht und nach dem Schwerbehindertenrecht" (AHP). Dieses Bewertungssystem ist zum 1. Januar 2009 ohne wesentliche inhaltliche Änderungen abgelöst worden durch die aufgrund des § 30 Abs. 17 (bzw. Abs. 16) BVG erlassene und zwischenzeitlich mehrfach geänderte Rechtsverordnung zur Durchführung des § 1 Abs. 1 und 3, des § 30 Abs. 1 und des § 35 Abs. 1 BVG (Versorgungsmedizin-Verordnung - VersMedV -) vom 10. Dezember 2008 (BGBl. I 2412). Die darin niedergelegten Maßstäbe waren nach § 69 Abs. 1 S. 5 SGB IX (in der bis zum 14. Januar 2015 gültigen Fassung) auf die Feststellung des GdB entsprechend anzuwenden. Seit dem 15. Januar 2015 existiert im Schwerbehindertenrecht eine eigenständige Rechtsgrundlage für den Erlass einer Rechtsverordnung, in der die Grundsätze für die medizinische Bewertung des GdB und auch für die medizinischen Voraussetzungen für die Vergabe von Merkzeichen aufgestellt werden (§ 70 Abs. 2 SGB IX in der seit dem 15. Januar 2015 gültigen Fassung bzw. § 153 Abs. 2 SGB IX in der seit dem 1. Januar 2018 gültigen Fassung). Hierzu sieht der zeitgleich in Kraft getretene § 159 Abs. 7 SGB IX (nunmehr § 241 Abs. 5 SGB IX n. F.) als Übergangsregelung vor, dass bis zum Erlass einer solchen Verordnung die Maßstäbe des § 30 Abs. 1 BVG und der auf Grund des § 30 Abs. 16 BVG erlassenen Rechtsverordnungen entsprechend gelten.
Als Anlage zu § 2 VersMedV sind "Versorgungsmedizinische Grundsätze" (VMG) erlassen worden, in denen u.a. die Grundsätze für die Feststellung des Grades der Schädigungsfolgen (GdS) i. S. des § 30 Abs. 1 BVG festgelegt worden sind. Diese sind auch für die Feststellung des GdB maßgebend (vgl. Teil A Nr. 2 a VMG). Die AHP und die zum 1. Januar 2009 in Kraft getretenen VMG stellen ihrem Inhalt nach antizipierte Sachverständigengutachten dar (ständige Rechtsprechung des Bundessozialgerichts [BSG], vgl. z. B. Urteil vom 16. Dezember 2014 - B 9 SB 2/13 R - juris Rn. 10 m. w. N.).
Liegen mehrere Beeinträchtigungen der Teilhabe am Leben in der Gesellschaft vor, so wird der GdB gemäß § 152 Abs. 3 S. 1 SGB IX n. F. nach den Auswirkungen der Beeinträchtigungen in ihrer Gesamtheit unter Berücksichtigung ihrer wechselseitigen Beziehungen festgestellt. Zur Feststellung des GdB werden in einem ersten Schritt die einzelnen nicht nur vorübergehenden Gesundheitsstörungen im Sinne von regelwidrigen (von der Norm abweichenden) Zuständen (s. § 2 Abs. 1 SGB IX) und die damit einhergehenden, für eine Teilhabebeeinträchtigung bedeutsamen Umstände festgestellt. In einem zweiten Schritt sind diese dann den in den VMG genannten Funktionssystemen zuzuordnen und mit einem Einzel-GdB zu bewerten. In einem dritten Schritt ist - in der Regel ausgehend von der Beeinträchtigung mit dem höchsten Einzel-GdB (vgl. Teil A Nr. 3 c VMG) - in einer Gesamtschau unter Berücksichtigung der wechselseitigen Beziehungen der einzelnen Beeinträchtigungen der Gesamt-GdB zu bilden. Dabei können die Auswirkungen der einzelnen Beeinträchtigungen ineinander aufgehen (sich decken), sich überschneiden, sich verstärken oder beziehungslos nebeneinander stehen. Außerdem sind bei der Gesamtwürdigung die Auswirkungen mit denjenigen zu vergleichen, für die in den VMG feste Grade angegeben sind (Teil A Nr. 3 b VMG). Hierbei führen zusätzliche leichte Gesundheitsstörungen, die nur einen GdB von 10 bedingen, nicht zu einer Zunahme des Ausmaßes der Gesamtbeeinträchtigung und auch bei leichten Funktionsbeeinträchtigungen mit einem GdB von 20 ist es vielfach nicht gerechtfertigt, auf eine wesentliche Zunahme des Ausmaßes der Behinderung zu schließen (Teil A Nr. 3 d ee VMG; vgl. zum Vorstehenden auch BSG, Urteil vom 17. April 2013 - B 9 SB 3/12 R - juris Rn. 29).
Die Bemessung des GdB ist nach der ständigen Rechtsprechung des BSG grundsätzlich tatrichterliche Aufgabe (vgl. BSG a.a.O. Rn. 30). Dabei hat insbesondere die Feststellung der nicht nur vorübergehenden Gesundheitsstörungen unter Heranziehung ärztlichen Fachwissens zu erfolgen. Maßgeblich für die darauf aufbauende GdB-Feststellung ist aber nach § 2 Abs. 1, § 152 Abs. 1 und 3 SGB IX n. F., wie sich nicht nur vorübergehende Gesundheitsstörungen auf die Teilhabe am Leben in der Gesellschaft auswirken. Bei der rechtlichen Bewertung dieser Auswirkungen sind die Gerichte an die Vorschläge der von ihnen gehörten Sachverständigen nicht gebunden (BSG, Beschluss vom 20. April 2015 - B 9 SB 98/14 B - juris Rn. 6 m.w.N.).
Unter Beachtung dieser Grundsätze ist das Urteil des SG Oldenburg vom 18. Februar 2020 aufzuheben und die Klage abzuweisen. Der Beklagte hat zu Recht die Feststellung eines höheren GdB als 40 abgelehnt.
Der Senat folgt im Ergebnis jedenfalls nicht vollumfänglich den Feststellungen im Sachverständigengutachten des Dr. N. vom 16. Januar 2017. Der Senat hat seit Jahren in verschiedenen Fällen beobachtet, dass Dr. N., der in früheren Jahren durchaus beachtliche Sachverständigengutachten gefertigt hatte, mittlerweile häufig die Vorgaben der VMG nicht einhält. Seine Gutachten vermitteln regelmäßig nicht die Überzeugung vom Bestehen eines entsprechenden Umfangs der vorgebrachten Funktionsstörungen (vgl. u. a. Urteil des Senats vom 9. September 2020 – L 13 SB 26/17).
Für die Senatsentscheidung brauchbar sind, jedenfalls im vorliegenden Fall, allerdings – anders als die mit Vorsicht zu betrachtenden Bewertungen des Dr. N. – die tatsächlichen Feststellungen des Dr. N. in der Anamnese seines Gutachtens vom 16. Januar 2017. Die führende Funktionsstörung der Klägerin ist demnach ihre Sehstörung. Die Klägerin hat bei Dr. N. berichtet, am meisten werde sie von den Sehstörungen beeinträchtigt, bei eingeschränktem Blickfeld und ärztlichem Verbot des Autofahrens. Dem liegt das Gutachten zur Fahrtauglichkeit des Augenarztes Dr. M. vom 28. Juni 2016 zu Grunde, der auf massive Gesichtsfeldeinschränkungen verwiesen hat. Die Visuseinschränkung ist demgegenüber weniger erheblich, die Augenärztin L. hat den Visus der Klägerin zunächst mit beidseits 0,8 und nunmehr gemäß Bericht vom 20. August 2020 mit beidseits 0,8 bis 1,0 beziffert, Dr. M. mit rechts 0,7 und links 1,0, die Augenambulanz des P. -Hospitals Q. mit beidseits 0,9. Hieraus ergibt sich nach Teil B Nr. 4.3 VMG in Bezug auf die Visuseinschränkung kein für die Feststellung des Gesamt-GdB relevanter Einzel-GdB. Gesichtsfeldausfälle sind demgegenüber nach Teil B Nr. 4.5 VMG zu bewerten. Insoweit ist zwar nachvollziehbar, dass der Ärztliche Dienst des Beklagten die beidseitige Gesichtsfeldeinschränkung mit einem Einzel-GdB lediglich von 20 bewertet und ausgeführt hat, ein GdB von 30 lasse sich nicht begründen, diese Bewertung entspräche dem Verlust eines Auges. Einen solchen GdB von 30 hat Dr. N. mit der Begründung der Beeinträchtigung erheblicher Bereiche des Blickfeldes, dem Verlust der Fahreignung und extremer Blendempfindlichkeit angenommen. Erhebliche Gesichtsfeldausfälle ergeben sich eindeutig aus dem Gutachten des Augenarztes Dr. M. vom 28. Juni 2016 mit der Folge des Verlustes der Fahreignung.
Die massiven Gesichtsfeldeinschränkungen mögen im vorliegenden Fall überreinstimmend mit der Einschätzung des Dr. N. mit einem Einzel-GdB von 30 bewertet werden; im Ergebnis kann der Senat dies offenlassen, da ein höherer GdB als 40 auch dann nicht erreicht wird, wenn mit der Einschätzung des Dr. N. von einem Einzel-GdB von 30 auszugehen sein sollte. Denn dieser Einzel-GdB ist weder aufgrund der psychischen Situation noch aufgrund orthopädischer oder sonstiger Beschwerden in einem Ausmaß zu erhöhen, dass die Feststellung eines GdB der Klägerin von 50 und mithin deren Schwerbehinderteneigenschaft angemessen wäre.
Zwar hat der Ärztliche Dienst des Beklagten in seiner Stellungnahme vom 27. Februar 2017 den GdB der Wirbelsäule selbst mit 30 angenommen, aber zugleich ausgeführt, dass der diesbezügliche GdB von 30 nur (noch) „schwach ausgefüllt“ sei. Der dortige Hinweis auf die Bewegungsfähigkeit der Wirbelsäule, insbesondere der LWS, trifft zu. Die Feststellungen des Dr. N. auf S. 13 seines Gutachtens rechtfertigen insoweit nicht die nachfolgende Berücksichtigung eines Einzel-GdB von 30, wobei Dr. N. selbst ausgeführt hat, die aktuellen Befunde und Beschwerden sprächen „eher für einen Teilgrad der Behinderung von 20, da durchschnittlich eher leichte bis mittelschwere Einschränkungen fassbar sind“. Die nachfolgende Überlegung des Dr. N., der Zeitablauf sei noch zu kurz, um von einer wesentlichen Besserung sprechen zu können und „eine Herabstufung des Teilgrades der Behinderung sicher empfehlen zu können“, deckt sich nicht mit den oben wiedergegebenen und anerkannten
Grundsätzen der Ermittlung des GdB. Da Einzel-GdB lediglich unselbständige Einsatzwerte sind und allein der aktuelle Gesamt-GdB zu bewerten ist, ohne dass frühere Einzel-GdB fortgeschrieben werden, ist eine solche „Herabstufung“ im Sinne einer Teilaufhebung in Bezug auf einen Einzel-GdB überhaupt nicht vorzunehmen. Es verbleibt mithin dabei, dass die gegenwärtigen Feststellungen insoweit lediglich einen Einzel-GdB von 20 rechtfertigen, der folglich bei der Bemessung in Ansatz zu bringen ist. Der Stellungnahme des Ärztlichen Dienstes des Beklagten vom 27. Februar 2017 liegt im Übrigen ein vergleichbares Ermittlungsschema zugrunde, das – bei anderer Wortwahl – letztlich auf die Nichtvornahme einer Absenkung zielt. Der Einzel-GdB hinsichtlich der Wirbelsäule beträgt in Anwendung des Teil B Nr. 18.9 VMG nach alledem 20 und nicht 30. Der Bericht der Radiologie W. vom 30. November 2015, der u. a. von Druck auf die S1-Wurzel links berichtet hat und der Grundlage der ursprünglichen Einschätzung des Einzel-GdB mit 30 gewesen ist, vermag die Einschätzung nicht zu ändern, dass die festgestellten Funktionsstörungen den Einzel-GdB mit 30 nicht (mehr) rechtfertigen und u. U. auch im November 2015 in Ermangelung der Darstellung einer Funktionsprüfung bereits nicht gerechtfertigt haben könnten.
Auch der psychische Befund rechtfertigt gemäß Teil B Nr. 3.7 VMG nicht mehr als die Feststellung eines Einzel-GdB von 20. Nach einem Beschluss des Ärztlichen Sachverständigenbeirats vom 18./19. März 1998 sind psychische Anpassungsschwierigkeiten, die einen Einzel-GdB von 30 bis 40 rechtfertigen, durch Kontaktschwäche und/oder Vitalitätseinbuße gekennzeichnet; derartige vom Sachverständigenbeirat entwickelte Abgrenzungskriterien können zur Auslegung herangezogen werden (BSG, Urteil vom 23. April 2009 – B 9 VG 1/08 – juris Rn. 43; Senat, Urteil vom 26. September 2018 – L 13 SB 32/17 –; LSG Berlin-Brandenburg, Urteil vom 6. Februar 2013 – L 11 SB 245/10 – juris Rn. 45 ff.). Hierbei setzt eine stärker behindernde psychische Störung, die für sich allein genommen einen Einzel-GdB von 40 rechtfertigt, einen erheblichen Verlust an sozialen Kontakten oder Vitalität voraus, was sich in der Regel durch deutliche Anzeichen sozialer Isolation und/oder Interesselosigkeit und geschwundene Lebensfreude manifestiert. Ein Indiz für bestehenden Leidensdruck ist darüber hinaus auch die Behandlungsfrequenz beim Facharzt für Neurologie und Psychiatrie oder beim Psychotherapeuten, ferner die – ggf. wiederholte – Durchführung stationärer Maßnahmen. Die Überzeugungsbildung in Bezug auf eine dauerhaft bestehende erhebliche psychische Erkrankung ist bei fehlender angemessener Behandlung zumindest erschwert (vgl. LSG Sachsen-Anhalt, Urteil vom 14. Dezember 2016 – L 7 SB 86/15). Selbstverständlich ist diese Aufzählung nicht abschließend; Indizien jeglicher Art sind zur Ermittlung der Schwere der psychischen Beeinträchtigung und des Teilhabeverlustes heranzuziehen und auszuwerten.
Wie der Ärztliche Dienst des Beklagten mit Recht dargestellt hat, fehlt es im Sachverständigengutachten des Dr. N. insoweit nicht nur an Äußerungen zur durchgeführten Therapie, zur Medikation und zu einer ggf. durchgeführten Testdiagnostik, sondern die Befundbeschreibung des Sachverständigen passt nicht zum Bewertungsvorschlag. Wegen der Einzelheiten wird auf Seiten 16 - 18 des Sachverständigengutachtens des Dr. N. verwiesen. Die Klägerin verfügt demnach – worauf der Ärztliche Dienst des Beklagten hingewiesen hat – nicht nur über eine anamnestisch erhobene erhaltene Tagesstruktur bei guter familiärer Einbindung und erhaltener Konzentration und Aufmerksamkeit, sondern bis auf vom Sachverständigen angegebene starke Stimmungsschwankungen und einen leichten sozialen Rückzug sind überhaupt keine psychischen Auffälligkeiten beschrieben. Die Feststellungen tragen die Bewertung des Dr. N. mit einem Einzel-GdB von 30 nicht, zumal er sich hinsichtlich der Mitteilung von Stimmungsschwankungen und einer negativen Grundstimmung offenbar allein auf die Angaben der Klägerin verlassen hat, ohne diese kritisch zu hinterfragen. Die Behandlung bei Dr. K. ist zudem nicht intensiv geführt worden und hat sich auf regelmäßige Wiedervorstellungen zur Verlaufskontrolle im Abstand von drei Monaten beschränkt, obwohl zwischenzeitlich das Auftreten schwerer depressiver Episoden benannt worden ist, was sich im Therapieregime indes nicht niedergeschlagen hat und auch diagnostisch nicht im Einzelnen begründet worden ist. Insoweit folgt der Senat der Einschätzung des Ärztlichen Dienstes – Dr. X. – gemäß der Stellungnahme vom 6. Oktober 2020.
Bei der Bildung des Gesamt-GdB bestehen in Abwägung der Beschwerdeintensität deutliche Anhaltspunkte dafür, dass jedenfalls im Falle der Klägerin eine Zusammenfassung eines führenden Einzel-GdB von 30 und zweier Einzel-GdB von 20 zu einem Gesamt-GdB von 50 nicht gerechtfertigt ist. Aber auch darüber hinaus geht der Senat für den Regelfall davon aus, dass in derartigen Konstellationen die Annahme der Schwerbehinderteneigenschaft nur in begründeten besonderen Fällen möglich ist und eine Gesamtabwägung eines führenden Einzel-GdB von 30 und zweier Einzel-GdB von 20 im Einzelfall häufiger zur Annahme eines GdB von 40 als eines solchen von 50 führen wird. Ein höherer GdB als 40 wird auch hier nicht erreicht. Die Gleichsetzung der Funktionsstörungen der Klägerin in ihren Gesamtauswirkungen mit solchen Behinderungen, für die in den VMG feste 50er-Werte vorgesehen sind (Teil A Nr. 3 b VMG), erscheint dem Senat nicht möglich.
Weitere Funktionsstörungen und Beschwerden der Klägerin, etwa die Kniebeschwerden – die Beweglichkeit der Kniegelenke ist nicht eingeschränkt –, die Hüftbeschwerden, die Folgen der Schilddrüsenoperation sowie die Blutdruck- und Herzbeschwerden rechtfertigen eine weitere Anhebung des GdB und die Feststellung der Schwerbehinderteneigenschaft in Anwendung von Teil A Nr. 3 d) ee) VMG gleichfalls nicht.
Das Berufungsvorbringen einschließlich der ergänzend eingeholten ärztlichen Berichte rechtfertigt ebenfalls keine andere Entscheidung. Wesentliche Änderungen im Zeitablauf, welche die Annahme einer Schwerbehinderteneigenschaft nahelegen würden, sind dort nicht beschrieben.
Die anspruchsbegründenden Tatsachen müssen zudem zur vollen Überzeugung des Gerichts in der Weise nachgewiesen werden, dass vernünftige Zweifel nicht verbleiben und das Vorliegen der anspruchsbegründenden Tatsachen zumindest mit an Sicherheit grenzender Wahrscheinlichkeit festgestellt werden kann. Auch hinsichtlich des geltend gemachten Ausmaßes einer Gesundheitsstörung ist für den Ausspruch einer entsprechenden Feststellung eine jeden vernünftigen Zweifel ausschließende volle Überzeugung erforderlich, dass die Funktionsstörung in diesem Ausmaß vorliegt und die Möglichkeit einer lediglich mit einem geringeren GdB zu bewertenden Störung mit an Sicherheit grenzender Wahrscheinlichkeit ausscheidet. Verbleiben insoweit Zweifel, ist auch im Falle überwiegender Wahrscheinlichkeit eines höher zu bewertenden Ausmaßes eine Höherbewertung nicht möglich, so lange deren Erforderlichkeit auf der Grundlage der getroffenen Feststellungen nicht mit dem entsprechenden Beweismaß der vollen richterlichen Überzeugung als erwiesen gelten kann.
Auch eine Auffassung der Klägerin, sie fühle sich nicht in der Lage zu arbeiten, zwingt schließlich nicht zur Annahme eines GdB von mindestens 50. Selbst bei einer – hier nicht gegebenen – festgestellten dauerhaften Erwerbsminderung ist stets eine Würdigung des konkreten Einzelfalles erforderlich und pauschale Feststellungen sind nicht möglich, wie der Senat bereits zuvor entschieden hat.
Die Kostenentscheidung beruht auf § 193 SGG.
Gründe für die Zulassung der Revision gemäß § 160 Abs. 1 und Abs. 2 SGG liegen nicht vor.