Die Berufung wird zurückgewiesen.
Der Beklagte hat dem Kläger 1/3 der notwendigen Kosten des Widerspruchs- und Klageverfahrens, für das Berufungsverfahren keine Kosten zu erstatten.
Die Revision wird nicht zugelassen.
Tatbestand
Der Kläger begehrt die Feststellung eines Grades der Behinderung (GdB) von mindestens 50 statt nunmehr 40 (gemäß einem Teilanerkenntnis des Beklagten vom 13. November 2020, zuvor 30) und mithin die Feststellung der Schwerbehinderteneigenschaft.
Der 1979 geborene Kläger stellte aufgrund eines Asperger-Syndroms am 23. Februar 2016 den Erstfeststellungsantrag, der den Ausgangspunkt des hier anhängigen Rechtsstreits darstellt. Er ist Berufskraftfahrer, arbeitete jedenfalls bei Antragstellung nur nachts, er ist verheiratet und Vater von vier Kindern. Im Antrag gab er an, er sei als Kind sehr auffällig gewesen, habe keine Freunde gehabt und sei aggressiv gewesen. Im Übrigen schilderte er Alltagssymptome, wie sie für Autismus nicht untypisch sind. Er legte einen Bericht der Fachärztin für Neurologie und Psychiatrie Dr. J. vom 28. Januar 2016 vor, wonach eine autistische Störung beim Kläger gesichert sei, zudem bestehe eine Adipositas mit einem Body-Maß-Index (BMI) von 40 und mehr. Nach Konsultation des Ärztlichen Dienstes stellte der Beklagte mit Bescheid vom 22. März 2016 den GdB des Klägers mit 20 fest. Im nachfolgenden Widerspruchsverfahren verwies der Kläger auf das Vorliegen einer ausgeprägten autistischen Störung, die Berufstätigkeit erfolge ausschließlich nachts und auf einer festgelegten Route ohne jeglichen Kundenkontakt. Zu ihrer Ausübung sei er nur in der Lage, weil es sich hier um wiederkehrende Abläufe handele. Der erneut befragte Ärztliche Dienst wies in einer weiteren Stellungnahme darauf hin, das Vorliegen sozialer Anpassungsschwierigkeiten i. S. der Versorgungsmedizinischen Grundsätze (VMG) sei nicht nachgewiesen. Weder besondere Förderung noch ein Integrationshelfer seien erforderlich. Das Widerspruchsverfahren blieb gemäß Widerspruchsbescheid des Beklagten vom 24. Mai 2016 erfolglos.
Der Kläger hat am 22. Juni 2016 Klage erhoben. Ergänzend zum Krankheitsbild des Asperger-Syndroms hat er ausgeführt, er leide an Depressionen, die ärztlich behandelt würden. Das Sozialgericht (SG) Oldenburg hat ärztliche Befundberichte eingeholt. Die Hausarztpraxis Dr. K. u. a. hat mitgeteilt, hinsichtlich des Asperger-Syndroms habe es bei der letzten Vorstellung keine Befundänderung gegeben, im Übrigen sei der Kläger aktuell beschwerdefrei. Der Klinikdirektor Dr. L. von der J.-K.-Klinik, Fachkrankenhaus für Psychiatrie und Psychotherapie, hat über eine seit Juli 2016 durchgeführte Mitbehandlung berichtet. Anamnestisch hat er mitgeteilt, zunächst sei Autismus bei dem Sohn des Klägers diagnostiziert worden. Im Rahmen eines Elterngesprächs im Jahr 2011 oder 2012 seien dem Kläger erstmals Gedanken gekommen, dass er selbst auch betroffen sein könnte. Auch seitens der Klinik hat sich die Bewertung des Störungsbildes des Klägers als Autismus-Spektrum-Störung mit deutlicher Einschränkung im Bereich Kommunikation und soziale Interaktion dargestellt. Hiervon seien alle Lebensbereiche des Klägers betroffen. Dr. L. hat die Durchführung einer spezifischen Therapie in einem Autismus-Therapiezentrum empfohlen. Außerdem bestehe eine mittelgradige depressive Episode.
Aufgrund dieses Berichts hat der Beklagte unter dem 22. März 2017 ein Teilanerkenntnis des Inhalts abgegeben, den GdB des Klägers ab dem 23. Februar 2016 mit 30 anzunehmen. Dieses Teilanerkenntnis hat der Kläger angenommen, den Rechtsstreit aber fortgeführt. Der Beklagte hat hierzu unter dem 19. Juni 2019 einen Ausführungsbescheid erteilt.
Das SG Oldenburg hat Beweis erhoben durch Einholung eines Sachverständigengutachtens des Facharztes für Neurologie und Psychiatrie Dr. M.. In seinem unter dem 5. Februar 2018 erstatteten Gutachten hat der Sachverständige einen GdB von 70 vorgeschlagen. Der Kläger hat eine problematische Kindheit und Jugend geschildert, zu seiner Mutter habe er heute keinen Kontakt mehr, sein Vater habe sich umgebracht, als er zwei Jahre alt gewesen sei. Er habe bis zum 21. Lebensjahr im Haushalt seiner Mutter gelebt, auch dort gelebt habe sein Stiefvater, der ihn verprügelt habe und zu dem das Verhältnis schlecht gewesen sei. Ab dem 21. Lebensjahr lebe er mit seiner Ehefrau zusammen. Er habe einen normalen Kindergartenbesuch erlebt, anschließend in der Grundschule häufig geschwänzt, sei dann ab der 4. Klasse auf eine Sonderschule versetzt worden, zwischendurch kam es zu einem einjährigen Heimaufenthalt. Er sei niemals auf Lernbehinderung oder dergleichen getestet worden. Die Sonderschule habe er nach der 9. Klasse abgeschlossen und schließlich über ein Jahr Berufsschule einen normalen Hauptschulabschluss erreicht. Bei der Feuerwehr habe er Sachen „ruckzuck“ gelernt, sodass er nicht davon ausgehe, eine Lernschwäche zu haben, sondern eher an seine eigene Faulheit in der Schule glaube. Er habe keine Hobbys gehabt, sei eher emotionslos gewesen, habe selten mit Freunden gespielt und insbesondere vom schrecklichen Elternhaus wegkommen wollen. Seine Großeltern seien jedoch nett gewesen. Dort habe er sich geborgen gefühlt, zu Hause hingegen nie.
Auch habe er sich nie selbstsicher gefühlt und sei nach Ende der Schulzeit lediglich aus finanziellen Gründen nicht zu Hause ausgezogen. Er habe erfolgreich eine Kochlehre abschließen können, jedoch sei er zwischendurch in zwei Lehrbetrieben hinausgeworfen worden. Während der Bundeswehrzeit habe er sich meistens krankschreiben lassen, weil er „keinen Bock auf diese Spielereien“ gehabt habe, sei jedoch ehrenhaft entlassen worden. Nachfolgend sei er in mehreren Jobs gekündigt worden, weil er nicht gehört habe, zu spät gekommen sei, Kunden angemault habe oder dergleichen. Seinen Lkw-Führerschein habe er 2006 gemacht, seither fahre er mit Ausnahme von kurzen Zeiten der Arbeitslosigkeit Lkw. Nachdem er sich nach drei oder vier Monaten von seiner ersten Freundin, die er mit 19 Jahren gehabt habe, getrennt habe, habe er seine jetzige Ehefrau kennengelernt; dazwischen gab es offenbar mehrere andere Beziehungen. Mit ihr verstehe er sich gut. Sie habe Zahnarzthelferin gelernt. Er sei seit 17 Jahren mit ihr zusammen, die vier gemeinsamen Kinder – drei Söhne Jg. 2004, 2005 und 2007, eine Tochter Jg. 2010 – seien zwischen 7 und 13 Jahren alt. Bei dem Ältesten sei ein Asperger-Syndrom diagnostiziert worden, ein entsprechender Verdacht bestehe bei seiner Tochter. Finanziell komme man über die Runden, Urlaube mache die Ehefrau mit den Kindern ohne ihn. Er arbeite 14 Stunden an fünf Tagen in der Woche. Im Übrigen sei er weder glücklich noch unglücklich, nicht depressiv, habe auch keine Selbstmordabsichten. Als Jugendlicher sei dies bisweilen anders gewesen. Nach weiterer Untersuchung hat der Sachverständige die Einschätzung geäußert, am Vorliegen einer Autismus-Spektrum-Störung bestünden keine vernünftigen Zweifel. Ein genetisch veranlagter Zustand sei aufgrund der Familiengeschichte zu vermuten. Wegen der weiteren Feststellungen der Symptome wird auf S. 38 des Gutachtens verwiesen. Der Sachverständige hat insoweit mittlere soziale Anpassungsschwierigkeiten gesehen, welche die Integrationsfähigkeit in verschiedenen Lebensbereichen beeinträchtigten, diese seien mit einem GdB von 70 im Grenzbereich zu schweren sozialen Anpassungsschwierigkeiten zu bewerten. Dies bilde auch den Gesamt-GdB ab.
Der Ärztliche Dienst des Beklagten ist dem Gutachten nicht gefolgt und hat darauf hingewiesen, der Kläger sei voll berufstätig, eher ein Einzelgänger, lebe mit Ehefrau und vier Kindern in einer Wohnung und unterhalte regelmäßigen Kontakt zu den Schwiegereltern, krankheitsbedingte mittelgradige soziale Anpassungsschwierigkeiten seien nicht zu erkennen. Wesentliche Einschränkungen der Teilhabe seien nicht beschrieben.
Mit Urteil vom 8. Mai 2019 hat das SG Oldenburg die Klage abgewiesen und hat nach Teil B Nr. 3.5.1 VMG eine höhere Bewertung als mit einem GdB von 30 nicht für angemessen erachtet. Aus dem Bereich des Privat- und Familienlebens des Klägers sei das Erfordernis einer besonderen umfassenden Unterstützung nicht erkennbar, auch beruflich sei der Kläger ohne besondere zusätzliche Unterstützung vollständig und in alleiniger Verantwortung in den Arbeitsmarkt integriert. Die stets gleichen wiederkehrenden Arbeitsabläufe begründeten nicht das Vorliegen zumindest mittlerer sozialer Anpassungsschwierigkeiten. Solche seien auch insgesamt nicht zu erkennen. Der Kläger habe sich auch in der Untersuchung in sämtlichen Dimensionen regelrecht orientiert gezeigt. Anzeichen für formale Denkstörungen hätten sich nicht gefunden. Zwar seien Mimik und Gestik sparsam eingesetzt worden, der Kläger sei jedoch durchaus in der Lage gewesen, zu lächeln und kurz zu kommentieren, sei weder ängstlich noch verlegen oder kontrollierend gewesen. Insgesamt ergebe sich kein höherer GdB, als er vom Beklagten anerkannt worden sei.
Gegen das seinem Prozessbevollmächtigten am 5. Juni 2019 zugestellte Urteil hat der Kläger am 24. Juni 2019 Berufung eingelegt. Er hat sich auf die Ausführungen des Sachverständigen Dr. M. sowie des Dr. L. berufen und ergänzend auf das Vorliegen von Depressionen hingewiesen. Auch sei er sehr wohl auf Hilfe von außen angewiesen, denn er erfahre eine umfassende Unterstützung durch seine Ehefrau. Auch bei der Ausübung seiner beruflichen Tätigkeit sei er auf besondere Rücksichtnahme seitens seines Arbeitgebers angewiesen.
Der Senat hat ein Sachverständigengutachten des Facharztes für Neurologie und Psychiatrie Dr. N. eingeholt, dass dieser unter dem 9. Oktober 2020 erstattet hat. Er hat im Rahmen der Anamnese den Lebensweg des Klägers nochmals dargestellt und die Angaben insoweit teilweise konkretisiert und vertieft. Gleiches gilt für die Einzelfallumstände der aktuellen Lebenssituation des Klägers. Nach weiterer Untersuchung des Klägers hat der Sachverständige ausgeführt, an der diagnostischen Einordnung als Autismus-Spektrum-Störung überwiegend im Sinne des Asperger-Syndroms könne auch aus seiner Sicht kein Zweifel bestehen. Zudem seien die Kriterien einer mittelschweren depressiven Episode weiter anhaltend gegeben. Aufgrund starken Übergewichts habe der Kläger sogar operative gewichtsreduzierende Maßnahmen erwogen. Zudem sei ein Schlafapnoe-Syndrom diagnostiziert. Dem Kläger sei eine CPAP-Überdruckbeatmung dringend nahegelegt worden, er habe aber angegeben, diese nicht toleriert zu haben. Eine vom Kläger als stark beeinträchtigend empfundene Schlafstörung dürfte Folge dieses Erkrankungsbildes sein. Hierdurch komme es im Übrigen auch zu relevanten beruflichen Einschränkungen als Berufskraftfahrer. In Bezug auf die Autismus-Spektrum-Störung könne indes von einer relativen Stabilisierung ausgegangen werden, wozu ihm entgegenkommende Arbeitsumstände sowie stützende Alltagshilfen durch die Ehefrau beitragen dürften. Auch seien in mehrjähriger fachärztlicher Therapie eine Stabilisierung des begleitenden depressiven Syndroms erreicht und Hilfen zur Alltagsbewältigung als Asperger-Betroffener vermittelt worden.
Der Beeinträchtigungsgrad im Hinblick auf Teil B Nr. 3.5.1 VMG sei als tiefgreifende Entwicklungsstörung mit leichten sozialen Anpassungsschwierigkeiten im Spektrum eines Einzel-GdB von 30 bis 40 mit dem oberen Wert von 40 anzusetzen. Die gesamte Integrationslage des Klägers liege bereits in einem Grenzbereich zu der Stufe mittlerer sozialer Anpassungsschwierigkeiten. Die daneben bestehende ausgeprägte depressive Symptomatik sei nach Teil B Nr. 3.7 mit einem Einzel-GdB von 30 zu bewerten. Das Schlafapnoe-Syndrom rechtfertige nach Teil B Nr. 8.7 VMG die Feststellung eines Einzel-GdB von 20. Insgesamt ergebe sich ein Gesamt-GdB von 60, nach möglicher Besserung der psychischen Problematik i. S. eines Abklingens der gegenwärtig feststellbaren affektiven Symptomatik verbleibe ein Gesamt-GdB (in psychischer Hinsicht) von 50.
Der Beklagte hat nachfolgend unter dem 13. November 2020 ein Teilanerkenntnis des Inhalts abgegeben, einen Gesamt-GdB von 40 ab dem 23. Februar 2016 festzustellen. Der Kläger hat dieses Teilanerkenntnis angenommen und hat ergänzend mitgeteilt, er sei auf eine Warteliste gesetzt und könne seine Depressionen aufgrund der Pandemielage bislang nicht durch therapeutische Maßnahmen behandeln lassen.
Der Kläger hat dem Gutachten des Dr. N. vom 9. Oktober 2020 zugestimmt und die Feststellung eines Gesamt-GdB von 60 für angemessen erachtet.
Der Kläger beantragt,
das Urteil des SG Oldenburg vom 8. Mai 2019 aufzuheben sowie den Bescheid des Beklagten vom 22. März 2016 in der Gestalt des Widerspruchsbescheides vom 24. Mai 2016, des Ausführungsbescheides vom 19. Juni 2019 und des Teilanerkenntnisses vom 13. November 2020 zu ändern und den Beklagten zu verurteilen, den GdB des Klägers mit mindestens 50 ab Antragstellung festzustellen.
Der Beklagte beantragt,
die Berufung zurückzuweisen.
Der Ärztliche Dienst des Beklagten hat dem Gutachten des Dr. N. nicht zugestimmt, ist jedoch nunmehr zu einer Bewertung der Behinderung „Asperger-Syndrom, psychische Beeinträchtigung“ mit einem Einzel-GdB von 40 gekommen, was zugleich den Gesamt-GdB abbilde. Die Beurteilung des Sachverständigen beruhe offenbar überwiegend auf den anamnestischen Angaben sowie dem Ergebnis von Tests, die Lebensumstände des Klägers belegten jedoch keine wesentlichen pathologischen Auffälligkeiten. Außerdem erfolge keine regelmäßige psychotherapeutische Behandlung. Bis vor einem Jahr habe es nach Auskunft des Sachverständigen regelmäßige Termine in vierwöchigen Abständen in der O. gegeben, derzeit vereinbare der Kläger Termine nur bei Bedarf. Die Annahme eines Einzel-GdB von 20 für das Schlafapnoe-Syndrom komme zudem nicht in Betracht, da eine CPAP-Behandlung nicht stattfinde und der Kläger beim Sachverständigen angegeben habe, seit einer Gewichtsabnahme unter 140 kg keine Probleme mit der Schlafapnoe zu haben.
Der Senat hat nochmals einen Bericht des Dr. L. angefordert, den dieser unter dem 15. Februar 2021 erstattet hat. Hiernach befindet sich der Kläger seit Juli 2016 in ambulanter Mitbehandlung der Spezialambulanz für Autismus-Spektrums-Störung. Er habe sich wie viele im Erwachsenenalter diagnostizierte Asperger-Autisten im Laufe des Lebens Kompensationsstrategien zurechtgelegt, mit denen er autismustypische Symptome unterdrücken könne. Dies habe im Zeitablauf zum Auftreten schwerer Sekundärerkrankungen geführt, nämlich einer Depression, einer schweren Essstörung sowie Angst- und Erregungszuständen. Eine zufriedenstellende Kompensation der für Asperger typischen Einschränkung gelinge weder im privaten noch im beruflichen Umfeld, sodass der Kläger nur in besonderen Umgebungen funktioniere, wie bereits dargestellt. Die kontinuierliche Mitbehandlung der Spezialambulanz werde durchgeführt, der Kläger sei zuverlässig und kooperativ, aufgrund der genetischen Ursachen der Grunderkrankung könne indes lediglich eine Beeinflussung der Sekundärerkrankungen erfolgen. Er selbst behandle die psychischen Nebenerkrankungen pharmakologisch und psychotherapeutisch, hinsichtlich der Essstörung sei nach Versagen aller anderen Maßnahmen die Durchführung einer Operation angedacht. Der Beklagte hat in einer Stellungnahme zu diesem Bericht keinen Anlass zu einer Änderung seiner bisherigen Auffassung gesehen.
Im Rahmen der mündlichen Verhandlung ist der Kläger am 14. Juli 2021 vom Senat umfassend angehört worden. Er hat u. a. weitere Informationen zu seinem Berufsleben, seinen Hobbys, seinem Tagesablauf und dem Kontakt zu seinen vier Kindern – bei denen im Übrigen mittlerweile sämtlich Autismus diagnostiziert worden sei – gegeben.
Hinsichtlich des weiteren Sach- und Streitstandes wird auf die Gerichtsakten und die beigezogenen Verwaltungsakten des Beklagten verwiesen, die dem Gericht vorgelegen haben und Gegenstand der mündlichen Verhandlung und der Beratung gewesen sind.
Entscheidungsgründe
Die form- und fristgerecht (§ 151 Abs. 1 Sozialgerichtsgesetz –SGG–) eingelegte Berufung ist zulässig (§ 143 SGG), aber unter Berücksichtigung des Teilanerkenntnisses des Beklagten vom 13. November 2020 nicht begründet. Der Bescheid des Beklagten vom 22. März 2016 in der Gestalt des Widerspruchsbescheides vom 24. Mai 2016 und der Teilanerkenntnisse vom 22. Juli 2017 und vom 13. November 2020 ist rechtmäßig und verletzt den Kläger nicht in seinen Rechten, insbesondere soweit der Beklagte es abgelehnt hat, den GdB des Klägers ab dem 23. Februar 2016 mit 50 und mithin die Schwerbehinderteneigenschaft des Klägers festzustellen.
Rechtsgrundlage für den geltend gemachten Anspruch auf Feststellung eines GdB ist § 152 Neuntes Buch Sozialgesetzbuch (SGB IX) in der zum 1. Januar 2018 in Kraft getretenen Neufassung durch das Gesetz zur Stärkung der Teilhabe und Selbstbestimmung von Menschen mit Behinderungen (Bundesteilhabegesetz - BTHG, BGBl. I 2016, 3234 ff.). Nach dieser Vorschrift, die im Rahmen der vorliegenden Anfechtungs- und Verpflichtungsklage anwendbar ist und die die bisherigen Regelungen des § 69 SGB IX (Fassung bis zum 31. Dezember 2017) im Wesentlichen unverändert übernommen hat, stellen die für die Durchführung des Bundesversorgungsgesetzes (BVG) zuständigen Behörden auf Antrag eines behinderten Menschen das Vorliegen einer Behinderung und den GdB zum Zeitpunkt der Antragstellung fest (Abs. 1 S. 1). Als GdB werden dabei nach § 152 Abs. 1 S. 5 SGB IX n. F. die Auswirkungen auf die Teilhabe am Leben in der Gesellschaft nach Zehnergraden abgestuft festgestellt. Grundlage der Bewertung waren dabei bis zum 31. Dezember 2008 die aus den Erfahrungen der Versorgungsverwaltung und den Erkenntnissen der medizinischen Wissenschaft gewonnenen Tabellenwerte der "Anhaltspunkte für die ärztliche Gutachtertätigkeit im sozialen Entschädigungsrecht und nach dem Schwerbehindertenrecht" (AHP). Dieses Bewertungssystem ist zum 1. Januar 2009 ohne wesentliche inhaltliche Änderungen abgelöst worden durch die aufgrund des § 30 Abs. 17 (bzw. Abs. 16) BVG erlassene und zwischenzeitlich mehrfach geänderte Rechtsverordnung zur Durchführung des § 1 Abs. 1 und 3, des § 30 Abs. 1 und des § 35 Abs. 1 BVG (Versorgungsmedizin-Verordnung - VersMedV -) vom 10. Dezember 2008 (BGBl. I 2412). Die darin niedergelegten Maßstäbe waren nach § 69 Abs. 1 S. 5 SGB IX (in der bis zum 14. Januar 2015 gültigen Fassung) auf die Feststellung des GdB entsprechend anzuwenden. Seit dem 15 Januar 2015 existiert im Schwerbehindertenrecht eine eigenständige Rechtsgrundlage für den Erlass einer Rechtsverordnung, in der die Grundsätze für die medizinische Bewertung des GdB und auch für die medizinischen Voraussetzungen für die Vergabe von Merkzeichen aufgestellt werden (§ 70 Abs. 2 SGB IX in der seit dem 15. Januar 2015 gültigen Fassung bzw. § 153 Abs. 2 SGB IX in der seit dem 1. Januar 2018 gültigen Fassung). Hierzu sieht der zeitgleich in Kraft getretene § 159 Abs. 7 SGB IX (nunmehr § 241 Abs. 5 SGB IX n. F.) als Übergangsregelung vor, dass bis zum Erlass einer solchen Verordnung die Maßstäbe des § 30 Abs. 1 BVG und der auf Grund des § 30 Abs. 16 BVG erlassenen Rechtsverordnungen entsprechend gelten.
Als Anlage zu § 2 VersMedV sind "Versorgungsmedizinische Grundsätze" (VMG) erlassen worden, in denen u.a. die Grundsätze für die Feststellung des Grades der Schädigungsfolgen (GdS) i. S. des § 30 Abs. 1 BVG festgelegt worden sind. Diese sind auch für die Feststellung des GdB maßgebend (vgl. Teil A Nr. 2 a VMG). Die AHP und die zum 1. Januar 2009 in Kraft getretenen VMG stellen ihrem Inhalt nach antizipierte Sachverständigengutachten dar (ständige Rechtsprechung des Bundessozialgerichts [BSG], vgl. z. B. Urteil vom 16. Dezember 2014 - B 9 SB 2/13 R - juris Rn. 10 m. w. N.).
Liegen mehrere Beeinträchtigungen der Teilhabe am Leben in der Gesellschaft vor, so wird der GdB gemäß § 152 Abs. 3 S. 1 SGB IX n. F. nach den Auswirkungen der Beeinträchtigungen in ihrer Gesamtheit unter Berücksichtigung ihrer wechselseitigen Beziehungen festgestellt. Zur Feststellung des GdB werden in einem ersten Schritt die einzelnen nicht nur vorübergehenden Gesundheitsstörungen im Sinne von regelwidrigen (von der Norm abweichenden) Zuständen (s. § 2 Abs. 1 SGB IX) und die damit einhergehenden, für eine Teilhabebeeinträchtigung bedeutsamen Umstände festgestellt. In einem zweiten Schritt sind diese dann den in den VMG genannten Funktionssystemen zuzuordnen und mit einem Einzel-GdB zu bewerten. In einem dritten Schritt ist - in der Regel ausgehend von der Beeinträchtigung mit dem höchsten Einzel-GdB (vgl. Teil A Nr. 3 c VMG) - in einer Gesamtschau unter Berücksichtigung der wechselseitigen Beziehungen der einzelnen Beeinträchtigungen der Gesamt-GdB zu bilden. Dabei können die Auswirkungen der einzelnen Beeinträchtigungen ineinander aufgehen (sich decken), sich überschneiden, sich verstärken oder beziehungslos nebeneinander stehen. Außerdem sind bei der Gesamtwürdigung die Auswirkungen mit denjenigen zu vergleichen, für die in den VMG feste Grade angegeben sind (Teil A Nr. 3 b VMG). Hierbei führen zusätzliche leichte Gesundheitsstörungen, die nur einen GdB von 10 bedingen, nicht zu einer Zunahme des Ausmaßes der Gesamtbeeinträchtigung und auch bei leichten Funktionsbeeinträchtigungen mit einem GdB von 20 ist es vielfach nicht gerechtfertigt, auf eine wesentliche Zunahme des Ausmaßes der Behinderung zu schließen (Teil A Nr. 3 d ee VMG; vgl. zum Vorstehenden auch BSG, Urteil vom 17. April 2013 - B 9 SB 3/12 R - juris Rn. 29).
Die Bemessung des GdB ist nach der ständigen Rechtsprechung des BSG grundsätzlich tatrichterliche Aufgabe (vgl. BSG a.a.O. Rn. 30). Dabei hat insbesondere die Feststellung der nicht nur vorübergehenden Gesundheitsstörungen unter Heranziehung ärztlichen Fachwissens zu erfolgen. Maßgeblich für die darauf aufbauende GdB-Feststellung ist aber nach § 2 Abs. 1, § 152 Abs. 1 und 3 SGB IX n. F., wie sich nicht nur vorübergehende Gesundheitsstörungen auf die Teilhabe am Leben in der Gesellschaft auswirken. Bei der rechtlichen Bewertung dieser Auswirkungen sind die Gerichte an die Vorschläge der von ihnen gehörten Sachverständigen nicht gebunden (BSG, Beschluss vom 20. April 2015 - B 9 SB 98/14 B - juris Rn. 6 m.w.N.).
Unter Beachtung dieser Grundsätze sind das Urteil des SG Oldenburg vom 8. Mai 2019 und die Entscheidung des Beklagten insoweit zutreffend, als der Beklagte zu Recht die Feststellung der Schwerbehinderteneigenschaft mit einem GdB von 50 ab Antragstellung abgelehnt hat.
Der Senat folgt hierbei zwar im Ausgangspunkt den Feststellungen im Sachverständigengutachten des Dr. N. vom 9. Oktober 2020, die durch andere behandlungsärztliche und sachverständige Einschätzungen und Äußerungen gestützt werden, nach intensiver Abwägung aber nicht der dort vorgenommenen Bewertung. Insgesamt bewertet der Senat den GdB des Klägers im Hinblick auf das einheitlich zu bewertende Funktionssystem „Nervensystem und Psyche“ mit 40, dies aufgrund der autistischen Erkrankung des Klägers in Verbindung mit einer depressiven Störung.
Die führende Gesundheitsstörung des Klägers ist seine autistische Erkrankung. Insoweit gelten nach Teil B Nr. 3.5.1 VMG – die Überschrift von Teil B Nr. 3.5 VMG „Verhaltens- und emotionale Störungen mit Beginn in der Kindheit und Jugend“ schließt eine Fortschreibung im Erwachsenenalter nicht aus – in der Fassung der Dritten Verordnung zur Änderung der Versorgungsmedizin-Verordnung vom 17. Dezember 2010 (BGBl. 2010, 2124) folgende Bewertungsgrundsätze:
„3.5.1 Tief greifende Entwicklungsstörungen (insbesondere frühkindlicher Autismus, atypischer Autismus, Asperger-Syndrom)
Bei tief greifenden Entwicklungsstörungen
- ohne soziale Anpassungsschwierigkeiten beträgt der GdS 10-20,
- mit leichten sozialen Anpassungsschwierigkeiten beträgt der GdS 30-40,
- mit mittleren sozialen Anpassungsschwierigkeiten beträgt der GdS 50-70,
- mit schweren sozialen Anpassungsschwierigkeiten beträgt der GdS 80-100.
Soziale Anpassungsschwierigkeiten liegen insbesondere vor, wenn die Integrationsfähigkeit in Lebensbereiche (wie zum Beispiel Regel-Kindergarten, Regel-Schule, allgemeiner Arbeitsmarkt, öffentliches Leben, häusliches Leben) nicht ohne besondere Förderung oder Unterstützung (zum Beispiel durch Eingliederungshilfe) gegeben ist oder wenn die Betroffenen einer über das dem jeweiligen Alter entsprechende Maß hinausgehenden Beaufsichtigung bedürfen. Mittlere soziale Anpassungsschwierigkeiten liegen insbesondere vor, wenn die Integration in Lebensbereiche nicht ohne umfassende Unterstützung (zum Beispiel einen Integrationshelfer als Eingliederungshilfe) möglich ist. Schwere soziale Anpassungsschwierigkeiten liegen insbesondere vor, wenn die Integration in Lebensbereiche auch mit umfassender Unterstützung nicht möglich ist.“
In Anwendung dieser Grundsätze ist die Integration des Klägers durchaus in erheblichen Ansätzen gelungen, so dass von mehr als leichten sozialen Anpassungsschwierigkeiten im Sinne von Teil B Nr. 3.5.1 VMG nicht auszugehen ist. Mittlere soziale Anpassungsschwierigkeiten, die einen Einzel-GdB von 50 rechtfertigen, setzen insoweit voraus, dass die Integration in Lebensbereiche nicht ohne umfassende Unterstützung, etwa einen Integrationshelfer als Eingliederungshilfe, möglich ist. Hier ist der Kläger ersichtlich bessergestellt. Sein Asperger-Syndrom ist zwar unbestritten und steht nicht zur Disposition, damit einher geht indes regelmäßig auch in leichteren Ausprägungen eine Schwierigkeit beim Einschätzen sozialer Situationen und zu adäquaten Reaktionen.
Der Kläger ist trotz der insoweit geschilderten Einschränkungen auf dem allgemeinen Arbeitsmarkt berufstätig und hat insoweit auch eine zwischenzeitliche Umstellung seiner Tätigkeit von nächtlichen Fahrten auf einen Tagesdienst nach Wechsel des Arbeitsverhältnisses erfolgreich bewältigt. Er ist insbesondere auch in der Lage gewesen, eine Partnerin für sich gewinnen zu können und langjährig zu halten. Er war zudem als junger Erwachsener offenbar in der Lage, mehrere Partnerinnen nacheinander für sich zu gewinnen, sei es auch – wie er in der mündlichen Verhandlung angegeben hat – meist lediglich oberflächlich und aus rein sexuellem Interesse gewesen. Zumindest seine erste vorausgegangene Beziehung hat er nach dem Inhalt des Sachverständigengutachtens Dr. M. mehrere Monate lang aufrechterhalten können. Der Kläger ist also – anders als von Dr. M. angenommen – durchaus in der Lage, Beziehungen aufzubauen. Außerdem sind nach dem Gutachten des Dr. N., bestätigt durch den eigenen Eindruck des Senats, auch heitere Reaktionen einschließlich Humorverständnis und Verständnis ironischer Bemerkungen möglich, sodass die Kommunikationsfähigkeit des Klägers in Bezug auf eine Asperger-Erkrankung im Vergleich mit anderen hieran erkrankten Personen nur vergleichsweise leicht gestört sein dürfte. Der Kläger hat sich auch im Rahmen seiner Anhörung durch den Senat zudem in erheblicher Weise kommunikationsfähig gezeigt, er war neben Humorverständnis auch in der Lage, Blickkontakt zu halten und im Rahmen einer längeren Unterhaltung stets zusammenhängende und adäquate Antworten zu geben. Aus der Laiensphäre des Senats ist ein in besonderer Weise auffälliges Kommunikationsverhalten des Klägers nicht feststellbar gewesen. Zudem hat er, neben auch erörterten Einschränkungen, u. a. von regelmäßiger Wahrnehmung von Terminen wie Elternabenden und außerhäuslichen Kindergeburtstagen ohne Präsenz seiner Ehefrau berichtet.
Bei diesen Einzelfallumständen sind mittlere soziale Anpassungsschwierigkeiten im Sinne von Teil B Nr. 3.5.1 VMG nicht erkennbar. Hierbei ist zwar auffällig, dass der Kläger offenbar das Glück hatte, seine Ehefrau als Partnerin zu finden, die nahezu alle engeren sozialen Kontakte verbindet und absichert, über die der Kläger verfügt. Gleichwohl vermag der Senat bei der gegebenen Sachlage und bei Betrachtung der Fähigkeiten und sozialen Erfolge des Klägers, in Relation gesetzt zu einer erheblichen Anzahl anderer Fälle, die der Senat bislang zu beurteilen hatte, eine Teilhabebeeinträchtigung in einem Ausmaß, das eine Bewertung der Autismus-Spektrums-Störung mit mehr als einem Einzel-GdB von 30 rechtfertigt, nicht zu erkennen.
Die Annahme eines Einzel-GdB von 40 allein für die Störung aus dem autistischen Spektrum, den der Sachverständige Dr. N. im Gutachten vom 9. Oktober 2020 nach einer Gesamtbetrachtung der Integrationslage des Klägers angenommen hat, ist vom Senat ernsthaft erwogen, aber im Ergebnis verworfen worden. Für die Annahme eines Einzel-GdB der Asperger-Erkrankung von mehr als 30 sprechen die insoweit übereinstimmenden Einschätzungen von Dr. N., Dr. M. und Dr. L., die sämtlich von einer Höherbewertung ausgehen, die aber auch in ihrem Zusammenwirken nicht dazu führen, dass der Senat die Berechtigung eines Einzel-GdB von 40 bereits aufgrund der Autismusstörung allein für nachgewiesen erachten würde. Die anspruchsbegründenden Tatsachen müssen, wie der Senat vielfach betont hat, zur vollen Überzeugung des Gerichts in der Weise nachgewiesen werden, dass vernünftige Zweifel nicht verbleiben und das Vorliegen der anspruchsbegründenden Tatsachen zumindest mit an Sicherheit grenzender Wahrscheinlichkeit festgestellt werden kann. Auch hinsichtlich des geltend gemachten Ausmaßes einer Gesundheitsstörung ist für den Ausspruch einer entsprechenden Feststellung eine jeden vernünftigen Zweifel ausschließende volle Überzeugung erforderlich, dass die Funktionsstörung in diesem Ausmaß vorliegt und die Möglichkeit einer lediglich mit einem geringeren GdB zu bewertenden Störung mit an Sicherheit grenzender Wahrscheinlichkeit ausscheidet. Verbleiben insoweit Zweifel, ist auch im Falle überwiegender Wahrscheinlichkeit eines höher zu bewertenden Ausmaßes eine Höherbewertung nicht möglich, so lange deren Erforderlichkeit auf der Grundlage der getroffenen Feststellungen nicht mit dem entsprechenden Beweismaß der vollen richterlichen Überzeugung als erwiesen gelten kann.
Diese Grundsätze führen im vorliegenden Fall zur Annahme eines Einsatzwertes von 30 hinsichtlich der autistischen Erkrankung und zu einer Beurteilung des einheitlich zu bewertenden Funktionssystems „Nervensystem und Psyche“ mit einem Einzel-GdB von 40. Hierbei ist im Vergleich zu den Maßstäben nach Teil B Nr. 3.7 VMG zu berücksichtigen, dass nach einem Beschluss des Ärztlichen Sachverständigenbeirats vom 18./19. März 1998 psychische Anpassungsschwierigkeiten, die einen Einzel-GdB von 30 bis 40 rechtfertigen, bereits durch Kontaktschwäche und/oder Vitalitätseinbuße gekennzeichnet sind; derartige vom Sachverständigenbeirat entwickelte Abgrenzungskriterien können zur Auslegung herangezogen werden (BSG, Urteil vom 23. April 2009 – B 9 VG 1/08 – juris Rn. 43; Senat, Urteil vom 26. September 2018 – L 13 SB 32/17 –; LSG Berlin-Brandenburg, Urteil vom 6. Februar 2013 – L 11 SB 245/10 – juris Rn. 45 ff.), wobei der Senat Kontaktmöglichkeiten und Vitalität als besonders bedeutsam für die Teilhabe ansieht, ferner den Erhalt der Möglichkeit einer Verfolgung von Lebensfreude. Hierbei setzt eine stärker behindernde psychische Störung, die für sich allein genommen einen Einzel-GdB von 40 rechtfertigt, regelmäßig einen erheblichen Verlust an sozialen Kontakten oder Vitalität voraus, was sich in der Regel durch deutliche Anzeichen sozialer Isolation und/oder Interesselosigkeit und geschwundene Lebensfreude manifestiert. Ein Indiz für bestehenden Leidensdruck ist darüber hinaus auch die Behandlungsfrequenz beim Facharzt für Neurologie und Psychiatrie oder beim Psychotherapeuten, ferner die – ggf. wiederholte – Durchführung stationärer Maßnahmen. Die Überzeugungsbildung in Bezug auf eine dauerhaft bestehende erhebliche psychische Erkrankung ist bei fehlender angemessener Behandlung zumindest erschwert (vgl. LSG Sachsen-Anhalt, Urteil vom 14. Dezember 2016 – L 7 SB 86/15). Selbstverständlich ist diese Aufzählung nicht abschließend; Indizien jeglicher Art sind zur Ermittlung der Schwere der psychischen Beeinträchtigung und des Teilhabeverlustes heranzuziehen und auszuwerten.
Nach diesen Maßstäben kann die Gesamtheit der Lebensumstände des Klägers, der im Erwerbsleben steht und ein grundsätzlich trotz seiner autistischen Erkrankung mehr oder weniger normales Leben eines Familienvaters führt, im Vergleich zu den Lebensumständen vieler anderer Menschen mit autistischen Erkrankungsformen nicht unberücksichtigt bleiben. Ergänzend tritt der Senat der Einschätzung des Facharztes für Neurologie und Psychiatrie Dr. N. darin bei, dass aufgrund einer neben dem autistischen Störungsbild bestehenden ausgeprägten depressiven Symptomatik, auch wenn sie nach Meinung des Senats gemäß Teil B Nr. 3.7 VMG bei isolierter Betrachtung eher mit einem Einzel-GdB von 20 als einem solchen von 30 zu bewerten wäre, eine Erhöhung des GdB im Hinblick auf das einheitlich zu bewertende Funktionssystem „Nervensystem und Psyche“ um einen Zehnerschritt zu erfolgen hat. Der daraus folgende Einzel-GdB von 40 für das Funktionssystem „Nervensystem und Psyche“ bildet alsdann zugleich den Gesamt-GdB des Klägers ab und er bestand bereits bei Antragstellung.
Der Sachverständige Dr. N. hat im Gutachten vom 9. Oktober 2020 herausgearbeitet, dass anhaltend die Kriterien einer mittelschweren depressiven Episode beim Kläger mit weiterhin beträchtlichem Beeinträchtigungsgrad bestehen, trotz eingetretener Stabilisierungstendenz mit Hilfe mehrjährig in Anspruch genommener Therapie. Insbesondere die Behandlungsfrequenz spricht jedoch dagegen, diese Funktionsstörung auch heute noch entsprechend eines Einzel-GdB von 30 im Sinne von Teil B Nr. 3.7 VMG zu gewichten. Die Behandlung soll nach den Angaben des Klägers von 2016 bis 2019 bei Dr. L. „intensiv“ geführt worden sein, womit jedoch eine Wahrnehmung von Terminen in vierwöchentlichen Abständen gemeint gewesen sein dürfte. Insgesamt erscheint es angemessen, unter Berücksichtigung dieser Störung das Funktionssystem „Nervensystem und Psyche“ des Klägers mit einem GdB von insgesamt 40 zu bewerten, ohne dass es auf eine genaue Einzelbewertung der depressiven Episode hierbei entscheidend ankäme. Die Bewertung des Dr. N. erscheint dem Senat demgegenüber insgesamt zu hoch und berücksichtigt nicht ausreichend den Umstand, dass nach Teil A Nr. 2 e) i. V. m. Teil B Nr. 3 VMG – unter Einbeziehung sowohl von Teil B Nr. 3.5.1 als auch Nr. 3.7 VMG – letztlich ein einheitlicher Einzel-GdB für das Funktionssystem „Nervensystem und Psyche“ zu bilden ist, der den Vergleichswert etwa einer schweren Zwangskrankheit als Referenzwert eines Einzel-GdB von 50 (vgl. Teil A Nr. 3 b VMG) eindeutig nicht erreicht.
Der Befundbericht des Dr. L. vom 15. Februar 2021 verfestigt hierbei auf der anderen Seite die Annahme, dass eine Gesamtbewertung des Funktionssystems „Nervensystem und Psyche“ des Klägers mit einem Einzel-GdB von 30 nicht ausreichend wäre. Es erscheint unmittelbar einleuchtend, dass der Kläger sich im Laufe des Lebens Kompensationsstrategien zurechtgelegt hat, mit denen er für Autismus typische Symptome unterdrückt, und dass dieses Verhaltensmuster im Laufe der Zeit zum Auftreten deutlicher Sekundärerkrankungen geführt hat. Genannt sind insoweit eine Depression, eine schwere Essstörung sowie Angst- und Erregungszustände. Die Essstörung ist durch das erhebliche Übergewicht des Klägers eindrucksvoll dokumentiert. Dr. L. hat weiter mitgeteilt, er selbst behandle pharmakologisch und psychotherapeutisch die psychischen Nebenerkrankungen, die mittlerweile – wenn auch nicht in besonders hoher Behandlungsfrequenz – seit Jahren behandelt werden, und hinsichtlich der Essstörung sei nach Versagen aller anderen Maßnahmen die Durchführung einer Operation angedacht. Das Bestehen einer eigenständig zu betrachtenden depressiven Erkrankung ist nach Auskunft mehrerer Fachärzte gesichert. Der Facharzt für Neurologie und Psychiatrie Dr. M. hat in seinem Gutachten vom 5. Februar 2018 eine Reihe von Lebensumständen des Klägers dargestellt, die neben der Erkrankung aus dem Autismusspektrum und insbesondere in Verbindung mit dieser das Entstehen einer eigenständigen psychischen Erkrankung, auch wenn sie der Sachverständige Dr. M. anders als Dr. L. und Dr. N. alsdann nicht gesondert dargestellt hat, plausibel erscheinen lassen. Die im Hinblick auf die psychische Entwicklung besonders bedeutsame Phase der Kindheit und Jugend des Klägers war hochproblematisch, der Kontakt zur Mutter wurde beendet, sein Stiefvater habe ihn verprügelt, zwischendurch kam es zu einem einjährigen Heimaufenthalt. Dass der Kläger unter diesen Umständen geschildert hat, er habe sich nie selbstsicher gefühlt, überrascht nicht. Indes haben sich eine Reihe von Erfolgserlebnissen im Leben des Klägers angeschlossen, die den Senat dazu bewogen haben, bei eher geringer Behandlungsfrequenz und bislang nicht sicher zu belegendem schwerem Leidensdruck die Schwerbehinderteneigenschaft des Klägers auch in Verbindung mit der zweifelsfrei bestehenden Autismusstörung nicht für schlüssig und überzeugend belegt zu halten. Die Auswirkungen der psychischen Erkrankung und der autistischen Störung auf die Teilhabemöglichkeiten des Klägers überschneiden sich im Übrigen sehr weitgehend, da die Erlebnis- und Gestaltungsfähigkeit des Klägers bereits durch die Asperger-Erkrankung eingeschränkt ist und der gleichgerichtete nachteilige Effekt auf die Teilhabe nicht doppelt bewertet werden darf (Teil A Nr. 3 d cc VMG).
Dass es sich zweifelsfrei um einen Grenzfall zur Schwerbehinderung handelt, ergibt sich auch aus dem Umstand, dass das zudem bestehende Schlafapnoe-Syndrom nach Teil B Nr. 8.7 VMG zusätzlich die Feststellung eines Einzel-GdB von 20 rechtfertigt. Nach Teil B Nr. 8.7 VMG kommt es nicht auf die Durchführung, sondern auf die „Notwendigkeit“ einer Überdruckbeatmung an, von der wohl im konkreten Fall auch bei Nichtdurchführung ausgegangen werden kann. Insgesamt ergibt sich jedoch unter diesem Aspekt in Anwendung von Teil A Nr. 3 d ee VMG keine Anhebung des Gesamt-GdB auf 50. Auch weitere Funktionsstörungen und Beschwerden des Klägers rechtfertigen eine derartige Anhebung des GdB in Anwendung von Teil A Nr. 3 d ee VMG nach den getroffenen Feststellungen nicht. Dem Senat fehlt nach Abwägung aller Einzelfallumstände die volle Überzeugung von der Schwerbehinderteneigenschaft des Klägers.
Die Kostenentscheidung beruht auf § 193 SGG. Bei der Bemessung des Kostenanteils des Klägers hat der Senat berücksichtigt, dass der Klageantrag nicht auf Feststellung eines GdB von 50 begrenzt, sondern nach oben offen formuliert worden ist.
Gründe für die Zulassung der Revision gemäß § 160 Abs. 1 und Abs. 2 SGG liegen nicht vor.