L 10 U 4541/18

Land
Baden-Württemberg
Sozialgericht
LSG Baden-Württemberg
Sachgebiet
Unfallversicherung
Abteilung
10.
1. Instanz
SG Heilbronn (BWB)
Aktenzeichen
S 8 U 1574/18
Datum
2. Instanz
LSG Baden-Württemberg
Aktenzeichen
L 10 U 4541/18
Datum
3. Instanz
-
Aktenzeichen
-
Datum
-
Kategorie
Urteil

Die Berufung des Klägers gegen den Gerichtsbescheid des Sozialgerichts Heilbronn 27.11.2018 wird zurückgewiesen.

Außergerichtliche Kosten sind nicht zu erstatten.

 

Tatbestand

Zwischen den Beteiligten ist streitig, ob die Beklagte zu Recht die Rechtswidrigkeit des Bescheides vom 08.07.2010, in dem zugunsten des Klägers eine Lärmschwerhörigkeit als Berufskrankheit (BK) nach Nr. 2301 der Berufskrankheitenverordnung - BKV - (im Folgenden: BK 2301) anerkannt worden war, feststellte und die Übernahme der durch eine zukünftige Verschlimmerung des Gehörschadens entstehenden Sachleistungskosten ebenso wie die Gewährung von Geldleistungen (Rente etc.) ablehnte.

Der 1981 geborene Kläger absolvierte keine Berufsausbildung. Er arbeitete vom 01.12.1999 bis Dezember 2012 - unterbrochen durch den 10monatigen Wehrdienst ab 01.05.2001 - bei der Firma K als Schlosser und war bis 31.03.2006 einem Tages-Lärmexpositionspegel (LEX) von 90 dB(A) und ab 01.04.2006 einem Tages-LEX von 91 dB(A) ausgesetzt (Bl. 48a ff. VA). Seinen eigenen Angaben nach trug er von Beginn der Tätigkeit an einen Kapselgehörschutz („Micky-Mouse-Kopfhörer“, Bl. 26 Senatsakte). Anschließend war er arbeitslos. Vom 01.09.2013 bis 30.09.2015 übte er bei der Schlosserei B allgemeine Schlosserarbeiten aus (Bl. 205 VA), wobei er entweder einen Kapselgehörschutz oder Ohrstöpsel trug (Bl. 205 f. VA). Der Tages-LEX betrug in dieser Zeit 88 dB(A) (Bl. 219 VA). Seit dem 20.10.2015 arbeitet er - zunächst als Leiharbeiter, seit 20.10.2017 als Angestellter - für die Firma T GmbH (Bl. 39 Senatsakte). Von Oktober 2015 bis April 2016 lag seine Haupttätigkeit im manuellen MAG-Schweißen inklusive Vorbereitungs- und Nachbereitungstätigkeiten (Schleifen per Winkelschleifer, Richten per Hammer usw.), von April 2016 bis November 2016 übte er verschiedene Tätigkeiten aus, in denen es u.a. jeweils um das Bedienen mehrerer großer (250 t und 150 t) Hydroformpressen, Fräsautomaten, Stanz- und Biege- sowie großer Laserschneidmaschinen ging, und ab November 2016 lag seine Haupttätigkeit im Bedienen von Roboterschweißanlagen (inklusive Absauganlagen) und Fräsautomaten (inklusive regelmäßigem Drucklufteinsatz) sowie manuellem MAG- und Nachschweißen. Zu den Einzelheiten der jeweiligen Tätigkeiten wird auf die Stellungnahme des Präventionsdienstes vom 28.05.2021 Bezug genommen (Bl. 73 f. Senatsakte). Alle diese Tätigkeiten bei der Firma T GmbH gingen und gehen mit gehörschädigendem Lärm mit einem Tages-LEX von mindestens 85 dB(A) einher (Bl. 73 f. Senatsakte). Seinen eigenen Angaben nach benutzte und benutzt der Kläger stets einen Gehörschutz in Form von Einmalohrstöpseln (Bl. 27 Senatsakte).

Am 19.10.2009 zeigte der den Kläger behandelnde T1 bei der Beklagten das Bestehen einer BK in Form einer Lärmschwerhörigkeit (BK 2301) an (Bl. 1 ff. VA).

Die Beklagte holte ein Gutachten bei der H ein (Bl. 70 ff. VA; Untersuchungstage: 07.04.2010 und 28.04.2010). H diagnostizierte eine mittel- bis hochgradige Hochtonschwerhörigkeit rechts größer links bei einer insbesondere im tiefen Frequenzbereich auffallenden Schalleitungskomponente zwischen 5 und 25 dB rechts und verneinte das Vorliegen einer beruflich bedingten Lärmschwerhörigkeit (Bl. 74 VA). Dennoch erkannte die Beklagte mit Bescheid vom 08.07.2010 eine BK 2301 an, verneinte jedoch einen Anspruch auf Verletztenrente (Bl. 91 f. VA). Den über das linksseitige Ausmaß hinausgehenden Hörverlust rechts sah sie als unabhängig von der BK 2301 vorliegend an. Gleichzeitig bezeichnete sie sich als zuständigen Kostenträger für eine mögliche Hörgeräteversorgung. Im Juli 2010 wurden dem Kläger ohrenärztlich Hörhilfen verordnet (Bl. 97 VA), deren Kosten die Beklagte auch übernahm (Bl. 128 VA).

In den Folgejahren zog die Beklagte immer wieder Tonaudiogramme des Hörgeräteakustikers bei (aus Mai 2011, Bl. 140 VA, aus März 2013, Bl. 155 VA, aus September 2016, Bl. 187 VA, aus März 2017, Bl. 193 VA). Im April 2017 wertete sie das Tonaudiogramm von März 2017 aus und errechnete einen prozentualen Hörverlust von 50% für das rechte und von 45% für das linke Ohr, was einer Minderung der Erwerbsfähigkeit (MdE) von 30 v.H. entspricht. Die Beklagte holte daraufhin Arbeitgeberauskünfte der Firma M GmbH (später J GmbH, 207 f. VA) und der Schlosserei B (Bl. 205 f. VA) ein. Sodann holte sie eine Stellungnahme zur Arbeitsplatzexposition Lärmschwerhörigkeit BK 2301 des Präventionsdienstes ein (Bl. 215 ff. VA). Danach war der Kläger bei der Firma K im Zeitraum 01.12.1999 bis 31.03.2006 täglich acht Stunden einem LEX von 90 dB(A) und vom 01.04.2006 bis 03.03.2010 von 91 dB(A) und bei der Schlosserei B vom 01.09.2013 bis 30.09.2015 einem LEX von 88 dB(A) und somit am 30.09.2015 einer effektiven Lärmdosis (ELD) von 12,4 Jahren ausgesetzt.

Die Beklagte holte daraufhin ein weiteres Gutachten bei dem B1 ein (Bl. 235 ff. VA, Untersuchungstag: 25.09.2017). Dieser diagnostizierte zwar rechts eine hochgradige, an Taubheit grenzende Schwerhörigkeit und eine gering- bis mittelgradige Schwerhörigkeit links, sah die Voraussetzungen für eine lärmbedingte Schwerhörigkeit - ebenso wie H - jedoch nicht als erfüllt an und verneinte das Vorliegen einer BK 2301. Seine Einschätzung begründete er mit dem asymmetrischen Ausmaß der Hörstörung, der lediglich geringgradigen Verschlechterung seit 2005 bis zum Begutachtungszeitpunkt, der geringen Lärmdosis sowie einem negativen Recruitmentnachweis.

Daraufhin hörte die Beklagte den Kläger zu ihrer Absicht an, die Rechtswidrigkeit des Bescheids vom 08.07.2010 festzustellen und über den bisherigen Umfang hinausgehende Leistungen künftig nicht zu übernehmen (Bl. 247 ff. VA). Nach eingegangener Stellungnahme des Klägers vom 11.10.2017 (Bl. 253 VA) verfügte die Beklagte mit Bescheid vom 15.11.2017 (Bl. 256 ff. VA), dass der Bescheid vom 08.07.2010 rechtswidrig sei, da zu Unrecht eine beruflich verursachte Lärmschwerhörigkeit nach Nr. 2301 der BK-Liste anerkannt worden sei. Außerdem werde die Übernahme der durch eine zukünftige Verschlimmerung des Gehörschadens des Klägers entstehenden Sachleistungskosten ebenso abgelehnt wie die Gewährung von Geldleistungen (Rente etc.). Zur Begründung führte die Beklagte aus, dass beim Kläger laut dem Gutachten des B1 keine BK 2301 vorliege, was sich auch aus den vorgelegten medizinischen Unterlagen ergebe. Auch H habe in ihrem Gutachten aus dem Jahr 2010 das Vorliegen einer BK 2301 verneint. Dieser Empfehlung sei die Beklagte fälschlicherweise nicht gefolgt. Der Bescheid vom 08.07.2010 sei daher rechtswidrig, da darin zu Unrecht eine beginnende Innenohrhochtonschwerhörigkeit beidseits als BK 2301 anerkannt worden sei. Dieser rechtswidrige Bescheid könne wegen Ablauf der Rücknahmefrist (§ 45 Abs. 3 Sozialgesetzbuch Zehntes Buch - SGB X -) nicht zurückgenommen werden. Allerdings sehe § 48 Abs. 3 SGB X für solche Fälle zwingend vor, dass das Unrecht nicht mehr weiterwachsen dürfe. Danach solle eine wesentliche Änderung in den Verhältnissen der anerkannten BK nicht dazu führen, dass es im Zusammenhang mit dem rechtswidrigen Bescheid zur Gewährung höherer Leistungen oder - bei bisher nicht erfolgter Leistungsgewährung - zum erstmaligen Entstehen eines Leistungsanspruches überhaupt komme. Dies bedeute, dass bei einer möglichen Verschlimmerung des Gehörschadens und einer dadurch evtl. eintretenden medizinischen Behandlungsbedürftigkeit die Kosten der notwendigen medizinischen Behandlung nicht von der Beklagten übernommen werden könnten. Ebenso wären bei einer zukünftigen Neuversorgung mit Hörgeräten die durch eine mögliche Verschlimmerung verursachten Mehrkosten gegenüber den Kosten der früheren Versorgung nicht von der Beklagten zu tragen. Für den Kläger bestehe daher ein Besitzstand allein in dem in der Vergangenheit gewährten Leistungsumfang. Für den Fall, dass eine weitere Zunahme des Gehörschadens die Annahme einer MdE in rentenberechtigendem Ausmaß rechtfertigen würde, käme die Gewährung einer Rente nicht in Betracht.

Hiergegen erhob der Kläger am 30.11.2017 Widerspruch (Bl. 262 VA). Zur Begründung führte er u.a. aus (Bl. 267 f. VA), dass der Bescheid vom 15.11.2017 einen angeblich rechtswidrigen begünstigenden Verwaltungsakt zurücknehme. Eine solche Rücknahme könne jedoch nach § 45 Abs. 2 SGB X nur innerhalb von zwei Jahren erfolgen. Diese Frist sei bereits abgelaufen. Außerdem liege sehr wohl eine BK 2301 vor.

Mit Widerspruchsbescheid vom 26.04.2018 (Bl. 273 ff. VA) wies die Beklagte den Widerspruch zurück. Zu den Voraussetzungen einer lärmbedingten Innenohrschwerhörigkeit gehöre neben einer adäquaten Lärmbelastung ein typischer Hörverlust im Hochtonbereich bei 4000 Hz. Diese Innenohrschwerhörigkeit betreffe v.a. die höheren Töne und erst später die mittleren Frequenzen. Schon eine beginnende Gehörschädigung durch Lärm könne mittels Tonaudiogramm durch einen typischen Hörverlust im Frequenzbereich von 4000 Hz festgestellt werden. Es handele sich um eine symmetrische Hörminderung an beiden Ohren, weil die Ohren im diffusen Schallfeld annähernd gleich belastet würden. Zusätzlich entstehe eine Lärmschwerhörigkeit bei einer adäquaten Lärmeinwirkung nach einer langjährigen Lärmeinwirkung und schreite langsam fort. Nach dem Ende einer Lärmeinwirkung könne eine lärmbedingte Schwerhörigkeit nicht mehr fortschreiten. Diese Voraussetzungen lägen beim Kläger nicht vor. Die Schwerhörigkeit sei von Anfang an unsymmetrisch gewesen mit erheblichem Unterschied zwischen links und rechts. Auch der zeitliche Verlauf spreche gegen eine Lärmverursachung, da der Kläger ab 1999 einer Lärmbelastung ausgesetzt gewesen sei und eine Hörminderung bereits 2005 dokumentiert worden sei. Diese stehe nicht in einem ausreichenden Ausmaß zur Lärmbelastung und habe sich bis zum Ende der Lärmtätigkeit im September 2015 nicht wesentlich verändert. Auch sprächen überschwellige Gehöruntersuchungen gegen eine Verursachung durch Lärm. Erst nach dem Ende der lärmbelastenden Tätigkeit sei es nachweislich des Tonaudiogramms vom 26.08.2016 und des Tonaudiogramms von 2017 zu einer wesentlichen Änderung der Schwerhörigkeit gekommen, was ebenfalls nicht im Zusammenhang mit einer durch Lärm verursachten Hörminderung stehen könne. Bereits von Anfang an hätte die Hörminderung nicht als Lärmberufskrankheit anerkannt und keine Abgrenzung auf die linksseitige Hörstörung vorgenommen werden dürfen. Die Anerkennung einer BK 2301 sei daher zu Unrecht erfolgt.

Hiergegen hat der Kläger am 16.05.2018 Klage beim Sozialgericht Heilbronn (SG) erhoben. Zur Begründung hat er ausgeführt, die Beklagte habe den Bescheid vom 08.07.2010 nicht aufgehoben, sondern eine eigenständige Feststellung getroffen. Die Beklagte hätte stichtagsbezogen tenorieren müssen. Eine Rücknahme nach § 45 SGB X dürfte - wie die Beklagte selbst festgestellt habe - auch nicht mehr möglich sein. Er habe sich auf Grund des Bescheids vom 08.07.2010 bereits Hilfsmittel zugelegt, die gegenüber einer kassenärztlichen Versorgung qualitativ wesentlich hochwertiger seien. Er müsse auch hierzu die entsprechenden Ersatzteile/Verbrauchsteile bestellen und bezahlen. Insofern ergebe sich eine Nachwirkung, die selbst nach einer Aufhebung nach § 48 SGB X möglich wäre. Außerdem liege kein Aufhebungsgrund vor, da der Bescheid vom 08.07.2010 rechtlich nicht zu beanstanden sei. Die Bewertung des B1 sei nicht schlüssig. Dieser habe den Kläger auch nicht persönlich untersucht. Die Hörtests seien von Mitarbeitern gemacht worden.

Mit Gerichtsbescheid vom 27.11.2018 hat das SG die Klage abgewiesen. Nach § 48 Abs. 3 Satz 1 SGB X dürfe die neu festzustellende Leistung nicht über den Betrag hinausgehen, wie er sich der Höhe nach ohne Berücksichtigung der Bestandskraft ergebe, wenn ein rechtswidriger begünstigender Verwaltungsakt nach § 45 SGB X nicht zurückgenommen werden könne und eine Änderung nach Absatz 1 oder 2 zugunsten des Betroffenen eingetreten sei. Diese Regelung finde entgegen dem Wortlaut nach ständiger Rechtsprechung des Bundessozialgerichts (BSG) auch auf rechtswidrige begünstigende Verwaltungsakte mit rein feststellender Wirkung Anwendung (u.a. BSG, Urteil vom 22.10.1986, 9a RVs 55/85; Urteil vom 18.03.1997, 2 RU 19/96; Urteil vom 17.04.2013, B 9 SB 6/12 R). Sei die Grundlage einer Leistungsbewilligung rechtswidrig und sei noch keine Leistung gewährt worden, entfalle diese als Folge. Denn ein Bescheid, der nach § 48 Abs. 3 SGB X die (volle) nach Absatz 1 an sich zustehende Leistungserhöhung ablehne, setze die gesonderte ausdrückliche Feststellung voraus, dass der Ursprungsbescheid rechtswidrig sei, die entweder selbständig ergehen oder mit dem eine Erhöhung nach Absatz 1 ablehnenden bzw. einschränkenden Bescheid verbunden sein könne. Die Befugnis hierzu ergebe sich aus der Systematik des Gesetzes und aus der Eigenart des zwischen der Behörde und dem Einzelnen bestehenden Rechtsverhältnisses. Ein Sozialrechtsverhältnis, das laufende Leistungen zum Gegenstand haben könne, erfordere möglichst bald Klarheit darüber, ob der Berechtigte mit weiteren Leistungserhöhungen rechnen könne oder nicht. Daher sei es auch zulässig, dass die Beklagte die entsprechende Feststellung bereits vor einer Änderung der relevanten Verhältnisse zugunsten des Klägers getroffen habe, als ihr die Rechtswidrigkeit bewusst geworden sei. Erwägungen des Vertrauensschutzes spielten keine Rolle. Der Kläger könne kein schützenswertes Vertrauen hinsichtlich der möglichen künftigen Ausweitung von Leistungen haben, auf die dem Grunde nach schon in der Vergangenheit eigentlich kein Anspruch bestanden habe. Der Bescheid vom 08.07.2010 stelle einen rechtswidrigen begünstigenden Verwaltungsakt dar. Die BK 2301 hätte nicht anerkannt werden dürfen. Dies ergebe sich aus den beiden Verwaltungsgutachten der H und des B1. Es spreche bereits die asymmetrische Ausprägung der Hörstörung gegen eine berufliche Veranlassung, da eine Lärmschwerhörigkeit grundsätzlich symmetrisch ausgeprägt sei. Eine unterschiedliche Lärmexposition beider Ohren sei weder vorgetragen noch ersichtlich. Auch stelle der zeitliche Verlauf der Erkrankung ein Indiz gegen eine durch beruflichen Lärm bedingte Hörstörung dar. So habe der Zustand, der hinsichtlich des Gehörs Anfang 2010 bestanden habe, in ähnlichem Ausmaß bereits im September 2005 vorgelegen. Es sei nicht nachvollziehbar, wie die Lärmexposition über den Zeitraum von Ende 1999 bis September 2005 zunächst zu einer Schwerhörigkeit geführt haben solle, die rechts eine hochgradige Ausprägung erreicht habe, dann aber bis zum Jahr 2010 trotz Fortführung der lärmexponierten Tätigkeit nicht mehr fortgeschritten sei. Auch die Angabe des Klägers, seit dem Jahr 2000 regelmäßig Gehörschutz getragen zu haben, spreche gegen eine lärmbedingte Schwerhörigkeit, da sie Zweifel an der Lärmdosis wecke, welcher die Ohren des Klägers tatsächlich ausgesetzt gewesen seien. Jedenfalls stünden das Ausmaß und die Entwicklung der Hörstörung nicht in einem adäquaten Verhältnis zur Lärmeinwirkung, worauf B1 zutreffend hingewiesen habe. Auch spreche der negative Befund hinsichtlich eines Recruitments (Lautheitsausgleich) gegen eine berufsbedingte Verursachung der Schwerhörigkeit. Hierbei handele es sich um ein psychoakustisches Phänomen, das bei Erkrankungen im Innenohr auftrete. Es folge aus dem Ausfall der äußeren Haarzellen (im Ohr) bei erhaltener Funktion der inneren Haarzellen. Da die chronische Lärmschwerhörigkeit fast ausschließlich die äußeren Haarzellen schädige, blieben die meisten Lärmschwerhörigkeiten bei 60 dB Hörverlust stehen. Aus dieser Beobachtung sei der Grundsatz abgeleitet worden, dass ein negatives Recruitment die Verursachung einer Hörstörung durch Lärm unwahrscheinlich erscheinen lasse. Auf das Vorliegen einer C5-Senke komme es nicht entscheidend an, da eine solche zwar typisch für eine Lärmschwerhörigkeit sei, deren Vorliegen aber nicht beweise. Da eine Rücknahme dieses Bescheides auf Grund des Verstreichens der Rücknahmefrist nach § 45 Abs. 3 SGB X nicht in Betracht komme, greife § 48 Abs. 3 SGB X.

Gegen den - seinen Prozessbevollmächtigten am 30.11.2018 zugestellten - Gerichtsbescheid hat der Kläger am 19.12.2018 Berufung beim Landessozialgericht Baden-Württemberg (LSG) eingelegt. Zur Begründung hat er ausgeführt, dass die Voraussetzungen des § 48 Abs. 3 Satz 1 SGB X nicht vorlägen, da zu Recht zu seinen Gunsten eine BK 2301 anerkannt worden sei. Die asymmetrische Ausprägung spreche nicht zwingend gegen das Vorliegen einer beruflichen Veranlassung, da insoweit Art und Intensität der Einwirkung entscheidend seien. Er habe viel unter Verwendung eines Hammers in der rechten Hand gearbeitet. Es sei daher zu verstärkten Einwirkungen auf das rechte Ohr gekommen, woraus sich die unterschiedliche Intensität der erfolgten Einwirkungen und eine unterschiedliche Lärmexposition ergebe. Die Lärmexposition als solche spreche ebenfalls für das Vorliegen einer berufsbedingten Lärmschwerhörigkeit. Es sei ein durchschnittlicher LEX von 90/91 dB(A) festgestellt worden, verteilt auf 12,4 Lärmjahre. Das regelmäßige Tragen von Gehörschutz sei kein Argument gegen eine lärmbedingte Schwerhörigkeit, da die Wirksamkeit von Gehörschützern durch eine Reihe von Fehlern oder Unzulänglichkeiten in der Anwendung reduziert oder völlig aufgehoben werden könne. Auch ergebe sich aus dem Tonaudiogramm von 2010 das Vorliegen einer sogenannten C5-Senke, was ebenfalls auf das Vorliegen einer Lärmschwerhörigkeit hinweise. Der behandelnde T1 gehe ebenfalls von einer berufsbedingten Lärmschwerhörigkeit aus.

Der Kläger beantragt (sachdienlich gefasst),

den Gerichtsbescheid des Sozialgerichts Heilbronn vom 27.11.2018 und den Bescheid der Beklagten vom 15.11.2017 in Gestalt des Widerspruchsbescheides vom 26.04.2018 aufzuheben.

Die Beklagte beantragt,

die Berufung des Klägers zurückzuweisen.

Sie beruft sich auf die vorgelegten Verwaltungsakten, den Vortrag in erster Instanz und die Entscheidungsgründe des angegriffenen Gerichtsbescheids.

Der Senat hat bei der Firma T GmbH eine Arbeitgeberauskunft zu den vom Kläger dort ausgeübten Tätigkeiten eingeholt (Bl. 47, 64 Senatsakte) und während des Wehrdienstes gefertigte hno-ärztliche Unterlagen beigezogen (Bl. 53 ff. Senatsakte).

Die Beklagte hat eine sozialmedizinische Stellungnahme zu den seitens des Senats beigezogenen hno-ärztlichen Unterlagen bei dem B2 eingeholt (Bl. 68 f. Senatsakte) und eine weitere Stellungnahme des Präventionsdienstes zu den bei der Firma T GmbH ausgeübten Tätigkeiten vorgelegt (Bl. 73 f. Senatsakte).

Außerdem hat der Senat von Amts wegen ein Sachverständigengutachten bei dem S eingeholt (Bl. 82 ff. Senatsakte, Untersuchungstag: 21.07.2021). Der Sachverständige hat eine knapp mittelgradige Schwerhörigkeit beidseits diagnostiziert und eine berufliche Verursachung insbesondere auf Grund des Bilds der Audiometriekurven (rechts größte Schädigung bei 3000 Hz, frühe Beteiligung der tiefen Frequenzen v.a. rechts) und der viel zu kurzen Lärmexposition, in der sich der Hörverlust entwickelt habe (lediglich drei Jahre und acht Monate), ausgeschlossen (Bl. 101 f. Senatsakte).

Die Beteiligten haben auf die Durchführung einer mündlichen Verhandlung verzichtet.

Zur weiteren Darstellung des Sachverhalts und des Beteiligtenvorbringens wird auf die Prozessakten erster und zweiter Instanz und die vorgelegten Verwaltungsakten Bezug genommen.

 

Entscheidungsgründe

Die gemäß § 151 Abs. 1 des Sozialgerichtsgesetzes (SGG) form- und fristgerecht eingelegte und gemäß den §§ 143, 144 SGG statthafte Berufung des Klägers, über die der Senat auf Grund des Einverständnisses der Beteiligten ohne mündliche Verhandlung nach § 124 Abs. 2 SGG entscheidet, ist zulässig, jedoch unbegründet. Der Kläger hat keinen Anspruch auf Aufhebung des Bescheides vom 15.11.2017 in Gestalt des Widerspruchsbescheides vom 26.04.2018.

Das SG hat die Klage zu Recht abgewiesen, denn der Bescheid der Beklagten vom 15.11.2017 in Gestalt des Widerspruchsbescheides vom 26.04.2018 ist rechtmäßig und verletzt den Kläger nicht in seinen Rechten.           

Das SG hat in den Entscheidungsgründen des angefochtenen Urteils zutreffend die rechtliche Grundlage - § 48 Abs. 3 SGB X - für die Feststellung der Rechtswidrigkeit des Bescheides vom 08.07.2010 und die Ablehnung der Übernahme der durch eine zukünftige Verschlimmerung des Gehörschadens entstehenden Sachleistungskosten sowie die Gewährung von Geldleistungen (Rente etc.) dargelegt und gestützt hierauf sowie auf die medizinischen Erkenntnisse - insbesondere die urkundsbeweislich verwertbaren Verwaltungsgutachten der H und des B1 - ebenso zutreffend ausgeführt und begründet, dass beim Kläger die Voraussetzungen der Anerkennung einer BK 2301 nicht vorlagen. Der Senat sieht deshalb insoweit gemäß § 153 Abs. 2 SGG von einer weiteren Darstellung der Entscheidungsgründe ab und weist die Berufung aus den Gründen der angefochtenen Entscheidung zurück.

Insbesondere hat das SG auch zutreffend ausgeführt, dass die Beklagte die Feststellung über die Rechtswidrigkeit des begünstigenden Dauerverwaltungsaktes vom 08.07.2010 zu Recht auf § 48 Abs. 3 SGB X gestützt hat, obwohl - anders als dort vorausgesetzt - die Verhältnisse, die diesem Verwaltungsakt zu Grunde gelegen haben, sich (noch) nicht geändert haben. In seiner Entscheidung vom 16.12.2004 (B 9 VS 1/04 R, juris Rdnr. 15) hat das BSG nochmals ausdrücklich klargestellt, dass das in § 48 Abs. 3 Satz 1 SGB X vorgesehene „Einfrieren“ oder „Abschmelzen“ von Leistungen stets eine Entscheidung über die Rechtswidrigkeit des Ausgangsbescheides voraussetzt. Diese Feststellung kann als eigenständige Regelung im Sinne des § 31 SGB X zur frühzeitigen Klärung des Sozialrechtsverhältnisses auch selbstständig und zeitlich vor dem Ausspruch eines „Einfrierens“ oder „Abschmelzens“ getroffen werden (s.a. LSG Baden-Württemberg, Urteil vom 08.07.2009, L 2 U 1556/07, juris Rdnr. 26). Eine derartige Feststellung über die Rechtswidrigkeit des Verwaltungsaktes vom 08.07.2010 hat die Beklagte hier getroffen.

Zu einer anderen Einschätzung gelangt der Senat auch nicht durch die von ihm durchgeführte (weitere) medizinische Sachaufklärung. Zwar hat der S bestätigt, dass beim Kläger eine (knapp mittelgradige) Schwerhörigkeit vorliegt (Bl. 100 Senatsakte). Gleichwohl hat er für den Senat schlüssig und nachvollziehbar ausgeführt, dass diese nicht mit hinreichender Wahrscheinlichkeit auf eine berufliche Verursachung zurückzuführen ist. Beim Kläger wurde erstmals im September 2005 ein Hörverlust mit einem Maximum in den Frequenzen von 3000 Hz bzw. 4000 Hz dB beschrieben. Der bereits zu Beginn des Wehrdienstes im Rahmen der dort durchgeführten Untersuchungen geäußerte Verdacht auf Vorliegen einer Schwerhörigkeit (Bl. 53 ff. Senatsakte) bestätigte sich nicht, da dem Tonaudiogramm von Januar 2002 Normalhörigkeit zu entnehmen ist (Bl. 60 Senatsakte). Hierauf hat nicht nur der Sachverständige (Bl. 98 f. Senatsakte), sondern auch der B2 hingewiesen (Bl. 68 f. Senatsakte). Die Schwerhörigkeit entwickelte sich somit erst nach Januar 2002. Die Entwicklung einer Lärmschwerhörigkeit mit einer Senke bei 3000 Hz und 65 dB rechts und bei 4000 Hz bis 60 dB links - wie aus dem Tonaudiogramm von September 2005 ersichtlich - innerhalb eines Zeitraums von nur drei Jahren und acht Monaten - also zwischen Januar 2002 und September 2005 - ist nach den für den Senat schlüssigen und nachvollziehbaren Ausführungen des Sachverständigen jedoch nicht denkbar. Ein Abfall der Tonaudiometriekurve bis 60 dB bei 4000 Hz wäre nur - so der Sachverständige weiter - bei weniger als 5% der Betroffenen und einer Expositionsdauer von mehr als 30 Jahren zu erwarten, die beim Kläger - mit nicht einmal vier Jahren - bei Weitem nicht vorliegt (Bl. 99 Senatsakte). Auch spricht nach den nachvollziehbaren Darlegungen des Sachverständigen die bereits im Jahr 2011 dokumentierte rechtsseitige Verschlechterung im Tieftonbereich mit einem Abfall bis 30 dB bei 500 Hz - diese setzte sich später weiter fort und betrifft mittlerweile auch die Gegenseite - gegen eine berufliche Entwicklung, da ein Hörverlust im Tieftonbereich bis 30 dB nur bei extrem langer - Jahrzehnte andauernder - und sehr hoher Lärmexposition überhaupt denkbar ist (Bl. 99 Senatsakte). Gegen eine berufliche Verursachung spricht nach den übereinstimmenden Ausführungen sowohl des S als auch des B1, dass die Schwerhörigkeit trotz weiterer Lärmexposition in den Jahren nach 2005 zunächst unverändert blieb. Der Hörverlust betrug sowohl 2005 als auch 2011 rechts 15% und links 10%. Vor diesem Hintergrund kommt es auf den Vortrag des Klägers, wonach er im Rahmen seiner Tätigkeit bei der Firma K mit einem elektrischen Schmiedehammer gearbeitet habe und bei dieser Tätigkeit das rechte Ohr näher an dem Schmiedehammer gewesen sei, nicht an. Denn auch dies ändert nichts an der viel zu kurzen Expositionsdauer und dem über viele Jahre (2005 bis 2011) hinweg - in welchen der Kläger gerade auch mit dem elektrischen Schmiedehammer gearbeitet haben will - gleichbleibendem Grad der Schwerhörigkeit.

Die Kostenfolge beruht auf § 193 SGG.

Gründe für die Zulassung der Revision liegen nicht vor.

 

Rechtskraft
Aus
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