L 3 AL 57/20

Land
Freistaat Sachsen
Sozialgericht
Sächsisches LSG
Sachgebiet
Arbeitslosenversicherung
1. Instanz
SG Dresden (FSS)
Aktenzeichen
S 9 AL 145/19
Datum
2. Instanz
Sächsisches LSG
Aktenzeichen
L 3 AL 57/20
Datum
3. Instanz
Bundessozialgericht
Aktenzeichen
B 11 AL 40/21 R
Datum
-
Kategorie
Urteil
Leitsätze

1. Der Gesetzeswortlaut von § 141 Abs. 3 SGB III stellt für die Rückwirkung einer Arbeitslosmeldung auf den ersten Tag "der Beschäftigungslosigkeit" ab.

2. Die beiden gesetzlich definierten Begriffe "Beschäftigungslosigkeit" und "Arbeitslosigkeit" können vom Wortlaut und von der Gesetzessystematik her im Rahmen von § 141 Abs. 3 SGB III nicht gleichgesetzt werden.

3. Die Voraussetzungen für eine erweiternde Auslegung von § 141 Abs. 3 SGB III auf den ersten Tag "der Arbeitslosigkeit" sind nicht gegeben.

4. Für eine analoge Anwendung von § 141 Abs. 3 SGB III auf den ersten Tag nach dem Ende der Arbeitsunfähigkeit oder des Krankengeldbezuges fehlt es an einer planwidrigen Regelungslücke.

5. § 141 Abs. 3 SGB III ist mit Artikel 3 Abs. 1 GG vereinbar.

     
   
 

 

I.     Auf die Berufung der Beklagten wird der Gerichtsbescheid des Sozialgerichts Dresden vom 8. April 2020 aufgehoben und die Klage abgewiesen.

II.    Außergerichtliche Kosten der Klägerin sind nicht zu erstatten.

III.   Die Revision wird zugelassen.

 

 

Tatbestand

 

Die Beteiligten streiten über die Rückwirkung der persönlichen Arbeitslosmeldung auf den Tag der fehlenden Dienstbereitschaft in einem Fall, in dem während der bereits bestehenden Beschäftigungslosigkeit die persönliche Arbeitslosmeldung erfolgt ist. Die Klägerin begehrt insofern die Gewährung von Arbeitslosengeld nach dem Sozialgesetzbuch Drittes Buch – Arbeitsförderung – (SGB III) bereits ab dem 29. Dezember 2018.

 

Die am 1971 geborene in A.... wohnhafte verheiratete Klägerin war vom 1. Mai 2016 bis zum 15. September 2017 bei der Y....  Pflegedienst X....  GmbH in A.... und vom 15. Mai 2018 bis zum 31. Juli 2018 als Alltagsbetreuerin im Malteserstift W....  in V....  beschäftigt. Sie bezog im Zeitraum vom 1. Januar 2017 bis zum 24. Juli 2018 an 283 Tagen ein Entgelt in Höhe von insgesamt 11.976,23 EUR und sodann bis zum 28. Dezember 2018 Krankengeld.

 

Die Klägerin meldete sich, da die zuständige Dienststelle der Beklagten in A.... bereits geschlossen hatte, am 28. Dezember 2018, einem Freitag, nach 14.00 Uhr telefonisch beim Servicecenter der Beklagten ab dem 29. Dezember 2018 arbeitsfähig und arbeitsuchend und am 3. Januar 2019, einem Donnerstag, in der Dienststelle in U....  persönlich arbeitslos und beantragte die Zahlung von Arbeitslosengeld.

 

Die zuständige Geschäftsstelle in A.... hat Montag, Dienstag und Freitag von 8.00 Uhr bis 12.00 Uhr sowie Dienstag von 14.00 Uhr bis 18.00 Uhr und die Geschäftsstelle in U....  Montag, Donnerstag und Freitag geöffnet. Am 2. Januar 2019, einem Mittwoch, waren beide Geschäftsstellen nicht dienstbereit.

 

Die Beklagte bewilligte der Klägerin mit Bescheid vom 18. Februar 2019 wegen fehlender Arbeitsbescheinigungen zunächst vorläufig ab dem 3. Januar 2019 für 360 Tage Arbeitslosengeld in Höhe von täglich 21,75 EUR.

 

Am 1. März 2019 trat die Klägerin im Seniorenzentrum X.... T....  in S....  ein neues Arbeitsverhältnis als Betreuungskraft an. Daraufhin hob die Beklagte den Bewilligungsbescheid auf Grund der erneuten Beschäftigungsaufnahme mit Bescheid vom 22. Februar 2019 ab dem 1. März 2019 auf.

 

 

Gegen den Bescheid vom 18. Februar 2019 legte die Klägerin am 18. März 2019 Widerspruch ein. Ihr sei beim Anruf am 28. Dezember 2018 gesagt worden, dass sie sich auf Grund der eingeschränkten Öffnungszeiten erst am 3. Januar 2019 persönlich in U.... , R....  oder Q....  vorstellen könne. Die Agentur für Arbeit in A.... sei am 2. Januar 2019 und 3. Januar 2019 geschlossen.

 

Die Beklagte wies den Widerspruch mit Widerspruchsbescheid vom 19. März 2019 zurück, weil der strittige Verwaltungsakt hinsichtlich der Höhe, des Beginns sowie der Dauer vorläufig und nicht zu beanstanden sei.

 

Die Klägerin hat am 17. April 2019 Klage erhoben. Die Rückwirkungsklausel müsse hilfsweise auf Grund des sozialrechtlichen Herstellungsanspruchs zur Anwendung kommen.

 

Mit Bescheid vom 6. Mai 2019 hat die Beklagte der Klägerin endgültig Arbeitslosengeld für 360 Kalendertage vom 3. Januar 2019 bis zum 28. Februar 2019 in Höhe von täglich 22,05 EUR auf der Grundlage eines Bemessungsentgeltes in Höhe von täglich 42,32 EUR (Lohnsteuerklasse IV, Prozentsatz 67) bewilligt. Die Durchführung eines weiteren Vorverfahrens werde abgelehnt.

 

Das Sozialgericht hat mit Gerichtsbescheid vom 8. April 2020 die Beklagte unter Abänderung des Bescheides vom 6. Mai 2019 verurteilt, der Klägerin auch vom 29. Dezember 2018 bis zum 2. Januar 2019 Arbeitslosengeld zu zahlen. Die am 3. Januar 2019 erfolgte persönliche Arbeitslosmeldung, welche nach ständiger Rechtsprechung des Bundessozialgerichts keine Willens-, sondern eine sogenannte Tatsachenerklärung darstelle und deshalb dem Rechtsinstitut des sozialrechtlichen Herstellungsanspruchs nicht zugänglich sei, entfalte trotz des vorherigen Krankengeldbezugs nach § 141 Abs. 3 SGB III Rückwirkung, da frühestens an diesem Tag Dienstbereitschaft vorgelegen habe. Zwar sei die Vorschrift auf Grund ihres Ausnahmecharakters eng auszulegen. Sie sei jedoch im Ergebnis einer historischen und teleologischen Auslegung auf den vorliegenden Sachverhalt anzuwenden. Das Sozialgericht hat wegen grundsätzlicher Bedeutung die Berufung zugelassen.

 

Die Beklagte hat sich gegen den Gerichtsbescheid mit Berufung vom 6. Mai 2020 gewandt. Eine analoge Anwendung der Vorschrift stehe der Wortlaut und die Normhistorie entgegen. Es liege keine planwidrige Regelungslücke vor.

 

Die Beklagte beantragt,

 

den Gerichtsbescheid des Sozialgerichts Dresden vom 8. April 2020 aufzuheben und die Klage abzuweisen.

 

Die Klägerin beantragt,

 

die Berufung zurückzuweisen.

 

Hinsichtlich der weiteren Einzelheiten des Sach- und Streitstandes wird auf die Gerichtsakte beider Instanzen und die beigezogene Verwaltungsakte der Beklagten verwiesen.

 

 

Entscheidungsgründe

 

I. Gegenstand des Berufungsverfahrens ist neben dem Gerichtsbescheid des Sozialgerichtes vom 8. April 2020 der Bescheid der Beklagten vom 6. Mai 2019. Der ursprünglich mit der am 17. April 2019 erhobenen Klage angegriffene Verwaltungsakt über die vorläufige Bewilligung vom 18. Februar 2019 in der Gestalt des Widerspruchsbescheids vom 19. März 2019 hat sich durch die mit dem Bescheid vom 6. Mai 2019 endgültige Leistungsfestsetzung gemäß § 39 Abs. 2 des Sozialgesetzbuches Zehntes Buch – Sozialverwaltungsverfahren und Sozialdatenschutz – (SGB X) anderweitig erledigt (vgl. BSG, Urteil vom 5. Juli 2017 – B 14 AS 36/16 R –SozR 4-1500 § 86 Nr. 3 = juris, jeweils Rdnr. 15, m. w. N.). Der Bescheid der Beklagten vom 6. Mai 2019 ist gemäß § 96 des Sozialgerichtsgesetzes (SGG) Gegenstand der am 17. April 2019 erhobenen Klage geworden.

 

II. Die auf Grund der Zulassung statthafte und auch im Übrigen zulässige Berufung ist begründet. Der Gerichtsbescheid des Sozialgerichts ist aufzuheben und die Klage abzuweisen. Der Bescheid der Beklagten vom 6. Mai 2019 ist rechtmäßig. Die Klägerin hat keinen Anspruch auf Arbeitslosengeld bereits ab dem 29. Dezember 2018 bis zum 2. Januar 2019.

 

1. Nach § 137 Abs. 1 SGB III hat Anspruch auf Arbeitslosengeld bei Arbeitslosigkeit (vgl. § 136 Abs. 1 Nr. 2 SGB III), wer

1.  arbeitslos ist,

2.  sich bei der Agentur für Arbeit arbeitslos gemeldet und

3.  die Anwartschaftszeit erfüllt hat.

Arbeitslos ist gemäß § 138 Abs. 1 SGB III, wer Arbeitnehmerin oder Arbeitnehmer ist und

1.  nicht in einem Beschäftigungsverhältnis steht (Beschäftigungslosigkeit),

2.  sich bemüht, die eigene Beschäftigungslosigkeit zu beenden (Eigenbemühungen), und

3.  den Vermittlungsbemühungen der Agentur für Arbeit zur Verfügung steht (Verfügbarkeit).

 

Die Arbeitslosmeldung im Sinne von § 137 Abs. 1 Nr. 2 SGB III ist in § 141 SGB III näher ausgeformt. Nach § 141 Abs. 1 Satz 1 SGB III hat sich die oder der Arbeitslose persönlich bei der zuständigen Agentur für Arbeit arbeitslos zu melden. Nach § 141 Abs. 1 Satz 2 SGB III ist eine Meldung auch zulässig, wenn die Arbeitslosigkeit noch nicht eingetreten, der Eintritt der Arbeitslosigkeit aber innerhalb der nächsten drei Monate zu erwarten ist. Nach § 141 Abs. 2 SGB III erlischt die Wirkung der Meldung

1.  bei einer mehr als sechswöchigen Unterbrechung der Arbeitslosigkeit,

2.  mit der Aufnahme der Beschäftigung, selbständigen Tätigkeit, Tätigkeit als mithelfende Familienangehörige oder als mithelfender Familienangehöriger, wenn die oder der Arbeitslose diese der Agentur für Arbeit nicht unverzüglich mitgeteilt hat.

Schließlich wirkt nach § 141 Abs. 3 SGB III eine persönliche Meldung, wenn die zuständige Agentur für Arbeit am ersten Tag der Beschäftigungslosigkeit der oder des Arbeitslosen nicht dienstbereit ist, an dem nächsten Tag, an dem die Agentur für Arbeit dienstbereit ist, auf den Tag zurück, an dem die Agentur für Arbeit nicht dienstbereit war.

 

2. Gemessen hieran hat die Beklagte der Klägerin zutreffend Arbeitslosengeld erst ab dem 3. Januar 2019 bewilligt.

 

a) Die Klägerin hat an diesem Tag alle Voraussetzungen für einen Anspruch auf Arbeitslosengeld bei Arbeitslosigkeit erfüllt. Sie hatte sich am 3. Januar 2019 bei der Agentur für Arbeit persönlich arbeitssuchend und arbeitsfähig gemeldet und hatte die Anwartschaftszeit erfüllt. Sie war arbeitslos im Sinne von § 137 Abs. 1 Nr. 1, § 138 SGB III; insbesondere war sie verfügbar im Sinne von § 138 Abs. 1 Nr. 3 SGB III. Ab dem 1. März 2019 stand sie wieder in einem Beschäftigungsverhältnis. Entsprechend hat die Beklagte ihr zutreffend Arbeitslosengeld für 360 Kalendertage in Höhe von täglich 22,05 EUR und die Auszahlung vom 3. Januar 2019 bis zum 28. Februar 2019 bewilligt.

 

b) Ein Anspruch bereits ab dem 28. Dezember 2018 ergibt sich nicht aus der telefonischen Arbeitslosmeldung der Klägerin am 28. Dezember 2018. Denn die Arbeitslosmeldung hat nach dem klaren Wortlaut der Vorschrift persönlich durch den Arbeitslosen zu erfolgen. Allein für leistungsgeminderte Personen genügt die persönliche Arbeitslosmeldung durch einen Vertreter (vgl. § 145 Abs. 1 Satz 3 SGB III). Eine schriftliche oder fernmündliche Arbeitslosmeldung genügt in keinem Fall (vgl. Sächs. LSG, Beschluss vom 14. August 2014 – L 3 AL 1/13 B PKH – juris Rdnr. 20; Öndül, in: Schlegel/Voelzke, jurisPK-SGB III [2. Aufl., 2020], § 141 SGB III Rdnr. 29).

 

c) Auch wirkt die persönliche Arbeitslosmeldung der Klägerin vom 3. Januar 2019 nicht auf den 28. Dezember 2019 zurück. Denn zum einen liegen die tatbestandlichen Voraussetzungen nicht vor (1). Zum anderen sind weder die Voraussetzungen für eine erweiternde Auslegung (2) noch für eine analoge Anwendung von § 141 Abs. 3 SGB III gegeben (3).

 

(1) Der Gesetzeswortlaut von § 141 Abs. 3 SGB III stellt für die Rückwirkung einer Arbeitslosmeldung auf den ersten Tag "der Beschäftigungslosigkeit" ab. Die Beschäftigungslosigkeit ist in § 138 Abs. 1 Nr. 1 SGB III definiert. Sie ist ihrerseits aber eines von drei Tatbestandselementen der Legaldefinition der Arbeitslosigkeit im Sinne von § 138 Abs. 1 SGB III. Auf Grund dieses Stufensystems können die beiden gesetzlich definierten Begriffe "Beschäftigungslosigkeit" und "Arbeitslosigkeit" vom Wortlaut und von der Gesetzessystematik her nicht gleichgesetzt werden.

 

Zwar wird in § 141 Abs. 3 SGB III kumulativ das Vorliegen von "Arbeitslosigkeit" und "Beschäftigungslosigkeit" vorausgesetzt. Im Normtext wird auf die oder den Arbeitslosen abgestellt. Nach der Legaldefinition in § 16 Abs. 1 SGB III sind "Arbeitslose":

"Personen, die wie beim Anspruch auf Arbeitslosengeld

1.  vorübergehend nicht in einem Beschäftigungsverhältnis stehen,

2.  eine versicherungspflichtige Beschäftigung suchen und dabei den Vermittlungsbemühungen der Agentur für Arbeit zur Verfügung stehen und

3.  sich bei der Agentur für Arbeit arbeitslos gemeldet haben."

Diese Tatbestandsmerkmale entsprechen denen in § 138 SGB III zum Begriff "Arbeitslosigkeit". Durch den in der Definition enthaltenen Hinweis auf das Arbeitslosengeld soll eine Übereinstimmung der Einzelmerkmale und eine Anwendung der entsprechenden Regelungen gewährleistet werden (vgl. BT-Drs. 13/4941, S. 156 [Zu § 16]). Gleichwohl sind die Begriffe der Arbeitslosen und der Arbeitslosigkeit auf der einen Seite und der Begriff der Beschäftigungslosigkeit auf der anderen Seite nicht deckungsgleich. Denn die Beschäftigungslosigkeit ist zwar eine notwendige Voraussetzung für die Arbeitslosigkeit im Sinne von § 138 Abs. 1 SGB III. Trotz einer bestehenden Beschäftigungslosigkeit (vgl. § 138 Abs. 1 Nr. 1 SGB III; § 16 Abs. 1 Nr. 1 SGB III) kann aber, wie der Fall der Klägerin zeigt, die Arbeitslosigkeit nicht gegeben sein, weil eine weitere Voraussetzung, zum Beispiel die Verfügbarkeit (vgl. § 138 Abs. 1 Nr. 3 SGB III; § 16 Abs. 1 Nr. 2 Halbsatz 2 SGB III), nicht vorliegt. Der Zeitpunkt, zu dem eine Arbeitnehmerin oder ein Arbeitnehmer beschäftigungslos ist, und der Zeitpunkt, zu dem diese Person die Voraussetzungen des Arbeitslosen- oder des Arbeitslosigkeitsbegriffes erfüllt, können mithin auseinanderfallen.

 

(2) Die Voraussetzungen für eine erweiternde Auslegung von § 141 Abs. 3 SGB III sind nicht gegeben.

 

Maßgebend für die Auslegung von Gesetzen ist nach der ständigen Rechtsprechung des Bundesverfassungsgerichtes der in der Norm zum Ausdruck kommende objektivierte
Wille des Gesetzgebers, wie er sich aus dem Wortlaut der Vorschrift und dem Sinnzusammenhang ergibt, in den sie hineingestellt ist. Der Erfassung des objektiven Willens des Gesetzgebers dienen die anerkannten Methoden der Gesetzesauslegung aus dem Wortlaut der Norm, der Systematik, ihrem Sinn und Zweck sowie aus den Gesetzesmaterialien und der Entstehungsgeschichte, die einander nicht ausschließen, sondern sich gegenseitig ergänzen. Unter ihnen hat keine einen unbedingten Vorrang vor einer anderen (vgl. z. B. BVerfG, Urteil vom 19. März 2013 – 2 BvR 2628/10, 2 BvR 2883/10, 2 BvR 2155/11BVerfGE 133, 168 ff. = NJW 2013, 1058 = juris Rdnr. 66; vgl. z. B. auch BSG, Urteil vom 30. September 2008 – B 4 AS 28/07 RSozR 4-4200 § 7 Nr. 9 = juris Rdnr. 18; vgl. Sächs. LSG, Urteil vom 21. April 2016 – L 3 AS 723/14= juris Rndr. 23, m. w. N.).

 

Ausgangspunkt der Auslegung ist der Wortlaut der Vorschrift (vgl. BVerfG, Urteil vom 19. März 2013, a. a. O.; Sächs. LSG, Urteil vom 21. April 2016, a. a. O., Rndr. 24).

 

(2.1) Der Gesetzgeber hat, wie ausgeführt wurde, in § 141 Abs. 3 SGB III zwischen den Begriffen "Arbeitslosigkeit", genauer "Arbeitslose", und "Beschäftigungslosigkeit" unterschieden. Die Beschäftigungslosigkeit ist auch noch in anderen Regelungen zum Arbeitslosengeld von Bedeutung, so zum Beispiel neben § 138 Abs. 1 Nr. 1 und 2 und Abs. 3 Satz 1 SGB III in § 142 Abs. 2 Satz 1 Nr. 2 SGB III, § 148 Abs. 1 Nr. 6 und § 428 Abs. 1 Satz 1 SGB III. Demgegenüber werden die Begriffe "Arbeitslosigkeit" oder "Arbeitslose" nicht nur im Arbeitslosengeldrecht, sondern auch in anderen Teilen Arbeitsförderungsrechts verwandt.

 

(2.2) Zudem hat der Gesetzgeber, wie sich aus der Gesetzeshistorie und den Gesetzesmaterialien ergibt, in der Rückwirkungsregelung in § 141 Abs. 3 SGB III sowie den Vorgängerregelungen bewusst zwischen den Begriffen "Arbeitslosigkeit" und "Beschäftigungslosigkeit" getrennt.

 

Das Gesetz über Arbeitsvermittlung und Arbeitslosenversicherung (AVAVG) hatte keine Entsprechung zu der Regelung in § 141 Abs. 3 SGB III. Allerdings entscheid das Bundessozialgericht im Urteil vom 24. Oktober 1963, dass die Rahmenfrist des § 85 Abs. 2 AVAVG von einem Sonntag aus zu berechnen sei, wenn die Arbeitslosmeldung wegen des Sonntags nicht hatte erfolgen können, sofern die Meldung am nächsten Wochentag bewirkt werde. Denn die fehlende Dienstbereitschaft einer Dienststelle der beklagten Bundesanstalt für Arbeit, mithin einem in der Organisation der Arbeitsverwaltung begründeten Umstand, dürfe dem Kläger nicht zum Nachteil gereichen (vgl. BSG, Urteil vom 24. Oktober 1963 – 7 RAr 78/62BSGE 20, 46 = SozR Nr. 7 zu § 85 AVAVG = juris Rdnr. 9).

 

Der Gesetzgeber hat diese Erwägung zunächst in § 90 Abs. 2 des Entwurfes eines Arbeitsförderungsgesetzes (AFG) aufgegriffen und dann in § 105 AFG (vgl. Gesetz vom 25. Juni 1969 [BGBl. I S. 582]) geregelt:

"Kann der Arbeitslose sich nicht am ersten Tag der Arbeitslosigkeit arbeitslos melden und Arbeitslosengeld beantragen, weil das zuständige Arbeitsamt an diesem Tage nicht dienstbereit ist, so gelten diese Voraussetzungen als am ersten Tag der Arbeitslosigkeit erfüllt, wenn der Arbeitslose an dem nächsten Tag, an dem das Arbeitsamt dienstbereit ist, sich arbeitslos meldet und Arbeitslosengeld beantragt."

Nach der Gesetzesbegründung sollte damit eine Lücke des geltenden Rechts geschlossen werden. Mit dieser Regelung solle vermieden werden, dass sich aus der Pflicht des Arbeitslosen, sich persönlich beim zuständigen Arbeitsamt arbeitslos zu melden, Nachteile für ihn ergeben, weil er sich wegen fehlender Dienstbereitschaft des Arbeitsamtes nicht am ersten Tage der Arbeitslosigkeit arbeitslos melden und Arbeitslosengeld beantragen kann (vgl. BT-Drs. V/2291, S. 79 [Zu § 90, Absatz 2]). Die Rückwirkungsregelung galt in dieser Fassung vom 1. Juli 1969 bis zum 31. Dezember 1975 und danach – textlich unverändert – als § 105 Satz 2 AFG vom 1. Januar 1976 bis zum 31. Dezember 1997 (vgl. Artikel II § 3 Nr. 5 des Gesetzes vom 11. Dezember 1975 [BGBl. I S. 3015]).

 

Mit dem Übergang vom Arbeitsförderungsgesetz zum Sozialgesetzbuch Drittes Buch – Arbeitsförderung – (SGB III) zum 1. Januar 1998 wurde die Rückwirkungsregelung in § 122 Abs. 3 SGB III (Persönliche Arbeitslosmeldung) überführt und erhielt folgende sprachlich modifizierte Fassung (vgl. Artikel 1 des Gesetzes vom 24. März 1997 [BGBl. I S. 594]):

"Ist das zuständige Arbeitsamt an einem Tag, an dem der Arbeitslose sich persönlich arbeitslos melden will, nicht dienstbereit, so wirkt eine persönliche Meldung an dem nächsten Tag, an dem das Arbeitsamt dienstbereit ist, auf den Tag zurück, an dem das Arbeitsamt nicht dienstbereit war."

In der Gesetzesbegründung ist ausgeführt, dass die Vorschrift über die persönliche
Arbeitslosmeldung ihrem Grundgedanken nach dem geltenden Recht (§ 105 AFG) entspreche. Wie nach bisherigem Recht wirke die Meldung zurück, wenn sie allein wegen der mangelnden Dienstbereitschaft des Arbeitsamtes nicht frühestmöglich habe erfolgen können (vgl. BT-Drs. 13/4941, S. 176 [Zu § 122 – Persönliche Arbeitslosmeldung]).

 

Während der Gesetzgeber bislang auf den "ersten Tag der Arbeitslosigkeit" abgestellt hatte, änderte er zum 1. August 1999 den Bezugspunkt dahingehend, dass es nunmehr auf den "ersten Tag der Beschäftigungslosigkeit" ankam. § 122 Abs. 3 SGB III hatte nun folgenden Wortlaut (vgl. Artikel 1 Nr. 12 Buchst. b des Gesetzes vom 21. Juli 1999 [BGBl. I S. 1648]):

"Ist das zuständige Arbeitsamt am ersten Tag der Beschäftigungslosigkeit des Arbeitslosen nicht dienstbereit, so wirkt eine persönliche Meldung an dem nächsten Tag, an dem das Arbeitsamt dienstbereit ist, auf den Tag zurück, an dem das Arbeitsamt nicht dienstbereit war."

Als Grund für diese Änderung gab er an, dass die geltende Regelung zu erheblichem Prüfaufwand bei den Arbeitsämtern führe. Eine Rückwirkung der Arbeitslosmeldung solle deshalb nur dann gelten, wenn der Arbeitslose die persönliche Arbeitslosmeldung am
ersten Tag seiner Beschäftigungslosigkeit nicht habe vornehmen können, weil das zuständige Arbeitsamt an diesem Tag nicht dienstbereit gewesen sei (vgl. BT-Drs. 14/873, S. 13 f. [Zu Nummer 12 <§ 122> – Zu Buchstabe b]).

 

Seitdem ist die Rückwirkungsregelung inhaltlich unverändert geblieben. Zum 1. März 2004 wurde lediglich die Ämterbezeichnung von "Arbeitsamt" hin zu "Agentur für Arbeit" geändert (vgl. Artikel 1 Nr. 07 des Gesetzes vom 23. April 2004 [BGBl. I S. 602]; vgl. hierzu BT-Drs. 15/2672, S. 10 – Beschlussempfehlung und Bericht des Ausschusses für Wirtschaft und Arbeit [9. Ausschuss], Zu den Nummern 06 und 07 [§§ 86, 122]). Im Zuge der umfangreicheren Neugliederungen und Neuregelungen im SGB III zum 1. April 2012 fand die Vorschrift über die persönliche Arbeitslosmeldung Aufnahme in § 141 Abs. 3 SGB III (vgl. Artikel 2 Nr. 18 des Gesetzes vom 20. Dezember 2011 [BGBl. I S. 2854]). Die aktuell geltende Rückwirkungsregelung in § 141 Abs. 3 SGB III wurde zur sprachlichen Gleichbehandlung von Frauen und Männern angepasst (vgl. BT-Drs. 17/6277, S. 104 [Zu den §§ 136 bis 143 <Anspruch auf Arbeitslosengeld bis Rahmenfrist>]).

 

Zum 1. Januar 2022 wird § 141 Abs. 3 SGB III dahingehend geändert werden, dass die Arbeitslosmeldung nicht mehr persönlich (zum Begriff der persönlichen Arbeitslosmeldung: Sächs. LSG, Beschluss vom 14. August 2014 – L 3 AL 1/13 B PKH – juris Rdnr. 20) erfolgen muss (vgl. Artikel 2 Nr. 7 des Gesetzes vom 20. Mai 2020 [BGBl. I S. 1044]). Die Rückwirkungsregelung wird auf die elektronische Arbeitslosmeldung erstreckt (vgl. BT-Drs. 19/17740, S. 50 [Zu Nummer 7 – Zu Buchstabe d]). Der erste Tag der Beschäftigungslosigkeit als Bezugspunkt für die Rückwirkung bleibt aber weiterhin unverändert.

 

Auf Grund des bewussten Überganges vom "ersten Tag der Arbeitslosigkeit" hin zum "ersten Tag der Beschäftigungslosigkeit" in Artikel 1 Nr. 12 Buchst. b des Gesetzes vom 21. Juli 1999 (a. a. O.), die durch die Gesetzesbegründung dokumentiert ist (vgl. BT-Drs. 14/873, S. 13 f.), liegt kein Redaktionsversehen des Gesetzgebers vor.

 

(2.3) Dass der Begriff der "Beschäftigungslosigkeit" in § 141 Abs. 3 SGB III auf Grund
einer kontextabhängigen und funktionsdifferenten Auslegung (vgl. hierzu BSG, Urteil vom 12. September 2019 – B 11 AL 20/18 R – juris Rdnr. 16) anders auszulegen wäre als der in § 138 Abs. 1 Nr. 1 SGB III, lässt sich auf der Grundlage der Normenhistorie nicht begründen.

 

(3) Auch die Voraussetzungen für eine analoge Anwendung von § 141 Abs. 3 SGB III dahingehend, dass für die Anwendbarkeit dieser Regelung nicht nur der erste Tag der Beschäftigungslosigkeit, sondern auch der erste Tag nach dem Ende der Arbeitsunfähigkeit oder des Krankengeldbezuges maßgebend sein kann, sind nicht gegeben.

 

Eine Analogie setzt eine planwidrige Regelungslücke im Gesetz voraus (vgl. BSG, Urteil vom 28. Juni 2018 – B 5 R 25/17 R – juris Rdnr. 57, m. w. N.; Sächs. LSG, Urteil vom 24. Januar 2019 – L 3 AS 476/17 = juris Rndr. 60, m. w. N.). Ob eine planwidrige Regelungslücke innerhalb des Regelungszusammenhangs des Gesetzes im Sinne eines Fehlens rechtlicher Regelungsinhalte dort, wo sie für bestimmte Sachverhalte erwartet werden, anzunehmen ist, bestimmt sich ausgehend von der gesetzlichen Regelung selbst, den ihr zugrunde liegenden Regelungsabsichten, den verfolgten Zwecken und Wertungen, auch gemessen am Maßstab der gesamten Rechtsordnung einschließlich verfassungsrechtlicher Wertungen (vgl. BSG, Urteil vom 23. Oktober 2018 – B 11 AL 20/17 R – SozR 4-6065 Art 61 Nr. 1 = juris jeweils Rdnr. 29, m. w. N.)

 

Vorliegend fehlt es an einer planwidrigen Regelungslücke.

 

(3.1) Die Rückwirkungsregelung ist eine Sonderreglung zu § 141 Abs. 1 Satz 1 SGB III. Die dort geregelte Arbeitslosmeldung dient vornehmlich dazu, die Agentur für Arbeit in die Lage zu versetzen, mit ihren Vermittlungsbemühungen zu beginnen, um die Arbeitslosigkeit und damit die Leistungspflicht möglichst rasch zu beenden. (vgl. BSG, Urteil vom 7. September.2000 – B 7 AL 2/00 RSozR 3-4300 § 122 Nr. 1 = juris Rdnr. 15, m. w. N.; Öndül, a. a. O., § 141 Rdnr. 19). Außerdem entsteht der Anspruch auf Arbeitslosengeld frühestens mit der Arbeitslosmeldung (vgl. § 137 Nr. 2 SGB III), sodass der Zeitpunkt, an dem der Anspruch auf Arbeitslosengeld entsteht, unter anderem für die Dauer des Anspruchs nach Maßgabe von § 147 SGB III von Bedeutung ist (vgl. Öndül, a. a. O., Rdnr. 18).

 

Die Rückwirkungsreglung in § 141 Abs. 3 SGB III wiederum bezweckt zu verhindern, dass dem Arbeitslosen aus einem Grund, den er nicht zu vertreten hat und der in die Sphäre der Bundesagentur für Arbeit fällt, kein Nachteil in Bezug auf den Beginn des Arbeitslosengeldanspruches entstehen soll.

 

Das Bundessozialgericht hat allerdings bereits im Urteil vom 3. März 1993 betont: "Der Regelungsumfang der Vorschrift, dh ihr Schutzbereich, erfaßt nach dem in ihrem Wortlaut und den Gesetzesmaterialien zum Ausdruck gekommenen Zweck somit nicht alle denkbaren Fälle, in denen sich ein Arbeitsloser aus von der BA zu vertretenden Umständen nicht zum frühestmöglichen Zeitpunkt arbeitslos melden kann sondern nur solche Fälle, in denen der Grund dafür die fehlende Dienstbereitschaft des zuständigen ArbA ist" (vgl. BSG, Urteil vom 3. März 1993 –11 RAr 101/91SozR 3-4100 § 105 Nr. 1 = juris Rdnr. 17, m. w. N.). Darüber hinaus hat das Bundessozialgericht in dieser Entscheidung erwogen, ob es genügen könnte, "wenn die fehlende Dienstbereitschaft zwar nicht objektiv, wohl aber in der Vorstellung des Arbeitslosen besteht, und die BA diese falsche Vorstellung zu verantworten hat (zB dann, wenn der Arbeitslose von der BA eine falsche Auskunft über die Dienstbereitschaft des ArbA erhalten hat oder er wegen von der BA zu vertretende Organisationsmängel über das Vorhandensein der Dienstbereitschaft irrt und sich deshalb nicht arbeitslos meldete)." (in diesem Sinn: Baldschun, in: Gagel, SGB II/SGB III [81. Erg. Lfg, März 2021], § 141 SGB III Rdnr. 62a; vgl. auch Öndül, a. a. O., Rdnr. 54; dagegen: Lauer, in: Heinz/Schmidt-De Caluwe/Scholz, Sozialgesetzbuch III – Arbeitsförderung [7. Aufl., 2021], § 141 Rdnr. 21). Es hat diese Frage aber ausdrücklich offengelassen (vgl. BSG, Urteil vom 3. März 1993, a. a. O.).

 

(3.2) Aus dieser Entscheidung wird abgeleitet, dass die Sonderregelung des § 141 Abs. 3 SGB III eng auszulegen sei (vgl. SG Berlin, Urteil vom 21. Januar 2020 – S 120 AL 207/18 – juris Rdnr. 18; Brand, SGB III [8. Aufl., 2018], § § 141 Rdnr. 13; Lauer, a. a. O., Rdnr. 20; Öndül, a. a. O., Rdnr. 54, 54.1; vgl. auch Baldschun, a. a. O., Rdnr. 58 [keine ausdehnende Auslegung]). Dagegen wird eingewandt, dass sich die Ausführungen im Urteil des Bundessozialgerichtes vom 3. März 1993 nur auf das Tatbestandsmerkmal der fehlenden Dienstbereitschaft der Agentur für Arbeit bezögen (vgl. Bienert, info also 2020, 176 [177]; vgl. auch SG Nordhausen, Urteil vom 20. April 2021 – S 18 AL 615/19 – juris Rdnr. 34).

 

In diesem Zusammenhang lohnt ein Blick in das Urteil des Bundessozialgerichtes vom 24. Oktober 1963. Dort hat das Bundessozialgericht entschieden, dass die fehlende Dienstbereitschaft einer Dienststelle der beklagten Bundesanstalt für Arbeit dem Kläger nicht zum Nachteil gereichen dürfe (vgl. BSG, Urteil vom 24. Oktober 1963, a. a. O.). Darüber hinaus hat das Bundessozialgericht erwogen aber letztlich dahinstehen lassen, "ob unter besonders schwierigen Verhältnissen eine verspätete Arbeitslosmeldung für die Bemessung der Rahmenfrist unschädlich ist, so z. B. wenn jemand bei einem Verkehrsunfall zur Hilfeleistung oder zur Vermeidung von Fahrerflucht (§§ 142, 330c des Strafgesetzbuches) an Ort und Stelle bleiben und deshalb die beabsichtigte Arbeitslosmeldung versäumen mußte oder wenn er infolge schwerer Erkrankung bezw. plötzlichen Todesfalles in seiner Familie an dem Tage überhaupt keine Möglichkeit zu der Meldung hatte" (vgl. BSG, Urteil vom 24. Oktober 1963, a. a. O., Rdnr. 10).

 

Der Gesetzgeber hat, wie ausgeführt wurde, diese Entscheidung zum Anlass genommen, zum 1. Juli 1969 die Rückwirkungsreglung in § 105 AFG zu schaffen. Er hat aber weder zu diesem Zeitpunkt noch anlässlich der späteren Gesetzesänderungen die Erwägungen des Bundessozialgerichtes aufgegriffen, dass nicht nur Umstände, die in der Sphäre der Bundesagentur für Arbeit liegen, sondern auch in der Sphäre des Arbeitslosen liegende Umstände allgemein oder in bestimmten Fällen zu einer Rückwirkung einer verspäteten Arbeitslosmeldung führen können.

 

(3.3) Soweit die Auffassung vertreten wird, "dass der Wechsel vom Terminus 'Arbeitslosigkeit' auf 'Beschäftigungslosigkeit' eher zufällig und ohne echten Grund erfolgt ist" (vgl. Bienert, info also 2020, 176 [177]; vgl. auch SG Nordhausen, Urteil vom 20. April 2021, a. a. O., Rdnr. 32), ist dies unzutreffend. Vielmehr liegt der Gesetzesänderung, wie sich in der Gesetzesbegründung nachlesen lässt, die Zielsetzung zugrunde, den "erheblichen Prüfaufwand bei den Arbeitsämtern" zu verringern (vgl. vgl. BT-Drs. 14/873, S. 13 f.).

 

(3.4) Die vom Gesetzgeber vertretene Auffassung, wonach die vormalige Regelung mit dem Bezugspunkt der Arbeitslosmeldung am ersten Tag der Arbeitslosigkeit zu einem erheblichen Prüfaufwand bei den Arbeitsämtern führe, mag als bloße Behauptung ohne Beleg angesehen werden. Die Auffassung, die zu der Gesetzesänderung geführt hat, mag auch als nicht sinnvoll oder nicht sachgerecht empfunden werden.

 

Hierbei ist aber zu beachten, dass in der Rechtsprechung des Bundesverfassungsgerichtes und des Europäischen Gerichtshofes für Menschenrechte sowie in der höchstrichterlichen Rechtsprechung geklärt ist, dass dem Gesetzgeber bei der Ausgestaltung des Sozialstaatsprinzips aus Artikel 20 Abs. 1 des Grundgesetzes (GG) und der Ausgestaltung von Sozialleistungen ein Gestaltungsspielraum zusteht (vgl. die umfangreichen Nachweise bei Sächs. LSG, Urteil vom 24. Mai 2012 – L 3 AS 208/11 – juris Rdnr. 40 und Sächs. LSG, Urteil vom 15. Januar 2015 – L 3 AS 30/13 – juris Rdnr. 35; vgl. auch Sächs. LSG, Urteil vom 21. September 2017 – L 3 AS 211/15 – juris Rdnr. 39, m. w. N.; vgl. auch Sächs. LSG, Urteil vom 24. Januar 2019 – L 3 AS 476/17 – juris Rdnr. 83). Es ist dem Gesetzgeber vorbehalten zu entscheiden, in welcher Weise er die Ausgestaltung von Sozialleistungen regelt, und diejenigen Sachverhalte auszuwählen, an denen er dieselbe Rechtsfolge knüpft. Willkürlich handelt er nicht bereits dann, wenn er unter mehreren Lösungen nicht die zweckmäßigste, vernünftigste oder gerechteste Lösung wählt.

 

Aus diesem Grund ist es dem Gesetzgeber nicht verwehrt, einen Anspruch auf Arbeitslosengeld jedenfalls dann nicht zuzuerkennen, wenn die verspätete Arbeitslosmeldung nicht der Sphäre der Agentur für Arbeit zuzurechnen ist, und der "Ausfall" des Arbeitslosengeldanspruches nur einen ausgesprochen kurzen Zeitraum umfasst.

 

(3.5) Eine analoge Anwendung von § 141 Abs. 3 SGB III ist schließlich auch nicht aus verfassungsrechtlichen Gründen geboten.

 

Der allgemeine Gleichheitssatz des Artikel 3 Abs. 1 GG gebietet, wesentlich Gleiches gleich und wesentlich Ungleiches ungleich zu behandeln (ständige Rspr., vgl. z. B. BVerfG, Urteil vom 18. Juli 2018 – 1 BvR 1675/16, 1 BvR 745/17, 1 BvR 836/17, 1 BvR 981/17 [Rundfunkbeitrag] – BVerfGE 149, 222 ff. = NJW 2018, 3223 ff. = juris Rdnr. 64). Jedoch muss jede gesetzliche Regelung notwendigerweise verallgemeinern. Bei der Ordnung von Massenerscheinungen ist der Gesetzgeber berechtigt, die Vielzahl der Einzelfälle in dem Gesamtbild zu erfassen, das nach den ihm vorliegenden Erfahrungen die regelungsbedürftigen Sachverhalte zutreffend wiedergibt. Auf dieser Grundlage darf er generalisierende, typisierende und pauschalierende Regelungen treffen, ohne wegen der damit unvermeidlich verbundenen Härten gegen den allgemeinen Gleichheitssatz zu verstoßen (vgl. BVerfG, Beschluss vom 11. November 1998 – 2 BvL 10/95 [Aufwandsentschädigung Ost] – BVerfGE 99, 280 ff. = NJW 1999, 1457 ff. = juris Rdnr. 47 m. w. N.). Der Gesetzgeber ist bei der Ausgestaltung sozialversicherungsrechtlicher Systeme von Verfassungs wegen nicht gehalten, Geldleistungen der Höhe nach in voller Äquivalenz zu den Beiträgen festzusetzen. Die individuellen Beiträge kommen angesichts der für die Arbeitslosenversicherung typischen kurzen Anwartschaftszeiten, des extrem kurzen Bemessungszeitraums und der üblicherweise kurzen Leistungsbezugszeit als vorrangiger Maßstab nicht in Betracht. Die Gesamtleistung an Arbeitslosengeld steht im Einzelfall typischerweise nicht in einer Beziehung zur jeweiligen Beitragsleistung, was unter anderem Folge der gleichmäßigen Beitragspflicht aller Arbeitnehmer ohne Berücksichtigung ihres individuellen Arbeitslosenrisikos ist (vgl. BVerfG, Beschluss vom 3. April 1979 – 1 BvL 30/76BVerfGE 51, 115 ff. = SozR 4100 § 112 Nr. 10 = NJW 1979, 1703 f. = juris Rdnr. 37). Ein Verstoß gegen Artikel 3 Abs. 1 GG liegt jedoch dann vor, wenn für Äquivalenzabweichungen bei Versichertengruppen mit gleicher Beitragsleistung ein hinreichender sachlicher Grund nicht ersichtlich sei (vgl. BVerfG, Beschluss vom 11. Januar 1995 – 1 BvR 892/88 [Weihnachtsgeld als Lohnersatzleistung] – BVerfGE 92, 53 ff. = SozR 3-2200 § 385 Nr. 6 = SGb 1995, 547 ff. = juris Rdnr. 57; vgl. hierzu auch Sächs. LSG, Urteil vom 11. Juni 2020 – L 3 AL 120/18 – Breithaupt 2021, 75 ff. = juris Rdnr. 34).

 

Danach bestehen keine verfassungsrechtlichen Bedenken. Der Gesetzgeber konnte mit dem Ziel der Vereinfachung und Entlastung der Verwaltung auf Grund der geringfügigen tatsächlichen Auswirkungen auf den Leistungsanspruch und der Möglichkeiten der früheren Arbeitslosmeldung die Sonderregelung in § 141 Abs. 1 SGB III auf den ersten Tag der Beschäftigungslosigkeit beschränken. § 141 Abs. 1 SGB III führt auch zu keiner unterschiedlichen Behandlung von arbeitsunfähigen und arbeitsfähigen Versicherten.

 

Allein hinsichtlich des Falles, dass am ersten Tag der Beschäftigungslosigkeit die zuständige Agentur für Arbeit nicht dienstbereit ist, hat der Gesetzgeber in § 141 Abs. 1 SGB III für beide Versichertengruppen eine Sonderregelung getroffen. Denn dieser in der Sphäre der Bundesagentur für Arbeit liegende Umstand soll nicht zu Lasten der oder des Arbeitslosen gehen. Aber auch in Bezug auf Umstände, die in der Sphäre der oder des Arbeitslosen liegen, hat der Gesetzgeber Vorkehrungen getroffen, um bestimmte Härten zu vermeiden oder zumindest abzumildern. So ist nach § 141 Abs. 1 Satz 2 SGB III eine persönliche Arbeitslosmeldung auch zulässig, wenn die Arbeitslosigkeit noch nicht eingetreten, der Eintritt der Arbeitslosigkeit aber innerhalb der nächsten drei Monate zu erwarten ist. Wenn sich also abzeichnet, dass die Zeit der Arbeitsunfähigkeit zu Ende gehen und damit die objektive Verfügbarkeit wiederhergestellt sein wird, kann die persönliche Arbeitslosmeldung bereits vor dem Ende der Arbeitsunfähigkeitsphase erfolgen. Außerdem kann gemäß § 145 Abs. 1 Satz 3 SGB III die Meldung, wenn die leistungsgeminderte Person sich wegen gesundheitlicher Einschränkungen nicht persönlich arbeitslos melden kann, durch eine Vertreterin oder einen Vertreter erfolgen. Im Übrigen hat der Gesetzgeber keinen voraussetzungslosen Anspruch auf Arbeitslosigkeit geschaffen. So muss die Anwartschaftszeit erfüllt sein (vgl. § 137 Abs. 1 Nr. 3 SGB III) oder die objektive Verfügbarkeit der oder des Arbeitslosen muss gegeben sei (vgl. § 137 Abs. 1 Nr. 3 SGB III). Dies sind Anspruchsvoraussetzungen, deren Erfüllung in der Sphäre der oder des Arbeitslosen liegen.

 

Der Grund dafür, dass die Klägerin nicht bereits ab dem 29. Dezember 2019 Arbeitslosengeld erhält, liegt nicht an der fehlenden Dienstbereitschaft der Agentur für Arbeit, sondern an der bereits seit dem 31. Juli 2018 bestehenden Beschäftigungslosigkeit der Klägerin und der nicht erfolgten persönlichen Arbeitslosmeldung innerhalb der Frist des § 141 Abs. 1 Satz 2 SGB III. Unterschiedslos erlischt bei allen Versichertengruppen auch im Falle einer rechtzeitigen persönlichen Arbeitslosmeldung die Wirkung der Meldung bei einer mehr als sechswöchigen Unterbrechung der Arbeitslosigkeit erlischt (vgl. § 141 Abs. 2 Nr. 1 SGB III).

 

d) Die Klägerin kann ihr Begehren auch nicht auf den sozialrechtlichen Herstellungsanspruch stützen.

 

(1) Nach ständiger Rechtsprechung des Bundessozialgerichtes setzt der sozialrechtliche Herstellungsanspruch voraus, dass der Sozialleistungsträger eine ihm gegenüber dem Anspruchsteller obliegende Haupt- oder Nebenpflicht aus dem jeweiligen Sozialrechtsverhältnis rechtswidrig nicht oder schlecht erfüllt hat. Dabei gehören zu den Nebenpflichten, deren Verletzung einen Herstellungsanspruch begründen kann, vor allem die Pflichten zur Beratung (vgl. § 14 des Sozialgesetzbuches Erstes Buch – Allgemeiner Teil – [SGB I]), Auskunft (vgl. § 15 SGB I), Belehrung und verständnisvollen Förderung des Versicherten. Diese Pflichten sind verletzt, wenn sie, obwohl ein konkreter Anlass zu den genannten Dienstleistungen bestanden hat, nicht oder nur unzureichend erfüllt worden sind. Der Leistungsträger ist unter Umständen jedoch auch zu einer Spontanberatung verpflichtet. Weiter ist erforderlich, dass zwischen der Pflichtverletzung des Sozialleistungsträgers und dem Nachteil des Betroffenen ein ursächlicher Zusammenhang besteht (sogenannter Schutzzweckzusammenhang). Erforderlich ist ein objektives Fehlverhalten der Verwaltung, das die Entscheidung des Versicherten über die Wahrnehmung seiner Rechte fehlgeleitet hat. Schließlich muss der durch das pflichtwidrige Verwaltungshandeln eingetretene Nachteil durch eine zulässige Amtshandlung beseitigt werden können (stRspr; BSG, Urteil vom 11. Dezember 2014 – B 11 AL 2/14 R - SozR 4-4300 § 124 Nr. 6 = juris Rdnr. 39; BSG, Urteil vom 20. Oktober 2010 – B 13 R 15/10 R – SozR 4-1500 § 193 Nr. 6 = juris, jeweils Rdnr. 39, m. w. N.; BSG, Urteil vom 18. Januar 2011 – B 4 AS 29/10 R – SozR 4-1200 § 14 Nr. 15 = juris, jeweils Rdnr. 12; m. w. N.; Sächs. LSG, Urteil vom 3. November 2016 – L 3 AL 163/14 – juris Rdnr. 54, m. w. N.).

 

(2) Vorliegend ist bereits nicht erkennbar, dass die Beklagte eine gegenüber der Klägerin bestehende Beratungspflicht verletzt hat oder falsche Angaben gemacht hat. Vielmehr war die zuständige Dienststelle A.... und die Dienststelle U....  bis zum 2. Januar 2019 nicht dienstbereit. Die Klägerin hat sich sodann auch am 3. Januar 2019 persönlich gemeldet. Da sich die Klägerin am 28. Dezember 2021 telefonisch erst nach 14.00 Uhr gemeldet hatte, hätte eine frühere persönliche Meldung nicht erfolgen können.

 

(3) Unabhängig von etwaigen Beratungsversäumnissen der Beklagten kann die fehlende frühere persönliche Arbeitslosmeldung auch nicht nachträglich im Wege des sozialrechtlichen Herstellungsanspruchs fingiert werden. Vorliegend müsste ein tatsächlicher Umstand, dem eine gestaltende Entscheidung des Arbeitslosen zugrunde liegt, ersetzt werden. Die Ersetzung von tatsächlichen Gegebenheiten oder Umständen aus der Sphäre des Arbeitslosen, welche zumeist die Beschäftigungslosigkeit, die Verfügbarkeit und die rechtzeitige Arbeitslosmeldung betreffen, ist aber regelmäßig ausgeschlossen (BSG, Urteil vom 27. Juni 2019 – B 11 AL 8/18 R – SozR 4-4300 § 144 Nr. 27 = juris Rdnr. 21; BSG, Urteil vom 11. März 2004 – B 13 RJ 16/03 RBSGE 92, 241-248 = SozR 4-2600 § 58 Nr. 3 = juris Rdnr. 27 m. w. N., Sächs. LSG, Urteil vom 3. November 2016 – L 3 AL 163/14 – juris Rdnr. 56; Öndül a. a. O., § 141 SGB III Rdnr. 25).

 

III. Die Kostenentscheidung beruht auf den §§ 183, 193 SGG.

 

IV. Die Revision wird wegen grundsätzlicher Bedeutung der Rechtssache (vgl. § 160 Abs. 2 Nr. 1 SGG) im Hinblick auf die divergierenden Rechtsauffassungen in der Rechtsprechung und im Schrifttum zur Auslegung von § 141 Abs. 3 SGB III zugelassen.

 

 

Rechtskraft
Aus
Saved