S 10 AS 99/21 ER

Land
Hessen
Sozialgericht
SG Kassel (HES)
Sachgebiet
Grundsicherung für Arbeitsuchende
1. Instanz
SG Kassel (HES)
Aktenzeichen
S 10 AS 99/21 ER
Datum
2. Instanz
Hessisches LSG
Aktenzeichen
L 6 AS 551/21 B ER
Datum
3. Instanz
-
Aktenzeichen
-
Datum
-
Kategorie
Beschluss

Der Antrag auf Erlass einer einstweiligen Anordnung wird abgelehnt

Der Antragsgegner hat den Antragstellerinnen die Hälfte ihrer notwendigen außergerichtlichen Kosten zu erstatten.


Gründe
I.

Die Antragstellerinnen begehren im Wege des einstweiligen Rechtsschutzes die Verpflichtung des Antragsgegners zur Erbringung von Leistungen nach dem Sozialgesetzbuch Zweites Buch (SGB II).

Die 1974 geborene Antragstellerin zu 1) steht mit ihren beiden Kindern, den Antragstellerinnen zu 2) (geb. 2006) und zu 3) (geb. 2011), im laufenden Bezug von Leistungen nach dem SGB II.

Der Antragsgegner gewährte den Antragstellerinnen zuletzt mit Bescheid vom 09.03.2021 in der Fassung der Änderungsbescheide vom 20.04.2021, 17.06.2021 und 01.09.2021 Leistungen für die Zeit vom 01.04.2021 bis 31.03.2022 (April 2021: 2.071,18 Euro, Mai 2021 bis Januar 2022: 1.096,96 Euro monatlich, Februar bis März 2022: 765,97 Euro monatlich).

Am 30.08.2021 teilte die Antragstellerin zu 1) dem Antragsgegner mit, dass sie am 28.08.2021 geheiratet habe.

Mit Schreiben vom 01.09.2021 wurde die Antragstellerin zu 1) unter Fristsetzung bis 17.09.2021 aufgefordert mitzuteilen, ob und wenn ja, seit wann sie mit ihrem Ehemann zusammenwohne und eine Meldebescheinigung vorzulegen. Des Weiteren wurde die Antragsteller aufgefordert folgende Unterlagen vorzulegen: beigefügte Anlagen WEP, EK, VM (vollständig von ihrem Ehemann auszufüllen), entsprechende Nachweise, gemäß gemachten Angaben in den Anlagen, Kontoauszüge aller vorhandener Konten ihres Ehemannes in Kopie (letzte 3 Monate). Habe sie bis zum genannten Termin nicht reagiert oder die erforderlichen Unterlagen nicht eingereicht, könnten die Geldleistungen ganz entzogen werden, bis sie die Mitwirkung nachhole (§§ 60, 66, 67 Sozialgesetzbuch Erstes Buch (SGB I)). Dies bedeute, dass sie keine Leistungen erhalten.

Mit einem weiteren Schreiben vom 01.09.2021 wurde die Antragstellerin zu 1) darauf hingewiesen, dass die Zahlungen vorsorglich ab 01.10.2021 eingestellt würden. Sie habe geheiratet. Ihr Leistungsanspruch sei daher neu zu berechnen bzw. die Anspruchsvoraussetzungen zu prüfen. 

Mit Schreiben vom 03.09.2021 teilte die Antragstellerin zu 1) dem Antragsgegner mit, dass ihr Ehemann eine Erwerbsminderungsrente in Höhe von 862,91 Euro monatlich beziehe und unterhaltspflichtig für zwei Kinder (Zwillinge) im Alter von acht Jahren und ein weiteres Kind im Alter von elf Jahren sei. Weiter sei bei ihm ein Grad der Behinderung von 60 festgestellt und er leide an einer kostenintensiven chronischen Schmerzerkrankung. 

Mit Schreiben vom 07.09.2021 wurde der Antragstellerin zu 1) mitgeteilt, dass für die Prüfung eines Leistungsanspruches weiterhin die mit Schreiben vom 01.09.2021 geforderten Unterlagen inklusive Rentenbescheid ihres Ehemannes und Nachweis Unterhaltspflicht benötigt würden.

Mit E-Mail vom 15.09.2021 wies der Ehemann der Antragstellerin zu 1) den Antragsgegner auf das Urteil des Sozialgerichts Gießen vom 23.02.2016 (S 22 AS 1015/14) hin und bat die Berechnung für seine Ehefrau zeitnah durchzuführen, da sie ihre Mitwirkungspflicht zu 100% erfüllt habe.

Mit Schreiben vom 17.09.2021 erklärte die Antragstellerin zu 1), dass die von ihr erforderlichen Unterlagen bereits vorliegen würde. Lediglich der Familienstand habe sich geändert. Ihr Ehemann berufe sich auf das Urteil des Sozialgerichts Gießen.

Mit Schreiben vom 07.10.2021 teilte der Antragsgegner der Antragstellerin zu 1) mit, dass die mit Schreiben vom 03.09.2021 und 21.09.2021 gemachten Angaben über Ihren Ehemann nicht ausreichen würden, um über ihren Leistungsanspruch entscheiden zu können. Sie haben mitgeteilt, dass Sie aufgrund des Urteils S 22 AS 1015/14 des Sozialgerichtes Gießen nicht verpflichtet sind, die von mir geforderten Unterlagen einzureichen. Bei dem Sachverhalt im Urteil handelt es sich jedoch nicht um eine Bedarfsgemeinschaft im Sinne des § 7 SGB II, sondern um zwei Personen die zusammengezogen waren und angegeben hatten, keine Bedarfsgemeinschaft zu bilden. Durch Ihre Heirat bilde sie jedoch gemäß § 7 Absatz 3 Nr. 3 a SGB II eine Bedarfsgemeinschaft. Im Rahmen der Hilfebedürftigkeitsprüfung sind nach § 9 Absatz 2 SGB II auch das Einkommen und das Vermögen des Partners zu berücksichtigen. Ihr Ehemann zähle zur Bedarfsgemeinschaft, auch wenn nach § 8 SGB II ein Ausschlussgrund wegen fehlender Erwerbsfähigkeit vorliege. Er wird bei der Leistungsberechnung berücksichtigt und es sei daher zu prüfen, über welche Einkommens- bzw. Vermögensverhältnisse er verfüge. Die Antragstellerin wurde unter Verweis auf § 60 SGB I gebeten, die übersandten Vordrucke auszufüllen und mit entsprechenden Nachweisen bis 15.10.2021 einzureichen. Das Schreiben enthielt einen Hinweis, dass die Leistungen ganz entzogen werden könnten, wenn sie bis zu dem genannten Termin nicht reagiere oder die Unterlagen nicht einreiche.

In der Akte des Antragsgegners findet sich ein Vermerk vom 15.10.2021, wonach der Ehemann der Antragstellerin zu 1) bei einem Telefonat, in dem er mitgeteilt habe, dass er die geforderten Unterlagen nicht einreichen möchte, erwähnt habe, dass er mit der Antragstellerin bisher eine Fernbeziehung geführt habe und mit der Heirat "Nägel mit Köpfen gemacht habe" und er somit zu ihr gezogen sei.

Weiter findet sich in der Verwaltungsakte ein Telefonvermerk vom 15.10.2021, wonach sich laut Mitteilung der Stadt A-Stadt der Ehemann der Antragstellerin zu 1) ab dem 01.02.2020 mit Erstwohnsitz unter der aktuellen Anschrift der Antragstellerin zu 1) 1 in A-Stadt angemeldet habe. Einen Zweitwohnsitz gebe es nicht. Vorher habe er in E-Stadt gewohnt.

Mit Schreiben vom 15.10.2021 wurde die Antragstellerin zu 1) unter Fristsetzung bis 01.11.2021 aufgefordert eine schriftliche Erklärung vorzulegen, wann ihr Ehemann zu ihr gezogen sei, sowie eine Meldebescheinigung, aus der das Einzugsdatum ersichtlich sei. Habe Sie bis zum genannten Termin nicht reagiert oder die erforderlichen Unterlagen nicht eingereicht, könnten die Geldleistungen ganz entzogen werden.

Mit dem am 20.10.2021 bei dem Sozialgericht Gießen eingegangen Antrag auf einstweiligen Rechtsschutz begehren die Antragstellerinnen weitere Leistung von dem Antragsgegner. Mit Beschluss vom 01.11.2021 hat das Sozialgericht Gießen seine örtliche Zuständigkeit verneint und den Rechtsstreit an das Sozialgericht Kassel verwiesen. 

Mit Schreiben vom 01.11.2021 teilte die Antragstellerin zu 1) dem Antragsgegner mit, dass sie inzwischen mit zwei Monatsmieten im Rückstand sei und der Vermieter ihr gestern telefonisch die Kündigung angedroht habe. Ihren Kindern und ihr drohe der Verlust der Wohnung. Der Antragsgegner wurde gebeten, bis zur Klärung die Miete und die Heizkosten zumindest anteilig zu übernehmen. Die wichtigsten Informationen (Einzugsdatum und Einkünfte des Ehemanns) lägen dem Antragsgegner vor.

Die Antragstellerin zu 1) ist der Ansicht, dass die vorläufige Zahlungseinstellung rechtswidrig sei, da sie ihre Mitwirkungspflichten erfüllt habe. Weitere Auskunftspflichten ihres Ehemannes würden nicht bestehen. 

Die Antragstellerinnen beantragen (sinngemäß),
den Antragsgegner im Wege der einstweiligen Anordnung zu verpflichten, ihnen Leistungen zum Lebensunterhalt nach dem SGB II in gesetzlicher Höhe zu gewähren.

Der Antragsgegner beantragt,
den Antrag abzulehnen.

Mit Schreiben vom 08.11.2021 hat das Gericht Zweifel an der Rechtmäßigkeit der vorläufigen Zahlungseinstellung. Weder in dem Schreiben vom 01.09.2021 noch in der Verwaltungsakte seien Anhaltspunkte für die nach § 40 Abs. 2 Nr. 4 SGB II i.V.m. § 331 Sozialgesetzbuch Drittes Buch (SGB III) erforderliche Ermessensausübung erkennbar.

Mit Schreiben vom 10.11.2021 (Eingang bei Gericht) erbat die Antragstellerin zu 1) eine Entscheidung des Gerichts. Der Antragsgegner habe die Leistungen für sie und ihre Kinder nun seit mehr als zwei Monaten komplett eingestellt und ihr Mann berufe sich auf die Gesetzeslage. Er kämpfe für das Recht und wolle sich der Willkür des Antragsgegners nicht beugen. Das Gericht werde gebeten aufgrund der vorgebrachten Tatsachen eine Entscheidung zu treffen. Ganz gleich ob es nun anordne, dass ihr Ehemann dazu verpflichtet sei, die Unterlagen einzureichen oder der Antragsgegner mit den gemachten Angaben nun eine Berechnung durchzuführen habe. So oder so seien sie und die Kinder auf das Geld des Antragsgegners oder ihres Ehemannes angewiesen und sie könnten diese fatale Situation nicht länger tragen.

Mit Schreiben vom 11.11.2021 hat der Antragsgegner mitgeteilt, dass die vorläufige Zahlungseinstellung aufgehoben worden sei und Leistungen für Oktober und November 2021 nachgezahlt würden.

Mit Schreiben vom 18.11.2021 (Eingang bei Gericht am 22.11.2021) erklärte die Antragstellerin zu 1), dass der Antragsgegner zwar die Leistungen für Oktober und November 2021 nachgezahlt habe, sie aber keine schriftliche Zusage bzw. Berechnung erhalten habe. Der Antragsgegner ließe sich somit die Möglichkeit offen, die Zahlungen ab Dezember 2021 erneut einzustellen. Der Antragsgegner habe wieder Unterlagen von ihrem Ehemann verlangt, obwohl dieser kein Leistungsbezieher sei. 

Am 22.11.2021 hat der Antragsgegner auf telefonische Nachfrage des Gerichts mitgeteilt, dass an die Antragstellerin zu 1) am 11.11.2021 eine weitere Aufforderung zur Mitwirkung unter Fristsetzung bis 27.11.2021 mit Hinweis auf einen möglichen Leistungsentzug ergangen sei.

Wegen der weiteren Einzelheiten und Unterlagen und wegen des weiteren Vorbringens der Beteiligten wird auf den Inhalt der Gerichtsakte und der beigezogenen Verwaltungsakte des Antragsgegners Bezug genommen, die Gegenstand der Entscheidung gewesen sind.


II.

Zunächst geht das Gericht aufgrund des Vortrags davon aus, dass die anwaltlich nicht vertretene Antragstellerin zu 1) vorliegend Leistungen für sich und ihre beiden Töchter begehrt. Das Gericht hat die beiden Töchter als Antragstellerinnen zu 2) und zu 3) insofern in das Rubrum aufgenommen.

Der Antrag ist jedoch unzulässig. Den Antragstellerinnen fehlt es an einem Rechtsschutzbedürfnis, d. h. an einem schutzwürdigen Interesse an der gerichtlichen Geltendmachung des begehrten Rechts im einstweiligen Rechtsschutz. Die Gerichte haben die Aufgabe, den Bürgern und der Verwaltung zu ihrem Recht zu verhelfen, soweit dies notwendig ist. Deshalb besteht der allgemeine Grundsatz, dass niemand die Gerichte unnütz oder gar unlauter in Anspruch nehmen (vgl. BSG, Urteil vom 05.10.2009 - B 13 R 79/08 R; LSG Berlin-Brandenburg, Urteil vom 26.03.2013 - L 19 AS 727/11) oder ein gerichtlich vorgesehenes Verfahren zur Verfolgung zweckwidriger und insoweit nicht schützenswerter Ziele ausnutzen darf (vgl. BGH, Beschluss vom 18.06.1970 - X ZB 2/70). Jede Rechtsverfolgung setzt deshalb ein Rechtsschutzbedürfnis voraus (vgl. Meyer-Ladewig/Keller/Leitherer/Schmidt, SGG, Vor § 51, Rn. 16 a m.w.N.). Unnütz und deshalb unzulässig ist ein Antrag auf Gewährung einstweiligen Rechtsschutzes dann, wenn ein sachliches Bedürfnis des Antragstellers hieran nicht besteht, weil das Verfahren ihm offensichtlich keinerlei rechtliche oder tatsächliche Vorteile bringt oder dieser an der Durchführung des Verfahrens erkennbar kein Interesse (mehr) hat.

Dies ist vorliegend gegeben. Der Antragsgegner hat mit Schreiben vom 11.11.2021 mitgeteilt, dass die vorläufige Zahlungseinstellung aufgehoben worden sei und Leistungen für Oktober und November 2021 nachgezahlt würden. Die Antragstellerin zu 1) hat die Auszahlung der Leistungen bestätigt. Gerichtlicher Hilfe bedürfen die Antragstellerinnen damit insoweit nicht mehr. 

Auch soweit die Antragstellerin zu 1) vorträgt, dass die Möglichkeit bestehe, dass der Antragsgegner die Leistungen ab Dezember 2021 einstellt, bedürfen die Antragstellerinnen im derzeitigen Stand des Verwaltungsverfahrens keines gerichtlichen Rechtsschutzes. Die Rechtsschutzgarantie gewährleistet einen Schutz gegen staatliche Eingriffe. Dies bedeutet, dass sich ein Bürger regelmäßig nicht gegen vorbereitendes Verwaltungshandeln wehren kann, dass seine Rechte (noch) nicht beeinträchtigt. Ein Sozialleistungsberechtigter kann daher grundsätzlich gerichtlich nicht bereits gegen eine Aufforderung zur Mitwirkung wehren kann, sondern muss erst einen ggf. darauf aufbauenden Bescheid abwarten, bevor er gerichtlichen (Eil-)Rechtsschutz in Anspruch nehmen kann (Landessozialgericht Sachsen-Anhalt, Beschluss vom 05.06.2015 – L 4 AS 242/15 B Er, juris).Gegen die Aufforderung zur Mitwirkung und den schriftlichen Hinweis mit Fristsetzung nach § 66 Abs. 3 SGB I sind Widerspruch und Anfechtungsklage nicht statthaft, da kein Verwaltungsakt gemäß § 31 SGB X vorliegt. Der Hinweis und die Fristsetzung dienen lediglich der Vorbereitung eines Verwaltungsaktes. Ein Bescheid, mit dem die Leistungen ab Dezember 2021 entzogen werden, liegt weder nach Aktenlage vor noch wurde dies von der Antragstellerin zu 1) vorgetragen. Sie hat lediglich vorgetragen, dass ihr Ehemann erneut zur Mitwirkung aufgefordert wurde. Die Antragstellerinne müssen erst eine Bekanntgabe einer Entscheidung über die Entziehung von Leistungen abwarten, um einstweiligen Rechtsschutz geltend machen zu können. Auch eine vorbeugende Klage auf Feststellung (§ 55 SGG), dass eine Mitwirkungspflicht nicht besteht, wäre unzulässig, weil keine Rechtsnachteile drohen, die durch eine spätere Anfechtung im Widerspruchs- und Klageverfahren nicht ausgeräumt werden könnten (LPK-SGB I/Peter Trenk-Hinterberger, 4. Aufl. 2020, SGB I § 66 Rn. 24, Landessozialgericht Sachsen-Anhalt, Beschluss vom 05.06.2015 – L 4 AS 242/15 B Er, juris).

Die Kostenentscheidung beruht auf einer entsprechenden Anwendung von § 193 Sozialgerichtsgesetz (SGG). Es entsprach dabei der Billigkeit, dass der Antragsgegner die den Antragstellerinnen entstandenen notwendigen außergerichtlichen Kosten des Verfahrens zur Hälfte zu tragen hat. Der Antragsgegner hat durch die vorläufige Einstellung der Leistungen Veranlassung für den Antrag auf einstweiligen Rechtsschutz gegeben. Das Rechtsschutzbedürfnis für den Antrag ist erst nach Rechtshängigkeit durch die mit Schreiben des Antragsgegners vom 11.11.2021 erklärte Abhilfe entfallen. Allerdings bestand für den Leistungszeitraum ab 01.12.2021 von vornherein kein Rechtsschutzbedürfnis, so dass es angemessen erscheint, dem Antragsgegner nur die Hälfte der Kostenlast aufzuerlegen.
 

Rechtskraft
Aus
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