L 8 AL 3398/19

Land
Baden-Württemberg
Sozialgericht
LSG Baden-Württemberg
Sachgebiet
Arbeitslosenversicherung
Abteilung
8.
1. Instanz
SG Freiburg (BWB)
Aktenzeichen
S 8 AL 2955/18
Datum
2. Instanz
LSG Baden-Württemberg
Aktenzeichen
L 8 AL 3398/19
Datum
3. Instanz
-
Aktenzeichen
-
Datum
-
Kategorie
Urteil

Die Berufung der Klägerin gegen den Gerichtsbescheid des Sozialgerichts Freiburg vom 26.08.2019 wird zurückgewiesen.

Außergerichtliche Kosten sind auch im Berufungsverfahren nicht zu erstatten.

Die Revision wird zugelassen.

 

Tatbestand

Zwischen den Beteiligten ist die Höhe von Arbeitslosengeld (Alg) im Streit.

Die 1964 geborene, verheiratete und kinderlose Klägerin wohnt in F und war zuletzt vom 01.03.2013 bis zum 12.04.2018 als Bäckereiverkäuferin in Deutschland beschäftigt, wobei sie an jedem Arbeitstag nach Deutschland fuhr und nach Arbeitsende jeweils noch am selben Tag wieder zu ihrem Wohnort in F zurückkehrte. Die Tätigkeit wurde aus gesundheitlichen Gründen ab 2017 nur noch in einem Umfang von 20 Arbeitsstunden pro Woche ausgeführt. Vom 04.10.2017 bis zum 12.04.2018 bezog die Klägerin Krankengeld.

Am 08.02.2018 meldete die Klägerin sich bei der Beklagten zum 13.04.2018 arbeitslos und beantragte die Gewährung von Alg für die Zeit nach der Beendigung ihres Krankengeldbezugs (Bl. 5 VA). Der Arbeitgeber teilte der Beklagten am 26.02.2018 mit, dass das Arbeitsverhältnis nicht gekündigt sei und eine Freistellung ohne Weiterzahlung des Arbeitsentgelts vorliege (Bl. 10 VA).

Der ärztliche Dienst der Beklagten vertrat am 16.03.2018 die Auffassung, dass die Klägerin vollschichtig leistungsfähig sei.

Mit Bescheid vom 19.04.2018 bewilligte die Beklagte Alg für den Zeitraum vom 13.04.2018 bis zum 12.07.2019 mit einem Leistungsbetrag von täglich 16,67 € für eine Anspruchsdauer von 450 Kalendertagen (Bl. 19 VA). Hierbei ging sie von einem täglichen Bemessungsentgelt von täglich 41,69 €, der Lohnsteuerklasse V der Klägerin und einem täglichen Leistungsentgelt von 27,78 € aus, wonach sich bei einem Prozentsatz von 60 % der tägliche Leistungssatz von 16,67 € ergebe. Hieraus ergab sich für die Klägerin ein monatlicher Zahlbetrag für April 2018 von 300,06 €, für den Zeitraum von Mai 2018 bis Juni 2019 von 500,10 € und für den Monat Juli 2019 ein Zahlbetrag von monatlich 200,04 €.

Die Klägerin legte am 30.04.2018 Widerspruch wegen der Höhe des Alg ein (Bl. 23 VA). Sie sei aufgrund ihres Wohnsitzes in F steuerpflichtig und habe gemäß dem Doppelbesteuerungsabkommen und dem Zusatzabkommens DBA Art. 13 Abs. 8 vom 01.01.2016 auch Leistungen aus der deutschen Sozialversicherung wie das Alg im Wohnsitzland zu versteuern. Deswegen dürfe zur Vermeidung einer unzulässigen Doppelbesteuerung bei der Berechnung des Alg kein Steuerabzug in Deutschland berücksichtigt werden. 

Mit Widerspruchsbescheid vom 07.05.2018 wies die Beklagte den Widerspruch zurück (Bl. 26 VA). § 149 Sozialgesetzbuch Drittes Buch (SGB III) bestimme, dass bei Arbeitslosen wie der Klägerin, bei denen kein Kind im Sinne des EStG zu berücksichtigen sei, das Alg 60 % des pauschalierten Nettoentgelts (Leistungsentgelt) betrage (allgemeiner Leistungssatz). Leistungsentgelt sei gemäß § 153 Abs. 1 SGB III das um pauschalierte Abzüge verminderte Bemessungsentgelt. Abzüge seien danach eine Sozialversicherungspauschale in Höhe von 21% des Bemessungsentgelts, die Lohnsteuer sowie der Solidaritätszuschlag. Die Feststellung der Lohnsteuer richte sich nach der Lohnsteuerklasse, die zu Beginn des Jahres, in dem der Anspruch entstanden sei, als Lohnsteuerabzugsmerkmal gebildet gewesen sei, § 153 Abs. 2 Satz 1 SGB III. Der Bemessungszeitraum umfasse gemäß § 150 SGB III die beim Ausscheiden des Arbeitslosen aus dem jeweiligen Beschäftigungsverhältnis abgerechneten Entgeltabrechnungszeiträume der versicherungspflichtigen Beschäftigungen im Bemessungsrahmen. Der Bemessungsrahmen umfasse ein Jahr; er ende mit dem letzten Tag des letzten Versicherungsverhältnisses vor der Entstehung des Anspruchs und umfasse daher bei der Klägerin den Zeitraum vom 13.04.2017 bis zum 12.04.2018. Der Bemessungsrahmen sei bei der Klägerin gemäß § 150 Abs. 3 Satz 1 Nr. 1 SGB III auf zwei Jahre zu erweitern, da der Bemessungszeitraum aufgrund des Krankengeldbezuges weniger als 150 Tage mit Anspruch auf Arbeitsentgelt enthalte, sodass der Bemessungsrahmen letztendlich bei der Klägerin den Zeitraum vom 13.04.2016 bis zum 12.04.2018 umfasse. Bemessungsentgelt sei gemäß § 151 Abs. 1 SGBIII das durchschnittlich auf den Tag entfallende beitragspflichtige Arbeitsentgelt, das der Arbeitslose im Bemessungszeitraum erzielt habe. Der Bemessungszeitraum umfasse die Entgeltabrechnungszeiträume vom 01.05.2016 bis 30.08.2016 und vom 29.05.2017 bis 03.10.2017. Im Bemessungszeitraum sei an 250 Tagen ein beitragspflichtiges Arbeitsentgelt von insgesamt 10.423,55 € erzielt worden. Hieraus ergebe sich ein durchschnittliches tägliches Entgelt (Bemessungsentgelt) von 41,69 €.

Weiter wurde in dem Widerspruchsbescheid ausgeführt, dass bei der Berechnung der Abzüge nach § 153 Abs. 1 Satz 2 Nr. 2 und 3 SGB III Freibeträge und Pauschalen, die nicht jedem Arbeitnehmer zustünden, nicht zu berücksichtigen seien, § 153 Abs. 1 Satz 2 Nr. 1 SGB III. Die „individuellen Freibeträge bzw. Pauschalen“ der Klägerin müssten deshalb bei der Berechnung des Alg außer Betracht bleiben. Maßgeblich sei bei der Klägerin die Lohnsteuerklasse V. Damit ergebe sich unter Berücksichtigung der gesetzlichen Abzüge ein Leistungsentgelt in Höhe von 27,78 €. Bei der Klägerin sei nach § 149 SGB III kein Kind zu berücksichtigen. Sie habe damit Anspruch auf Alg nach dem allgemeinen Leistungssatz von 60% des Leistungsentgelts, mithin in Höhe des der Klägerin bewilligten Alg in Höhe von täglich 16,67 €. Der Widerspruch der Klägerin könne daher keinen Erfolg haben. Der Widerspruchsbescheid wurde mit einfachem Brief an die Adresse der Klägerin in F versandt.

Am 02.07.2018 hat der Bevollmächtigte der Klägerin beim Sozialgericht Freiburg (SG) Klage erhoben. Der bei der Klägerin vorgenommene Lohnsteuerabzug gemäß § 153 Abs. 1 Nr. 2 SGB III in Höhe von täglich 4,90 € (S. 3 des Bescheids vom 19.04.2018) sei rechtswidrig. Nach § 153 Abs. 2 SGB III richte sich die Feststellung der Lohnsteuer nach der Lohnsteuerklasse, die zu Beginn des Jahres, in dem der Anspruch entstanden sei, als Lohnsteuerabzugsmerkmal gebildet gewesen sei. Zweck der Regelung sei es, den Lohnsteuerabzug so vorzunehmen, wie der Arbeitslose ihn auch in einem Beschäftigungsverhältnis hinzunehmen hätte (mit Hinweis auf BSG vom 22.02.1984 – 7 Rar 52/82 sowie Jakob in NK-SGB III, 6. Aufl., § 153 Rdnr. 16). Die Beklagte berücksichtige aber nicht, dass die Klägerin ausschließlich in F, ihrem Wohnsitzland, besteuert werde. Von ihrem Lohn in Deutschland seien keine Abzüge getätigt worden. Die Klägerin werde insgesamt in F zur Steuer veranlagt. Die Richtigkeit dieser Auslegung ergebe sich hier aus der Vorschrift des § 153 Abs. 1 Satz 3 Nr. 1 SGB III; wenn der Gesetzgeber anordne, dass (nur) Freibeträge und Pauschalen, die nicht allen Arbeitnehmern zustünden, nicht zu berücksichtigen seien, so sei diese Bestimmung nicht anwendbar auf Arbeitnehmer, die in Deutschland überhaupt nicht der Steuerpflicht unterlägen. Eine andere Auslegung wäre europarechtswidrig. Der vorgenommene Abzug verstoße gegen die Arbeitnehmerfreizügigkeit (Art. 45 ff. AEUV) und das sich hieraus ergebende Diskriminierungsverbot.

Die Beklagte hat dem entgegengehalten, dass keine neuen rechtserheblichen Gesichtspunkte vorgetragen worden seien. Das Bemessungsentgelt nach § 151 SGB III sei zur Feststellung des Leistungsentgelts nach § 153 Abs. 1 SGB III um pauschalierte Beträge zu vermindern. Diese Pauschalierung stelle keinen Steuerabzug dar, sondern diene der Berechnung des Alg und begegne keinen verfassungsrechtlichen Bedenken. Das Alg nach dem SGB III unterliege dem Territorialitätsprinzip, weswegen dieses in der Regel nur an in Deutschland lebende Arbeitslose gezahlt werden könne. Da die in F wohnende Klägerin in F keinen Anspruch auf Alg habe, werde unter Berücksichtigung der Vorschriften zum internationalen Recht an die Klägerin Alg nach deutschem Recht gewährt. Eine Besserstellung bei der Berechnung des Alg gegenüber in Deutschland wohnenden Arbeitslosen sehe § 153 SGB III nicht vor.

Daraufhin hat der Klägerbevollmächtigte die Beklagte um Mitteilung gebeten, nach welcher Vorschrift des europäischen Rechts vorliegend ein Anspruch auf Alg der Klägerin gegeben sei. Mit Schriftsatz vom 29.01.2019 hat die Beklagte hierauf geantwortet, dass die Klägerin nach wie vor in einem Arbeitsverhältnis bei der Firma K und U (letzter Arbeitgeber) stehe. Bei ihr bestehe nach dem EG-Recht Kurzarbeit oder sonstiger vorübergehender Arbeitsausfall. Der Begriff Kurzarbeit nach dem EG-Recht sei nicht mit der Definition aus der Kurzarbeiterregelung des SGB III zu verwechseln. Nach § 65 Abs. 1 der Verordnung (EG) Nr. 883/2004 des Europäischen Parlaments und des Rates vom 29.04.2004 zur Koordinierung der Systeme der sozialen Sicherheit (GVO) erhielten Grenzgänger bei Kurzarbeit oder sonstigem vorübergehenden Arbeitsausfall Arbeitslosenleistungen des Beschäftigungsstaates, als ob sie dort wohnten.

Mit Änderungsbescheid vom 30.11.2018 wurde mit Hinweis auf die geplante Absenkung der Sozialversicherungspauschale ab dem 01.01.2019 von 21% auf 20% der Bewilligungsbescheid dahingehend geändert, dass ab dem 01.01.2019 ein höherer täglicher Leistungsbetrag von 16,91 € (statt zuvor 16,67 €) bewilligt worden ist (Bl. 31 VA).

Die Klägerin hat Alg bis einschließlich zum 12.07.2019 bezogen und damit gemäß Entgeltbescheinigungen der Beklagten vom 15.07.2019 ihren Anspruch auf Alg erschöpft (Bl. 40 VA). Für die Anschlusszeit hat sie einen Antrag auf Erwerbsminderungsrente bei der Deutschen Rentenversicherung (DRV) gestellt, über den bisher noch nicht entschieden worden ist.

Das SG hat die Klage nach Anhörung der Beteiligten mit Gerichtsbescheid vom 26.08.2019 abgewiesen. Die zulässige Klage sei unbegründet, wozu das SG gemäß § 136 Abs. 3 SGG auf die Begründung des angefochtenen Bescheids in der Gestalt des Widerspruchsbescheides verwiesen hat. Ergänzend hat es ausgeführt, dass im Rahmen der Feststellung des Lohnsteuerabzuges im Sinne des §§ 153 Abs.1 Satz1 Nr. 2 SGB III von der gemäß § 38b f. EStG maßgeblichen Steuerklasse auszugehen sei (BSG, Urteil vom 25.08.1987 – 7 Rar 70/86; Urteil vom 12.07.1989 – 7 Rar 58/88). Nach § 38b Abs. 1 Satz 2 Nr. 1b EStG gehörten in die Steuerklasse I Arbeitnehmer, die beschränkt einkommenssteuerpflichtig seien. Natürliche Personen, welche wie die Klägerin im Inland weder einen Wohnsitz noch einen gewöhnlichen Aufenthalt hätten, seien grundsätzlich beschränkt einkommenssteuerpflichtig, wenn sie inländische Einkünfte im Sinne des § 49 EStG hätten (§ 1 Abs. 4 EStG). Inländische Einkünfte im Sinne der beschränkten Einkommenssteuerpflicht seien u.a. Einkünfte aus nichtselbstständiger Arbeit (§ 49 Abs. 1 Nr. 4 EStG). Die Feststellung der Lohnsteuer richte sich nach der Lohnsteuerklasse, die zu Beginn des Jahres, in dem der Anspruch entstanden sei, als Lohnsteuerabzugsmerkmal gebildet gewesen sei (§ 153 Abs. 2 Satz 1 SGB III). Die Beklagte habe in dem angegriffenen Widerspruchsbescheid zutreffend dargestellt, dass die Feststellung des Lohnsteuerabzuges nicht zu einer (zusätzlichen) Steuerpflicht führe, sondern ausschließlich der Feststellung des Leistungsentgelts und somit der Höhe des Anspruchs auf Alg diene. Eine Berechnung des Leistungsentgelts ohne Berücksichtigung einer Lohnsteuerklasse sei in § 153 SGB III nicht vorgesehen. Nach Art. 65 Abs. 1 der Verordnung (EG) Nr. 883/2004 erhielten Grenzgänger Arbeitslosenleistungen, als ob sie dort wohnen würden. Der Gerichtsbescheid wurde den Bevollmächtigten der Klägerin am 30.08.2019 zugestellt.

Am 25.09.2019 hat der Bevollmächtigte der Klägerin beim SG Berufung eingelegt, mit welcher der Klägerbevollmächtigte sein Vorbringen wiederholt und vertieft. Die Klägerin sei als Grenzgängerin in Deutschland nach dem deutsch-französischen Doppelbesteuerungsabkommen nicht einkommenssteuerpflichtig. Der Zahlbetrag des Alg bestehe nach § 149 SGB III in einer Nettolohnersatzquote. Ausweislich des im Verfahren vorgelegten französischen Steuerbescheides für das Kalenderjahr 2018 (für die Klägerin und ihren Ehemann) seien auch Steuern auf das aus Deutschland bezogene Alg erhoben worden. Die Vorschrift des § 153 Abs. 1 SGB III verbiete nicht ausdrücklich, von einem Lohnsteuerabzug abzusehen, wenn Lohnsteuer in Deutschland nicht zu entrichten sei. § 153 Abs. 1 Satz 3 Nr. 1 SGB III verbiete nur, die dort angegebenen Freibeträge und Pauschalen zu berücksichtigen. Mit der insoweit bezweckten Vereinfachung und Entbürokratisierung des Leistungsrechts sei es ohne Weiteres vereinbar, bei Personen, die erkennbar in Deutschland nicht steuerpflichtig seien, von einem Abzug für Lohnsteuer abzusehen. Die Klägerin werde anderenfalls zweimal mit Steuern belegt, was auch europarechtlichen Vorgaben widerspreche. Wenn nach dem SGB III für die Bemessung des Alg auf das Nettoeinkommen abzustellen sei, dürfe die Klägerin vorliegend nicht mit der Lohnsteuerpauschale belastet werden, da sich anderenfalls ein Verstoß gegen Art. 45 und gegen Art. 48 AEUV und gegen Art. 7 VO (EU) Nr. 92/2011 ergäbe.

Der Klägerbevollmächtigte beantragt, teilweise sinngemäß,

den Gerichtsbescheid des Sozialgerichts Freiburg vom 26.08.2019 aufzuheben und die Beklagte unter Abänderung des Bescheides vom 19.04.2018 in der Gestalt des Widerspruchsbescheides vom 07.05.2018 in der Gestalt des Änderungsbescheides vom 30.11.2018 zu verurteilen, an die Klägerin ab dem 13.04.2018 höheres Arbeitslosengeld ohne Berücksichtigung eines pauschalierten Lohnsteuerabzugs zu gewähren,

hilfsweise eine Vorabentscheidung des Europäischen Gerichtshofs nach Art. 267 AEUV einzuholen.

Die Beklagte beantragt,

die Berufung zurückzuweisen.

Die Beklagte hält die angefochtenen Entscheidungen für zutreffend. Entgegen der Auffassung der Klägerin bedeute der Abzug einer pauschalierten Lohnsteuer bei der Gewährung von Alg keine inländische Steuerpflicht, da eine Lohnsteuer nicht abgeführt werde. Es handele sich um die gesetzlich vorgesehene Festlegung des Leistungsentgeltes nach § 153 SGB III. Im SGB III sei eine Ausnahme von der Berechnung des Alg für bestimmte Personengruppen, die nicht dem Lohnsteuerabzug unterliegen, nicht geregelt. Die gesetzlichen Regelungen zur Berechnung des Alg seien darauf ausgelegt, in einem pauschalisierenden und typisierenden Verfahren aus dem Bemessungsentgelt das Leistungsentgelt für den Zahlungsanspruch zu ermitteln (mit Hinweis auf BSG, Urteil vom 11.03.2014 – B 11 AL 10/13 R). Die Verwendung eines pauschalierenden und für alle Versicherten gleichen Berechnungsverfahrens durch den Gesetzgeber sei auch verfassungsrechtlich nicht zu beanstanden.

Auf Antrag der Beteiligten ist wegen eines anderen anhängigen Verfahrens mit Beschluss vom 20.03.2020 das Ruhen des Verfahrens angeordnet worden. Der Klägerbevollmächtigte hat das Verfahren am 22.06.2020 wieder angerufen.

Mit Verfügung vom 18.05.2021 hat der Berichterstatter darauf hingewiesen, dass Zweifel an einer Leistungspflicht der Beklagten dem Grunde nach bestünden. Zwar gehe das unionsrechtliche Koordinierungsrecht bei der Leistungszuständigkeit im Grundsatz vom Recht des Staates der letzten Beschäftigung aus. Für den „echten“ Grenzgänger bestimme es aber die Zuständigkeit des Wohnmitgliedsstaats für Leistungen über Arbeitslosigkeit, Art. 65 Abs. 2 und 5a VO (EG) Nr. 883/2004; Art. 11 Abs. 3c VO (EG) Nr. 883/2004). Der in einem anderen EU-Mitgliedsstaat bestehende Leistungsanspruch (auf Entgeltersatzleistungen bei Arbeitslosigkeit) schließe eine teleologische Reduktion des § 30 SGB I über den Geltungsbereich des Sozialgesetzbuchs mit dem Verzicht auf einen Wohnsitz oder gewöhnlichen Aufenthalt im Inland aus (BSG, Urteil vom 12.12.2017 – B 11 AL 21/16 -; mit weiterem Hinweis auf EuGH, Urteil vom 11.04.2013 – C-443/11 -, Juris). Ergänzend ist auf die Entscheidung des erkennenden Senats vom 22.02.2021 (L 8 AL 3021/20, Juris; anhängig beim BSG unter dem Aktenzeichen B 11 AL 6/21 R) hingewiesen, wonach auch bei einem echten Grenzgänger, der nicht der Lohnsteuerpflicht im Inland unterläge, bei der Berechnung des Kurzarbeitergeldes – für welches anders als für das Alg der Beschäftigungsstaat zuständig sei – gemäß den §§ 105, 106, 153 Abs. 1 Satz 2 SGB III die gesetzlich pauschalierten Abzüge fiktiv zu berücksichtigen seien (mit Hinweis auf BSG, Urteil vom 23.10.2018 – B 11 AL 21/17 R – Juris, zur Unbeachtlichkeit der Steuerfreiheit von FSJ-Entgelten bei der Bemessung des Alg mit fiktiven, üblicherweise anfallenden Abzügen; zusätzlich mit Hinweis auf Bundesverfassungsgericht vom 23.03.1994 – 1 BvL 8/85 sowie Bundesverfassungsgericht vom 23.10.2007 – 1 BvR 2089/07 -).

Die Beklagte hat hierzu vorgetragen, dass das Arbeitsverhältnis der Klägerin nach der Aussteuerung aus dem Krankengeld-Bezug fortbestanden habe. Nach EG-Recht liege daher Kurzarbeit oder ein sonstiger vorübergehender Arbeitsausfall vor, der gemäß Art. 65 Abs. 1 der Verordnung Nr. 883/2004 zum Bezug von Entgeltersatzleistungen im Beschäftigungsstaat berechtige, womit die Leistungszuständigkeit der Beklagten vorliege. Weiter hat die Beklagte auf Anfrage des Berichterstatters mitgeteilt, dass die streitgegenständliche Leistungsdifferenz sich auf kalendertägliche 3,09 € über den Leistungszeitraum von 450 Tagen und damit auf eine Summe von 1.390,50 € belaufe.

Der Klägerbevollmächtigte hat im Hinblick auf die Verfügung des Berichterstatters auf den Schriftwechsel in der ersten Instanz verwiesen, wonach die Beklagte eine Leistungszuständigkeit gemäß Art. 65 Abs. 1 der Verordnung (EG) 883/2004 angenommen habe. Der Klägerbevollmächtigte hat bestätigt, dass das Arbeitsverhältnis der Klägerin mit ihrem Arbeitgeber weiterhin bestehe, die Klägerin jedoch ihre Tätigkeit wegen Arbeitsunfähigkeit seit dem Jahre 2017 nicht mehr ausübe. Die Klägerin habe bereits einen Antrag auf Rente wegen Erwerbsminderung gestellt, über den noch nicht entschieden worden sei. Ausgehend hiervon sei die Beklagte gemäß Art. 65 Abs. 1 VO (EG) Nr. 883/2004 der zuständige Leistungsträger. Die deutsche Fassung der Vorschrift verwende eine unglücklich gewählte Terminologie, weil sie den irreführenden Eindruck erwecke, als ob es sich hier um Fälle von Kurzarbeit im Sinne des § 95 SGB III handele. Die Frage, ob Teil- oder Vollarbeitslosigkeit bestehe, sei jedoch abhängig davon zu entscheiden, ob eine Aufrechterhaltung einer arbeitsvertraglichen Bindung vorliege (mit Hinweis auf Fuchs, Europäisches Sozialrecht, 7. Aufl., Teil 2, Art. 65 VO EG Nr. 883/2004 Rn. 4). Demnach sei die Klägerin im fraglichen Zeitraum nicht voll arbeitslos im Sinne von Art. 65 Abs. 2 der einschlägigen Verordnung gewesen. Zudem sei das Urteil des SG für das Saarland vom 15.02.2013 – S 1 KR 187/12 zu beachten, wonach bei einem entsprechenden Antrag bei der Berechnung des Krankengeldes ein fiktiver niedrigerer französischer Steuersatz abzuziehen sei.

Für die weiteren Einzelheiten des Sachverhalts und des Vortrags der Beteiligten wird auf die beigezogenen Verwaltungsakten und die Akten des SG sowie des LSG Bezug genommen.

 

Entscheidungsgründe

Die gemäß § 151 Sozialgerichtsgesetz (SGG) form- und fristgerecht eingelegte Berufung der Klägerin ist gemäß §§ 143, 144 SGG zulässig. Der Senat hat vorliegend mit dem Einverständnis der Beteiligten nach § 124 Abs. 2 SGG durch Urteil ohne mündliche Verhandlung entschieden. Dabei stand der Zulässigkeit der Klage vor dem SG nicht entgegen, dass die Klägerin gegen den Widerspruchsbescheid vom 07.05.2018 erst am 02.07.2018 Klage erhoben hat, weil nach § 87 Abs. 1 Satz 2 SGG die Frist zur Klageerhebung bei Bekanntgabe im Ausland drei Monate beträgt.

Die zulässige Berufung ist unbegründet, weil die Beklagte mit den streitgegenständlichen Bescheiden zu Recht die Gewährung höheren Arbeitslosengeldes abgelehnt hat.

Der Geltendmachung eines Anspruchs auf höheres Alg steht nicht entgegen, dass die Klägerin vollständig erwerbslos ist und ihren ständigen Wohnsitz in F hat. Denn aufgrund der Besonderheit, dass das Arbeitsverhältnis der Klägerin mit ihrem Arbeitgeber nicht aufgelöst ist, ist weiterhin von einer Leistungszuständigkeit der Beklagten im europarechtlichen Sinne für Entgeltersatzleistungen bei Arbeitslosigkeit auszugehen.

Die Klägerin ist als sog. echte Grenzgängerin im Sinne des EU-Rechts zu qualifizieren, vgl. Art. 1 Ziff. f) VO (EG) 883/2004. Eine Person, die während ihrer letzten Beschäftigung oder selbstständigen Erwerbstätigkeit in einem anderen als dem zuständigen Mitgliedstaat gewohnt hat, muss sich bei Kurzarbeit oder sonstigem vorübergehendem Arbeitsausfall ihrem Arbeitgeber oder der Arbeitsverwaltung des zuständigen Mitgliedstaats zur Verfügung stellen. Sie erhält Leistungen nach den Rechtsvorschriften des zuständigen Mitgliedstaats, als ob sie in diesem Mitgliedstaat wohnen würde. Diese Leistungen werden von dem Träger des zuständigen Mitgliedstaats gewährt, Art. 65 Abs. 1 VO (EG) 883/2004.

Demgegenüber bestimmt Art. 65 Abs. 2 Satz 1 dieser Verordnung für den Fall des Eintritts der Vollarbeitslosigkeit, dass eine vollarbeitslose Person, die während ihrer letzten Beschäftigung oder selbstständigen Erwerbstätigkeit in einem anderen als dem zuständigen Mitgliedstaat gewohnt hat und weiterhin in diesem Mitgliedstaat wohnt oder in ihn zurückkehrt (sog. echte Grenzgängerin), sich der Arbeitsverwaltung des Wohnmitgliedstaats zur Verfügung stellen muss. Unbeschadet des Artikels 64 kann sich eine vollarbeitslose Person zusätzlich der Arbeitsverwaltung des Mitgliedstaats zur Verfügung stellen, in dem sie zuletzt eine Beschäftigung oder eine selbstständige Erwerbstätigkeit ausgeübt hat, Art. 65 Abs. 2 Satz 2 VO (EG) 883/2004. Der in Absatz 2 Satz 1 genannte Arbeitslose muss sich bei der zuständigen Arbeitsverwaltung des Wohnmitgliedstaats als Arbeitsuchender melden, sich dem dortigen Kontrollverfahren unterwerfen und die Voraussetzungen der Rechtsvorschriften dieses Mitgliedstaats erfüllen, Art. 65 Abs. 3 Satz 1 VO (EG) 883/2004. Entscheidet er sich dafür, sich auch in dem Mitgliedstaat, in dem er zuletzt eine Beschäftigung oder eine selbstständige Erwerbstätigkeit ausgeübt hat, als Arbeitsuchender zu melden, so muss er den in diesem Mitgliedstaat geltenden Verpflichtungen nachkommen, Art. 65 Abs. 3 Satz 2 VO (EG) 883/2004.

Entscheidend für die Frage der Leistungszuständigkeit der Beklagten ist daher, ob die Arbeitslosigkeit der Klägerin als vorübergehender Arbeitsausfall im Sinne des Art. 65 Abs. 1 oder als Vollarbeitsausfall im Sinne des Art. 65 Abs. 2 VO (EG) 883/2004 anzusehen ist. Die Beklagte und der Klägerbevollmächtigte haben übereinstimmend angegeben, dass das Arbeitsverhältnis der Klägerin nach der Aussteuerung aus dem Krankengeld-Bezug fortbestand und ungekündigt war. Dies kann auch auf die maschinell erstellte Arbeitgeber-Bescheinigung vom 26.02.2018 (Bl. 9 der Verwaltungsakte) gestützt werden, in der ein Beginn des Arbeitsverhältnisses (01.03.2013), nicht jedoch ein Enddatum oder eine Beendigung des Arbeitsverhältnisses mitgeteilt werden. Demnach kann im Falle der Klägerin nicht von Vollarbeitslosigkeit im Sinne der vorgenannten Vorschriften ausgegangen werden, da weiterhin ein arbeitsrechtlicher Bezug zum letzten Arbeitgeber in Deutschland und ein Interesse an einer Weiterbeschäftigung in Deutschland bestanden haben.

Dies reicht im Sinne der einschlägigen genannten Vorschriften des EU-Rechts aus, um von Kurzarbeit bzw. einem vorübergehenden Arbeitsausfall im Sinne von Art. 65 Abs. 1 VO (EG) 883/2004 auszugehen, weshalb eine Leistungszuständigkeit der Beklagten dem Grunde nach zu bejahen ist. Die Definition der Arbeitslosigkeit im Sinne des SGB III ist insoweit nicht entscheidend, da es für die Anwendbarkeit dieser gemeinschaftsrechtlichen Vorschriften nicht auf die Definitionen des nationalen Rechts ankommen kann. Es ist nach dem Beschluss U 3 der Verwaltungskommission vom 12.09.2009 (hierzu Fuchs in: Fuchs, Europäisches Sozialrecht, 7. Aufl., Art. 65 VO (EG) 883/2004 Rn. 5) vielmehr darauf abzustellen, ob das Arbeitsverhältnis – wie vorliegend – rechtlich fortbestand, auch wenn die Arbeitspflicht suspendiert war. Umgekehrt kann daher von Vollarbeitslosigkeit erst ausgegangen werden, wenn keine arbeitsvertragliche Bindung mehr besteht und daher auch keine grundsätzliche Bindung zu dem Beschäftigungsstaat mehr vorliegt (Dern in VO (EG) Nr. 883/2004, Kommentar, 2012, Art. 65 Rn. 9; Kador in: Schlegel/Voelzke, jurisPK-SGB I, 3. Aufl., Art. 65 VO (EG) 883/2004, Stand: 02.06.202, Rn. 23 f.).

Der Senat musste verbleibenden Restzweifeln am Fortbestehen eines Arbeitsverhältnisses der Klägerin mit ihrem letzten Arbeitgeber, die sich aus den wenigen Angaben hierzu aus den Akten und dem langen Zeitablauf ergeben, nicht weiter nachgehen, weil die Klägerin im Falle einer fehlenden Leistungszuständigkeit der Beklagten bereits dem Grunde nach keinen Anspruch auf höheres Alg der Beklagten geltend machen könnte.

Die Beklagte hat im Rahmen der von ihr angenommenen grundsätzlichen Leistungszuständigkeit, von der auch der Senat im Ergebnis ausgeht, zu Recht entschieden, bei der Berechnung der Höhe des Alg der Klägerin keine Ausnahme von der Berücksichtigung eines fiktiven Lohnsteuerabzugs gemäß den Regelungen in § 153 SGB III zuzulassen.

Nach § 136 Abs. 1 SGB III haben Arbeitnehmerinnen und Arbeitnehmer Anspruch auf Arbeitslosengeld bei Arbeitslosigkeit (Nr. 1) oder bei beruflicher Weiterbildung (Nr. 2). Gemäß § 137 Abs. 1 SGB III in der seit dem 01.04.2012 geltenden Fassung haben Arbeitnehmer Anspruch auf Arbeitslosengeld, wenn sie arbeitslos sind, sich bei der Agentur für Arbeit arbeitslos gemeldet und die Anwartschaftszeit erfüllt haben. Die Anwartschaftszeit hat erfüllt, wer innerhalb der zweijährigen Rahmenfrist mindestens zwölf Monate in einem Versicherungspflichtverhältnis gestanden hat, §§ 142 Abs. 1 S. 1, 143 SGB III.

Die Klägerin erfüllt für den streitgegenständlichen Zeitraum die Voraussetzungen für die Gewährung von Arbeitslosengeld nach den §§ 137 ff. SGB III, da sie arbeitslos war, sich bei der Agentur für Arbeit arbeitslos gemeldet und die Anwartschaftszeit erfüllt hat. Dabei ist auch trotz der Erkrankung der Klägerin von ihrer Verfügbarkeit im Sinne von § 138 Abs. 5 Nr. 1 SGB III für eine mindestens 15 Stunden wöchentlich umfassende zumutbare Beschäftigung auszugehen, da die Beklagte selbst sogar die vollschichtige Erwerbsfähigkeit der Klägerin geprüft und bejaht hat. Die Klägerin hatte damit zum 13.04.2018 ein Stammrecht auf Alg erworben.

Ausgehend hiervon hat die Beklagte in den angegriffenen Bescheiden nach den Berechnungsvorschriften der §§ 149 ff. SGB III zutreffend Alg in Höhe eines täglichen Leistungssatzes von 16,67 € bzw. von 16,91 € (ab dem 01.01.2019) bewilligt. Zur Vermeidung von Wiederholungen wird für die Berechnungsschritte und die hierfür maßgeblichen Normen gemäß § 136 Abs. 3 SGG auf die Ausführungen in dem angegriffenen Bescheid vom 19.04.2018 in der Fassung des Widerspruchsbescheides vom 07.05.2018 in der Gestalt des Änderungsbescheides vom 30.11.2018 Bezug genommen, denen der Senat sich anschließt.

Im Hinblick auf die von der Klägerin beanstandete Berücksichtigung eines Lohnsteuerabzugs nach deutschen Vorschriften ist auch unter Berücksichtigung des Vorbringens im Klage- und Berufungsverfahren keine hiervon abweichende höhere Berechnung des Alg zugunsten der Klägerin möglich.

Nach § 153 Abs. 1 SGB III in der bis zum 31.12.2018 geltenden Fassung ist das Leistungsentgelt, das um pauschalierte Abzüge verminderte Bemessungsentgelt. Abzüge sind

1. eine Sozialversicherungspauschale in Höhe von 20 Prozent des Bemessungsentgelts,

2. die Lohnsteuer, die sich nach dem vom Bundesministerium der Finanzen auf Grund des § 51 Absatz 4 Nummer 1a des Einkommensteuergesetzes bekannt gegebenen Programmablaufplan bei Berücksichtigung der Vorsorgepauschale nach § 39b Absatz 2 Satz 5 Nummer 3 Buchstabe a bis c des Einkommensteuergesetzes zu Beginn des Jahres, in dem der Anspruch entstanden ist, ergibt und

3. der Solidaritätszuschlag.

Diese Vorschrift ist bei der Beklagten entsprechend ihrem gesetzlichen Regelungsgehalt angewendet worden, was auch von der Klägerin nicht bestritten wird. Anhaltspunkte für eine fehlerhafte Berechnung sind insoweit auch weder vorgetragen noch sonst ersichtlich, so dass auch insoweit auf die angegriffenen Bescheide Bezug genommen wird.

Entgegen der Auffassung der Klägerin führt ihr besonderer Status als Grenzgängerin nach Deutschland mit einer Steuerpflichtigkeit an ihrem Wohnort in F nicht dazu, das von den vorgenannten Vorschriften und der hierdurch festgelegten Berechnungsweise des Alg zu ihren Gunsten abgewichen werden kann.

Der Arbeitsnehmerlohn der Klägerin als echter Grenzgängerin gemäß Art. 1 Ziff. f) VO (EG) 883/2004 unterliegt gemäß § 39 b Abs. 6 EStG in Verbindung mit Art. 13 Abs. 5 des Abkommens zur Vermeidung der Doppelbesteuerung zwischen der Bundesrepublik Deutschland und der Republik F vom 21.07.1959 (Bundesgesetzblatt II vom 22.04.1961 – nachfolgend DBA-Deutschland-F) nicht der Besteuerung in Deutschland, sondern in F. Ob dies auch für Bezüge aus der gesetzlichen Sozialversicherung gilt (vgl. zum Insolvenzgeld, LSG Rheinland-Pfalz, Urteil vom 28.11.2002 – L 1 AL 209/01 –, juris), kann hier dahinstehen, da Alg in Deutschland nach § 3 Nr. 2a EStG steuerfrei ist und daher keine Doppelbesteuerung im eigentlichen Sinn vorliegt. Nach Ziff. 4 der Konsultationsvereinbarung vom 13.05.2020 zwischen der Bundesrepublik Deutschland und der Französischen Republik vom 13. Mai 2020 zur Frage der Besteuerung von Grenzpendlern (abrufbar unter https://www.bundesfinanzministerium.de) gehen die deutschen und französischen Steuerbehörden von einer möglichen Versteuerung des Alg im Wohnsitzstaat aus. Die Konsulatsvereinbarung stellt jedoch lediglich eine Verwaltungsvereinbarung dar und hat keine normative Auswirkung auf die gesetzlichen Berechnungsvorgaben des § 153 Abs. 1 SGB III. Zudem wird hier auch nicht geregelt, dass eine Versteuerung jeweils erfolgt, sondern es wird lediglich vereinbart, dass im Falle einer Besteuerung diese nur im Wohnsitzstaat bzw. Ansässigkeitsstaat erfolgen kann. Nichts anderes wird insoweit durch das DBA-Deutschland-F und die hierzu ergangene Verständigungsvereinbarung zwischen F und Deutschland vom 16.02.2006 geregelt. Nach dem Doppelbesteuerungsabkommen (DBA) Deutschland-F (Abkommen zwischen der Bundesrepublik Deutschland und der Französischen Republik zur Vermeidung der Doppelbesteuerungen und über gegenseitige Amts- und Rechtshilfe auf dem Gebiete der Steuern vom Einkommen und vom Vermögen sowie der Gewerbesteuern und der Grundsteuern vom 21.07.1959, BGBl. 1961 Teil II S. 397) sowie dem Zusatzprotokoll „Verständigungsvereinbarung zur 183-Tage-Regelung (Artikel 13 Abs. 4) und zur Anwendung der Grenzgängerregelung (Artikel 13 Abs. 5)“ liegt eine Regelung des Besteuerungsrechts für Grenzgänger zugunsten des Wohnsitzstaats vor, welche jedoch nicht ausschließt, das Alg nach den oben dargestellten abstrakten Kriterien zu bemessen.

Der Senat verkennt nicht, dass die Grenzgängerin durch die Besteuerung des deutschen Alg in F tatsächlich weniger Alg erhält. Dies ist jedoch die Folge einer souveränen Entscheidung der Französischen Republik über die Geltendmachung ihres Besteuerungsrechts. Diese unterschiedlichen Folgen der Behandlung von Alg in Deutschland und F resultieren aus den unterschiedlichen steuer- und sozialrechtlichen Systeme beider Staaten und lassen sich nur auf politischer Ebene lösen. Nach Auffassung der Bundesregierung können Sozialversicherungsleistungen wie das Alg bereits nicht als „Einkommen“ im Sinne des Doppelbesteuerungsabkommens qualifiziert werden, was zusätzlich gegen einen Verstoß der Berechnungsweise gegen das DBA-F-Deutschland spricht (vgl. hierzu die Antworten der Bundesregierung vom 15.10.2020 und vom 15.06.2021 auf zwei Kleine Anfragen von Abgeordneten der FDP und der FDP-Fraktion, BT-Drs. 19/23446 und 19/30710, zu der vergleichbaren Problematik bei der Berechnung des Konkursausfallgeldes – Kug – von Grenzgängern aus F).

Zudem handelt es sich vorliegend aufgrund der bereits genannten Steuerfreiheit des Alg von der Einkommensteuer in Deutschland auch nicht um einen Vorgang der Doppelbesteuerung. Von der Frage der Besteuerung zu unterscheiden ist die hier einschlägige Berechnungsweise des § 153 Abs. 1 SGB III, bei der ein fiktiver Steuerabzug vorgesehen ist. Dieser fiktive Abzug stellt ein Berechnungselement des Alg dar und ist für die Berechnung des Alg sowohl für Grenzgänger als auch für inländische Bezieher einfachgesetzlich bindend vorgeschrieben. Die Beklagte ist daher infolge der Gesetzesbindung der Verwaltung nach Art. 20 Abs. 3 SGG – entgegen der Anregung des Klägerbevollmächtigten in seiner Berufungsbegründung – bereits dem Grund nach nicht befugt, im vorliegenden Fall eine abweichende Berechnung vorzunehmen (vgl. die Entscheidung des erkennenden Senats vom 22.02.2021 – L 8 AL 3021/20 – zum Kug, juris; die Revision ist beim BSG unter dem Aktenzeichen B 11 AL 6/21 R anhängig).

Es ist auch nicht zu beanstanden, dass die Beklagte infolge der fehlenden Lohnsteuerpflicht der Arbeitnehmerin in Deutschland den fiktiven Steuerabzug nach § 153 Abs. 1 Satz 2 Nr. 2 SGB III durch die Einordnung der Grenzgängerin als beschränkt Steuerpflichtige nach § 1 Abs. 4 EStG mit der Lohnsteuerklasse V ermittelt hat. Der Abzug für Lohnsteuer nach Abs. 1 Satz 2 Nr. 2 ist auch dann vorzunehmen, wenn für das der Bemessung des Arbeitslosengeldes zugrundeliegende Arbeitsentgelt keine Lohnsteuer abzuführen war, etwa wegen einer in § 3 EStG angeordneten Steuerfreiheit oder wegen Unterschreitung des steuerlichen Existenzminimums (Valgolio in: Hauck/Noftz, SGB, 10/19, § 153 SGB III, RdNr. 40; BSG, Urteil vom 23.10.2018 – B 11 AL 21/17 R –, juris). Das Bundessozialgericht hat in seinem Urteil vom 23.10.2018 ausgeführt, dass es insbesondere unerheblich sei, ob Teile des im Bemessungszeitraum bezogenen Entgelts steuerfrei seien (hier etwa nach § 3 Nr. 5 f EStG), denn diese Steuerfreiheit stehe gerade nicht jeder Arbeitnehmerin oder jedem Arbeitnehmer zu.

Durchgreifende verfassungsrechtliche Bedenken gegenüber dieser aus Gründen der Verwaltungsvereinfachung vorgesehenen Pauschalierung bestehen nicht. Das Bundesverfassungsgericht hat bereits entschieden, dass das Lebensstandardprinzip bei der Bemessung des Arbeitslosengeldes kein Verfassungsgebot ist. Der Gesetzgeber ist von Verfassungs wegen nicht gehalten, dem Arbeitslosen durch die Bemessung des Arbeitslosengeldes die Aufrechterhaltung seines bisherigen Lebensstandards voll zu ermöglichen (vgl. BVerfGE 72, 9 <20 f.>; 90, 226 <240>). Da das Alg kein steuerpflichtiges Einkommen ist und von ihm auch keine Sozialabgaben abzuziehen sind, ist es sachgerecht, für seine Bemessung grundsätzlich an den Nettolohn anzuknüpfen, den der Arbeitnehmer vor Eintritt der Arbeitslosigkeit zuletzt bezogen hat (vgl. BVerfGE 90, 226 <237>). Dabei kann der Gesetzgeber sich aus Gründen der Verwaltungspraktikabilität für eine Pauschalierung entscheiden, die eine zügige Feststellung der Leistungshöhe ermöglicht (vgl. BVerfGE 17, 1 <23>; 63, 255 <262>; 90, 226 <237>). Es ist deswegen grundsätzlich nicht zu beanstanden, dass die Lohnabzüge für die Berechnung des Nettolohns nicht individuell ermittelt werden, sondern der individuelle Bruttolohn um „gewöhnlich“ anfallende Abzüge zu vermindern ist (vgl. BVerfGE 90, 226 <237>; BVerfG, Nichtannahmebeschluss vom 23. Oktober 2007 – 1 BvR 2089/07 –, Rn. 6, juris).

Der fiktive Lohnsteuerabzug ist somit auch bei inländischen Sachverhalten mit Lohnsteuerfreiheit durchzuführen. Der Senat hegt hiergegen in Übereinstimmung mit der vorangehend zitierten höchstgerichtlichen Rechtsprechung keine verfassungsrechtlichen Bedenken.

Die beanstandete Berechnungsweise des Alg verstößt nach Überzeugung des Senats auch nicht gegen europarechtliche Vorgaben. Nach Art. 4 VO (EG) 883/2004 haben Personen, die der Verordnung unterfallen, die gleichen Rechte und Pflichten aufgrund der Rechtsvorschriften eines Mitgliedstaats wie die Staatsangehörigen dieses Staates. Gerade da es sich um einen fiktiven und nicht tatsächlichen Abzug im Rahmen der Berechnung handelt, gebietet es der Gleichbehandlungsgrundsatz, die Leistungsansprüche von Grenzgängern wie die von Inländern zu behandeln. Dies entspricht auch den Vorgaben des Art. 7 Abs. 1 VO (EG) 492/2011 (vormals VO (EWG) Nr. 1612/68). Insofern sieht auch Art. 62 VO (EG) 883/2004 die Alleinzuständigkeit des zuständigen Trägers des Mitgliedstaates, nach dessen Vorschriften die Leistung berechnet wird, für die Bestimmung der Berechnungsgrundlagen vor (vgl. auch Dern in Schreiber/Wunder/Dern, Kommentar zur VO (EG) 883/2004, Art. 64 Rdnr. 9ff). Da die Berechnung des Alg anhand der Vorschrift des § 153 Abs. 1 Satz 2 SGB III für alle Bezugsberechtigten in Deutschland unabhängig von Staatsangehörigkeit und Wohnsitz erfolgt, liegt kein Verstoß gegen den Grundsatz der Arbeitnehmerfreizügigkeit nach Art. 45 AEUV sowie gegen das allgemeine Diskriminierungsverbot des Art. 18 AEUV vor. Demnach war auch nicht entsprechend dem Hilfsantrag des Klägerbevollmächtigten eine Vorabentscheidung beim Europäischen Gerichtshof nach Art. 267 AEUV einzuholen.

Die Kostenentscheidung beruht auf § 193 SGG.

Der Senat hat wegen der grundsätzlichen Bedeutung der Rechtssache im Sinne von § 160 Abs. 2 Nr. 1 SGG die Revision zugelassen.

Rechtskraft
Aus
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