L 8 R 3528/18

Land
Baden-Württemberg
Sozialgericht
LSG Baden-Württemberg
Sachgebiet
Rentenversicherung
Abteilung
8.
1. Instanz
SG Stuttgart (BWB)
Aktenzeichen
S 4 R 664/17
Datum
2. Instanz
LSG Baden-Württemberg
Aktenzeichen
L 8 R 3528/18
Datum
3. Instanz
-
Aktenzeichen
-
Datum
-
Kategorie
Urteil

Die Berufung des Klägers gegen das Urteil des Sozialgerichts Stuttgart vom 17.09.2018 wird zurückgewiesen.

Außergerichtliche Kosten sind auch im Berufungsverfahren nicht zu erstatten.

Die Kosten des nach § 109 SGG bei V eingeholten Gutachtens vom 24.04.2020 sowie die dem Kläger in diesem Zusammenhang entstandenen baren Auslagen werden auf die Staatskasse übernommen.

 

 

Tatbestand

Die Beteiligten streiten um einen Anspruch auf Rente wegen voller bzw. teilweiser Erwerbsminderung.

Der 1960 in der T geborene Kläger lebt seit 1979 in der Bundesrepublik. Er hat keinen Beruf erlernt und war als Bauarbeiter, Fabrikarbeiter und zuletzt als Hilfsarbeiter in einer Großbäckerei sozialversicherungspflichtig beschäftigt. Der Kläger war ab Mai 2011 arbeitsunfähig und bezog zunächst Krankengeld. Nach Aussteuerung und Bezug von Arbeitslosengeld bezog er Leistungen nach dem Zweiten Buch Sozialgesetzbuch (SGB II). Der Kläger war jedenfalls ab März 2015 in geringfügigem Umfang weiterhin bei seinem Arbeitgeber tätig.

Der Kläger befand sich in der Zeit vom 06.03. bis 03.04.2012 in einer stationären Rehabilitationsmaßnahme in der P-Klinik B. In dem Entlassungsbericht vom 04.04.2012 wurden eine rezidivierende depressive, gegenwärtig mittelgradige Episode mit impulsiven Persönlichkeitsanteilen, eine anhaltende somatoforme Schmerzstörung sowie eine Adipositas durch übermäßige Kalorienzufuhr diagnostiziert. Es bestehe ein Leistungsvermögen für den allgemeinen Arbeitsmarkt im Umfang von mindestens sechs Stunden arbeitstäglich.

Der Kläger beantragte, vertreten durch seinen damaligen Bevollmächtigten, am 17.04.2012 bei der Beklagten auf Anregung seines behandelnden L erstmals Rente wegen Erwerbsminderung, da er vor allem wegen seiner neurologisch-psychiatrischen Gesundheitsstörungen seit Mai 2011 voll erwerbsgemindert sei.

Die Beklagte ließ den Kläger durch die H untersuchen und begutachten. Diese diagnostizierte am 12.07.2012 einen Verdacht auf neurasthene Persönlichkeit, eine funktionell nicht relevante depressive Störung sowie einen vorbeschriebenen funktionell nicht bedeutsamen Tinnitus. Der Kläger sei bei qualitativen Einschränkungen 6 Stunden täglich auf dem allgemeinen Arbeitsmarkt leistungsfähig.

Mit Bescheid vom 02.08.2012 lehnte die Beklagte die beantragte Rente ab, da der Kläger nicht erwerbsgemindert und auch nicht berufsunfähig sei. Den hiergegen von dem Bevollmächtigten eingelegten Widerspruch wies die Beklagte mit Widerspruchsbescheid vom 17.10.2012 zurück.

Am 29.10.2012 erhob der Kläger, vertreten durch seinen damaligen Bevollmächtigten, Klage zum Sozialgericht Stuttgart (SG, Az. S 21 R 5909/12). Das SG befragte den behandelnden Y als sachverständigen Zeugen. Dieser hielt den Kläger bei Funktionseinschränkungen im Bereich der LWS und am rechten Kniegelenk für in der Lage, 6 Stunden täglich zu arbeiten. Der behandelnde L berichtete in seiner Aussage vom 27.05.2013 bei Behandlung seit Mai 2011 von einer chronischen Depression und einer somatoformen Schmerzstörung mit diffusen Schmerzen an den großen Gelenken der Arme und Beine, aber auch an der HWS und der LWS. Der Zustand sei einer weiteren ambulanten Behandlung nicht mehr zugänglich. Der Kläger sei auch in einer leichteren Tätigkeit auf dem allgemeinen Arbeitsmarkt nur noch unter 3 Stunden täglich leistungsfähig.

Das SG ließ den Kläger auf seinen Antrag und Kostenrisiko gemäß § 109 SGG durch den Arzt für A begutachten. Der Gutachter diagnostizierte nach Untersuchung unter Hinzuziehung einer vereidigten Dolmetscherin am 25.10.2013 ein „Rapid Cycling“ einer rezidivierenden depressiven Störung und daneben eine somatoforme Schmerzstörung sowie eine Persönlichkeitsänderung bei anhaltendem Schmerzsyndrom. Insbesondere die Konfliktbewältigungsfähigkeit, die konzentrative Belastbarkeit, Umstellungsfähigkeit, Anpassungsfähigkeit und Gemeinschaftsfähigkeit seien so weitreichend beeinträchtigt, dass sowohl die zuletzt ausgeübte Tätigkeit wie auch sonstige leichte bis mittelschwere Tätigkeiten des allgemeinen Arbeitsmarktes nur unter drei Stunden täglich verrichtbar seien.

Das SG beauftragte sodann den F von Amts wegen mit der Untersuchung und Begutachtung des Klägers. Der Sachverständige erstattete das Gutachten unter Zusammenarbeit mit dem L1 aufgrund einer Untersuchung des Klägers am 06.02.2015 unter Hinzuziehung eines vereidigten Dolmetschers einschließlich einer testpsychologischen Zusatzbegutachtung durch die P1. In dem Gutachten vom 20.05.2015 führte der Sachverständige aus, dass keine Krankheiten oder Gebrechen oder Schwächen der körperlichen oder geistigen Kräfte des Klägers auf psychiatrischem Fachgebiet festzustellen seien. Die körperlich-neurologische Untersuchung sei durch eine erhebliche Beschwerdeausgestaltung erschwert und ohne objektive Auffälligkeiten gewesen. Der psychiatrische Befund habe außer einer ausgeprägten Aggravation [hier: übertriebene Präsentation von Symptomen oder Einschränkungen durch den Untersuchten] keine Auffälligkeiten ergeben. Die Ergebnisse der testpsychologischen Zusatzuntersuchung seien bei unzureichender Anstrengungsbereitschaft und Ergebnissen unterhalb der Ratewahrscheinlichkeit nicht verwertbar. Aus psychiatrischer Sicht könnten Tätigkeiten auf dem allgemeinen Arbeitsmarkt noch mindestens 6 Stunden täglich ausgeübt werden.

Mit Urteil vom 03.11.2015 wies das SG die Klage ab. Dabei stützte sich das SG im Wesentlichen auf den Reha-Entlassungsbericht vom 04.04.2012, auf das im Verwaltungsverfahren eingeholte Gutachten der H vom 24.07.2012 und das Gutachten von F vom 20.05.2015. Auf neurologisch-psychiatrischem Fachgebiet ergäben sich nach den überzeugenden Ausführungen von F keine quantitativen Einschränkungen der Erwerbsfähigkeit. Der aktuelle Befund habe außer einer ausgeprägten Aggravation keine Auffälligkeiten ergeben. Eine Beeinträchtigung des Affekts, der Stimmung oder des Antriebs habe nicht festgestellt werden können. Die Stimmungslage sei ausgeglichen, das affektive Schwingungsvermögen regelrecht gewesen. Hinweise auf Störungen von Wahrnehmung, Konzentration, Merkfähigkeit und Antrieb hätten nicht bestanden. Objektivierbare Auffälligkeiten auf neurologischem Gebiet hätten ebenfalls nicht bestanden. Die Feststellungen von F würden im Wesentlichen mit denjenigen von H übereinstimmen. Demgegenüber sehe die Kammer die Feststellungen des A in seinem Gutachten vom 25.10.2013 als durch die beiden Gutachten von F und H widerlegt an. A habe zwar die Konfliktbewältigungsfähigkeit, die konzentrative Belastbarkeit, die Umstellungsfähigkeit, die Anpassungsfähigkeit und Gemeinschaftsfähigkeit als so weitreichend beeinträchtigt dargestellt, dass er zu einer Leistungsfähigkeit des Klägers von unter 3 Stunden täglich gelangt sei. A habe aber keine psychologischen Tests hinsichtlich Simulation, Aggravation oder Bagatellisierung durchgeführt. Auch weise das Gutachten keine klare Trennung zwischen subjektiver Beschwerdeschilderung des Klägers und objektiver Befunderhebung auf. Dies wäre aber im Hinblick auf die bereits durch H aufgeworfene Verdeutlichungstendenz besonders darzustellen gewesen. Auch aus den gesundheitlichen Beeinträchtigungen auf orthopädischem Fachgebiet würden sich lediglich qualitative und keine quantitativen Leistungseinschränkungen ergeben. Insgesamt sei der Kläger daher in der Lage, leichte Tätigkeiten des allgemeinen Arbeitsmarktes im zeitlichen Umfang von sechs Stunden und mehr zu verrichten. Der Kläger habe auch keinen Anspruch auf die Gewährung einer Rente wegen teilweiser Erwerbsminderung bei Berufsunfähigkeit gemäß § 240 Abs. 1 SGB VI. Einen Beruf habe er nicht erlernt. Er habe zuletzt als Aushilfe in einer Großbäckerei gearbeitet, weshalb er auf alle Tätigkeiten des allgemeinen Arbeitsmarktes verweisbar sei. Mithin komme es nicht darauf an, ob er seine bisherige Tätigkeit noch ausüben könne.

Der Kläger legte hiergegen, vertreten durch seine damalige Bevollmächtigte, Berufung zum Landessozialgericht (LSG) Baden-Württemberg ein und verwies hierfür auf die Aussage von L und das Gutachten von A (Az. L 11 R 4908/15). Er nahm die Berufung sodann im Rahmen eines Erörterungstermins am 16.02.2016 auf Hinweis des Berichterstatters auf das Gutachten von F und auf den Bezug von Leistungen nach dem SGB II bei einem zu erwartenden Zahlbetrag der Rente wegen voller Erwerbsminderung in Höhe von ca. 560 € monatlich zurück.

Der Kläger beantragte am 05.08.2016 bei der Beklagten erneut eine Rente wegen Erwerbsminderung, da sich sein Gesundheitszustand ab Juli (gemeint wohl: 2016) weiter verschlechtert habe.

Der als Hausarzt angegebene D teilte der Beklagten auf Nachfrage mit, dass der Kläger sich in dem Zeitraum ab August 2015 nur einmal nach einem zahnchirurgischen Eingriff vorgestellt habe.

Die Beklagte veranlasste daraufhin eine Begutachtung des Klägers durch den G. Nach Untersuchung vom 10.10.2016 diagnostizierte dieser in seinem Gutachten vom 13.10.2016 eine Somatisierungsstörung, eine somatoforme Schmerzstörung sowie eine Dysthymie. Das Beschwerdebild sei im Vergleich zur gutachterlichen Untersuchung durch F vom 06.02.2015 nahezu unverändert. Es ergäben sich daher weder diagnostisch noch bei der Beurteilung der beruflichen Leistungsfähigkeit neue Gesichtspunkte. Auffällig sei eine erhebliche Aggravation des Beschwerdebildes. Der Kläger sei weiterhin in der Lage, die zuletzt ausgeübte Tätigkeit als Hilfsarbeiter wie auch eine leichte Tätigkeit auf dem allgemeinen Arbeitsmarkt 6 Stunden täglich und mehr zu verrichten.

Der sozialmedizinische Dienst der Beklagten schloss sich in einem nach Aktenlage erstellten Gutachten der H sowohl den von G festgestellten Diagnosen als auch der dortigen Leistungsbeurteilung an.

Mit Bescheid vom 03.11.2016 lehnte die Beklagte die beantragte Rente ab, da der Kläger die medizinischen Voraussetzungen nicht erfülle. Der Kläger könne noch mindestens 6 Stunden täglich unter den üblichen Bedingungen des allgemeinen Arbeitsmarktes erwerbstätig sein und sei daher nicht erwerbsgemindert. Er sei auch nicht berufsunfähig, da er in seiner letzten Tätigkeit als Hilfsarbeiter noch mindestens 6 Stunden erwerbstätig sein könne.

Der Kläger legte hiergegen am 24.11.2016 Widerspruch ein und wies erneut auf eine Verschlechterung seines Gesundheitszustandes hin.

Mit Widerspruchsbescheid vom 23.01.2017 wies die Beklagte den Widerspruch zurück. Der Kläger habe keine Unterlagen vorgelegt, die die geltend gemachte Verschlechterung des Gesundheitszustandes bzw. den Rentenanspruch stützen würden. Er sei noch in der Lage, mindestens 6 Stunden täglich unter den üblichen Bedingungen des allgemeinen Arbeitsmarktes körperlich leichte Tätigkeiten in Tagesschicht, ohne besonderen Zeitdruck und in wechselnder Körperhaltung zu verrichten. Er sei daher weder voll noch teilweise erwerbsgemindert. Er sei auch nicht berufsunfähig. Zwar könne er nicht mehr in seinem bisherigen Beruf als Hilfsarbeiter tätig sein. Ausgehend von dieser ungelernten Tätigkeit müsse er sich auf alle Tätigkeiten des allgemeinen Arbeitsmarktes verweisen lassen.

Der Kläger hat, vertreten durch seinen jetzigen Bevollmächtigten, am 13.02.2017 Klage zum SG erhoben. Entgegen der Auffassung der Beklagten sei von einer deutlichen Einschränkung des quantitativen Restleistungsvermögens auszugehen. Der Schwerpunkt der Leistungsbeeinträchtigung liege auf neurologisch-psychiatrischem Fachgebiet. Es handele sich keinesfalls um einen Befund, welcher bagatellisierend als Somatisierungsstörung beschrieben werden könne. Vielmehr liege eine längst chronifizierte regelrechte depressive Erkrankung vor, die auch mit Merkfähigkeits- und Konzentrationsstörungen einhergehe. Der Bevollmächtigte hat hierzu eine ärztliche Bescheinigung des behandelnden L vom 20.03.2017 vorgelegt, wonach seinen Ausführungen vom 27.05.2013 im Wesentlichen nichts Neues hinzuzufügen sei. Der Kläger sei nach wie vor chronisch depressiv, in seinem Affektleben herabgestimmt, ohne Antrieb, mit ausgeprägten neuropsychologischen Defiziten in Form von Konzentrations- und Merkfähigkeitsstörungen sowie einer erschwerten Auffassungs- und Umstellungsfähigkeit behaftet und insgesamt sehr ängstlich. Alle therapeutischen Maßnahmen hätten die Erkrankung nur lindernd beeinflusst. Er sei nicht in der Lage, einer beruflichen Tätigkeit nachzugehen.

Das SG hat L als sachverständigen Zeugen befragt. In seiner Aussage vom 14.03.2018 hat dieser ein depressives Krankheitsbild beschrieben, das über Jahre hinweg erhebliche Krankheitserscheinungen gezeigt hätte, unter geeigneter Behandlung sich aber immer wieder gebessert hätte, so dass es auch beschwerdefreie Intervalle gegeben hätte. Es sei eine konsequente psychiatrische Behandlung durchgeführt worden. Dabei sei es immer wieder zum Auftreten schwerer depressiver Episoden mit einer deutlichen Tendenz zur Chronifizierung der Depression gekommen. Aus seiner Sicht sei die Berentung gerechtfertigt. Er habe den Kläger ermuntert, einen Antrag auf „Anerkennung seiner Erwerbsunfähigkeit“ zu stellen.

Die Beklagte ist der Klage weiterhin entgegengetreten. Die Leistungsbeurteilung von L weiche erheblich von der vorliegenden sozialmedizinischen Beurteilung ab, ohne dass eine nachvollziehbare Begründung angegeben worden sei. Jedenfalls sei keine wesentliche Änderung im Gesundheitszustand des Klägers erkennbar. Die Beklagte hat sodann dem SG noch eine Probeberechnung der Rente wegen voller Erwerbsminderung vorgelegt.

Mit Urteil vom 17.09.2018 hat das SG die Klage abgewiesen. Das SG hat seine Entscheidung dabei auf die als Urkunde verwertbaren Verwaltungsgutachten von G und H und auf das vorangegangene Sachverständigengutachten von F gestützt. Danach bestünden zur Überzeugung der Kammer bei dem Kläger keine gesundheitlichen Einschränkungen, die geeignet wären, einen Anspruch auf Rente wegen Erwerbsminderung zu begründen. Der Kläger leide an einer Somatisierungsstörung, einer somatoformen Schmerzstörung sowie an einer Dysthymie. Diese psychiatrischen Beschwerden würden zwar zu Einschränkungen insbesondere im Hinblick auf die geistige und psychische Belastbarkeit führen. Es bestünden aber keine Einschränkungen des Leistungsvermögens, die der vollschichtigen Ausübung leichter Tätigkeiten auf dem allgemeinen Arbeitsmarkt entgegenstehen würden. Der Gutachter im Verwaltungsverfahren G habe den Krankheitsverlauf des Klägers ebenso wie der im vorangegangenen gerichtlichen Verfahren gehörte Sachverständige F aus psychiatrischer Sicht gewürdigt, sei den Beschwerden des Klägers nachgegangen und habe ihn sorgfältig untersucht. Die Ausführungen des Gutachters im Verwaltungsverfahren zu den Erkrankungen des Klägers und die daraus folgenden Leistungseinschränkungen seien schlüssig, widerspruchsfrei und nachvollziehbar. Es bestünden keine Zweifel an der Vollständigkeit der durch G erhobenen Befunde und an der Richtigkeit der daraus abgeleiteten sozialmedizinischen Einschätzung der Leistungsfähigkeit des Klägers. Diese Einschätzung decke sich im Wesentlichen mit den Einschätzungen des Sachverständigen F und der Gutachterin H. Die verschiedenen Gutachten ergäben ein schlüssiges und in sich konsistentes Bild von der psychischen Erkrankung des Klägers und dessen Krankheitsverlauf. Die Ausführungen des behandelnden L seien demgegenüber für die Kammer nicht schlüssig. L habe die erheblichen Aggravationstendenzen, die sich bei den gutachterlichen Untersuchungen des Klägers gezeigt hätten, gänzlich unberücksichtigt gelassen. Zudem sei seine im vorangegangenen Klageverfahren abgegebene Einschätzung durch den Sachverständigen F widerlegt worden. Eine Veränderung des psychischen Zustandes seit der Begutachtung durch G habe L nicht berichtet. Psychische Erkrankungen führten außerdem nicht unbesehen zu einer Berentung. Sie seien vielmehr behandelbar und auch zu behandeln, bevor eine Erwerbsminderung angenommen werden könnte. Bei dem Kläger bestehe keine mittelschwere bis schwer ausgeprägte depressive Symptomatik. Eine Psychotherapie sei bislang nicht in Anspruch genommen worden und die Rehabilitationsbehandlung sei im Wesentlichen aufgrund der fehlenden Motivation des Klägers erfolglos geblieben. Eine Rente wegen teilweiser Erwerbsminderung bei Berufsunfähigkeit nach § 240 SGB VI komme ebenfalls nicht in Betracht. Der Kläger sei zuletzt als Aushilfe in einer Großbäckerei tätig gewesen und könne daher auf sämtliche Tätigkeiten des allgemeinen Arbeitsmarktes verwiesen werden.

Der Kläger hat, vertreten durch seinen Bevollmächtigten, gegen das diesem am 24.09.2018 zugestellte Urteil am 02.10.2018 Berufung zum LSG Baden-Württemberg eingelegt. Es erscheine bereits in methodischer Hinsicht fragwürdig, dass das SG seine Abweisung auf das im Verwaltungsverfahren eingeholte Gutachten sowie Gutachten aus früheren sozialgerichtlichen Verfahren gestützt habe. Gerade Befunde auf neurologisch-psychiatrischem Fachgebiet unterlägen erheblichen Schwankungen, so dass ältere Befunde und Gutachten den aktuellen Zustand nicht beschreiben könnten. Immerhin habe sich der behandelnde Neurologe und Psychiater in seiner sachverständigen Zeugenauskunft wegen der Beeinträchtigungen auf seinem Fachgebiet eindeutig für ein unter dreistündiges Restleistungsvermögen ausgesprochen. Das SG hätte ein aktuelles Gutachten einholen müssen.

Der Kläger beantragt (teilweise sinngemäß),

das Urteil des Sozialgerichts Stuttgart vom 17.09.2018 aufzuheben und die Beklagte unter Aufhebung des Bescheides vom 03.11.2016 in der Gestalt des Widerspruchsbescheides vom 23.01.2017 zu verurteilen, dem Kläger eine Rente wegen voller, hilfsweise wegen teilweiser Erwerbsminderung zu gewähren.

Die Beklagte beantragt,

die Berufung zurückzuweisen.

Sie verweist auf ihr Vorbringen in erster Instanz sowie auf die Entscheidungsgründe des SG. Aus der Berufungsbegründung ergäben sich keine neuen Gesichtspunkte.

Der Senat hat L erneut schriftlich als sachverständigen Zeugen befragt. L hat in seiner Auskunft vom 04.12.2019 von regelmäßig stattfindenden Konsultationen des Klägers im Abstand von 3-4 Wochen berichtet. Seit Januar 2015 habe sich das Krankheitsbild verschlechtert. Diagnostisch handele es sich um eine affektive Psychose in der Form einer schweren depressiven Erkrankung. Gekennzeichnet sei die Erkrankung durch eine affektive Herabstimmung, Antriebsstörung, Ängste, neuropsychologische Defizite, Vitalsymptome und einen sozialen Rückzug. Die Krankheit habe sich insoweit verschlechtert, als der Kläger nun keine beschwerdefreien Intervalle mehr erlebe. Er sei chronisch depressiv und gezwungen, die klassische depressive Symptomatik täglich auszuhalten, ohne dass ihm Medikamente eine Erleichterung verschaffen könnten. Das täglich noch zu leistende Arbeitsvolumen liege jetzt deutlich unter 2 Stunden und sei an manchen Tagen total aufgehoben.

Der Senat hat auf Antrag und Kostenrisiko des Klägers ein Gutachten nach § 109 SGG bei dem V eingeholt. Dieser hat nach Untersuchung des Klägers am 31.03.2020 in seinem Gutachten vom 24.04.2020 eine rezidivierende depressive Störung festgestellt, die derzeit schwer ausgeprägt, aber ohne psychotische Symptome sei. Er hat daneben eine chronische Schmerzstörung mit somatischen und psychischen Faktoren diagnostiziert. Fachfremd bestünden degenerative Veränderungen der Wirbelsäule und der großen Gelenke, hier der Schultern, im linken Ellenbogengelenk und in den Kniegelenken. Bei der geschilderten Intensität und Dauerhaftigkeit der Beschwerden von der genannten somatoformen Komponente ausgegangen werden. Der Kläger habe aber nicht schmerzgeplagt gewirkt. Die berufliche Leistungsfähigkeit sei bei der vorliegenden schweren depressiven Episode vollständig aufgehoben. Eine regelmäßige berufliche Tätigkeit über 3 Stunden und mehr könne nicht mehr geleistet werden. Es könne nicht abgeschätzt werden, wann sich eine durchgehend schwere depressive Symptomatik eingestellt habe. Hiervon könne aber für die vergangenen 2 Jahre ausgegangen werden. Der Verlauf der Erkrankung spreche gegen eine mögliche nachhaltige Besserung. Denkbar wäre eine stationäre psychiatrische Behandlung mit einer Umstellung und Erweiterung der antidepressiven Medikation. Die Beurteilungen von F und G könnten am ehesten durch die beobachtete Aggravation erklärt werden. Wahrscheinlich habe damals in gewissem Umfang eine depressive Störung bestanden. Der Sachverständige hat auf Nachfrage der Beklagten noch ergänzend ausgeführt, dass der zeitliche Verlauf der zuletzt schwer ausgeprägten depressiven Symptomatik rückblickend wie auch prognostisch nicht sicher abgeschätzt werden könne. Eine nachhaltige Besserung erscheine unwahrscheinlich (Schreiben vom 23.06.2020).

Die Beklagte hat sich dieser Leistungsbeurteilung unter Verweis auf eine beratungsärztliche Stellungnahme der K vom 31.07.2020 nicht angeschlossen. Die Beklagte hat zudem auf aktuelle Arbeitszeiten des Klägers von jeweils 4,5 Stunden hingewiesen. Der Bevollmächtigte ist dem entgegengetreten, da die tägliche Arbeitszeit lediglich 2 Stunden und 15 Minuten betrage. Die Angaben des Arbeitgebers seien fehlerhaft gewesen und seien insoweit korrigiert worden. Er hat hierzu Arbeitszeitdokumentationen vorgelegt. Die Beklagte hat darauf hingewiesen, dass die tatsächlich erbrachte Arbeitsleistung bei dem vollschichtigen Leistungsvermögen mit qualitativen Leistungseinschränkungen nicht vordergründig sei. Die Beklagte hat zuletzt noch ein ergänzendes Gutachten angeregt.

Der Senat hat daraufhin den S mit der Untersuchung und Begutachtung des Klägers beauftragt. Der Sachverständige hat den Untersuchungstermin auf Bitte des Berichterstatters wegen der bisherigen Dauer des Verfahrens von – wie zunächst geplant – Oktober 2021 auf Juni 2021 vorgezogen. Die Einbestellung hierzu konnte wegen eines von dem Kläger nicht mitgeteilten Umzuges des Klägers jedoch nicht erfolgen. Zum nächsten Termin am 06.09.2021 ist der Kläger ebenso wie bereits bei der Untersuchung bei V mit seiner Nachbarin als Dolmetscherin erschienen. Der Senat hat daher auf Bitte des Sachverständigen noch die Beiziehung eines beeidigten Dolmetschers bewilligt. Der Sachverständige hat sein Gutachten aufgrund der Untersuchungen vom 06.09.2021 und vom 27.10.2021 mit Datum vom 06.11.2021 erstattet. Er hat auf seinem Fachgebiet lediglich eine Dysthymia diagnostiziert. Dabei handele es sich um eine chronische, ins Missmutige gehende Herabgestimmtheit, die grundsätzlich leichter sei als eine leichte depressive Episode. Eine mittelgradige oder schwere Depression sei ganz bestimmt nicht zu diagnostizieren. Eine relevante Störung des Antriebes oder eine durchgängige Absenkung der Stimmung habe sich nicht gezeigt. Auch spreche der regelmäßig mit Zuverlässigkeit ausgeübte Minijob gegen eine relevante Störung des Antriebes. Die Kriterien einer anhaltenden somatoformen Schmerzstörung seien nicht erfüllt. Insbesondere habe der Kläger ebenso wie bei der Begutachtung durch V zu keinem Zeitpunkt schmerzgeplagt oder leidend gewirkt. Persönlichkeitsauffälligkeiten seien nicht herauszuarbeiten gewesen. Allgemein-körperlich und neurologisch bestünden keine relevanten Erkrankungen. Außerdem sei ein deutliches Aggravationsverhalten zu berücksichtigen. Der Kläger sei in der Lage, mindestens 6 Stunden täglich einer regelmäßigen Tätigkeit auf dem allgemeinen Arbeitsmarkt ohne Gefahr für die Gesundheit nachzugehen.

Der Bevollmächtigte hat eine Entscheidung ohne mündliche Verhandlung angeregt. Die Beklagte hat sich mit dieser Verfahrensweise einverstanden erklärt.

Hinsichtlich der weiteren Einzelheiten des Sachverhaltes wird auf den Inhalt der Gerichtsakte dieses Verfahrens sowie des erstinstanzlichen Verfahrens, auf den Inhalt der beigezogenen Gerichtsakten der unter den Az. S 21 R 5909/12 und L 11 R 4908/15 zuvor geführten Verfahren sowie auf den Inhalt der beigezogenen Verwaltungsakte der Beklagten Bezug genommen.

 

Entscheidungsgründe

Die gemäß § 151 Sozialgerichtsgesetz (SGG) form- und fristgerecht eingelegte Berufung des Klägers, über die der Senat nach § 124 Abs. 2 SGG mit Einverständnis der Beteiligten ohne mündliche Verhandlung durch Urteil entscheidet, ist gemäß §§ 143, 144 SGG zulässig.

Die Berufung ist jedoch nicht begründet. Denn der Kläger hat auch in dem Zeitraum seit der erneuten Rentenantragstellung am 05.08.2016 keinen Anspruch auf Rente wegen voller (§ 43 Abs. 2 SGB VI) oder wegen teilweiser Erwerbsminderung (§ 43 Abs. 1 SGB VI) bzw. wegen teilweiser Erwerbsminderung bei Berufsunfähigkeit (§§ 43 Abs. 1, 240 SGB VI). Die Ablehnung dieser Ansprüche in dem Bescheid der Beklagten vom 03.11.2016 in der Gestalt des Widerspruchsbescheids vom 23.01.2017 ist daher nicht rechtswidrig und verletzt den Kläger nicht in seinen Rechten. Das klageabweisende Urteil des SG vom 17.09.2018 ist somit nicht zu beanstanden.

Versicherte haben nach § 43 Abs. 2 Satz 1 SGB VI Anspruch auf Rente wegen voller Erwerbsminderung bis zum Erreichen der Regelaltersgrenze, wenn sie voll erwerbsgemindert sind (Nr. 1), in den letzten 5 Jahren vor Eintritt der Erwerbsminderung 3 Jahre Pflichtbeiträge für eine versicherte Beschäftigung oder Tätigkeit haben (Nr. 2) und vor Eintritt der Erwerbsminderung die allgemeine Wartezeit erfüllt haben (Nr. 3). Voll erwerbsgemindert sind nach § 43 Abs. 2 Satz 2 SGB VI Versicherte, die wegen Krankheit oder Behinderung auf nicht absehbare Zeit außer Stande sind, unter den üblichen Bedingungen des allgemeinen Arbeitsmarkts mindestens 3 Stunden täglich erwerbstätig zu sein. Eine volle Erwerbsminderung liegt nach der ständigen Rechtsprechung des BSG auch dann vor, wenn der Versicherte täglich mindestens 3 bis unter 6 Stunden erwerbstätig sein kann und er damit nach dem Wortlaut des § 43 Abs. 1 Satz 2 SGB VI ohne Berücksichtigung der Arbeitsmarktlage an sich nur teilweise erwerbsgemindert ist, ihm aber der Teilzeitarbeitsmarkt tatsächlich verschlossen ist (sog. konkrete Betrachtungsweise, vgl. etwa BSG, Urteil vom 11.12.2019 – B 13 R 7/18 R –, in juris Rn. 24). Der Eintritt einer rentenberechtigenden Leistungsminderung muss im Wege des Vollbeweises festgestellt sein; vernünftige Zweifel am Bestehen der Einschränkungen dürfen nicht bestehen.

Die Beurteilung des Leistungsvermögens bezieht sich dabei auf den allgemeinen Arbeitsmarkt. Dieser umfasst jede nur denkbare Tätigkeit, für die es in nennenswertem Umfang Beschäftigungsverhältnisse gibt (vg. BT-Drucks. 14/4230, S. 25) und damit auch ungelernte Tätigkeiten (vgl. BSG - Großer Senat - Beschluss vom 19.12.1996 - GS 2/95 - BSGE 80, 24 und bei juris). Bezugspunkt ist dabei eine körperlich leichte Tätigkeit (BSG, Urteil vom 19.10.2011 - B 13 R 78/09 R –, in juris) und damit nicht zwingend die zuletzt ausgeübte Beschäftigung, die etwa für die Frage der Arbeitsunfähigkeit im Sinne der gesetzlichen Krankenversicherung maßgeblich sein kann.

Ausgehend hiervon ist der Kläger in dem streitbefangenen Zeitraum seit der Rentenantragstellung weder voll noch teilweise erwerbsgemindert. Denn der Senat vermochte sich nicht davon zu überzeugen, dass der Kläger nicht mehr in der Lage wäre, auf dem allgemeinen Arbeitsmarkt unter den dort üblichen Bedingungen noch mindestens 6 Stunden arbeitstäglich in einer körperlich leichten Tätigkeit erwerbstätig zu sein.

Der Kläger ist in seinem beruflichen Leistungsvermögen im Wesentlichen durch eine Erkrankung auf psychiatrischem Fachgebiet eingeschränkt. Der Kläger leidet insoweit allerdings nur unter einer leichtgradigen depressiven Erkrankung in Form einer Dysthymia. Mit dieser Erkrankung sind in den für das berufliche Leistungsvermögen relevanten Funktionsbereichen kaum Beeinträchtigungen verbunden. Der Senat stützt sich für diese Feststellungen auf das Gutachten des gerichtlichen Sachverständigen S, der den Kläger nach einem ersten Termin unter der danach gebotenen Hinzuziehung einer vereidigten Dolmetscherin ausführlich fachärztlich untersucht hat und unter Würdigung der geklagten Beschwerden und der erhobenen Befunde zu dieser Beurteilung gelangt ist. Die Diagnose einer Dysthymie ist auch bereits in dem Gutachten von G gestellt worden. Der Sachverständige S hat für den Senat nachvollziehbar darauf hingewiesen, dass keine fassbare Antriebsstörung festzustellen war, dass die Stimmung zwar moros-missmutig, aber keinesfalls durchgängig deprimiert war und dass ein ungestörtes Konzentrationsvermögen und eine ungestörte Aufmerksamkeit bestanden. Soweit eine soziale Rückzugstendenz angegeben worden war, bestand bei der Begutachtung eine offenkundig erhaltene Fähigkeit zur adäquaten sozialen Interaktion und Kommunikation. Der Senat stellt daher fest, dass nur diese geringfügigen Beeinträchtigungen bestanden.

Eine höhergradige depressive Erkrankung liegt demgegenüber nicht vor. Der behandelnde L hat in seinen Aussagen vom 14.03.2018 und 04.12.2019 zwar von immer wieder aufgetretenen schweren depressiven Episoden und von einer deutlichen Tendenz zur Chronifizierung der Depression bzw. von einer schweren depressiven Erkrankung als Dauerzustand ohne beschwerdefreie Intervalle berichtet. Der Zeitpunkt der von ihm angenommenen Verschlechterung lässt sich den Aussagen dabei nicht eindeutig entnehmen. In seiner Aussage vom 14.03.2018 hat er ein aufgehobenes Leistungsvermögen für eine geregelte berufliche Tätigkeit ab spätestens November 2015 berichtet. Der Sachverständige S weist hinsichtlich der diagnostischen Einschätzung und der Leistungseinschätzung von L für den Senat nachvollziehbar darauf hin, dass bereits unklar ist, wie sich L mit dem Kläger ohne Dolmetscher vernünftig verständigen und so einen Befund erheben konnte. Aber auch dann, wenn der Kläger tatsächlich besser Deutsch verstehen sollte als angegeben, worauf etwa der gerichtliche Sachverständige F in seinem auch hier verwertbaren (§ 118 Abs. 1 SGG i.V.m. § 411a ZPO) Gutachten hingewiesen hat (Bl. 150 der SG-Akte S 21 R 5909/12), sind die Aussage von L und seine bereits beginnend ab 2013 verfassten Stellungnahmen nicht überzeugend. Denn der Sachverständige S weist insoweit – wie bereits schon K in ihrer Stellungnahme vom 31.07.2020 – zu Recht darauf hin, dass L trotz des von ihm angegebenen Schweregrades der psychischen Erkrankung keine dementsprechenden Behandlungsmaßnahmen wie etwa eine Richtlinienpsychotherapie (bei allerdings wohl gegebener sprachlicher Barriere) oder stationäre psychiatrische Behandlungen oder auch eine leitliniengerechte, im antidepressiven Bereich wirksame Medikation unter Blutspiegelkontrollen eingeleitet hat. Dies gilt umso mehr, als L seit der 2012 durchgeführten Rehabilitationsmaßnahme, in der keine relevante Leistungsminderung festgestellt wurde, von einer Verschlechterung des Gesundheitszustandes ausgegangen ist. Der Sachverständige weist zudem für den Senat nachvollziehbar darauf hin, dass die Behandlung mit 60mg Cymbalta täglich unterhalb des therapeutisch wirksamen Bereiches liegt. Diese Dosierung ist bereits in dem als Urkunde verwertbaren Gutachten von G vom 13.10.2016 referiert worden. Dem Gutachten von V lässt sich zur Dosierung mangels Angaben des Klägers nichts Gegenteiliges entnehmen. Die danach nicht einmal wirksame medikamentöse Behandlung spricht noch mehr gegen das Vorliegen einer psychischen Erkrankung in dem von L berichteten Ausmaß. Zudem hat der im vorangegangen Klageverfahren gehörte gerichtliche Sachverständige F in ausführlicher Auseinandersetzung mit dem dortigen Vorgutachten von A überhaupt keine bekannte Erkrankung auf psychiatrischem Fachgebiet feststellen können, was erst recht gegen das Vorliegen einer höhergradigen Erkrankung spricht.

Hinzu kommt die von dem Sachverständigen S wie auch bereits in dem Reha-Entlassungsbericht der P-Klinik vom 04.04.2012, dem Gutachten von H vom 12.07.2012 und dem Gutachten des gerichtlichen Sachverständigen F vom 20.05.2015 und auch in dem Gutachten von G berichtete und zunehmend als erheblich bzw. auffällig beschriebene Aggravation des Beschwerdebildes durch den Kläger. Die damit festzustellende Aggravation schließt eine Erwerbsminderung zwar nicht zwangsläufig aus. Gerade in dem hier relevanten psychiatrischen Bereich führt eine festgestellte Aggravation aber dazu, dass die Angaben des Versicherten, auf die sich die Befunderhebung auch stützt, kritischer zu hinterfragen sind. Dies gilt umso mehr bei dem schon in dem Reha-Entlassungsbericht 2012 angegebenen Rentenwunsch. Dieser wird hier auch durch den nach Rücknahme der Berufung Anfang 2016 im August desselben Jahres ohne nachweisbare Verschlechterung des Gesundheitszustandes gestellten Rentenantrag dokumentiert. Den Stellungnahmen von L ist jedoch nicht zu entnehmen, dass er dies berücksichtigt hätte. L hat den Kläger nach seinen eigenen Angaben vielmehr gerade dazu „ermuntert“, die Rente wegen Erwerbsminderung zu beantragen, obwohl in dem Reha-Entlassungsbericht 2012 gerade keine Erwerbsminderung angenommen worden war. Soweit der gerichtliche Sachverständige V bei der Untersuchung am 31.03.2020 eine derzeit schwer ausgeprägte rezidivierende depressive Störung festgestellt und daneben eine chronische Schmerzstörung mit somatischen und psychischen Faktoren festgestellt hat, ist dies durch die nachfolgende Begutachtung durch S widerlegt. Denn S weist für den Senat nachvollziehbar darauf hin, dass die entsprechenden Diagnosen nicht hergeleitet und begründet wurden. Der von V mitgeteilte psychische Befund ist dazu auch mit anamnestischen Angaben des Klägers vermischt. Abgesehen davon hat auch V keine Hinweise auf ausgeprägte kognitive oder mnestische Störung gesehen und hat entgegen der Auffassung von L – auf die sich die Berufungsbegründung wesentlich stützt – insbesondere keine Aufmerksamkeits- oder Gedächtnisstörungen festgestellt. Zudem hat V ebenso wie S den Kläger nicht als schmerzgeplagt wahrgenommen. S hat für den Senat nachvollziehbar dargestellt, dass die – auch in dem Gutachten von G genannte – Diagnose einer anhaltenden bzw. chronischen Schmerzstörung mit somatischen und psychischen Faktoren nicht gestellt werden kann. Denn der Kläger wirkte nicht schmerzgeplagt, er suchte auch nicht häufig nach organischen Abklärungen seiner Beschwerden oder beharrte auf solchen Erklärungen. Er nimmt auch nur ein leichtes Schmerzmittel ein. Eine weitergehende Schmerztherapie wurde nicht durchgeführt und von dem behandelnden Arzt offenbar auch nicht für nötig gehalten. L hat diese Diagnose im Übrigen in seinen beiden letzten Aussagen 2018 bzw. 2019 auch nicht mehr erwähnt. Soweit in dem Gutachten von G auch eine Somatisierungsstörung und eine somatoforme Schmerzstörung erwähnt werden, hat der Sachverständige S darauf hingewiesen, dass auch eine Somatisierungsstörung bei fehlendem Nachweis weitergehender Versuche zur Abklärung entsprechender körperlicher Beschwerden nicht festgestellt werden kann. Im Übrigen ergibt sich aus dem Gutachten von G auch keine abweichende Leistungseinschätzung.

Weitere für das berufliche Leistungsvermögen relevante Erkrankungen hat der Kläger nicht geltend gemacht. Solche Erkrankungen sind auch nicht anderweitig – hier etwa aus der Mitteilung von D gegenüber der Beklagten – ersichtlich. Aus der Aussage von Y in seiner Aussage im vorangegangenen Klageverfahren vom 14.03.2013 lässt sich eine Bandscheibenvorwölbung im Bereich der LWS mit Beschwerden entnehmen und u.a. aus dem Gutachten von S ergibt sich die entsprechende Einnahme eines leichten Schmerzmittels.

Das berufliche Leistungsvermögen des Klägers ist durch seine Erkrankungen qualitativ eingeschränkt. So sind Akkord- und Fließbandarbeiten und Arbeiten in Wechselschicht zu vermeiden, da eine regelmäßige Tagesstruktur bei psychischen Störungen stabilisierend wirkt. Der Senat stützt sich hierfür auf die nachvollziehbaren Ausführungen in dem Gutachten des gerichtlichen Sachverständigen S. Im Hinblick auf die auch nach Auffassung des Klägers nicht rentenrechtlich relevanten Erkrankungen der Wirbelsäule sind zudem – wie in dem Widerspruchsbescheid bereits ausgeführt – nur Arbeiten in wechselnder Körperhaltung zumutbar.

Der Kläger ist mit diesen qualitativen Leistungseinschränkungen beruflich zwar nur noch eingeschränkt einsetzbar. Zu einer konkreten Darlegung der Tätigkeiten, zu denen er aus gesundheitlichen Gründen noch in der Lage ist, besteht bei einem Leistungsvermögen für zumindest körperlich leichte Tätigkeiten des allgemeinen Arbeitsmarktes auch bei qualitativen Einschränkungen jedoch keine Verpflichtung (vgl. BSG, Urteil vom 11.12.2019 – B 13 R 7/18 R –, in juris). Das dargestellte Restleistungsvermögen erlaubt Verrichtungen oder Tätigkeiten, wie sie in ungelernten Tätigkeiten üblicherweise gefordert werden, wie z.B. das Zureichen, Abnehmen, Transportieren, Reinigen, Bedienen von Maschinen, Kleben, Sortieren, Verpacken und das Zusammensetzen von Teilen (vgl. BSG, Urteil vom 09.05.2012 – B5 RJ 68/11 R –, in juris, dort Rn. 25 m.w.N.). Dieser Kern an typischen körperlichen Verrichtungen ist nach der Rechtsprechung des BSG nicht überholt. Die Aufzählung der Arbeitsfelder und Verrichtungen ist nicht abschließend; sie kann etwa um einfache Büro- oder Montagetätigkeiten und im Hinblick auf die zunehmende Automatisierung von Prozessen auch z.B. um Verrichtungen wie das Messen, Prüfen, Überwachen und die (Qualitäts-)Kontrolle von Produktionsvorgängen erweitert werden (BSG, Urteil vom 11.12.2019 – a.a.O.). Die Benennung einer Verweisungstätigkeit ist vorliegend auch nicht wegen einer Summierung ungewöhnlicher Leistungseinschränkungen oder des Vorliegens einer schweren spezifischen Leistungsbehinderung oder unter dem Gesichtspunkt der Verschlossenheit des Arbeitsmarktes (vgl. dazu zusammenfassend BSG, Urteil vom 11.12.2019 – a.a.O.) erforderlich.

Zur Überzeugung des Senats ist der Kläger dann, wenn die genannten qualitativen Leistungseinschränkungen beachtet werden, auch in der Lage, arbeitstäglich mindestens 6 Stunden in einer körperlich leichten Tätigkeit unter den üblichen Bedingungen des allgemeinen Arbeitsmarktes erwerbstätig zu sein. Der Senat stützt sich auch insoweit auf das Gutachten des gerichtlichen Sachverständigen S. Die von ihm vorgenommene Leistungseinschätzung ist aus den festgestellten Erkrankungen und den damit verbundenen geringfügigen Funktionsbeeinträchtigungen schlüssig abzuleiten und daher für den Senat überzeugend. Die Leistungseinschätzung stimmt zudem mit derjenigen in dem Gutachten von G und dem Gutachten von F aus dem vorangegangenen Verfahren überein. Der Senat vermochte sich demgegenüber nicht der Leistungseinschätzung von L anzuschließen, da der dort genannte Schweregrad der Erkrankung nicht nachgewiesen ist und er zudem eine anderweitig mehrfach festgestellte Aggravation unberücksichtigt gelassen hat. Aus demselben Grund vermag sich der Senat auch der Leistungseinschätzung von V nicht anzuschließen. Die Ausführungen des Sachverständigen V zum Vorliegen bzw. Nichtvorliegen von Aggravation sind wenig überzeugend, worauf der Sachverständige S hingewiesen hat. V hat testpsychologisch Hinweise auf eine mögliche Betonung der Beschwerden, eine Aggravation oder Simulation bzw. ganz massive Auffälligkeiten bezüglich einer möglichen Aggravation oder Betonung der Beschwerden gesehen (S. 16, 18 des Gutachtens) und hat auch das Tragen der weitgehend unbenutzten Kniegelenksbandage so eingeordnet (S. 19 des Gutachtens). Er hat eine relevante Aggravation oder Simulation dann aber unter Berücksichtigung des geschilderten Tagesablaufs und des erhobenen psychischen Befundes als ausgeschlossen bezeichnet (S. 20 des Gutachtens). Dem Sachverständigen S ist daher zuzustimmen, dass V zwar deutliche Hinweise auf Aggravation gesehen, diese aber im Ergebnis ebenso wie die im Widerspruch zum angegebenen Schweregrad der Erkrankung stehende Therapie unberücksichtigt gelassen hat. Dasselbe gilt für den in dem Gutachten angegebenen Grad der Schmerzen von 10/10 bei zugleich von dem Sachverständigen mitgeteiltem fehlendem Eindruck einer Schmerzgeplagtheit. Die sich aufdrängende Frage nach einer Aggravation, die in den Vorgutachten bereits thematisiert worden war, ist in dem Gutachten von V daher nicht überzeugend beantwortet worden.

Mit dem dargestellten Leistungsvermögen ist der Kläger weder voll noch teilweise erwerbsgemindert, so dass weder ein Anspruch auf Rente wegen voller Erwerbsminderung nach § 43 Abs. 2 SGB VI noch ein Anspruch auf Rente wegen teilweiser Erwerbsminderung nach § 43 Abs. 1 SGB VI besteht.

Der Kläger hat daneben auch keinen Anspruch auf Rente wegen teilweiser Erwerbsminderung bei Berufsunfähigkeit (§§ 43 Abs. 1, 240 SGB VI), da er ausgehend von seiner zuletzt ausgeübten Tätigkeit als Hilfsarbeiter in einer Bäckerei nach dem von dem BSG entwickelten Mehrstufenschema zumutbar auf alle (auch ungelernten) Tätigkeiten des allgemeinen Arbeitsmarktes verwiesen werden kann. Der Senat verweist insoweit auf die Begründung des Widerspruchsbescheides und die Entscheidungsgründe des Urteils des SG (§§ 136 Abs. 3, 153 Abs. 2 SGG) und sieht daher von einer eigenen Darstellung ab, zumal der anwaltlich vertretene Kläger insoweit nichts geltend gemacht hat.

Der Sachverhalt ist vollständig aufgeklärt. Die vorliegenden ärztlichen Unterlagen und insbesondere das Gutachten von S haben dem Senat die für die richterliche Überzeugungsbildung notwendigen sachlichen Grundlagen vermittelt (§ 118 Abs. 1 Satz 1 SGG, § 412 Abs. 1 ZPO). Der zuletzt gehörte Sachverständige hat auch keine weiteren Ermittlungen mehr für erforderlich gehalten. Die rechtskundig vertretene Klägerin hat ihrerseits auch keine weitere Beweiserhebung beantragt bzw. angeregt, so dass sich der Senat auch unter diesem Gesichtspunkt nicht zu weiteren medizinischen Ermittlungen gedrängt sieht (vgl. BSG, Beschluss vom 28.09.2020 – B 13 R 45/19 B –, in juris Rn. 11).

Die Berufung war nach alledem zurückzuweisen.

Die Kostenentscheidung beruht auf § 193 SGG.

Die Kosten des gemäß § 109 SGG im Berufungsverfahren eingeholten Gutachtens von V sowie die damit verbundenen baren Auslagen des Klägers sind nach dem Ermessen des Senats nach § 109 Abs. 1 Satz 2 SGG auf die Staatskasse zu übernehmen. Die Anhörung des Sachverständigen kann danach davon abhängig gemacht werden, dass der Antragsteller die Kosten vorschießt und vorbehaltlich einer anderen Entscheidung des Gerichts endgültig trägt. Die Kosten sind bereits von dem Kläger vorschussweise getragen worden. Über die endgültige Kostentragung kann der Senat dabei auch bereits im Urteil entscheiden (vgl. LSG Baden-Württemberg, Beschluss vom 16.08.2006 – L 1 U 3854/06 KO-B –, juris).  Die Kosten eines nach § 109 SGG eingeholten Gutachtens sind nur dann auf die Staatskasse zu übernehmen, wenn das Gutachten für das weitere Verfahren Bedeutung gewonnen, zusätzliche, für die Sachaufklärung bedeutsame Gesichtspunkte erbracht und diese damit objektiv gefördert hat, dies aber nicht zwingend mit einem für den Antragsteller positiven Ergebnis (MKLS/Keller SGG § 109 Rdnr. 16a). Dient das Gutachten als Ersatz für ein von Amts wegen einzuholendes Gutachten oder ist infolge des auf Antrag erstatteten Gutachtens nunmehr von Amts wegen weiter Beweis zu erheben, sind die Kosten im Regelfall zu übernehmen. Der Ausgang des Verfahrens oder der Gesichtspunkt, ob das Gutachten die Erledigung des Rechtsstreits ohne Urteil gefördert und damit dem Rechtsfrieden gedient hat, ist dagegen von untergeordneter Bedeutung (LSG Baden-Württemberg, Beschluss vom 08.05.2013 – L 6 U 1457/13 B –, in juris Rn. 14). Ausgehend hiervon sind die Kosten des bei V eingeholten Gutachtens auf die Staatskasse zu übernehmen, auch wenn der Senat sich nicht auf dieses Gutachten gestützt hat. Denn der Senat hat erst infolge dieses Gutachtens das weitere Gutachten nach § 106 SGG bei S eingeholt, mit dem den Sachverhalt abschließend geklärt werden konnte.

Gründe für die Zulassung der Revision liegen nicht vor.

Rechtskraft
Aus
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