Ein Vertragsarzt/eine Vertragsärztin darf nach Beendigung der Anstellung übergangsweise sich selbst auf dem vakant gewordenen Arztsitz vertreten.
1. Es wird festgestellt, dass der Bescheid der Beklagten vom 11. Dezember 2018 in der Gestalt des Widerspruchsbescheides vom 11. September 2019 rechtswidrig gewesen ist und die Beklagte verpflichtet gewesen wäre, die Vertretung durch Frau Dr. med. E. in der Zeit vom 01. Oktober 2017 bis 11. Dezember 2017 auf dem vakanten hausärztlichen Angestelltensitz mit Faktor 0,5 bei der Klägerin zuzulassen.
2. Die Beklagten trägt die Gerichtskosten sowie die erstattungsfähigen außergerichtlichen Kosten der Klägerin.
Tatbestand
Das Verfahren betrifft die Rechtsfrage, ob sich eine ehemals in einem Medizinisches Versorgungszentrum (MVZ) angestellte Ärztin gemäß § 32b Abs. 6 Ärzte-Zulassungsverordnung (Ärzte-ZV) auf dem vakant gewordenen Arztsitz selbst „vertreten" kann.
Die Klägerin ist ein MVZ und nimmt an der vertragsärztlichen Versorgung teil.
Dr. E. war bei der Klägerin angestellt, zuletzt mit jeweils einem halben Versorgungsauftrag als Fachärztin für Anästhesiologie und für Allgemeinmedizin.
Mit Schriftsatz vom 23. August 2017 zeigte die Klägerin dem Zulassungsausschuss an, dass die vertragsärztliche Tätigkeit von Dr. E. Wirkung zum 30. September 2017 enden werde. Dies stellte der Zulassungsausschuss in seiner Sitzung am 12. September 2017 entsprechend fest.
Die Klägerin beschäftigte sodann für die Zeit vom 1. Oktober bis November 2017 Dr. E. als Vertreterin des nunmehr vakanten halben Sitzes für Allgemeinmedizin. Dies wurde der Beklagten per Formular am 4. Oktober 2017 angezeigt.
Dr. E. setzte ihre Tätigkeit fort. Ihre Leistungen wurden im Honorarbescheid für das Quartal IV/2017 durch die Beklagte vollständig von der Vergütung ausgeschlossen. Gegen den Honorarbescheid legte die Klägerin Widerspruch ein.
Mit Bescheid vom 11. Dezember 2018 lehnte die Beklagte die Genehmigung für die Vertretung von Dr. E. ab. Ein Vertragsarzt dürfe sich nur durch einen „anderen Vertragsarzt“ vertreten lassen. Eine Vertretung durch sich selber sei gesetzlich nicht vorgesehen. Die Ärzte-ZV verlange eine Personenverschiedenheit.
Ihren gegen diesen Bescheid am 18. Dezember 2018 erhobenen Widerspruch begründete die Klägerin dahingehend, dass betreffend des hälftigen Versorgungsauftrages im Bereich der Anästhesie schnell eine Nachfolgerin gefunden worden sei, die sodann durch die Klägerin angestellt wurde. Für den hälftigen hausärztlichen Versorgungsauftrag habe sich die Nachfolge schwieriger gestaltet. Aus diesem Grund sei seitens der Klägerin mit Dr. E. vereinbart worden, dass diese die hausärztliche Versorgung zunächst aufrechterhalte, indem sie den vormals durch sie bekleideten, nunmehr vakanten Sitz als Vertreterin besetzte. Sie habe erst durch den Arztinfobrief für das Quartal IV/2017 Kenntnis davon erlangt, dass die von Dr. E. als Vertreterin behandelten Patienten/Patientinnen nicht vergütet würden.
Die Beklagte wies den Widerspruch mit Widerspruchsbescheid vom 11. September 2019 zurück und berief sich auf die von § 32 Abs. 1 S. 5 Ärzte-ZV geforderte Personenverschiedenheit bei einer Vertretung. Im Bereich der Klägerin habe auch keine Unterversorgung vorgelegen. Schließlich sei darauf hinzuweisen, dass – sofern ein Vertreter/eine Vertreterin bereits vor Genehmigung durch die Beklagte beschäftigt würde – das Risiko eines Vergütungsausschlusses bei der Klägerin liege.
Gegen diesen Bescheid richtet sich die am 15. Oktober 2019 zum Sozialgericht Marburg erhobene Klage, zu deren Begründung die Klägerin vorträgt, dass es sich vorliegend gerade nicht um die Vertretung eines verhinderten Vertragsarztes nach § 32b Abs. 1 S. 1 der Ärzte-ZV handele, sondern um die vorübergehende Vertretung eines vakanten Vertragsarztsitzes nach § 32b Abs. 6 S. 2 Ärzte-ZV.
Darüber hinaus sei die Vakanzvertretung durch den Vorgänger des Sitzes durch die Beklagte in der Vergangenheit immer zugelassen worden. Dies zeige, dass die Rechtsauffassung der Klägerin vormals geteilt worden sei und dass ein grundsätzlicher Bedarf an der übergangsweisen Vertretung eines vakanten Sitzes durch dessen Vorgänger bestehen könne. Zwar sei der Klägerin am 6. Oktober 2017 durch Mitarbeiter der Beklagten telefonisch mitgeteilt worden, dass man überlege, eine andere Spruchpraxis handhaben zu wollen. Hierzu sei jedoch auch im Nachgang keine weitere Information ergangen. Man habe deshalb davon ausgehen können, dass — wie bisher geschehen — eine Vakanzvertretung durch ehemals angestellte Ärzte weiterhin möglich sei.
Eine Abkehr von der Praxis der Genehmigung von Vakanzvertretungen durch den Vorgänger/die Vorgängerin sei von der Beklagten erst unmittelbar nach dem Beginn der Vertretungsvakanz durch Dr. E. durch Absetzung des Honorars mitgeteilt und erst nach Ablauf über eines Jahres durch den ablehnenden Bescheid klargestellt worden. Sofern sich die Beklagte darauf berufe, dass in dieser Schwebelage eine Entscheidung abzuwarten gewesen wäre, so sei dies im Hinblick auf den Versorgungsauftrag untragbar.
In Anbetracht der Dauer der Vertretung habe Dr. E. ein Abwarten der Entscheidung nicht zugemutet werden können, zumal der Zeitraum in welchem sie den vakanten Sitz als Vertreterin bekleiden wollte, nur einen Bruchteil des Zeitraums betragen habe, den die Beklagte zum Finden ihrer letztlich ablehnenden Entscheidung benötigt habe. Selbst wenn man den in § 32b Abs. 6 S. 2 Ärzte-ZV genannten Zeitraum von 6 Monaten zu Grund legte, hätte Dr. E. etwa doppelt so lange abwarten müssen, wie sie nach dieser Grundlage hätte maximal tätig werden dürfen.
Dies wiege umso schwerer, da bei rechtzeitiger Ablehnung der Klägerin die Möglichkeit offen gestanden hätte, hausintern eine andere, kurzfristige Übergangslösung für die Sicherstellung des hälftigen hausärztlichen Versorgungsauftrages zu finden, um eine ausreichende Versorgung sicherzustellen.
Die Klägerin beantragt,
festzustellen, dass der Bescheid vom 11. Dezember 2018 in der Gestalt des Widerspruchsbescheides vom 11. September 2019 rechtswidrig gewesen ist und die Beklagte verpflichtet gewesen wäre, die Vertretung durch Frau Dr. med. E. in der Zeit vom 01. Oktober 2017 bis 11. Dezember 2017 auf dem vakanten hausärztlichen Angestelltensitz mit Faktor 0,5 bei der Klägerin zuzulassen.
Die Beklagte beantragt,
die Klage abzuweisen.
Sie trägt vor, dass § 32 Abs. 1 Satz 5 Ärzte-ZV denklogisch und expressis verbis eine Personenverschiedenheit zwischen Vertreter und Vertretenem vorgebe. Insofern finde die Auslegungsfähigkeit einer Norm zumindest in ihrem klaren und eindeutigen Wortlaut ihre Grenzen, der ausdrücklich von einem „anderen“ Vertragsarzt spreche.
Daran ändere auch die Neuregelung der Vertretungsmöglichkeit für angestellte Ärzte in § 32 b Abs. 6 Ärzte-ZV nichts. Der Geltungsverweis auf ganz konkret die Regelungen des § 32 Abs. 1 und 4 Ärzte-ZV lasse insoweit keinen Interpretationsspielraum.
Soweit die Klägerin der Ansicht sei, die Tätigkeit von Dr. E. sei – aufgrund der längeren Verfahrensdauer – auch bereits ohne Genehmigungsbescheid zulässig gewesen, so widerspreche dies fundamental der Unmöglichkeit rückwirkender Statusentscheidungen.
Unstreitig und nach eigenem Vortrag der Klägerin selbst habe diese direkt ab Beginn der ungenehmigten Tätigkeit von Dr. E. Kenntnis davon gehabt, dass die Beklagte diese Tätigkeit nicht genehmigen werde. Von einer Änderung der Spruchpraxis könne keine Rede sein, da § 32 b Abs. 6 Ärzte-ZV erst mit dem GKV-VSG im Juli 2015 eingeführt worden sei.
Wegen der weiteren Einzelheiten des Sach- und Streitstandes wird auf die Verwaltungsakte der Beklagten sowie die Prozessakte verwiesen, die in der mündlichen Verhandlung vorgelegen haben und Gegenstand der Entscheidungsfindung waren.
Entscheidungsgründe
Die Kammer hat in der Besetzung mit zwei ehrenamtlichen Richterinnen aus den Kreisen der Vertragsärzte und Vertragspsychotherapeuten verhandelt und entschieden, weil es sich um eine Angelegenheit der Vertragsärzte und Vertragspsychotherapeuten handelt (§ 12 Abs. 3 Satz 2 Sozialgerichtsgesetz – SGG).
Die Klage ist als Fortsetzungsfeststellungsklage zulässig. Nach Ablauf des Vertretungszeitraums ist der Verwaltungsakt erledigt und die Klage kann nur als Fortsetzungsfeststellungsklage nach § 131 Abs. 1 Satz 3 SGG geführt werden. Das erforderliche Feststellungsinteresse in Form eines Präjudizinteresses ergibt sich aus dem Umstand, dass die Klägerin für die Leistungen von Dr. E. im Vertretungszeitraum kein Honorar erhalten hat. Gegen den Honorarbescheid ist noch ein Widerspruchsverfahren bei der Beklagten anhängig. Die Verfahren sind voneinander abhängig. Eine Honorierung der erbrachten Leistungen ist davon abhängig, ob die angezeigte Vertretung zulässig war.
Die Klage ist auch begründet. Der ablehnende Bescheid der Beklagten vom 11. Dezember 2018 in der Gestalt des Widerspruchsbescheides vom 11. September 2019 ist rechtswidrig gewesen und hat die Klägerin in ihren Rechten verletzt. Die Beklagte wäre verpflichtet gewesen, die Vertretung durch Dr. E. in der Zeit vom 01. Oktober 2017 bis November 2017 auf dem vakanten hausärztlichen Angestelltensitz mit Faktor 0,5 bei der Klägerin zuzulassen.
Einer Genehmigung durch die Beklagte bedurfte es vorliegend nicht. Eine Genehmigung durch die Kassenärztliche Vereinigung ist bezogen auf die Beschäftigung eines Vertreters lediglich dann einzuholen, wenn die Dauer der Vertretung für einen Zeitraum von mehr als drei Monaten innerhalb eines Jahres bzw. bei einer Entbindung 12 Monate beträgt, § 32 Abs. 1 Ärzte-ZV. Ausweislich des Antragsformulars war die Vertretung jedoch lediglich für den Zeitraum von 10 Wochen geplant. Sofern die Vertretung länger als eine Woche dauert, ist sie der Kassenärztlichen Vereinigung lediglich anzuzeigen; eine deklaratorische Feststellung oder etwaige Rückmeldung seitens der Kassenärztlichen Vereinigung bezogen auf die Vertretungsmeldung ist im Falle solcher genehmigungsfreien Vertretungen nach § 32 Abs. 1 Ärzte-ZV nicht erforderlich.
Rechtsgrundlage des Anspruchs ist § 32b Abs. 6 Ärzte-ZV in Verbindung mit § 32 Abs. 1 S. 5 Ärzte-ZV. Zur Überzeugung der Kammer ist nach Auslegung dieser Normen die Vakanzvertretung durch einen zuvor angestellten Arzt/eine zuvor angestellte Ärztin rechtmäßig.
Der Beklagten ist zuzugeben, dass nach reiner Wortlautauslegung des § 32 Abs. 1 S. 5 Ärzte-ZV eine Personenverschiedenheit erforderlich ist. Denn die Norm setzt die Vertretung durch einen „anderen“ Vertragsarzt voraus.
Die Gesetzesmaterialien geben hinsichtlich der Auslegung dieser Rechtsfrage hingegen keinerlei Aufschluss.
Jedoch gebietet eine Auslegung nach Sinn und Zweck ein weitergehendes Verständnis. Grundsätzlich ist § 32 Abs. 1 S. 5 Ärzte-ZV für den Fall geschaffen worden, dass selbständig tätige Ärzte/Ärztinnen im Falle von Krankheit, Urlaub, oder Teilnahme an Fortbildungen bzw. Wehrübungen (vgl. § 32 Abs. 1 S. 2 Ärzte-ZV); bzw. Ärztinnen auch aufgrund der Entbindung eines Kindes (Vgl. § 32 Abs. 1 S. 2 Ärzte-ZV) sich vertreten lassen können. Diese Vertretungsgründe stehen im unmittelbaren Zusammenhang mit dem Argument der Personenverschiedenheit aus S. 5, da in diesem Kontext ein Einsatz des ursprünglichen Arztes entweder „unsinnig" (z. Bsp. Urlaubsvertretung durch sich selbst) oder sogar bedenklich (Schwangerschaftsvertretung durch sich selbst) ist.
Der gegenüber dem § 32 Ärzte-ZV erst durch das Gesetz zur Stärkung der Versorgung in der gesetzlichen Krankenversicherung (GKV-Versorgungsstärkungsgesetz – GKV-VSG) mit Wirkung zum 23. Juli 2015 eingeführte § 32b Abs. 6 Ärzte-ZV erweitert die Anwendung auf angestellte Ärzte/Ärztinnen in Situationen wie denen des § 32 Abs. 1 Ärzte-ZV, wobei dies durch § 32b Abs. 6 S. 2 Ärzte-ZV zusätzlich um die Vertretung angestellter Ärzte ergänzt wurde, deren Anstellungsverhältnis beendet ist. Beispielhaft, also nicht abschließend, werden die Kündigung des angestellten Arztes, sowie dessen Tod aufgeführt.
Der streitgegenständliche Fall fällt in den von § 32b Abs. 6 S. 2 Ärzte-ZV eröffneten Anwendungsbereich. Dr. E. hat ihre ursprüngliche Tätigkeit bei der Klägerin als Angestellte zum 30. September 2017 beendet, was vom Zulassungsausschuss am 12. September 2017 bestätigt wurde. Nur hinsichtlich des hausärztlichen Versorgungsauftrags begehrt sie eine Vertretungsgenehmigung für den nach ihrer Beendigung vakanten Sitz für den Zeitraum vom 1. Oktober 2017 bis längstens zum 11. Dezember 2017. Ein solcher Fall der Vakanzvertretung ist nicht mit den Fällen des § 32 Abs. 1 Ärzte-ZV uneingeschränkt vergleichbar. Anders als in ebendiesen Konstellationen, sind beim Ausscheiden von ärztlichem Personal mit einem Versorgungsauftrag Vertretungen durch ebendiese Personen nicht logisch ausgeschlossen und im Hinblick auf Konstellationen wie der Vorliegenden zur Sicherstellung und Gewährleistung des Versorgungsniveaus sogar geboten. Die Möglichkeit der Anstellung von Vertragsärzten/Vertragsärztinnen nach § 95 Abs. 9 SGB V geht mit einer Flexibilisierung der Versorgungslandschaft einher und ermöglicht häufigere und schnellere Wechsel von ärztlichem Personal. Vor diesem Hintergrund ist es zur kontinuierlichen Sicherstellung der vertragsärztlichen Versorgung zielführend, wenn flexible Übergangslösungen für das spontane Ausscheiden von ärztlichem Personal möglich sind. So können längere Vakanzen vermieden werden. Wenn es um einen vakanten Angestelltensitz geht und demzufolge überhaupt kein Arzt/keine Ärztin für den Zeitraum bis zur Nachbesetzung eben dieses vakanten Sitzes für die vertragsärztliche Tätigkeit zur Verfügung steht, sind keine Gründe ersichtlich, die gegen eine Vertretung durch einen gerade zuvor ausgeschiedenen Arzt/Ärztin sprechen. Der Sinn und Zweck einer Vertretung ist es, bei Verhinderung des Vertragsarztes für Zeiten jener Unterbrechung die vertragsärztliche Tätigkeit weiterzuführen. Dass dies auch – im Rahmen der ohnehin durch § 32 Ärzte-ZV vorgegebenen Vertretungsfristen – übergangsweise durch einen bisher angestellten Arzt/Ärztin möglich ist, erscheint aus Sicherstellungsgründen geboten.
Aus diesen Gründen musste die Klage Erfolg haben.
Die Kostenentscheidung beruht auf § 197a SGG in Verbindung mit § 154 VwGO und folgt der Entscheidung in der Hauptsache.