1. Bei dem Arzneimittel Lektinol handelt es sich um ein phytotherapeutisches Mistelpräparat, das ohne fundierte Überprüfung von Qualität, Wirksamkeit und Unbedenklichkeit in der Bundesrepublik Deutschland lediglich aufgrund einer fiktiven Zulassung verkehrsfähig ist. Ein Anspruch auf Verordnung des Arzneimittels zulasten der gesetzlichen Krankenversicherung besteht daher nicht (verneint für die Behandlung eines Leberzellkarzinoms).
2. Aus der Zulassung des Arzneimittels Lektinol zur adjuvanten und palliativen Behandlung von Krebserkrankungen in einen anderen Mitgliedstaat der Europäischen Union folgt nicht automatisch eine Arzneimittelzulassung für die Bundesrepublik Deutschland.
3. Ein Anspruch auf Übernahme der Kosten für die Beschaffung von Lektinol zur Behandlung eines Leberzellkarzinoms ergibt sich auch nicht nach den Grundsätzen des Off-Label-Use oder aufgrund einer grundrechtsorientierten Auslegung des Leistungsrechts.
THÜRINGER LANDESSOZIALGERICHT
Az: L 2 KR 62/17
Az: S 38 KR 2865/16
- Sozialgericht Gotha-
Im Namen des Volkes
URTEIL
In dem Rechtsstreit
………………………………,
………………………………………………
als Sonderrechtsnachfolgerin d. ……………………..
- Klägerin und Berufungsklägerin -
Prozessbevollmächtigte:
…………………………………,
………………………………………
gegen
…………………….
…………………………….,
…………………………………………….,
…………………………..
- Beklagte und Berufungsbeklagte -
hat der 2. Senat des Thüringer Landessozialgerichts durch den Vizepräsidenten des Landessozialgerichts Dr. Böck, die Richterin am Landessozialgericht Teichgräber und den Richter am Sozialgericht Schüller sowie die ehrenamtliche Richterin Waldheim-Schütze und den ehrenamtlichen Richter Madeheim ohne mündliche Verhandlung am 19. August 2021 für Recht erkannt:
Die Berufung der Klägerin gegen den Gerichtsbescheid des Sozialgerichts Gotha vom 19. Dezember 2016 wird zurückgewiesen.
Die Beteiligten haben einander auch für das Berufungsverfahren keine Kosten zu erstatten.
Die Revision wird nicht zugelassen.
Tatbestand
Die Beteiligten streiten über einen Anspruch der Klägerin als Sonderrechtsnachfolgerin ihres verstorbenen Ehemannes (nachfolgend Versicherter) auf Übernahme der Kosten für die Beschaffung des Arzneimittels Lektinol.
Bei dem im Jahr 1970 geborenen B. wurde im Februar 2010 ein hepatozelluläres Karzinom im rechten Leberlappen diagnostiziert, welches zeitnah operativ entfernt wurde. Weiterhin wurden im April 2010 und Juli 2010 pulmonale Metastasen operativ entfernt. Im September 2010 begann der Versicherte eine Therapie mit dem Arzneimittel Nexavar (sorafenib). Aufgrund der Therapie mit Nexavar kam es zu starken Nebenwirkungen und Hautveränderungen. In der Folge wurde die Dosis von Nexavar seit Anfang November 2010 auf die Hälfte herabgesetzt. Zur Vermeidung bzw. Minderung der durch das Arzneimittel Nexavar verursachten Nebenwirkungen nahm der Versicherte Lektinol, ein Mistelpräparat, das in Deutschland nur über eine fiktive Zulassung verfügt, ein. Die Kosten für Lektinol übernahm die Beklagte zunächst jedenfalls bis ins I. Quartal des Jahres 2016.
Mit Antrag vom 2. Mai 2016 begehrte der Versicherte die weitere Übernahme der Kosten für das Arzneimittel Lektinol durch die Beklagte. Die weitere Kostenübernahme wurde durch den Hausarzt des Versicherten unterstützt (an die Beklagte gerichtetes Schreiben vom 3. Mai 2016).
Mit Schreiben der Kassenärztlichen Vereinigung Thüringen vom 14. Mai 2016 wurde der Hausarzt des Versicherten darauf hingewiesen, dass das Mistelpräparat Lektinol nur über eine fiktive Zulassung verfüge, sodass keine Leistungspflicht im Rahmen der Gesetzlichen Krankenversicherung (GKV) bestehe. Auf eine dem Rundschreiben 3/2016 beigefügte Beilage, in der auf diesen Umstand bereits hingewiesen worden war, wurde Bezug genommen.
Mit Bescheid vom 17. Mai 2016 lehnte die Beklagte den Antrag des Versicherten ab. Das Arzneimittel Lektinol verfüge über keine wirksame Nachzulassung nach den gesetzlichen Bestimmungen und werde damit nicht den Anforderungen an die Sicherheit im Umgang mit Arzneimitteln gerecht. Es sei damit zu Lasten der gesetzlichen Krankenversicherung nicht verordnungsfähig.
Hiergegen legte der Versicherte am 23. Mai 2016 Widerspruch ein. Er nehme weiterhin das Antikrebsmittel Nexavar ein. Durch die starken Nebenwirkungen zu Beginn der Therapie sei die Dosis gleich wieder auf die Hälfte reduziert worden. Zeitgleich sei eine Begleittherapie mit Lektinol vorgeschlagen und durchgeführt worden. Man solle auch den Kostenfaktor nicht außer Acht lassen. Nexavar würde bei voller Dosis ca. 5.000,00 € monatlich Kosten verursachen. Bei halber Dosis würden für Nexavar Kosten von ca. 2.500,00 € und für Lektinol von 100,00 € entstehen.
Den Widerspruch des Versicherten wies die Beklagte mit Widerspruchsbescheid vom 29. Juli 2016 im Wesentlichen mit der Begründung zurück, dass es für eine Verordnung zu Lasten der GKV nach der Rechtsprechung des Bundessozialgerichts nicht genüge, dass eine Arzneimitteltherapie bei einem Versicherten nach Ansicht seiner Ärzte positiv gewirkt haben solle und ggf. herkömmlichen Arzneimitteln vorzuziehen sei. Erforderlich seien zuverlässige wissenschaftlich nachprüfbare Aussagen über das Arzneimittel in dem Sinne, dass der Erfolg der Behandlung mit ihm durch eine ausreichende Anzahl von Behandlungsfällen belegt sei. Eine Verordnungsfähigkeit im Rahmen der GKV sei nur für Arzneimittel gegeben, die die arzneimittelrechtliche Prüfung erfolgreich durchlaufen hätten und damit verkehrsfähig im Sinne des Arzneimittelgesetzes (AMG) seien. An der krankenversicherungsrechtlichen Zweckmäßigkeit und Wirtschaftlichkeit fehle es jedoch, wenn das verwendete Mittel nach den Regelungen des Arzneimittelrechts einer Zulassung bedürfe und diese Zulassung nicht erteilt worden sei. Das Verfahren der Nachzulassung von Lektinol sei nicht abgeschlossen. Das Arzneimittel verfüge lediglich über eine fiktive Zulassung. Damit sei Lektinol nicht zu Lasten der GKV verordnungsfähig.
Am 5. August 2016 hat der Versicherte gegen den Bescheid vom 17. Mai 2016 in Gestalt des Widerspruchsbescheides Klage erhoben. Unabhängig davon, dass der behandelnde Arzt bei der Verordnung eine hinreichende Begründung im Einzelfall entsprechend § 31 Abs. 1 Satz 5 des Fünften Buches Sozialgesetzbuch (SGB V) gegeben habe und berechtigt gewesen sei, von den einschlägigen Therapiehinweisen als rechtsverbindliche Konkretisierung des Wirtschaftlichkeitsgebots abzuweichen, habe für ihn aufgrund fehlender alternativer Behandlungsmöglichkeiten mit anderen zugelassenen Arzneimitteln mit dem in Lektinol enthaltenen Wirkstoff Anspruch auf ärztliche Versorgung zu Lasten der Beklagten gemäß § 31 SGB V und Anspruch auf Kostenerstattung gemäß § 13 SGB V i.V.m. Art. 2 Abs. 1 und 2 des Grundgesetzes (GG) und dem Gleichbehandlungsgebot bestanden. Darüber hinaus werde geltend gemacht, dass das Arzneimittel Lektinol als Injektionslösung zur subkutanen Injektion für das Anwendungsgebiet der Unterstützung bei allgemeinen Maßnahmen zur Verbesserung der Lebensqualität bei Brustkrebs während und nach einer Chemotherapie als apothekenpflichtiges Arzneimittel mit der Nr. 009355ENR in der Bundesrepublik Deutschland zugelassen worden ist und am 1. Januar 1978 die Verlängerung der Zulassung registriert worden sei.
Nachdem das Sozialgericht Befundberichte der des Versicherten behandelnden Ärzte eingeholt hatte, hat es die Klage mit Gerichtsbescheid vom 19. Dezember 2016 abgewiesen. Das Präparat Lektinol verfüge schon über keine arzneimittelrechtliche Zulassung im Inland. Es handele sich bei Mistelpräparaten um Arzneimittel, die nicht der Verordnungspflicht unterliegen würden, also um freiverkäufliche Arzneimittel. GKV-Versicherte hätten grundsätzlich keinen Anspruch auf Versorgung mit frei verkäuflichen Arzneimitteln. Eine Ausnahme nach Nummer 32 Anlage I der Arzneimittel-Richtlinie (AM-RL) liege nicht vor. Beim Versicherten werde keine Palliativtherapie durchgeführt. Nach Mitteilung der behandelnden Ärzte befinde sich der Versicherte seit Jahren in Remission. Das Bundessozialgericht habe entschieden, dass Versicherte keinen Anspruch auf Versorgung mit dem apotheken- und nicht verschreibungspflichtigen Arzneimittel Iscador M zur adjuvanten Behandlung maligner Tumore hätten. Bei dem Mittel Iscador M handele es sich um ein Apfelbaummistelextrakt. Bei dem Mittel Lektinol sei nur angegeben, dass es sich um ein Mistelextrakt, ohne weitere Spezifizierung, handele. Beide Mistelpräparate seien in Deutschland nicht verschreibungspflichtig. Die Entscheidung des Bundessozialgerichts betreffe alle Mistelpräparate, die zur adjuvanten Behandlung maligner Tumore eingesetzt werden sollten. Nach der Rechtsprechung des Bundessozialgerichts komme eine Einbeziehung von Mistelpräparaten in den Leistungskatalog der GKV auch nicht aus den Grundsätzen einer grundrechtsorientierten Auslegung in Betracht.
Am 13. Januar 2017 hat der Versicherte gegen den Gerichtsbescheid des Sozialgerichts Berufung eingelegt. Er war im Wesentlichen der Auffassung, dass die gesetzlichen Voraussetzungen für die Verordnung von Lektinol zu Lasten der GKV vorliegen würden. Nach Anlage I Nr. 32 AM-RL seien Mistelpräparate in der palliativen Therapie von malignen Tumoren zur Verbesserung der Lebensqualität zu Lasten der Krankenkassen verordnungsfähig. Die durch die Einnahme des Arzneimittels Nexavar hervorgerufenen lebensbedrohlichen Nebenwirkungen und Reaktionen der Haut hätten durch die Begleittherapie mit dem apothekenpflichtigen Arzneimittel Lektinol vermieden werden können. Der ihn behandelnde Arzt habe festgestellt, dass es für die verordnete Begleittherapie mit dem Arzneimittel Lektinol keine zugelassenen wirkstoffidentischen Alternativen gebe. Für den Fall der Reduzierung der Begleittherapie mit Lektinol sei durch den behandelnden Arzt festgestellt worden, dass die durch die Behandlung mit dem Arzneimittel Nexavar bedingten lebensbedrohlichen Begleiterscheinungen wieder auftreten würden. Ein Anspruch auf Übernahme der Kosten für das Arzneimittel Lektinol bestehe jedenfalls deshalb, weil es als Therapie in einer palliativen Situation zur Anwendung komme bzw. gekommen sei.
Die Klägerin beantragt sinngemäß,
den Gerichtsbescheid des Sozialgerichts Gotha vom 19. Dezember 2016 aufzuheben und die Beklagte unter Aufhebung des Bescheides vom 17. Mai 2016 in Gestalt des Widerspruchsbescheides vom 29. Juli 2016 zu verurteilen, die Kosten für das ärztliche verordnete Arzneimittel Lektinol der MEDA Pharma GmbH & Co. KG, Bad Homburg, Zulassungsnummer 093355 ENR vom 1. Januar 1978, im Zeitraum ab 20. Mai 2016 in Höhe von 2.900,70 EUR zu erstatten.
Die Beklagte beantragt,
die Berufung zurückzuweisen.
Zur Begründung nimmt sie auf den Widerspruchsbescheid und die angefochtene Entscheidung des Sozialgerichts Bezug.
Nachdem der Versicherte am 8. September 2020 verstorben war, hat seine Ehefrau erklärt, den Rechtsstreit als seine alleinige Rechtsnachfolgerin fortzuführen (vgl. Schriftsatz vom 5. Oktober 2020).
Mit Schriftsätzen vom 5. bzw. 7. Juli 2021 haben die Beteiligten ihr Einverständnis erklärt, dass der Senat den Rechtsstreit durch Urteil ohne mündliche Verhandlung entscheidet. Hinsichtlich des weiteren Sach- und Streitstandes wird auf die zwischen den Beteiligten gewechselten Schriftsätze sowie die Gerichtsakte und die Verwaltungsakte der Beklagten, die Gegenstand der Beratung des Senats waren, Bezug genommen.
Entscheidungsgründe
Der Senat konnte den Rechtsstreit gemäß § 124 Abs. 2 des Sozialgerichtsgesetzes (SGG) durch Urteil ohne mündliche Verhandlung entscheiden, da die Beteiligten hierzu ihr Einverständnis erklärt haben.
Die gemäß § 151 Abs. 1 SGG form- und fristgerecht erhobene, gemäß § 143 SGG statthafte und auch im Übrigen zulässige Berufung der Klägerin, die den Rechtsstreit als zur Zeit des Todes des Versicherten mit ihm in einem gemeinsamen Hausstand lebende Ehefrau weiterführt, ist unbegründet. Der Gerichtsbescheid des Sozialgerichts vom 19. Dezember 2016 sowie der Bescheid der Beklagten vom 17. Mai 2016 in Gestalt des Widerspruchsbescheides vom 29. Juli 2016, die den Streitgegenstand des Berufungsverfahrens bilden, erweisen sich als rechtmäßig und verletzen die Klägerin nicht in ihren Rechten.
Den Kostenerstattungsanspruch für das Arzneimittel Lektinol verfolgt die Klägerin als Sonderrechtsnachfolgerin des vormaligen Klägers nach § 56 Abs. 1 Satz 1 Nr. 1 des Ersten Buches Sozialgesetzbuch – SGB I (vgl. Bundessozialgericht, Beschluss vom 1. April 2019, B 1 KR 1/19 B, Rn. 8 – zitiert nach juris; Bundessozialgericht, Urteil vom 8. November 2011, B 1 KR 6/11 R, Rn. 10 – zitiert nach juris; Bundessozialgericht, Urteil vom 29. September 2006, B 1 KR 1/06 R, Rn. 10 – zitiert nach juris) zulässigerweise im Wege der objektiven Klagehäufung (§ 56 SGG) mittels allgemeiner Leistungsklage und isolierter Anfechtungsklage (vgl. zum prozessualen Vorgehen Bundessozialgericht, Urteil vom 26. Februar 2019, B 1 KR 24/18 R, Rn. 8 m.w.N. - zitiert nach juris).
Als mögliche Rechtsgrundlage für das Begehren der Klägerin – Erstattung der Kosten für das selbstbeschaffte Arzneimittel – kommt nur § 13 Abs. 3 Satz 1 Alt. 2 SGB V in Betracht. Nach der vorgenannten Vorschrift ist eine Krankenkasse zur Kostenerstattung verpflichtet, wenn sie eine notwendige Leistung zu Unrecht abgelehnt hat und dem Versicherten durch die selbstbeschaffte Leistung Kosten entstanden sind. Der in Betracht kommende Kostenerstattungsanspruch reicht allerdings nicht weiter als ein entsprechender Sachleistungsanspruch; er setzt daher voraus, dass die selbstbeschaffte Behandlung zu den Leistungen gehört, welche die Krankenkassen allgemein in Natur als Sach- oder Dienstleistung zu erbringen haben (st. Rspr. vgl. z.B. Bundessozialgericht, Urteil vom 27. September 2005, B 1 KR 6/04 R, Rn. 13 m.w.N. – zitiert nach juris).
Nach diesen Maßstäben war ein Anspruch auf Erstattung der durch die Beschaffung des Arzneimittels Lektinol entstandenen Kosten zu verneinen, weil es nicht die Anforderungen für ein im Rahmen der gesetzlichen Krankenversicherung verordnungsfähiges Arzneimittel im Sinne von § 27 Abs. 1 Satz 2 Nr. 3, § 31 SGB V erfüllt (hat). Ein Anspruch auf Versorgung mit Arzneimitteln auf der Grundlage der vorstehenden Vorschriften in Verbindung mit dem Wirtschaftlichkeitsgebot (insbesondere § 2 Abs. 1 Satz 3 und § 12 Abs. 1 SGB V) setzt voraus, dass das Arzneimittel, das verordnet werden soll, die Gewähr für Qualität, Wirksamkeit und Unbedenklichkeit nach Maßgabe des allgemein anerkannten Standes der medizinischen Erkenntnisse bietet. Hierfür sind zuverlässige, wissenschaftlich nachprüfbare Aussagen über das Arzneimittel in dem Sinne erforderlich, dass der Erfolg einer Behandlung in einer ausreichenden Zahl von Behandlungsfällen belegt ist (vgl. Bundessozialgericht, Beschluss vom 30. Oktober 2019, B 6 KA 21/18 B, Rn. 11 – zitiert nach juris unter Bezugnahme auf Bundessozialgericht, Urteil vom 6. Mai 2009, B 6 KA 3/08 R, Rn. 17 – zitiert nach juris).
Bei Fertigarzneimitteln, die nach Überprüfung ihrer Qualität, Wirksamkeit und Unbedenklichkeit nach den Vorschriften des AMG in konkret bezeichneten Anwendungsgebieten zum Verkehr zugelassen worden sind, gelten die genannten Voraussetzungen als erfüllt; mit ihrer arzneimittelrechtlichen Zulassung ist deshalb zugleich auch die Verordnungsfähigkeit im Rahmen der GKV grundsätzlich gegeben (Bundessozialgericht, a.a.O., Rn. 12).
Ist die Verkehrsfähigkeit eines Arzneimittels auf der Grundlage des AMG gegeben, ohne dass eine vorherige fundierte Überprüfung von Qualität, Wirksamkeit und Unbedenklichkeit erfolgt ist, kann aus dieser Verkehrsfähigkeit nicht ohne Weiteres auch auf die Verordnungsfähigkeit des Arzneimittels zulasten der gesetzlichen Krankenkassen geschlossen werden (Bundessozialgericht, a.a.O., Rn. 13 unter Bezugnahme auf Bundessozialgericht, Urteil vom 19. März 2002, B 1 KR 37/00 R; Bundessozialgericht, Urteil vom 3. Februar 2010, B 6 KA 37/08 R, Rn. 28 ff; Bundessozialgericht, Beschluss vom 28. August 2013, B 6 KA 27/13 B, Rn. 5 – alle zitiert nach juris). Verfügt ein Präparat aufgrund einer Neugestaltung des Arzneimittelrechts in den 70er Jahren des letzten Jahrhunderts lediglich über eine sog. fiktive Zulassung, d.h. es ist zwar verkehrsfähig, eine fundierte Überprüfung der Qualität, Wirksamkeit und Unbedenklichkeit des Arzneimittels hat aber nicht stattgefunden, besteht ein Anspruch auf Versorgung im Rahmen der GKV nicht (Bundessozialgericht, a.a.O.).
Bei dem streitigen Arzneimittel Lektinol handelt es sich um ein phytotherapeutisches Mistelpräparat (vgl. Lange-Lindberg, Velasco-Garrido, Busse, Misteltherapie als begleitende Behandlung zur Reduktion der Toxizität der Chemotherapie maligner Erkrankungen, DIMDI deutsche agentur für HTA des Deutschen Instituts für Medizinische Dokumentation und Information, Seite 22f.), das ausweislich des Arzneimittel-Informationssystems des Bundesamtes für Arzneimittel und Medizinprodukte (BfArM) lediglich fiktiv zugelassen ist (vgl. auch Schriftsatz des Prozessbevollmächtigten der Klägerin vom 20. Dezember 2017, Seite 112 der Gerichtsakte). Als Fertigarzneimittel im Sinne von § 2 Abs. 1, § 4 Abs. 1 Satz 1 AMG bedürfte es grundsätzlich einer Zulassung auf der Grundlage der §§ 21ff. AMG, um in den Verkehr gebracht zu werden. Eine Zulassung auf der Grundlage der vorgenannten Rechtsnormen ist nicht erfolgt, sodass eine Überprüfung von Qualität, Wirksamkeit und Unbedenklichkeit des Arzneimittels Lektinol nicht stattgefunden hat. Eine Zulassung war ausnahmsweise nur deshalb entbehrlich, weil Lektinol als sog. „Altarzneimittel“ ohne entsprechende Prüfung auf der Grundlage von § 105 AMG verkehrsfähig ist. Ein Anspruch auf Versorgung im Rahmen der GKV wird durch die aufgrund fiktiver Zulassung bestehende Verkehrsfähigkeit jedoch nicht begründet (Bundessozialgericht, Urteil vom 27. September 2005, B 1 KR 6/04 R, Rn. 15ff.; Bundessozialgericht, Urteil vom 3. Februar 2010, B 6 KA 37/08 R, Rn. 28ff.; Bundessozialgericht, Beschluss vom 30. Oktober 2019, B 6 KA 21/18 B, Rn. 13 – alle zitiert nach juris).
Unabhängig von der fehlenden Prüfung und Zulassung nach dem AMG kommt eine Erstattung der Kosten für die Beschaffung von Lektinol auch deshalb nicht in Betracht, weil das Arzneimittel außerhalb seines (fiktiven) Zulassungsbereichs zur Anwendung gekommen ist. Ausweislich der über die Website des Bundesamtes für Arzneimittel und Medizinprodukte abrufbaren Fachinformation kommt Lektinol unterstützend bei allgemeinen Maßnahmen zur Verbesserung der Lebensqualität bei Brustkrebs während und nach einer Chemotherapie zum Einsatz. Vorliegend erfolgte der Einsatz begleitend zu einer Chemotherapie, die nach der Entfernung eines hepatozellulären Karzinoms erfolgt ist. Die Anwendung erfolgte damit außerhalb der (fiktiven) Zulassung. Die Anwendung eines Fertigarzneimittels zu Lasten der GKV setzt grundsätzlich nicht nur die arzneimittelrechtliche Zulassung voraus, sondern darüber hinaus, dass der Einsatz im Rahmen des arzneimittelrechtlich zugelassenen Anwendungsgebiets erfolgt (Bundessozialgericht, Urteil vom 15. Dezember 2015, B 1 KR 30/15 R, Rn. 35 – zitiert nach juris).
Eine andere Beurteilung der Verordnungsfähigkeit von Lektinol im Rahmen der GKV folgt auch nicht daraus, dass das Arzneimittel über eine arzneimittelrechtliche Zulassung zur adjuvanten und palliativen Behandlung von Krebserkrankungen in Österreich verfügen soll (Schriftsatz des Prozessbevollmächtigten der Klägerin vom 20. Dezember 2017, Seite 112 der Gerichtsakte). Eine nationale gesetzliche Regelung, die die automatische Geltung einer in einem anderen EU-Mitgliedstaat ausgesprochenen Arzneimittelzulassung auch in Deutschland anordnet, existiert nicht. Ein in Deutschland nicht zugelassenes Arzneimittel darf trotz seiner Zulassung in einem anderen Mitgliedstaat der Europäischen Union nicht zu Lasten der gesetzlichen Krankenversicherung verordnet werden, wenn es weder das zentrale noch das dezentrale europarechtliche Anerkennungsverfahren durchlaufen hat (Bundessozialgericht, Urteil vom 18. Mai 2004, B 1 KR 21/02 R, Rn 18ff. – zitiert nach juris; Bundessozialgericht, Urteil vom 13. Dezember 2016, B 1 KR 10/16 R; vgl. dazu auch Pitz in: Schlegel/Voelzke, jurisPK-SGB V, 4. Auflage 2020, § 31 SGB V [Stand: 26. Mai 2021], Rn. 41f.; 58). Die Durchführung eines Zulassungsverfahrens gemäß der Verordnung (EG) Nr. 726/2004 auch in Verbindung mit der Verordnung (EG) Nr. 1901/2006 oder der Verordnung (EG) Nr. 1394/2007 (vgl. § 37 Abs. 1 Satz 1 AMG) hat nicht stattgefunden. Auf der Website der European Medicine Agency finden sich die Arzneimittel, die einheitlich in Europa zugelassen sind. Lektinol verfügt nicht über eine solche Zulassung (vgl. https://www.hma.eu/search.html?id=6&q=Lektinol&L=0; zuletzt aufgerufen am 4. August 2021).
Die Verordnungsfähigkeit für Lektinol im Rahmen der GKV ergibt sich auch nicht aus § 37 Abs. 1 Satz 2 AMG. Nach der Vorschrift gilt die von einem anderen Staat für ein Arzneimittel erteilte Zulassung nur dann als solche im Sinne von § 21 AMG, soweit dies durch eine Rechtsverordnung des zuständigen Bundesministeriums bestimmt ist. Eine solche Regelung ist hier nicht ersichtlich.
Ausgehend von Vorstehendem scheidet eine Verordnung von Lektinol bereits aus formalen Gründen (fehlende Prüfung nach dem AMG, fiktive Zulassung allein aufgrund von Übergangsrecht) aus. Auf medizinische Fragen des Einzelfalls im Hinblick auf den Gesundheitszustand des Versicherten, insbesondere die Frage, ob das streitige Arzneimittel im Rahmen einer adjuvanten oder palliativen Behandlungssituation zur Anwendung gekommen ist oder eine wirkstoffidentische Alternative nicht besteht, kommt es nicht an.
Ein Anspruch auf Übernahme der Kosten für die Beschaffung von Lektinol ergibt sich auch nicht nach den Grundsätzen des Off-Label-Use oder aufgrund einer grundrechtsorientierten Auslegung des Leistungsrechts (§ 2 Abs. 1a Satz 1 SGB V). Entsprechende Ansprüche auf Übernahme der Kosten scheiden bereits deshalb aus, weil mit Nexavar ein Arzneimittel vorhanden ist, das unter anderem zur Behandlung des Leberzellkarzinoms zugelassen ist (vgl. https://www.ema.europa.eu/en/documents/product-information/nexavar-epar-product-information_de.pdf; zuletzt aufgerufen am 9. August 2021), und damit eine zugelassene Therapie zur Verfügung steht (vgl. z.B. Bundessozialgericht, Beschluss vom 3. August 2016, B 1 KR 17/16 B, Rn. 6 beck-online; Bundessozialgericht, Urteil vom 13. August 2014, B 6 KA 38/13 R, Rn. 31 und Rn. 35 – zitiert nach juris).
Darüber hinaus wäre ein Anspruch nach den Grundsätzen des Off-Label-Use oder aufgrund einer grundrechtsorientierten Auslegung des Leistungsrechts auch deshalb zu verneinen, weil die tatbestandlichen Voraussetzungen beider Anspruchsgrundlagen nicht erfüllt sind. Ein Anspruch nach den Grundsätzen des Off-Label-Use setzt voraus, dass aufgrund der Datenlage die begründete Aussicht besteht, dass mit dem betreffenden Präparat ein Behandlungserfolg (kurativ oder palliativ) erzielt werden kann (Bundessozialgericht, Urteil vom 13. Dezember 2016, B 1 KR 1/16 R, Rn. 15 – zitiert nach juris). Von hinreichenden Erfolgsaussichten ist nur dann auszugehen, wenn Forschungsergebnisse vorliegen, die erwarten lassen, dass das betroffene Arzneimittel für die relevante Indikation zugelassen werden kann. Es müssen also Erkenntnisse in der Qualität einer kontrollierten klinischen Prüfung der Phase III (gegenüber Standard oder Placebo) veröffentlicht sein und einen klinisch relevanten Nutzen bei vertretbaren Risiken belegen oder außerhalb eines Zulassungsverfahrens gewonnene Erkenntnisse von gleicher Qualität veröffentlicht sein (Bundessozialgericht, a.a.O., Rn. 16 – zitiert nach juris). Ein Anspruch aufgrund einer grundrechtsorientierten Auslegung des Leistungsrechts setzt voraus, dass eine nicht ganz entfernt liegende Aussicht auf Heilung oder auf eine spürbar positive Einwirkung auf den Krankheitsverlauf besteht (vgl. Bundesverfassungsgericht, Beschluss vom 6. Dezember 2005, 1 BvR347/98; Bundessozialgericht, Urteil vom 19. März 2020, B 1 KR 22/18 R, Rn. 20 – zitiert nach juris). Nach der Rechtsprechung des Bundessozialgerichts (vgl. Urteil vom 13. Oktober 2010, B 6 KA 48/09 R, Rn. 32ff. – zitiert nach juris) besteht ein Anspruch auf verfassungskonforme Erweiterung des Leistungsanspruchs nur im Hinblick auf solche Arzneimittel, bezüglich derer unmittelbar eine Aussicht auf Heilung der Grunderkrankung selbst oder auf positive Einwirkung auf den Verlauf der Grunderkrankung als solcher besteht. Bei Arzneimitteln, die nicht unmittelbar darauf gerichtet sind, die lebensbedrohliche Erkrankung als solche zu heilen oder positiv auf ihren Verlauf einzuwirken, sondern „nur“ auf die Verbesserung der Lebensqualität gerichtet sind, ist aus verfassungsrechtlichen Gründen eine Überschreitung der einfachgesetzlich bestehenden Beschränkungen des Leistungsrechts nicht möglich.
Hiervon ausgehend kommt ein Kostenerstattungsanspruch nach den Grundsätzen eines Off-Label-Use oder auf der Grundlage einer verfassungskonformen Auslegung des Leistungsrechts bereits deshalb nicht in Betracht, weil Lektinol ausweislich der Fachinformation (lediglich) unterstützend bei allgemeinen Maßnahmen zur Verbesserung der Lebensqualität (bei Brustkrebs) während oder nach einer Chemotherapie zur Anwendung kommt. In der Fachinformation selbst wird darauf hingewiesen, dass eine lebensverlängernde oder krankheitsaufschiebende Wirkung nicht nachgewiesen werden konnte.
Die Kostenentscheidung folgt aus § 193 SGG.
Die Revision war nicht zuzulassen, weil die Voraussetzungen des § 160 Abs. 2 SGG nicht vorliegen.