L 4 P 3969/19

Land
Baden-Württemberg
Sozialgericht
LSG Baden-Württemberg
Sachgebiet
Pflegeversicherung
Abteilung
4.
1. Instanz
SG Reutlingen (BWB)
Aktenzeichen
S 9 P 128/19
Datum
2. Instanz
LSG Baden-Württemberg
Aktenzeichen
L 4 P 3969/19
Datum
3. Instanz
-
Aktenzeichen
-
Datum
-
Kategorie
Urteil
Leitsätze

1. In den Grenzen der nach § 118 SGG i.V.m. § 404 ZPO getroffenen Beweisanordnung ist die Zuleitung der Akten an den Sachverständigen datenschutzrechtlich hinsichtlich der Gesundheitsdaten und anderen besonderen personenbezogenen Daten durch Art. 9 Abs. 2 lit. f Alt. 2 DSGVO und hinsichtlich der Sozialdaten durch § 78 Abs. 1 Satz 4 SGB X i.V.m. § 69 Abs. 1 Nr. 2 SGB X erlaubt.
2. Widerspricht der Kläger während des sozialgerichtlichen Verfahrens ohne gewichtige Gründe der Weitergabe der Akten an den Sachverständigen oder widerruft er sein Einverständnis hierzu, führt dies nicht dazu, dass das Gutachten im Pro-zess nicht verwertet werden kann.
3. Aus § 18 Abs. 1 Satz 1 i.V.m. Abs. 7 Satz 1 SGB XI (in der vorliegend anzuwendenden, ab 1. Januar 2017 bis zum 31. Dezember 2019 geltenden Fassung) folgt keine Verpflichtung der Pflegekasse bzw. des MDK, den Hausbesuch im Rahmen der Pflegebegutachtung zwingend unter Beteiligung von Ärzten durchzuführen.
4. Im Unterschied zur Ablehnung enthält die Versagungsentscheidung nach § 66 SGB I keine Entscheidung über den Leistungsanspruch, sodass er nicht gemäß § 153 Abs. 1 i.V.m. § 96 SGG Gegenstand des Berufungsverfahrens wird.

Die Berufung des Klägers gegen das Urteil des Sozialgerichts Reutlingen vom 18. November 2019 wird zurückgewiesen.

Außergerichtliche Kosten sind auch im Berufungsverfahren nicht zu erstatten.


Tatbestand

Der Kläger begehrt die Gewährung höherer Leistungen der sozialen Pflegeversicherung ab dem 22. Mai 2018 (Pflegegrad 3 statt Pflegegrad 1).

Der 1959 geborene, alleinstehende Kläger ist bei der Beklagten bis 30. April 2020 sozial pflegeversichert gewesen. Er leidet an einer äthyltoxisch entstandenen Polyneuropathie der Beine mit Bewegungsstörungen und Gang- und Standunsicherheit. Der Kläger wohnt in einer ambulant betreuten Wohngemeinschaft. Die Wohnung liegt im Erdgeschoss und die genutzten Räume befinden sich auf einer Ebene. Vor dem Hauseingang sind zwei Stufen zu überwinden.

Ab Oktober 2017 bezog der Kläger von der Beklagten Leistungen nach Pflegegrad 1 (Bescheid vom 15. Dezember 2017). Der Bewilligung lag das Pflegegutachten des Medizinischen Dienstes der Krankenversicherung Baden-Württemberg (MDK) vom 14. Dezember 2017 zugrunde. Darin hatte die Pflegefachkraft N aufgrund einer Begutachtung im häuslichen Umfeld (ausgehend von den pflegebegründenden Diagnosen: Störungen des Gangs und der Mobilität sowie rezidivierende depressive Störung) gesundheitlich bedingte Beeinträchtigungen der Selbstständigkeit und der Fähigkeiten im Bereich der Mobilität (Modul 1: überwiegend selbstständiges Fortbewegen innerhalb des Wohnbereichs, überwiegend selbstständiges Treppensteigen), im Bereich der kognitiven und kommunikativen Fähigkeiten (Modul 2: überwiegend selbstständiges Treffen von Entscheidungen im Alltagsleben; überwiegend selbstständiges Mitteilen von elementaren Bedürfnissen), im Bereich der Verhaltensweisen und psychischen Problemlagen (Modul 3: häufige Antriebslosigkeit bei depressiver Stimmungslage), im Bereich der Selbstversorgung (Modul 4: überwiegend selbstständiges Duschen und Baden einschließlich Waschen der Haare; überwiegend selbstständiges Trinken) und im Bereich der Gestaltung des Alltagslebens und sozialer Kontakte (Modul 6: überwiegend selbstständige Gestaltung des Tagesablaufs und Anpassung an Veränderungen; überwiegend selbstständiges Vornehmen von in die Zukunft gerichteten Planungen) erhoben und mit insgesamt 23,75 gewichteten Punkten bewertet.

Am 22. Mai 2018 beantragte der Kläger bei der Beklagten wegen einer Änderung seines Hilfebedarfs die Einstufung in einen höheren Pflegegrad. Die Beklagte veranlasste daraufhin eine Begutachtung durch den MDK. Mit Gutachten vom 26. Juli 2018 stellte die Pflegefachkraft B die pflegebegründenden Diagnosen rezidivierende depressive Störung sowie Störungen des Gangs und der Mobilität. Auf Grund eines Hausbesuchs am 25. Juli 2018 gelangte sie zu dem Ergebnis, dass die aktuell festgestellten gesundheitlichen Beeinträchtigungen zu einer Abnahme der Selbständigkeit geführt hätten, jedoch ein höherer Pflegegrad noch nicht erreicht werde. Bei insgesamt 13,75 gewichteten Punkten (Mobilität: 2,50 Punkte; Kognitive und kommunikative Fähigkeiten/Verhaltensweisen und psychische Problemlagen: 7,50 Punkte; Gestaltung des Alltagslebens und sozialer Kontakte: 3,75 Punkte) liege weiterhin Pflegegrad 1 vor. Nach Angaben des Klägers habe sich seine Mobilität verschlechtert. So leide er unter Sturzangst und könne mittlerweile ohne Hilfsmittel nicht mehr das Haus verlassen. Außerdem würden nächtliche Krämpfe in den Unterschenkeln auftreten. Bei der Begutachtung sei der Kläger im Bereich der Mobilität frei stehfähig und ohne Hilfsmittel in langsamen, ausreichend sicherem Gangbild auf Wohnungsebene gehfähig gewesen; er benötige jedoch beim Treppensteigen einen Handlauf und müsse tagesformabhängig wegen Schwindels bei der Fortbewegung in der Wohnung und beim Überwinden von Treppen begleitet werden (Modul 1: überwiegend selbstständiges Fortbewegen innerhalb des Wohnbereichs; überwiegend selbstständiges Treppensteigen). Die kognitiven und kommunikativen Fähigkeiten (Modul 2) seien im Wesentlichen unbeeinträchtigt, insbesondere sei der Kläger allseits orientiert sowie bewusstseinsklar gewesen, habe im Begutachtungsgespräch präzise und ausführliche Angaben zu seiner Krankengeschichte, seiner aktuellen Situation sowie zu seinen Bedürfnissen gemacht und Risiken und Gefahren, besonders außer Haus, adäquat beschrieben. Allein das Treffen von Entscheidungen im Alltagsleben sei lediglich größtenteils vorhanden. Der Kläger könne zwar Alltagsentscheidungen selbstständig treffen, sei jedoch tagesformabhängig in seiner Konzentration gemindert und benötige in unbekannten Situationen Hilfe. Im Modul Verhaltensweisen und psychische Problemlagen sei die Stimmung rezidivierend gedrückt, der Antrieb aber ausreichend gegeben. Der Kläger führe die Grundpflege aus eigenem Antrieb alleine durch. Er sei allerdings schnell verunsichert und fühle sich schnell angegriffen. Es komme daher immer wieder zu Konflikten mit Betreuern und Mitbewohnern, da sich der Kläger schnell aufrege und dann unangemessen verbal reagiere (Modul 3: häufige verbale Aggression). Bei der Selbstversorgung benötige der Kläger nach eigenen Angaben mittlerweile beim Duschen einen Duschhocker. Die Grundpflege führe er alleine durch. Appetit und Durstgefühl seien ausreichend gegeben; Schluckstörungen bestünden nicht (Modul 4: Überwiegend selbstständiges Duschen und Baden einschließlich Waschen der Haare). Bei der Bewältigung von und dem selbstständigen Umgang mit krankheits- und therapiebedingten Anforderungen und Belastungen (Modul 5) bestehe kein Hilfebedarf. Im Bereich der Gestaltung des Alltagslebens und der sozialen Kontakte müsse der Kläger an besondere Termine zusätzlich erinnert werden und benötige bei Planungen und organisatorischen Tätigkeiten teilweise Hilfe (Modul 6: überwiegend selbstständige Gestaltung des Tagesablaufs und Anpassung an Veränderungen; überwiegend selbstständiges Vornehmen von in die Zukunft gerichteten Planungen). Seinen Tagesablauf gestalte er selbst.

Gestützt auf das Begutachtungsergebnis lehnte die Beklagte mit Bescheid vom 30. Juli 2018 die beantragte Höherstufung ab. Beim Kläger liege eine geringe, aber noch keine erhebliche Beeinträchtigung der Selbständigkeit vor; der Grad der Beeinträchtigung erreiche noch nicht den Pflegegrad 2 (27 bis 47,4 Punkte).

Hiergegen legte der Kläger Widerspruch ein und machte geltend, das Gutachten des MDK sei formal und inhaltlich mit schwerwiegendsten Mängeln behaftet. Diesem liege insbesondere keinerlei ärztliche Befunderhebung zu Grunde. Auch stelle es eine Verbesserung seines Gesundheitszustandes fest (statt bisher 23,75 nun 13,75 Punkte), was den tatsächlichen Verhältnissen nicht ansatzweise entspreche. Die Beklagte holte sodann das Gutachten der Pflegefachkraft G vom MDK vom 24. Oktober 2018 ein. Diese ermittelte auf Grund eines Hausbesuchs am 18. Oktober 2018 unter Zugrundelegung der pflegebegründenden Diagnosen Degeneration des Nervensystems durch Alkohol sowie kombinierte und andere Persönlichkeitsstörung wiederum einen Pflegebedarf im Umfang von 13,75 gewichteten Punkten, wovon 3,75 Punkte auf dem Bereich Verhaltensweisen und psychische Problemlagen (Modul 3: seltene verbale Aggression) und 10,0 Punkte auf die Selbstversorgung (Modul 4: überwiegend selbstständiges Duschen und Baden einschließlich Waschen der Haare; überwiegend selbstständiges An- und Auskleiden des Ober- und Unterkörpers) entfielen. Das Vorgutachten sei nachvollziehbar. Die zu wertenden Einzelpunkte seien in ihrer Ausprägung sehr niederschwellig.

Mit seiner Stellungnahme vom 2. November 2018 wandte der Kläger gegen das Gutachten vom 24. Oktober 2018 ein, auch der wiederholten Begutachtung durch den MDK habe keinerlei ärztliche Befunderhebung zugrunde gelegen. Im Übrigen sei bemerkenswert, dass in dem Gutachten der Punktewert im Bereich der Mobilität auf null reduziert worden sei, obwohl ihm inzwischen ein Grad der Behinderung (GdB) von 80 und die Merkzeichen „G“ und „B“ zuerkannt worden seien.

Mit Widerspruchsbescheid vom 13. Dezember 2018 wies der Widerspruchsausschuss der Beklagten den Widerspruch des Klägers zurück. Zur Begründung stützte er sich im Wesentlichen auf die eingeholten Pflegegutachten des MDK. Sowohl die Erst- als auch die Zweitbegutachtung durch den MDK habe zu dem Ergebnis geführt, dass bei dem Kläger geringe Beeinträchtigungen der Selbstständigkeit und der Fähigkeiten vorlägen. Es hätten jeweils nur 13,75 Punkte innerhalb des Begutachtungsinstruments gewichtet werden können. Damit seien die Voraussetzungen für eine Einstufung in den Pflegegrad 2 nicht gegeben.

Am 10. Januar 2019 erhob der Kläger dagegen beim Sozialgericht Reutlingen (SG) Klage mit den Anträgen, festzustellen, dass das durchgeführte Verfahren der Pflegebegutachtung gegen die gesetzlichen Vorgaben zur Beteiligung von Ärzten und zur Einbeziehung der behandelnden Ärzte i.V.m. dem Amtsermittlungsgrundsatz verstoße, den Bescheid der Beklagten vom 30. Juli 2018 über die Ablehnung der Höherstufung des Pflegegrades aufgrund der Verfahrensverstöße aufzuheben und die Beklagte zu verurteilen, ihm ab dem Höherstufungsantrag Leistungen der Pflegeversicherung nach dem Pflegegrad 3, hilfsweise Pflegegrad 2, zu gewähren. Unter Vorlage eines für das Schwerbehindertenverfahren erstellten Befundberichts des S (Befundschein vom 14. August 2018: progrediente Ataxie mit Fallneigung beim Stehen und Gehen, Polyneuropathie beider Beine äthyltoxischer Genese; massive Ataxie und Unsicherheit, massive Kraftminderung insbesondere der Beinmuskulatur, Angabe situativ auftretenden Schwindels; freies Gehen ohne Hilfsmittel max. 3 Meter und mit Unterarmgehstützen max. 7,5 Meter; Gehen am Rollator bis 100 Meter), eines neurologischen Untersuchungsberichts vom 17. Oktober 2019 („Diagnosen: progrediente Ataxie mit Fallneigung im Stehen und Gehen bei Zustand nach Alkoholabusus, bekannte Polyneuropathie, Verdacht auf Restless-Legs-Syndrom, depressive Grundstimmung. Neurologischer Befund: … deutlich unsicherer, breitbeiniger Gang und Stand“) und einer Rollstuhlverordnung vom 14. November 2019 trug er vor, seine Erkrankung sei fortschreitend und sein Gesundheitszustand habe sich in den vergangenen Monaten massiv verschlechtert. Trotz seiner ausdrücklichen Bitte habe der MDK im Rahmen der Begutachtungen weder bei seinem behandelnden Facharzt noch bei einem anderen Arzt medizinische Befunde zu seinem aktuellen Gesundheitszustand und dessen Veränderungen in den letzten Monaten eingeholt. Die mit den Begutachtungen beauftragten Pflegefachkräfte des MDK seien von ihrer Ausbildung her nicht in der Lage und letztlich auch nicht befugt, medizinisch verwertbare Feststellungen zu treffen. Solche Feststellungen seien jedoch die entscheidende Grundlage für die Beurteilung der Pflegebedürftigkeit. Nachdem das Gesetz in § 18 Abs. 4 und Abs. 7 Elftes Buch Sozialgesetzbuch (SGB XI) die Mitwirkung von Ärzten an einer Pflegebegutachtung zwingend und unabdingbar vorsehe („Primat des Arztes“), leide das Verfahren der Beklagten an eklatanten Mängeln. Über die Mitwirkung von Ärzten an der Pflegebegutachtung bestehe nach den gesetzlichen Vorgaben keinerlei Ermessensspielraum, was sich durch den medizinischen Gesundheitszustand als Basis für einen daraus erst resultierenden Pflegebedarf erkläre. Darüber hinaus sei auch die gesetzlich vorgesehene Beteiligung des behandelnden Facharztes unterlassen worden. Die Beklagte bzw. der MDK hätten mithin weder ärztliche Befunde beigezogen noch selbst erhoben. In seinem Fall sei damit grob rechtswidrig ein Verfahren zur Feststellung der Pflegebedürftigkeit ohne jede ärztliche Beteiligung durchgeführt worden. Allein dies führe schon zur Rechtswidrigkeit der Ablehnung der beantragten Höherstufung des Pflegegrades. Der Bescheid der Beklagten sei aufgrund der schwerwiegenden Verfahrensmängel aufzuheben. Gleichzeitig sei seinem Höherstufungsantrag auf der Grundlage der einzig vorliegenden ärztlichen Stellungnahme seines behandelnden Neurologen stattzugeben. Aus den schweren Verfahrensmängeln resultiere, dass die Beklagte die Beweislast für die Widerlegung des Pflegebedarfs trage. Der Gegenbeweis sei nicht erfolgt.

Nachdem der Kläger mit Schreiben vom 13. März 2019 (vgl. Bl. 12 der SG-Akte) gegenüber dem SG eine umfassende Entbindung von der ärztlichen Schweigepflicht „für alle Informationen bzw. Anforderungen, die dieses in der Sache für notwendig erachtet,“ erklärt und unter dem 29. März 2019 (vgl. Bl. 16 der SG-Akte) mit seiner Unterschrift auf einem entsprechenden Vordruck des SG nochmals „die Ärzte, Psychologen etc., die ihn untersucht oder behandelt haben oder im Laufe des Verfahrens untersuchen oder behandeln werden,“ für alle Rechtszüge der Sozialgerichtsbarkeit von der Schweigepflicht entbunden hatte, vernahm das SG zur weiteren Sachaufklärung zunächst die S1 als sachverständige Zeugin. In ihrer Zeugenauskunft vom 26. April 2019 teilte S1 mit, ihr Praxisvorgänger S sei seit dem 1. Januar 2019 im Ruhestand. Der Kläger sei bei S bis zum 14. August 2018 in regelmäßiger Behandlung gewesen. Sie selbst habe den Kläger nie gesehen. Nach Aktenlage liege beim Kläger eine Polyneuropathie der Beine mit Gang- und Standataxie sowie eine Kraftminderung für die Fuß- und Zehenhebung beidseits vom Kraftgrad 3 bis 4 vor. Im Mai 2018 habe S eine Zunahme der Gangstörungen angegeben. Die Pflegebedürftigkeit des Klägers könne sie nicht beurteilen. Der Zeugenauskunft waren Untersuchungsberichte von S aus der Zeit ab Ende 2016 beigefügt, darunter ein Arztbrief vom 18. Mai 2018. Darin stellte S die Diagnosen progrediente Ataxie mit Fallneigung im Stehen und Gehen sowie Polyneuropathie beider Beine und führte aus, beim Gang vom Wartezimmer ins Untersuchungszimmer sei aufgefallen, dass weiter eine massive Gangstörung bestehe und die Fallneigung zugenommen habe. Der Kläger habe sich mehrfach an der Wand oder am Türrahmen festhalten müssen, um nicht umzufallen. Er habe dem Kläger deshalb einen Gehstock mit anatomisch geformtem Griff, einen Rollator und einen Duschstuhl für das Badezimmer rezeptiert. Außerdem habe er ihm geraten, einen höheren Pflegegrad zu beantragen, da Pflegegrad 1 angesichts der Fallneigung bei weitem zu wenig sei.

In der Folge bestellte das SG zur Feststellung des Grades der Pflegebedürftigkeit die Pflegefachkraft B1 zum gerichtlichen Sachverständigen. Mit Schreiben vom 22. Juli 2019 lehnte der Kläger eine Begutachtung durch diesen Sachverständigen ab. Mit Schreiben vom gleichen Datum sandte auch der Pflegesachverständige B1 den Gutachtensauftrag mit dem Hinweis an das SG zurück, der ursprünglich mit dem Kläger bestehende regelmäßige E-Mail-Kontakt zur Vereinbarung eines Begutachtungstermins sei inzwischen abgebrochen. Der Kläger habe auf wiederholte Anschreiben nicht mehr reagiert und zuletzt angegeben, sich nur durch einen Arzt begutachten zu lassen. Der Kläger legte daraufhin den Schriftverkehr vor, den er mit dem Sachverständigen B1 mittels E-Mail geführt hatte (vgl. Bl. 51-54 der SG-Akte).

Bereits mit Schreiben vom 31. Mai 2019 stellte der Kläger einen Antrag auf Erlass einer einstweiligen Anordnung bezüglich der Gewährung von Leistungen nach Pflegegrad 2, der durch das SG mit Beschluss vom 12. Juni 2019 abgelehnt wurde (S 9 P 1351/19 ER). Die hiergegen beim Landessozialgericht (LSG) Baden-Württemberg eingelegte Beschwerde wies der Senat mit Beschluss vom 31. Juli 2019 zurück (L 4 P 1930/19 ER-B).

Nach Abschluss des Eilverfahrens wies das SG den Kläger zunächst darauf hin, dass bei der Ermittlung des Pflegebedarfs vorrangig fachlich-pflegerische und nicht medizinische Fragen im Streit stünden und der Sachverständige B1, der über eine langjährige Berufserfahrung verfüge, für das SG bereits eine Vielzahl von Pflegegutachten erstattet habe. Der Kläger hielt an seiner Rechtsauffassung fest. Mit richterlichem Hinweis vom 18. Oktober 2019 kündigte das SG daraufhin an, zur Vermeidung einer Entscheidung nach Beweislastgrundsätzen eine Begutachtung durch einen ärztlichen Sachverständigen in Auftrag geben zu wollen. Auf seine Anfrage, ob der Kläger bereit sei, sich einer entsprechenden Begutachtung zu unterziehen, teilte der Kläger mit Schreiben vom 22. Oktober 2019 mit, dass er grundsätzlich jederzeit bereit sei, sich von einem ärztlichen Sachverständigen begutachten zu lassen, ihm aber die Einholung eines gerichtlichen Gutachtens im Hinblick auf die Dauer des Verfahrens nicht mehr zumutbar sei. Darüber hinaus sei eine Begutachtung wegen der inzwischen eingetretenen massiven Verschlechterung seiner Erkrankung auch nicht zielführend, da eine zuverlässige und ausreichend genaue Rekonstruktion seines Gesundheitszustandes zum Streitzeitpunkt Mitte 2018 nicht mehr möglich sei. Er ziehe es daher vor, einen neuen Höherstufungsantrag zu stellen, da dies angesichts der im Gesetz vorgesehenen Fristen bei einer normalen Pflegebegutachtung der deutlich schnellere Weg sei.

Mit Urteil vom 18. November 2019 wies das SG die Klage ab. Zur Begründung führte es aus, statthaft sei im Streitfall die kombinierte Anfechtungs- und Leistungsklage, die jedoch unbegründet sei, da der Kläger die Voraussetzungen eines höheren Pflegegrades nicht nachgewiesen habe. Der Nachweis für die einen höheren Pflegegrad begründenden Tatsachen müsse im Wege des Vollbeweises erfolgen, was erfordere, dass die Tatsachen mit an Sicherheit grenzender Wahrscheinlichkeit vorlägen. An diesem Beweismaßstab orientiert habe der Kläger trotz Ausschöpfung sämtlicher dem Gericht zur Verfügung stehender Ermittlungsmöglichkeiten die Voraussetzungen eines höheren Pflegegrades nicht nachweisen können. Die vom Gericht befragte Neurologin S1 habe keine Aussagen zum Pflegebedarf des Klägers treffen können. Die Aussage von S im Arztbrief vom 18. Mai 2018, wonach Pflegegrad 1 „bei weitem zu wenig“ sei, lasse nicht erkennen, welche konkreten Gesichtspunkte die Einordnung in ein höheren Pflegegrad begründeten. Der Umstand, dass dem Kläger zwischenzeitlich ein Rollstuhl verordnet worden sei, lasse ebenfalls keinen Rückschluss auf einen bestimmten Pflegegrad zu. Das Gericht sei verfahrensrechtlich nicht gehindert gewesen, einen Pflegesachverständigen mit der Erstellung eines Gutachtens zu beauftragen. Auf die Gutachterauswahl müsse allerdings nicht weiter eingegangen werden, nachdem selbst eine vom Gericht angebotene Begutachtung durch einen ärztlichen Sachverständigen vom Kläger abgelehnt worden sei. Das Gericht habe insoweit keine weitere Möglichkeit, den Sachverhalt weiter aufzuklären.

Hiergegen hat der Kläger am 22. November 2019 beim LSG Baden-Württemberg Berufung eingelegt, mit der er zunächst seine Klageanträge aus erster Instanz weiterverfolgt hat.

Bereits am 21. November 2019 hat der Kläger bei der Beklagten die Überprüfung seines Pflegegrades beantragt, wobei er eine Begutachtung durch den MDK abgelehnt und um Beauftragung eines unabhängigen Gutachters gebeten hat. Die Beklagte hat dies als neuen Höherstufungsantrag gewertet (Schreiben der Beklagten vom 22. November 2019) und ein Begutachtungsverfahren eingeleitet. Nachdem der MDK mitgeteilt hatte, dass ein externer Gutachter nicht zur Verfügung stehe, und den Begutachtungsauftrag mit Schreiben vom 9. Dezember 2019 wegen fehlender Mitwirkung zurückgegeben hatte (der Kläger habe einen für den 10. Dezember 2019 geplanten Hausbesuch abgesagt), hat die Beklagte nach schriftlicher Mitwirkungsaufforderung und Belehrung über die Folgen einer unterbliebenen Mitwirkung (Schreiben vom 2. März 2020) mit Bescheid vom 30. März 2020 die Gewährung von laufenden Pflegeleistungen nach einem höheren Pflegegrad als Pflegegrad 1 versagt. Bereits am 7. Januar 2020 hat der Kläger beim SG Klage erhoben, mit der er die Verpflichtung der Beklagten zur Durchführung einer Begutachtung durch einen unabhängigen externen Gutachter sowie die Feststellung begehrt hat, dass die Beklagte auf seinen Höherstufungsantrag keinen Bescheid erteilt habe (Az. S 9 P 41/20). Mit Gerichtsbescheid vom 11. November 2020 hat das SG die (Untätigkeits-)Klage als unzulässig abgewiesen. Auch hiergegen hat der Kläger beim LSG Berufung eingelegt (Az. L 4 P 3924/20).

Im vorliegenden Verfahren trägt der Kläger zur Begründung der Berufung vor, das SG habe seine Anträge, einen Verstoß gegen die gesetzlichen Vorgaben zur Beteiligung von Ärzten und die Einbeziehung behandelnder Ärzte festzustellen und den Bescheid vom 30. Juli 2018 aufgrund der Verfahrensfehler aufzuheben, ignoriert und sei auch in den Entscheidungsgründen auf die geltend gemachten Verfahrensmängel nicht eingegangen. Es habe damit nicht über alle von ihm erhobenen Ansprüche entschieden. Dabei gehe es nicht um „Petitessen“, sondern darum, dass die Beklagte die Begutachtungen ohne jedes zwingend erforderliche medizinische Fundament durchgeführt habe. Die von ihm eingereichten Befunde seien weiterhin die einzigen vorliegenden ärztlichen Befunde und deshalb der Entscheidung zugrunde zu legen. Sein Gesundheitszustand habe sich weiter verschlechtert. Deshalb habe er bei der Beklagten erneut einen Höherstufungsantrag gestellt. Den Mangel einer etwaigen Nicht-Rekonstruierbarkeit seiner Pflegebedürftigkeit zum Zeitpunkt des ersten Höherstufungsantrags Mitte 2018 habe vorliegend die Beklagte zu vertreten, weshalb sie auch die Beweislast zu tragen habe. Der Streitfall werfe die Grundsatzfrage auf, ob eine wirksame Pflegebegutachtung ohne erhobene medizinische Diagnosen als Fundament bzw. ohne jedwede Beteiligung von Ärzten durchgeführt werden könne, was einer höchstrichterlichen Überprüfung zugänglich zu machen sei. Er wolle nicht, dass die Sache an das SG zurückverwiesen werde.

Die ursprünglich gestellten Feststellungsanträge hat der Kläger mit Schreiben vom 18. März 2021 (Bl. 65 der LSG-Akte) nicht mehr weiterverfolgt und zuletzt (sachdienlich gefasst) beantragt,

das Urteil des Sozialgerichts Reutlingen vom 18. November 2019 und den Bescheid der Beklagten vom 30. Juli 2018 in der Gestalt des Widerspruchsbescheids vom 13. Dezember 2018 aufzuheben und die Beklagte zu verurteilen, ihm Leistungen der Pflegeversicherung ab dem Höherstufungsantrag vom 22. Mai 2018 nach Pflegegrad 3 zu gewähren sowie die Revision zuzulassen.

 

Die Beklagte beantragt,

die Berufung zurückzuweisen.

Sie hält die angefochtene Entscheidung für richtig.

Der Senat hat zur weiteren Aufklärung des Sachverhalts zunächst das Pflegegutachten des B2 vom 4. März 2021 eingeholt. Dieser hat aufgrund eines Hausbesuchs am 11. Februar 2021 beim Kläger als Gesundheitsstörungen eine schwerste Polyneuropathie mit allen Facetten sowie ein Korsakow-Syndrom festgestellt. Er gelangte zu der Einschätzung, dass die Schwere der Beeinträchtigungen der Selbstständigkeit und Fähigkeiten beim Kläger im Modul Mobilität 3, im Modul kognitive und kommunikative Fähigkeiten 2, im Modul Verhaltensweisen und psychische Problemlagen 3, im Modul Selbstversorgung 4, im Modul Bewältigung von und selbständiger Umgang mit krankheits- oder therapiebedingten Anforderungen und Belastungen 3 und im Modul Gestaltung des Alltagslebens und sozialer Kontakte 3 gewichtete Punkte erreiche. Insgesamt sei der Kläger völlig unterversorgt und sowohl zerebral als auch körperlich nicht in der Lage, daran etwas zu verbessern. Er gehöre in einem Pflegeheim oder in einer rollatorfähigen Unterkunft mit täglicher Betreuung untergebracht. Als Ergebnis hielt der B2 fest, dass nach seiner 37-jährigen Erfahrung als Allgemeinarzt „das Pflegestufe 3 und mehr“ sei.

Nach Vorlage des Sachverständigengutachtens hat der damalige Berichterstatter zunächst einen Termin zur Erörterung des Sachverhalts auf den 22. April 2021 bestimmt. Nachdem der Kläger mitgeteilt hatte, an den Gerichtstermin aus gesundheitlichen Gründen nicht teilnehmen zu können, wurde der Erörterungstermin aufgehoben und der N1 mit der Erstattung eines weiteren Pflegegutachtens aufgrund einer Untersuchung im häuslichen Umfeld beauftragt (Gutachtensauftrag vom 19. April 2021, Bl. 89 ff. LSG-Akte). Auf Nachfrage des Klägers hat der frühere Berichterstatter erläutert, dass der Termin aufgehoben worden sei, weil wegen des Ausbleibens des Klägers die beabsichtigte weitere Aufklärung des Sachverhalts durch dessen Befragung nicht möglich gewesen sei, und die Begutachtung durch
N1 zur weiteren Aufklärung des Sachverhalts von Amts wegen erforderlich sei; das Gericht könne eine neue Begutachtung durch einen anderen Sachverständigen anordnen, wenn es ein Gutachten für ungenügend erachte (Hinweis vom 21. April 2021). In der Folge hat sich der Kläger zunächst mit mehreren Schreiben gegen die Aufhebung des Erörterungstermins gewandt. Am 10. Juni 2021 hat der Sachverständige N1 das Gericht telefonisch davon in Kenntnis gesetzt, dass der Kläger auf die schriftliche Bitte, den vorgeschlagenen Termin für eine Untersuchung im Wohnbereich am 8. Juni 2021 zu bestätigen, nicht geantwortet habe. Daraufhin hat der frühere Berichterstatter den Kläger mit Verfügung vom selben Tag aufgefordert, mitzuteilen, ob er bereit sei, sich von dem Sachverständigen N1 im Wohnbereich untersuchen zu lassen, und den Kläger mit richterlichem Hinweis vom 22. Juni 2021 verbunden mit der nochmaligen Anfrage hinsichtlich der Bereitschaft, an der Begutachtung mitzuwirken, über die Beweislast belehrt, insbesondere auch darüber, dass es zu seinen Lasten gehen könne, wenn der Begutachtungstermin nicht wahrgenommen werde und sich das Gericht daher keine Überzeugung von der Einordnung in einen höheren Pflegegrad verschaffen könne. Nachdem der Kläger hierauf nicht geantwortet hat, hat der Senat den erteilten Gutachtensauftrag mit Verfügung vom 5. August 2021 abgeändert und den Sachverständigen
N1 mit der Erstattung eines Gutachtens nach Aktenlage beauftragt.

Mit Schreiben vom 18. August 2021 hat der Kläger daraufhin gerügt, dass die erneute Beauftragung des Sachverständigen nun nach Aktenlage mit der Übersendung seiner Gesundheitsdaten eine strafrechtlich relevante Verletzung von Privatgeheimnissen (§ 203 Abs. 2 Strafgesetzbuch - StGB) darstelle. Auf den Hinweis des Senats vom
20. August 2021, dass die im sozialgerichtlichen Verfahren vorgelegte umfassende Schweigepflichtentbindung grundsätzlich auch die Einwilligung in die Weitergabe von Gesundheitsdaten gegenüber dem neuen Sachverständigen umfasse und der Kläger, falls er dies nicht wünsche, eine ausdrückliche Erklärung abgeben solle, dass der Sachverständige N1 von der Einwilligung in die Weitergabe der Gesundheitsdaten ausgenommen werde, hat der Kläger mit Antwortschreiben vom 25. August 2021 lediglich seine Rechtsauffassung wiederholt, der zufolge eine Straftat der Verletzung von Privatgeheimnissen inklusive Anstiftung des Sachverständigen N1 vorliege, die auch nicht durch einen Irrtum zu rechtfertigen sei.

Mit Gutachten vom 15. Oktober 2021 hat N1 nach Aktenlage dargelegt, beim Kläger bestehe eine Polyneuropathie der Beine mit Gang- und Standataxie sowie eine Kraftminderung für die Fuß- und Zehenhebung beidseits mit Kraftgrad 3 bis 4. Die diagnostische Ableitung eines „Korsakow-Syndroms“ sei hingegen durch nichts belegt. Belegt sei lediglich eine offenbar durch schädlichen Alkoholkonsum eingetretene Schädigung peripherer Nerven, die Störungen der Motorik und der Sensibilität hervorrufe. Seit der Begutachtung im Oktober 2018 hätten sich die einzelnen Punktwerte und damit auch der gewichtete Punktwert erhöht. Insgesamt würden sich nunmehr 16,25 bis 20 gewichtete Punkte ergeben, womit weiterhin der Pflegegrad 1 zu vergeben sei. Eine andere Bewertung sei nach Aktenlage zweifellos nicht möglich. In dem Vorgutachten von B2 würden die Wohnumstände ausreichend beschrieben. Eine Inaugenscheinnahme näherer körperlicher Funktionsfähigkeiten finde sich jedoch ebenso wenig wie erweiterte Angaben zur Anamnese, zur Alltagsgestaltung und zu anderen Aspekten, welche die Modulunterpunkt-Bewertungen näher transparent machen könnten. Im Bereich der Mobilität sei keine Darstellung der tatsächlichen Fortbewegung innerhalb des Wohnbereichs gegeben worden, außer dass der Kläger mit dem Rollator gehend die Haustüre geöffnet habe. Daraus ergebe sich keine Einschränkung, sodass der Kläger mit Hilfsmittel selbstständig gewesen sei. Eine Nachfrage zum Treppensteigen ergebe sich auch nicht, sodass dies mit Hilfe mit Wahrscheinlichkeit noch „überwiegend unselbstständig“ bewältigt werde. Retrospektiv ergäben sich im Modul Mobilität somit 2 Punkte, was 2,5 gewichteten Punkten entspreche. Im Bereich der kognitiven und kommunikativen Fähigkeiten sei entsprechend den Vorgutachten das Steuern von mehrschrittigen Alltagshandlungen größtenteils vorhanden (1 Einzelpunkt). Dagegen finde sich im Vorgutachten keine Prüfung einer zeitlichen Orientierung. Lese man die Eingaben des Klägers über mehrere Jahre bis zuletzt, sei nicht davon auszugehen, dass er zeitlich nicht orientiert sei. Ebenso zeigten die Eingaben, dass viele auch retrospektive Anteile sehr genau erinnert würden, sodass auch keine Einschränkungen beim Erinnern an wesentliche Ereignisse oder Beobachtungen anzunehmen seien. Für eine Einschränkung der Fähigkeit zum Treffen von Alltagsentscheidungen lägen keine Details vor. Der Kläger scheine sich weiterhin selbst zu vertreten und alle notwendigen Entscheidungen auch im Alltagsleben unbeeinträchtigt selbst zu treffen. So wie die Vertretung und Argumentation im Klageverfahren aussehe, lasse sich auch nicht ableiten, dass Sachverhalte und Informationen anders als „unbeeinträchtigt“ verstanden würden. Im Modul kognitive und kommunikative Fähigkeiten ergebe sich somit übereinstimmend mit dem ersten Gutachten von 2018 maximal ein Punktwert von 1, was einer gewichteten Punktzahl von 0 entspreche. Im Modul Verhaltensweisen und psychischen Problemlagen ließen sich 1 bis 3 Punkte feststellen, was insgesamt 3,75 bis 7,5 gewichtete Punkte ergebe. Im Modul Selbstversorgung bleibe es in der Gesamtschau bei 10 gewichteten Punkten. Im Vorgutachten B2 werde ein konkreter Hilfebedarf nicht dargestellt. In den anderen Vorgutachten seien 3 Punkte vergeben worden (überwiegend selbstständiges Duschen und Baden sowie An-/Auskleiden). Im Modul 5 Bewältigung von und selbständiger Umgang mit krankheits- oder therapiebedingten Anforderungen und Belastungen seien wie in den Vorgutachten keine Punkte und damit auch keine gewichteten Punkte anzusetzen. Auch im Modul 6 Gestaltung des Alltagslebens und sozialer Kontakte finde sich kein konkreter Hilfebedarf, sodass der Punktwert bei 0 liege. Die Ausführungen von B2 seien nicht geeignet, einen Pflegegrad 3 zu stützen. Anhand der zu verwendenden Ableitungsinstrumentarien sei ein solcher Grad der Pflegebedürftigkeit auch nicht indirekt belegt. „Erfahrungen“ seien subjektiv und könnten bei Pflegebegutachtungen in der Ableitung des Grades nicht verwendet werden. Der jetzige Punktwert könne seit Oktober 2018 mit Wahrscheinlichkeit mindestens angenommen werden. Bei der häuslichen Begutachtung von B2 sei weder etwas Näheres zum Verlauf angegeben noch der Zustand seit Oktober 2018 evaluiert worden. Die Mobilität habe sich aber wohl irgendwann zwischen dem letzten Pflegegutachten des MDK und der letzten Feststellung geändert, wobei die letzte vorliegende Feststellung von S bereits kurz nach dem letzten Pflegegutachten eine entsprechende Ableitung erlaube.

Nach Vorlage des Sachverständigengutachtens hat der Kläger mit mehreren Schreiben dessen Verwertung widersprochen. Er ist unter Bezugnahme auf eine Entscheidung des Bundesverfassungsgerichts (BVerfG, Beschluss vom 23. Oktober 2006 – 1 BvR 2027/02) der Auffassung, dass eine pauschale Einwilligung bei Gesundheitsdaten verfassungswidrig sei. Außerdem hat er mit Schreiben vom 22. November 2021 den Erlass eines Zwischenurteils zu der Verwertbarkeit des Gutachtens beantragt. Er meint, das Gutachten dürfe nicht verwertet werden, weil es unter Verletzung von Privatgeheimnissen eingeholt worden sei; denn das Gutachten sei beauftragt worden, ohne zuvor seine Einwilligung zur Übermittlung seiner Krankenakte einzuholen, und die Erstellung des Aktengutachtens sei auch nach seiner entsprechenden Rüge nicht gestoppt worden.

Wegen der weiteren Einzelheiten des Sachverhalts und des streitigen Vorbringens der Beteiligten wird auf die Verfahrensakten beider Instanzen (einschließlich der Akten des einstweiligen Rechtschutzverfahrens S 9 P 1351/19 ER und L 4 P 1930/19 ER-B), die Verfahrensakten des Parallelverfahrens (L 4 P 3924/20) sowie die beigezogenen Verwaltungsakten der Beklagten Bezug genommen.


Entscheidungsgründe

1. Der Senat konnte verhandeln und entscheiden, obwohl der Kläger im Termin zur mündlichen Verhandlung nicht erschienen ist. Denn der Kläger ist mit der ordnungsgemäßen, ausweislich der Postzustellungsurkunde am 28. Dezember 2021 zugestellten Ladung auf diese Möglichkeit hingewiesen worden (§ 110 Abs. 1 Satz 2 Sozialgerichtsgesetz - SGG).

Der Senat entscheidet durch Endurteil. Der Erlass eines Zwischenurteils gemäß § 130 Abs. 2 SGG zur Frage der Verwertbarkeit des Sachverständigengutachtens von N1 war aus Sicht des Senates jedenfalls nicht zweckmäßig, da der Rechtstreit nach Vorlage des Gutachtens und zum Zeitpunkt des Antrags des Klägers auf ein Zwischenurteil insgesamt entscheidungsreif gewesen ist. Eine Verfahrensbeschleunigung konnte durch eine Vorabentscheidung des Streitpunkts so nicht mehr erreicht werden, zumal die Beteiligten nicht ausschließlich über die Verwertbarkeit des Sachverständigengutachtens streiten und die Entscheidung über diese Frage deshalb auch nicht zur Erledigung des gesamten Rechtsstreits geführt hätte (vgl. hierzu Keller, in: Meyer-Ladewig/Keller/Leitherer/Schmidt, Kommentar zum SGG, 13. Aufl. 2020, § 130 Rn. 8, 10).

2. Die nach § 151 Abs. 1 SGG form- und fristgerecht eingelegte Berufung des Klägers ist zulässig. Sie bedurfte insbesondere nicht der Zulassung, da der Kläger ab dem 22. Mai 2018 Leistungen der Pflegeversicherung nach einem höheren Pflegegrad und damit (höhere) laufende Leistungen für mehr als ein Jahr begehrt (§ 144 Abs. 1 Satz 2 SGG).

3. Gegenstand des Verfahrens ist der Bescheid vom 30. Juli 2018 in der Gestalt des Widerspruchsbescheids vom 13. Dezember 2018 (§ 95 SGG), mit dem es die Beklagte ablehnte, dem Kläger auf seinen Antrag vom 22. Mai 2018 anstelle von Leistungen nach Pflegegrad 1 Sach- und Geldleistungen nach einem höheren Pflegegrad zu gewähren. Hiergegen wendet sich der Kläger in zulässiger Weise mit der kombinierten Anfechtungs- und Leistungsklage (§ 54 Abs. 1 i.V.m. Abs. 4 SGG), mit der er die Gewährung von Leistungen nach Pflegegrad 3 ab Antragstellung (22. Mai 2018) begehrt. Soweit der Kläger mit der Berufung zunächst auch seine erstinstanzlich gestellten Feststellungsanträge weiterverfolgt hat, hat er an diesen Anträgen nach Vorlage des Sachverständigengutachtens von B2 nicht mehr festgehalten, sondern mit Schreiben vom 18. März 2021 (zusammen mit einer Einwilligung in eine Entscheidung ohne mündliche Verhandlung) zuletzt nur noch beantragt, „nach bzw. neben der bereits beantragten Beantragung Aufhebung des SG-Urteils wegen der vorgetragenen diversen Verfahrensfehler [….] hier den Ablehnungsbescheid der Beklagten aus 2018 aufzuheben und die Beklagte zu Leistungen aus der Pflegeversicherung gemäß der Pflegestufe 3 zu verurteilen“ [Hervorhebungen im Original]. Der Kläger hat seinen Berufungsantrag damit im Anschluss an das für ihn positive Sachverständigengutachten wirksam auf das Anfechtungs- und Leistungsbegehren beschränkt, sodass der Senat über die ursprünglich erhobenen Feststellungsklagen nicht mehr zu entscheiden hatte (§ 153 Abs. 1 i.V.m. § 123 SGG). Die diesbezügliche Rücknahme führt zur teilweisen Erledigung des Rechtsstreits (§ 102 Abs. 1 Satz 2 SGG).

Der Versagungsbescheid der Beklagten vom 30. März 2020 ist nicht Gegenstand des Berufungsverfahrens geworden. Denn er hat den streitgegenständlichen Ablehnungsbescheid vom 30. Juli 2018 weder abgeändert noch ersetzt. Gemäß § 153 Abs. 1 i.V.m. § 96 Abs. 1 SGG wird ein neuer Verwaltungsakt nach Berufungseinlegung nur dann kraft Gesetzes Gegenstand des Berufungsverfahrens, wenn er nach Erlass des Widerspruchsbescheids ergangen ist und den angefochtenen Verwaltungsakt abändert oder ersetzt. Ob eine Änderung oder Ersetzung des früheren Verwaltungsakts erfolgt, ist auch bei ablehnenden Bescheiden durch einen Vergleich ihrer Regelungssätze zu ermitteln (vgl. Senatsurteil vom 16. Oktober 2020 – L 4 KR 813/19 – juris, Rn. 24 f. m.w.N.). Ein späterer Bescheid ändert oder ersetzt den früheren Bescheid dann, wenn er in dessen im Verfügungssatz zum Ausdruck kommenden Regelungsgehalt eingreift. Das setzt voraus, dass der Regelungsgegenstand des neuen (einzubeziehenden) Verwaltungsaktes mit dem des früheren (angefochtenen) Verwaltungsaktes zumindest teilweise identisch ist (LSG Bayern, Urteil vom 12. Juli 2018 – L 18 SO 38/18 – juris, Rn. 26; Schmidt, in: Meyer-Ladewig/Keller/Leitherer/Schmidt, Kommentar zum SGG, 13. Aufl. 2020, § 96 Rn. 4a). Vorliegend überschneiden sich die Regelungsgegenstände des Versagungsbescheides vom 30. März 2020 und des angefochtenen Ablehnungsbescheides vom 30. Juli 2018 nicht. Denn die Bescheide beruhen auf unterschiedlichen Rechtsgrundlagen und regeln unterschiedliche Sachverhalte. Im Unterschied zur Ablehnung enthält die Versagungsentscheidung nach § 66 Erstes Buch Sozialgesetzbuch (SGB I) keine Entscheidung über den Leistungsanspruch (vgl. BSG, Urteil vom 24. November 1987 – 3 RK 11/87 – juris, Rn. 21; LSG Bayern, a.a.O.; LSG Hessen, Urteil vom 22. März 2018 – L 1 KR 541/16 – juris, Rn. 20). Ihr Gegenstand ist nicht der materielle Anspruch, sondern die Sanktionierung der Verletzung von Mitwirkungspflichten im Verwaltungsverfahren (vgl. Becker, in: Hauck/Noftz, SGB I, Stand November 2011, § 66 Rn. 44). Bei der Versagung einer Leistung handelt es sich deshalb dem Wesen nach um eine andere Entscheidung als die Ablehnung eines Leistungsanspruchs (vgl. BSG, a.a.O., Rn. 20). Während Inhalt der ursprünglichen Ablehnungsentscheidung der Beklagten die Verneinung eines materiell-rechtlichen Anspruchs auf höhere Pflegeleistungen nach den Vorschriften des Elften Buch Sozialgesetzbuch (SGB XI) war, beschränkte sich der Verfügungssatz des Bescheids vom 30. März 2020 mithin darauf, die beantragten höheren Leistungen wegen fehlender Mitwirkung des Klägers gemäß § 66 SGB I zu versagen, ohne eine (nochmalige) Entscheidung über den materiell-rechtlichen Leitungsanspruch zu treffen. Eine Abänderung oder Ersetzung der ablehnenden Leistungsentscheidung des streitbefangenen Bescheids vom 30. Juli 2018 lag darin nicht.

4. Die Berufung des Klägers ist nicht begründet. Der Bescheid vom 30. Juli 2018 in der Gestalt des Widerspruchsbescheids vom 13. Dezember 2018 ist rechtmäßig und verletzt den Kläger nicht in seinen Rechten. Der Senat kann aufgrund der Beweisergebnisse nicht feststellen, dass der Kläger gegenüber der Beklagten einen Anspruch auf Geld- und Sachleistungen nach einem höheren Pflegegrad als dem bisher gewährten Pflegegrad 1 hat.

Dabei kann dahinstehen, ob – wie der Kläger rügt –  das SG dadurch gegen die Verfahrensvorschrift des § 123 SGG verstoßen hat, dass es das Klagebegehren des Klägers sachdienlich als kombinierte Anfechtungs- und Leistungsklage gefasst und über seine Feststellungsanträge (vgl. Klägerschreiben vom 2. August 2019, Bl. 59/60 der SG-Akte) nicht entschieden hat. Denn selbst wenn darin ein Verfahrensfehler liegen sollte, betrifft dieser jedenfalls nicht den Teil des Urteils, den der Kläger mit der Berufung noch anficht, sodass der Senat hierüber nicht zu entscheiden hat. Unabhängig davon wäre – ein solcher Mangel unterstellt – allein auf Grund dessen auch das Urteil des SG nicht aufzuheben. Vielmehr hätte der Senat, der nach § 157 SGG den Streitfall im gleichen Umfang wie das SG zu prüfen hat, auf ein entsprechendes Berufungsbegehren des Klägers hin über die Feststellungsanträge mitentscheiden müssen (vgl. BSG, Beschluss vom 2. April 2014 – B 3 KR 3/14 B – juris, Rn. 10; BSG, Urteil vom 21. Januar 1959 – 11/8 RV 181/57 – juris, Rn. 15; Senatsurteil vom 16. Juli 2021 – L 4 R 822/21 – unveröffentlicht).

a) Der angefochtene Bescheid ist nicht bereits wegen formeller Mängel aufzuheben. Die Beklagte bzw. der von ihr mit der Prüfung der Pflegebedürftigkeit beauftragte MDK haben insbesondere nicht gegen die Vorgaben des § 18 Abs. 1 Satz 1 i.V.m. Abs. 7 Satz 1 SGB XI (in der vorliegend anzuwendenden, ab 1. Januar 2017 bis zum 31. Dezember 2019 geltenden Fassung des Zweiten Gesetzes zur Stärkung der pflegerischen Versorgung und zur Änderung weiterer Vorschriften – PSG II – vom 21. Dezember 2015, BGBl I 2015,  242, nachfolgend: a.F.) zum Verfahren der Feststellung von Pflegebedürftigkeit verstoßen. Danach beauftragen die Pflegekassen den MDK oder andere unabhängige Gutachter mit der Prüfung, ob die Voraussetzungen der Pflegebedürftigkeit erfüllt sind und welcher Pflegegrad vorliegt. Die Aufgaben des MDK werden nach § 18 Abs. 7 Satz 1 SGB XI a.F. dabei durch Ärzte in enger Zusammenarbeit mit Pflegefachkräften und anderen geeigneten Fachkräften wahrgenommen. Schon die Formulierung "andere geeignete Fachkräfte" legt nahe, dass der Gesetzgeber jedenfalls für das Verwaltungsverfahren Pflegefachkräfte grundsätzlich als geeignete Gutachter ansieht (so ausdrücklich: BSG, Beschluss vom 24. August 2017 – B 3 P 16/17 B – juris, Rn. 9). Hiermit übereinstimmend regeln die auf der Grundlage des § 17 Abs. 1 SGB XI vom Spitzenverband Bund der Pflegekassen erlassenen Richtlinien zum Verfahren der Feststellung von Pflegebedürftigkeit sowie zur pflegefachlichen Konkretisierung der Inhalte des Begutachtungsinstruments nach dem Elften Buch Sozialgesetzbuch (Begutachtungs-Richtlinien – BRi – vom 15. April 2016, in der zum Begutachtungszeitpunkt anzuwendenden Fassung vom 31. März 2017, unter 3.2.2) das Nähere zum Verfahren der Auswahl des den Hausbesuch durchführenden Gutachters. Danach legen Arzt und Pflegefachkraft auf der Grundlage der bereits vorhandenen, von der Pflegekasse übergebenen und ggf. weiter eingeholten Informationen und des zu erwartenden Schwerpunktes der Begutachtung im Einzelfall gemeinsam fest, welche Gutachter (Pflegefachkraft oder Ärztin/Arzt, spezielles Fachgebiet, speziell geschulte Gutachter/in) den Besuch durchführen. Dabei ist es nach den Vorgaben der BRi in der Regel ausreichend, wenn der Besuch von einer Gutachterin oder einem Gutachter durchgeführt wird. Ein gemeinsamer Besuch von Pflegefachkraft und Ärztin bzw. Arzt kann bei besonders schwierigen Begutachtungssituation sinnvoll sein (BRi 3.2.2.). Aus diesen gesetzlichen Vorschriften und untergesetzlichen Bestimmungen lässt sich keine Verpflichtung der Beklagten bzw. des MDK ableiten, den Hausbesuch im Rahmen der Pflegebegutachtung zwingend unter Beteiligung von Ärzten durchzuführen. Vielmehr war auch nach § 18 Abs. 7 Satz 1 SGB XI a.F. nicht ausgeschlossen, dass geeignete Begutachtungsaufgaben auch gleichwertig von Pflegefachkräften wahrgenommen werden (vgl. Dalichau, SGB XI, 2. Aufl. 2019, § 18 SGB XI Rn. 206). Soweit vereinzelt aus § 18 Abs. 7 Satz 1 SGB XI a.F. ein abgeschwächtes „Primat des Arztes“ abgeleitet wurde, so hatte dies bereits in der Literatur Kritik erfahren (vgl. hierzu Roller, in: Schlegel/Voelzke, jurisPK-SGB XI, Stand: Oktober 2021, § 18 SGB XI Rn. 27 m.w.N.). Die grundsätzliche Gleichrangigkeit von Ärzten und Pflegefachkräften, von der die Begutachtungsrichtlinien – wie dargestellt – ausgehen, ist mit der Neufassung des § 18 Abs. 7 Satz 1 SGB XI durch das MDK-Reformgesetz (Gesetz für bessere und unabhängigere Prüfungen vom 14. Dezember 2019, BGBl I 2019, 2789) zum 1. Januar 2020 auch im Gesetzeswortlaut („die Aufgaben des Medizinischen Dienstes werden durch Pflegefachkräfte oder Ärztinnen und Ärzte… wahrgenommen“) verankert worden, wobei der Gesetzgeber nach den Gesetzesmaterialien (vgl. BT-Drs. 19/13397, Seite 97 zu Nr. 5 Buchstabe g) insoweit lediglich eine Klarstellung vornehmen wollte. Vor diesem Hintergrund ist es nicht zu beanstanden, dass die im behördlichen Verfahren eingeholten Gutachten vom 26. Juli 2018 und vom 24. Oktober 2018 aufgrund von Hausbesuchen durch Pflegefachkräfte des MDK erstattet worden sind. Soweit der Kläger geltend gemacht hat, die Gutachterinnen des MDK hätten nicht über die nötige Qualifikation verfügt, um die erforderlichen medizinischen Feststellungen zur Beurteilung seiner Pflegebedürftigkeit zu treffen, verkennt er, dass die vorliegend zu beurteilenden Auswirkungen gesundheitlicher Beeinträchtigungen auf die Fähigkeiten und die Selbstständigkeit nicht in erster Linie eine medizinische und damit eine von Ärzten zu beurteilende Frage ist (vgl. Senatsurteil vom 11. Dezember 2020 – L 4 P 2497/19 – nicht veröffentlicht).

Die weitere Rüge des Klägers, die Beklagte habe durch die unterlassene Beiziehung ärztlicher Befunde auch gegen ihre Amtsermittlungspflicht nach § 18 Abs. 4 SGB XI i.V.m. § 20 f. SGB X verstoßen, führt nicht isoliert zur Aufhebung des angefochtenen Bescheids. Denn eine Verletzung des Untersuchungsgrundsatzes im Verwaltungsverfahren ist nur erheblich, wenn sie zu einem anderen Verfahrensergebnis führen könnte (§ 42 Satz 1 SGB X). Die angerufenen Gerichte der Sozialgerichtsbarkeit sind insoweit ebenso wie die Behörden verpflichtet, den Sachverhalt von Amts wegen umfassend zu erforschen (§ 103 SGG). Mängel der behördlichen Sachaufklärung sind daher grundsätzlich von den gerichtlichen Tatsacheninstanzen durch weitere Beweiserhebungen zu beheben (BSG, Urteil vom 20. Juni 2002 – B 7 AL 8/01 R –, juris, Rn. 26; Urteil vom 17. Dezember 1997 – 11 RAr 61/97 – juris, Rn. 21; Leopold, in: Schlegel/Voelzke, jurisPK-SGB X, Stand: Januar 2021, § 42, Rn. 34 m.w.N.). So ist es auch im vorliegenden Verfahren geschehen. Denn das SG hat die Praxisnachfolgerin des behandelnden S1 als sachverständige Zeugin vernommen und im Zusammenhang damit auch die fehlenden ärztlichen Befundberichte aus dem Zeitraum seit Ende 2016 eingeholt. Ein etwaiges diesbezügliches Ermittlungsdefizit der Beklagten bzw. des MDK ist dadurch verfahrensrechtlich überholt.

b) Die Beklagte hat die beantragte Höherstufung des Pflegegrades mit dem angefochtenen Bescheid auch zu Recht abgelehnt.

aa) Rechtsgrundlage für das Begehren des Klägers auf Leistungen nach einem höheren Pflegegrad ist § 48 Abs. 1 Satz 1 SGB X. Danach ist ein Verwaltungsakt mit Dauerwirkung –  wie die Bewilligung von Leistungen der sozialen Pflegeversicherung nach einem bestimmten Pflegegrad (vgl. BSG, Urteil vom 7. Juli 2005 – B 3 P 8/04 R – juris, Rn. 16) – mit Wirkung für die Zukunft aufzuheben, wenn in den tatsächlichen oder rechtlichen Verhältnissen, die bei seinem Erlass vorgelegen haben, eine wesentliche Änderung eintritt. Eine Änderung der tatsächlichen oder rechtlichen Verhältnisse ist dabei wesentlich, wenn sie zu einer anderen rechtlichen Bewertung führt, sich also auf den Leistungsanspruch des Versicherten auswirkt (Schütze, in: ders., SGB X, 9. Aufl. 2020, § 48 Rn. 15). Damit richtet sich die Feststellung einer wesentlichen Änderung nach dem für die Leistung maßgeblichen materiellen Recht (ständige Rechtsprechung, z.B. BSG, Urteil vom 1. Juni 2017 – B 5 R 2/16 R – juris, Rn. 11).

bb) Da der Kläger den Höherstufungsantrag am 22. Mai 2018, mithin nach dem 31. Dezember 2016 stellte, beurteilt sich sein Anspruch nach den Vorschriften des SGB XI in der ab dem 1. Januar 2017 geltenden Fassung (§ 140 Abs. 1 Satz 1 SGB XI).

Danach haben Pflegebedürftige der Pflegegrade 2 bis 5 bei häuslicher Pflege Anspruch auf körperbezogene Pflegemaßnahmen und pflegerische Betreuungsmaßnahmen sowie auf Hilfen bei der Haushaltsführung als Sachleistung (häusliche Pflegehilfe, § 36 Abs. 1 Satz 1 SGB XI). Anstelle der häuslichen Pflegehilfe können Pflegebedürftige dieser Pflegegrade nach § 37 Abs. 1 Satz 1 SGB XI auch ein Pflegegeld beantragen. Nehmen Pflegebedürftige die ihnen zustehende Sachleistung nur teilweise in Anspruch, erhalten sie daneben ein anteiliges Pflegegeld, wobei das Pflegegeld um den Vomhundertsatz vermindert wird, in dem Sachleistungen in Anspruch genommen worden sind (sog. Kombinationsleistungen, § 38 Abs. 1 Satz 1 und 2 SGB XI). Die Höhe bzw. der Umfang der jeweiligen Leistungen richtet sich nach dem Pflegegrad des Pflegebedürftigen (§ 36 Abs. 3, § 37 Abs. 1 Satz 3 SGB XI).

Pflegebedürftig sind nach § 14 Abs. 1 SGB XI Personen, wenn sie gesundheitlich bedingte Beeinträchtigungen der Selbständigkeit oder der Fähigkeiten aufweisen und deshalb der Hilfe durch andere bedürfen. Für das Vorliegen von gesundheitlich bedingten Beeinträchtigungen der Selbständigkeit oder der Fähigkeiten sind nach § 14 Abs. 2 SGB XI die in den folgenden sechs Bereichen genannten pflegefachlich begründeten Kriterien maßgeblich:

 

  1. Mobilität: Positionswechsel im Bett, Halten einer stabilen Sitzposition, Umsetzen, Fortbewegen innerhalb des Wohnbereichs, Treppensteigen;
  2. kognitive und kommunikative Fähigkeiten: Erkennen von Personen aus dem näheren Umfeld, örtliche Orientierung, zeitliche Orientierung, Erinnern an wesentliche Ereignisse oder Beobachtungen, Steuern von mehrschrittigen Alltagshandlungen, Treffen von Entscheidungen im Alltagsleben, Verstehen von Sachverhalten und Informationen, Erkennen von Risiken und Gefahren, Mitteilen von elementaren Bedürfnissen, Verstehen von Aufforderungen, Beteiligen an einem Gespräch;
  3. Verhaltensweisen und psychische Problemlagen: motorisch geprägte Verhaltensauffälligkeiten, nächtliche Unruhe, selbstschädigendes und autoaggressives Verhalten, Beschädigen von Gegenständen, physisch aggressives Verhalten gegenüber anderen Personen, verbale Aggression, andere pflegerelevante vokale Auffälligkeiten, Abwehr pflegerischer und anderer unterstützender Maßnahmen, Wahnvorstellungen, Ängste, Antriebslosigkeit bei depressiver Stimmungslage, sozial inadäquate Verhaltensweisen, sonstige pflegerelevante inadäquate Handlungen;
  4. Selbstversorgung: Waschen des vorderen Oberkörpers, Körperpflege im Bereich des Kopfes, Waschen des Intimbereichs, Duschen und Baden einschließlich Waschen der Haare, An- und Auskleiden des Oberkörpers, An- und Auskleiden des Unterkörpers, mundgerechtes Zubereiten der Nahrung und Eingießen von Getränken, Essen, Trinken, Benutzen einer Toilette oder eines Toilettenstuhls, Bewältigen der Folgen einer Harninkontinenz und Umgang mit Dauerkatheter und Urostoma, Bewältigen der Folgen einer Stuhlinkontinenz und Umgang mit Stoma, Ernährung parenteral oder über Sonde, Bestehen gravierender Probleme bei der Nahrungsaufnahme bei Kindern bis zu 18 Monaten, die einen außergewöhnlich pflegeintensiven Hilfebedarf auslösen;
  5. Bewältigung von und selbständiger Umgang mit krankheits- oder therapiebedingten Anforderungen und Belastungen in Bezug auf: Medikation, Injektionen, Versorgung intravenöser Zu-gänge, Absaugen und Sauerstoffgabe, Einreibungen sowie Kälte- und Wärmeanwendungen, Messung und Deutung von Körperzuständen, körpernahe Hilfsmittel, Verbandswechsel und Wundversorgung, Versorgung mit Stoma, regelmäßige Einmalkatheterisierung und Nutzung von Abführmethoden, Therapiemaßnahmen in häuslicher Umgebung, zeit- und technikintensive Maßnahmen in häuslicher Umgebung, Arztbesuche, Besuche anderer medizinischer oder therapeutischer Einrichtungen, zeitlich ausgedehnte Besuche medizinischer oder therapeutischer Einrichtungen, Besuch von Einrichtungen zur Frühförderung bei Kindern sowie auf das Einhalten einer Diät oder anderer krankheits- oder therapiebedingter Verhaltensvorschriften;
  6. Gestaltung des Alltagslebens und sozialer Kontakte: Gestaltung des Tagesablaufs und Anpassung an Veränderungen, Ruhen und Schlafen, Sichbeschäftigen, Vornehmen von in die Zukunft gerichteten Planungen, Interaktion mit Personen im direkten Kontakt, Kontaktpflege zu Personen außerhalb des direkten Umfelds.
     

Die Pflegebedürftigkeit ist allein anhand dieser Kriterien zu beurteilen. Sowohl die Auflistung der sechs Pflegebereiche als auch die zu deren Konkretisierung aufgeführten Pflegekriterien bilden einen abschließenden Katalog, der nicht um – vermeintlich fehlende – zusätzliche Kriterien oder gar Bereiche ergänzt werden kann (Senatsurteil vom 16. Oktober 2020 – L 4 P 542/20 – www.sozialgerichtsbarkeit.de; Meßling, in: Schlegel/Voelzke, jurisPK-SGB XI, Stand: Oktober 2021, § 14 Rn. 118). Dementsprechend fließen auch Beeinträchtigungen der Selbständigkeit oder der Fähigkeiten in den Bereichen der Haushaltsführung und der außerhäuslichen Aktivitäten in die Ermittlung des Grades der Pflegebedürftigkeit nur ein, soweit sie in den genannten Bereichen abgebildet sind. Darüber hinausgehende gesundheitsbedingte Beeinträchtigungen in diesen Bereichen sind nicht zusätzlich zu berücksichtigen. Sie wirken sich nicht auf die Bestimmung der Pflegebedürftigkeit und ihres Grades aus (vgl. § 14 Abs. 3 SGB XI; zum Ganzen: Senatsurteil vom 16. Oktober 2020, a.a.O.; Meßling, a.a.O., § 14 Rn. 264 ff. m.w.N.).

Inhaltlich werden die maßgeblichen Pflegekriterien durch die auf Grundlage des § 17 Abs. 1 SGB XI vom Spitzenverband Bund der Pflegekassen bzw. vom Medizinischen Dienst Bund erlassenen BRi (vom 15. April 2016, zunächst in der Fassung vom 31. März 2017, zuletzt geändert durch Beschluss vom 22. März 2021) näher bestimmt. Soweit sich diese untergesetzlichen Regelungen innerhalb des durch Gesetz und Verfassung vorgegebenen Rahmens halten, entfalten sie vor dem Hintergrund des allgemeinen Gleichheitssatzes (Art. 3 Abs. 1 Grundgesetz - GG) Rechtswirkung auch im Verhältnis zu den Versicherten. Sie sind bei der Beurteilung der Pflegebedürftigkeit als Konkretisierung des Gesetzes zur Gewährleistung einer gleichmäßigen Verwaltungspraxis und Vermeidung von Ungleichbehandlungen zu beachten (Meßling, a.a.O., § 14 Rn. 87 m.w.N.; zum alten Recht vgl. BSG, Urteil vom 28. September 2017 – B 3 P 3/16 R – juris, Rn. 22; BSG, Urteil vom 6. Februar 2006 – B 3 P 26/05 B – juris, Rn. 8, jeweils m.w.N.).

Nach § 15 Abs. 1 SGB XI erhalten Pflegebedürftige nach der Schwere der Beeinträchtigungen der Selbständigkeit oder der Fähigkeiten einen Grad der Pflegebedürftigkeit (Pflegegrad). Der Pflegegrad wird mit Hilfe eines pflegefachlich begründeten Begutachtungsinstruments ermittelt, wobei dieses in sechs Module, entsprechend den oben genannten Bereichen, gegliedert ist. Die Kriterien der einzelnen Module sind in Kategorien unterteilt, denen Einzelpunkte entsprechend der Anlage 1 zu § 15 SGB XI zugeordnet werden. Die Kategorien stellen die in ihnen zum Ausdruck kommenden verschiedenen Schweregrade der Beeinträchtigungen der Selbständigkeit oder der Fähigkeiten dar (§ 15 Abs. 2 Satz 3 SGB XI). Die Einzelpunkte in den jeweiligen Modulen werden sodann addiert und entsprechend der Anlage 2 zu § 15 SGB XI einem jeweiligen Punktbereich zugeordnet, aus dem sich die gewichteten Punkte ergeben. Insgesamt wird für die Beurteilung des Pflegegrades die Mobilität mit 10 Prozent, die kognitiven und kommunikativen Fähigkeiten sowie Verhaltensweisen und psychische Problemlagen zusammen mit 15 Prozent, die Selbstversorgung mit 40 Prozent, die Bewältigung von und selbständiger Umgang mit krankheits- oder therapiebedingten Anforderungen und Belastungen mit 20 Prozent und die Gestaltung des Alltagslebens und sozialer Kontakte mit 15 Prozent gewichtet (§ 15 Abs. 2 Satz 8 SGB XI).

Auf der Basis der erreichten Gesamtpunkte sind pflegebedürftige Personen in einen der Pflegegrade einzuordnen, nämlich – soweit hier relevant –

ab 12,5 bis unter 27 Gesamtpunkten in den Pflegegrad 1: geringe Beeinträchtigungen der Selbständigkeit oder der Fähigkeiten,

ab 27 bis unter 47,5 Gesamtpunkten in den Pflegegrad 2: erhebliche Beeinträchtigungen der Selbständigkeit oder der Fähigkeiten, und

ab 47,5 bis unter 70 Gesamtpunkten in den Pflegegrad 3: schwere Beeinträchtigungen der Selbständigkeit oder der Fähigkeiten (§ 15 Abs. 3 Satz 4 SGB XI).

cc) Im Vergleich zu der ursprünglichen Bewilligungsentscheidung der Beklagten (Pflegegrad 1 durch Bescheid vom 15. Dezember 2017) kann der Senat weder eine Änderung in den tatsächlichen noch in den rechtlichen Verhältnissen feststellen, die ausgehend von dem gestellten Höherstufungsantrag des Klägers einen Anspruch auf Leistungen zumindest nach Pflegegrad 2 begründen würde.

Der Senat kann sich in Anwendung der dargestellten Beurteilungsmaßstäbe aufgrund der im Verwaltungs- und Gerichtsverfahren durchgeführten Beweisaufnahme nicht davon überzeugen, dass der Kläger die Voraussetzungen für eine Einstufung in den höheren Pflegegrad 2 erfüllt. Denn nach dem Gesamtergebnis des Verfahrens kann nicht festgestellt werden, dass der Pflegebedarf des Klägers im Zeitraum von der Antragstellung am 22. Mai 2018 bis zum Ende seiner Mitgliedschaft bei der Beklagten am 30. April 2020 mindestens 27 gewichtete Gesamtpunkte erreicht hat.

Dabei weist der Senat vorab darauf hin, dass das Gutachten von N1 verwertbar war. Soweit der Kläger mit Schreiben vom 18. August 2021 eine Verletzung seines Privatgeheimnisses gerügt und nach Vorlage des Gutachtens seiner Verwertung widersprochen hat, ergeben sich hieraus keine Konsequenzen, insbesondere kein Verwertungsverbot hinsichtlich des Gutachtens. Zum einen haben bei Eingang des Schreibens des Klägers die Akten dem Sachverständigen N1 bereits vorgelegen. Denn die Akten sind dem Sachverständigen mit dem ursprünglichen Gutachtensauftrag vom 5. August 2021, also zu einem Zeitpunkt übersandt worden, als ein etwaiger Widerspruch gegen die Aktenübersendung noch gar nicht vorgelegen hat. Zum anderen folgt die Befugnis zur Aktenübersendung aus dem über § 118 Abs. 1 Satz 1 SGG auch im sozialgerichtlichen Verfahren anwendbaren § 404a der Zivilprozessordnung, der den allgemeinen datenschutzrechtlichen Regelungen vorgeht (BSG, Beschluss vom 21. April 2020 – B 13 R 85/19 B – juris, Rn. 9; LSG Baden-Württemberg, Urteil vom 23. April 2015 – L 10 U 5100/10 – juris, Rn. 48). In den Grenzen der nach § 118 SGG i.V.m. § 404 ZPO getroffenen Beweisanordnung ist die Zuleitung der Akten an den Sachverständigen datenschutzrechtlich hinsichtlich der Gesundheitsdaten und anderen besonderen personenbezogenen Daten durch Art. 9 Abs. 2 lit. f Alt. 2 der Verordnung (EU) 2016/679 des Europäischen Parlaments und des Rates zum Schutz natürlicher Personen bei der Verarbeitung personenbezogener Daten, zum freien Datenverkehr und zur Aufhebung der Richtlinie 95/46/EG (Datenschutz-Grundverordnung <DSGVO> vom 27. April 2016, ABl. EU 2016 L 119) und hinsichtlich der Sozialdaten durch § 78 Abs. 1 Satz 4 SGB X i.V.m. § 69 Abs. 1 Nr. 2 SGB X erlaubt (vgl. Erkelenz/Leopold, Datenschutz beim Beweis durch Sachverständige, NZS 2019, S. 926, 929).

Das auf dieser gesetzlichen Grundlage erhobene und in den Prozess eingeführte Gutachten blieb grundsätzlich verwertbar, auch wenn seiner Verwertung später – wie hier durch den Kläger – widersprochen wurde (vgl. BSG, Beschluss vom 28. November 2019 – B 8 SO 55/17 B – juris, Rn. 12). Da Beweise nur deshalb erhoben werden, damit sie im weiteren Verfahren Verwendung finden, ist der Zulassung der Beweiserhebung die spätere Verwertung immanent. Ein Eingriff in das Persönlichkeitsrecht liegt darin nicht. Zumal der Kläger in die Erhebung und Verwendung seiner Gesundheitsdaten im Rahmen seiner Erklärung über die Entbindung von der ärztlichen Schweigepflicht ausdrücklich eingewilligt und diese auch auf den Hinweis des Senats vom 20. August 2021 nicht eingeschränkt oder widerrufen hat (vgl. zum Erfordernis einer eindeutigen Erklärung des Widerrufs: BGH, Urteil vom 7. März 1996 – 4 StR 737/95 – juris, Rn. 7). Einer weiteren, personalisierten Einwilligungserklärung in die Weitergabe der Gesundheitsdaten an den Sachverständigen N1 bedurfte es daneben nicht (vgl. BSG, Beschluss vom 28. November 2019 – B 8 SO 55/17 B – juris, Rn. 12). Etwas Anderes folgt auch nicht aus der vom Kläger in Bezug genommenen Entscheidung des Bundesverfassungsgerichts (BVerfG, Beschluss vom 23. Oktober 2006 – 1 BvR 2027/02 – juris), welche die vertragliche Verpflichtung zur Abgabe einer uneingeschränkten Schweigepflichtentbindung im Rahmen von privatrechtlichen Versicherungsverhältnissen betraf und sich damit auf einen anderen, hier nicht vergleichbaren Sachverhalt bezog.

Zwar sind bei der Anwendung der prozessualen Vorschriften über die Beweiserhebung (Amtsermittlung) und bei der Beweisverwertung auch schutzwürdige Belange der Beteiligten und der Grundsatz der Verhältnismäßigkeit zu beachten (BSG, a.a.O.). Nachvollziehbare Gründe, aus denen sich ein Geheimhaltungsinteresse des Klägers in Bezug auf die Akten ergeben könnten, hat der Kläger jedoch nicht genannt. Er hat der Aktenübersendung vielmehr deshalb widersprochen, weil er die Einholung eines weiteren Sachverständigengutachtens im Hinblick auf das für ihn günstige Gutachten des B2 verhindern wollte. Die Gerichte der Sozialgerichtsbarkeit sind jedoch verpflichtet, unabhängig vom Willen und der Interessenlage der Prozessbeteiligten den Sachverhalt von Amts wegen umfassend zu erforschen und vorliegende Beweise im Hinblick auf die Feststellung der materiellen Wahrheit zu berücksichtigen (§§ 103 Satz 1, 128 Abs. 1 Satz 1 SGG). Damit unvereinbar wäre es, wenn gerichtliche Ermittlungen zum Sachverhalt durch einen Prozessbeteiligten nach dessen Gutdünken gesteuert oder gefiltert und die Berücksichtigung unliebsamer Gutachten so verhindert werden könnte (BSG, Beschluss vom 28. November 2019 – B 8 SO 55/17 B – juris, Rn. 13; LSG Berlin-Brandenburg – L 9 KR 492/14 – juris, Rn. 22). Die Nichtverwertung vorliegender Beweise ist im gerichtlichen Verfahren vielmehr eine begründungsbedürftige Ausnahme (BSG, a.a.O.). Widerspricht der Kläger – wie hier – während des sozialgerichtlichen Verfahrens ohne gewichtige Gründe der Weitergabe der Akten an den Sachverständigen oder widerruft sein Einverständnis hierzu, führt dies deshalb nicht dazu, dass das Gutachten im Prozess nicht verwertet werden kann (LSG Baden-Württemberg, Urteil vom 23. April 2015 – L 10 U 5100/10 – juris, Rn. 48; LSG Rheinland-Pfalz, Urteil vom 11. März 2014 – L 3 SB 229/12 – juris, Rn. 36).

Das Gutachten des B2 bildet für den Senat im Hinblick auf die beim Kläger festzustellende Pflegebedürftigkeit hingegen keine Entscheidungsgrundlage. Denn es ist in wesentlichen Punkten mangelhaft und nicht nachvollziehbar. So erhebt bzw. schildert der Sachverständige in seinem Gutachten weder eine Pflegeanamnese mit näheren Angaben des Klägers zu seinen Erkrankungen, seinem Hilfebedarf, seiner Pflegesituation und den gesundheitlichen und pflegerischen Problemen noch teilt er Untersuchungsergebnisse sowie einen körperlichen und psychischen Befund mit. Auch erfasst bzw. beschreibt er die Auswirkungen der vorhandenen Gesundheitsstörungen auf die Selbstständigkeit und die Fähigkeiten des Klägers im Alltag nicht näher. Seine Beurteilung der Selbstständigkeit bzw. deren Beeinträchtigung bei den einzelnen pflegerelevanten Kriterien ist vor diesem Hintergrund nicht schlüssig und vom Senat auch nicht überprüfbar, zumal der Sachverständige die maßgeblichen Pflegekriterien auch lediglich tabellarisch abgearbeitet und seine Einschätzung zu den einzelnen Kriterien überwiegend nicht begründet hat. Hinzu kommt, dass die Schlussfolgerungen und Bewertungen des Gutachtens erhebliche Widersprüche aufweisen. Dies betrifft zum einen die Gewichtung der festgestellten Punkte, wenn bspw. im Modul 3 insgesamt 20 Einzelpunkte ermittelt, diesen allerdings nur 3 gewichtete Punkte zugeordnet werden, oder anderseits im Modul 5 ermittelte Einzelpunkte im Umfang von 0 mit 3 Punkten gewichtet werden, zum anderen auch das Begutachtungsergebnis selbst, wonach der Pflegebedarf des Klägers in den relevanten Bereichen (– selbst wenn abweichend vom § 18 Abs. 3 Satz 2 SGB XI die Punktewerte aus Modul 2 und 3 nebeneinander angesetzt werden – maximal) 18 gewichtete Gesamtpunkte beträgt, dies nach ärztlicher Einschätzung des B2 aber dennoch Pflegegrad 3 oder mehr begründen soll. Das Gutachten des B2 entspricht damit insgesamt nicht den Anforderungen und fachlichen Standards einer Pflegebegutachtung, wie sie in den BRi (insbesondere unter 4.) niedergelegt sind, worauf auch der Sachverständige N1 hingewiesen hat. Es war daher für die Überzeugungsbildung des Senats im Hinblick auf die Pflegebedürftigkeit ungenügend, weshalb der Senat zur Aufklärung der Pflegebedürftigkeit des Klägers eine weitere Pflegebegutachtung angeordnet hat (§§ 103, 118 Abs. 1 Satz 1 i.V.m. § 412 Abs. 1 ZPO). Da der Kläger mit einer erneuten persönlichen Untersuchung nicht einverstanden war, konnte das weitere Gutachten des N1 letztlich nur nach Aktenlage erstattet werden.

Die Pflegegutachten des MDK vom 26. Juli 2018 und 24. Oktober 2018 kann der Senat im Wege des Urkundenbeweises verwerten (vgl. BSG, Urteil vom 1. Juli 2014 – B 1 KR 29/13 R – juris, Rn. 19; BSG, Beschluss vom 14. November 2013 – B 9 SB 10/13 B – juris, Rn. 6; zur Heranziehbarkeit als gerichtliche Entscheidungsgrundlage: BSG, Urteil vom 12. Dezember 2000 – B 3 P 5/00 R – juris, Rn. 13). Sie dokumentieren aufgrund einer Begutachtung im häuslichen Umfeld zeitnah zu der mit dem Höherstufungsantrag geltend gemachten Verschlechterung des Gesundheitszustandes nachvollziehbar die gesundheitlich bedingten Beeinträchtigungen des Klägers und die daraus resultierenden Bedarfe an personeller Hilfe bei den pflegerelevanten Kriterien. Sie sind befundbezogen, in sich widerspruchsfrei und schlüssig und für den Senat überzeugend. Die pauschale und unsubstantiierte Kritik des Klägers, die sich in der Beanstandung des formalen Gesichtspunktes fehlender ärztlicher Befunderhebungen erschöpft, ist nicht geeignet, die dortigen Feststellungen und Bewertungen in Zweifel zu ziehen.

Danach kann der Senat Folgendes feststellen:

(1) Im Vordergrund steht für die Beurteilung der Pflegebedürftigkeit beim Kläger eine Schädigung der peripheren Nerven beider Beine, die Störungen der Motorik und der Sensibilität hervorruft (äthyltoxisch entstandene Polyneuropathie). Diese verursacht neben einer Kraftminderung bei der Fuß- und Zehenhebung (beidseits Kraftgrad 3 bis 4) eine Bewegungsstörung (Ataxie) beim Gehen und Stehen, die eine Gang- und Standunsicherheit mit Fallneigung und Sturzangst zur Folge hat. Für den Senat ergibt sich dies aus den vorliegenden medizinischen Unterlagen, vor allem den im Verwaltungs- und Gerichtsverfahren eingeholten Pflegegutachten und den beigezogenen Befundberichten des S, die insoweit übereinstimmen. Daneben leidet der Kläger unter wiederkehrenden depressiven Verstimmungen, wie der Senat den Pflegegutachten des MDK vom 26. Juli 2018 und 24. Oktober 2018 entnimmt. Danach besteht beim Kläger zeitweise eine gedrückte Stimmungslage mit einer gewissen Antriebsminderung und leichten Irritierbarkeit. Auch treten tagesformabhängig Konzentrationsschwierigkeiten auf. Die Diagnose einer Depression wurde (fach-)ärztlicherseits hingegen nicht gestellt und auch keine Einteilung in einen Schweregrad vorgenommen. Hierauf hat der Sachverständige N1 zutreffend hingewiesen. Ebenso ist auch das Vorliegen eines „Korsakow-Syndroms“, wie von B2 angenommen, nicht belegt. Eine solches Syndrom ist, wie der Sachverständige N1 dargelegt hat, in erster Linie durch Gedächtnis- und Merkfähigkeitsstörungen gekennzeichnet, für deren Vorliegen beim Kläger kein Anhaltspunkt besteht. Außerdem wurde ein derartiges Krankheitsbild von dem behandelnden S in den beigezogenen Untersuchungs- und Behandlungsberichten zu keinem Zeitpunkt erwähnt oder auch nur eine entsprechende Symptomatik beschrieben. Der Senat schließt sich deshalb der überzeugenden Beurteilung des Sachverständigen N1 an, dass von einem Korsakow-Syndrom beim Kläger nicht ausgegangen werden kann. Schließlich ist der rechte Daumen des Klägers als Folge eines Arbeitsunfalls verkürzt, weshalb er den Pinzettengriff mit der rechten Hand nur mühsam durchführen kann. Dies entnimmt der Senat den im Pflegegutachten des MDK vom 24. Oktober 2018 erhobenen körperlichen Befund.

(2) Die festgestellten Gesundheitsstörungen bedingen Funktionsbeeinträchtigungen, die einen relevanten Pflegebedarf auslösen, allerdings nicht in dem vom Kläger geltend gemachten Umfang des Pflegegrades 2 oder 3.

Nach dem Ergebnis des Verfahrens hat der Kläger aufgrund seiner gesundheitlich bedingten Beeinträchtigungen Unterstützungsbedarf bei den Pflegekriterien in den Bereichen Mobilität (Modul 1), kognitive und kommunikative Fähigkeiten (Modul 2), Verhaltensweisen und psychische Problemlagen (Modul 3) sowie Selbstversorgung (Modul 4). Demgegenüber besteht bei der Bewältigung von und dem selbständigen Umgang mit krankheits- oder therapiebedingten Anforderungen und Belastungen (Modul 5) kein personeller Hilfebedarf, wie sämtliche im Verwaltungs- und Gerichtsverfahren eingeholten Gutachten übereinstimmend ergeben haben. Auch liegen Einschränkungen bei der Gestaltung des Alltagslebens und sozialer Kontakte der in Modul 6 beschriebenen Art beim Kläger nicht vor. Dies entnimmt der Senat dem Gutachten des Sachverständigen N1 und den Pflegegutachten der Pflegefachkräfte B und G. Soweit B2 den Kläger beim Sich-Beschäftigen als überwiegend selbstständig und beim Vornehmen von in die Zukunft reichender Planungen, in der Interaktion mit Personen im direkten Kontakt sowie der Kontaktpflege zu Personen außerhalb als unselbstständig eingestuft hat, hat er nicht beachtet, dass bei diesen Kriterien allein die mentale und körperliche Fähigkeit, die jeweilige Aktivität durchzuführen, zu bewerten ist (Ziff. 4.9.6. BRi). Dies folgt schon aus der gesetzlichen Grundvoraussetzung des § 14 Abs. 1 Satz 1 SGB XI, dass dem Hilfebedarf gesundheitlich bedingte Beeinträchtigungen zugrunde liegen müssen. Allein die Lebensumstände des Versicherten, mögen sie die Lebensqualität auch noch so sehr einschränken, können keinen Pflegebedarf im Sinne der sozialen Pflegeversicherung begründen. Dass sich dem Kläger keine Lebensperspektive mehr bietet, er deshalb auch keine Pläne für die Zukunft fasst, zurückgezogen lebt, kaum Kontakt mit seinem Mitbewohner pflegt und den Kontakt zu Verwandten, Bekannten und der Familie verloren hat, kann deshalb nicht in die Punktebewertung im Modul Gestaltung des Alltagslebens und sozialer Kontakte einfließen. Es handelt sich dabei nicht um gesundheitlich bedingte Beeinträchtigungen der Fähigkeiten zur Gestaltung des Alltagslebens und der sozialen Kontakte.

Die objektiv feststellbaren gesundheitlich bedingten Beeinträchtigungen des Klägers in den Modulen 1 bis 4 sind mit maximal 20 gewichteten Punkten zu bewerten.

Im Modul 1 (Mobilität) benötigt der Kläger Hilfe beim Treppensteigen. Insoweit hat sich seine Mobilität gegenüber der Situation bei der letzten Pflegebegutachtung durch den MDK im Oktober 2018 verschlechtert, wie der Senat den Angaben des Klägers gegenüber B2 entnimmt. Denn danach ist der Kläger wegen der Treppenstufen vor dem Hauseingang nun nicht mehr in der Lage, selbständig das Haus zu verlassen. Dabei ist der Kläger beim Treppensteigen überwiegend unselbständig, da er aufgrund seiner Gehstörung Treppen nur noch mit Stützten und Festhalten durch eine Begleitperson überwinden kann. Von einer Unselbständigkeit, kann bei dem Kläger, der sich ansonsten mit dem Rollator selbständig fortbewegen kann, dagegen nicht ausgegangen werden. Denn als unselbständig sind nur Personen einzustufen, die über die Treppenstufen getragen oder mit Hilfsmitteln transportiert werden müssen und hierbei keine Eigenbeteiligung mehr leisten können (Ziff. F.4.9.1. BRi). Ein solches Ausmaß des Hilfebedarfs ist beim Kläger nicht anzunehmen, wie der Sachverständige N1 überzeugend dargelegt hat. Im Übrigen ist der Kläger in den maßgeblichen Pflegekriterien der Mobilität weiterhin selbstständig. Auch beim Hausbesuchs von B2 hat der Kläger am Rollator gehend die Haustüre geöffnet. Weitergehende Einschränkungen der Fortbewegung wurden in keinem Gutachten beschrieben. Für die Einstufung des Grades der Selbstständigkeit ist aber allein der personelle Hilfebedarf maßgeblich. Ist eine Fortbewegung innerhalb der Wohnung unter Nutzung von Hilfsmitteln ohne fremde Hilfe möglich, besteht insoweit Selbstständigkeit (Ziff. 4.9.1. BRi). Übereinstimmend mit dem Sachverständigen N1 sind im Modul Mobilität somit 2 Punkte zu berücksichtigen, was 2,5 gewichteten Punkten entspricht.

Im Bereich der kognitiven und kommunikativen Fähigkeiten (Modul 2) sind beim Kläger allenfalls leichte Einschränkungen beim Steuern von mehrschrittigen Alltagshandlungen (Fähigkeit größtenteils vorhanden) festzustellen. Demgegenüber sind Anhaltspunkte für Beeinträchtigungen der Fähigkeiten zur örtlichen und zeitlichen Orientierung, zum Erinnern an wesentliche Ereignisse oder Beobachtungen, Treffen von Entscheidungen im Alltagsleben, Verstehen von Sachverhalten und Informationen, Erkennen von Risiken und Gefahren, Mitteilen von elementaren Bedürfnissen, Verstehen von Aufforderungen und Beteiligen an einem Gespräch nicht zu erkennen und auch vom Kläger nicht vorgetragen worden. Beim Kläger bestehen insbesondere keine Erkrankungen, die derartige Störungen der kognitiven oder kommunikativen Fähigkeiten erwarten ließen. Auch sprechen die Lebensumstände des Klägers gegen relevante Beeinträchtigungen im Bereich dieser Fähigkeiten. Denn der Kläger hat gegenüber B2 angegeben, für sich selbst zu sorgen und nur einmal wöchentlich Unterstützung durch Hilfskräfte zu erhalten. Auch hat er angegeben, die Grundpflege alleine durchzuführen und sich selbst um seinen Haushalt zu kümmern. Im Übrigen ist ein Betreuer nicht bestellt, vielmehr vertritt sich der Kläger auch im vorliegenden Verfahren selbst. Dabei lassen seine schriftlichen Eingaben darauf schließen, dass er sich zeitlich orientieren (etwa hinsichtlich der Einhaltung von Fristen), Entscheidungen treffen, Sachverhalte und Informationen unbeeinträchtigt verstehen und auch retrospektive Anteile erinnern kann, worauf der Sachverständige N1 zutreffend hingewiesen hat. Auch sind in keinem der Pflegegutachten kommunikative Schwierigkeiten beschrieben oder entsprechende Befunde erhoben worden. Der Senat folgt deshalb den Gutachten des Sachverständigen N1 und der Pflegefachkräfte B und G, die übereinstimmend und unter Berücksichtigung der genannten Umstände schlüssig zu dem Ergebnis gelangt sind, dass im Modul 2 maximal ein Punktwert von 1 anzusetzen ist, was keine gewichteten Punkte ergibt.

Für das Modul 3 (Verhaltensweisen und psychische Problemlagen) ist ein höherer Pflegebedarf als die von N1 gewichteten 7,50 Punkte nicht festzustellen. Der Sachverständige hat dabei (maximal) 3 Einzelpunkte für das Pflegekriterium verbale Aggression und 1 Einzelpunkt für das Kriterium Antriebslosigkeit bei depressiver Stimmungslage berücksichtigt. Dies beinhaltet ein häufiges Auftreten (zweimal bis mehrmals wöchentlich, aber nicht täglich) verbaler Übergriffe sowie ein seltenes Vorkommen (ein- bis dreimal innerhalb von zwei Wochen) eines Antriebsverlusts. Eine höhere Frequenz lässt sich demgegenüber nicht objektivieren. Eine (Pflege-)Dokumentation, aus welcher die verbalen Vorfälle und die Hilfen bei Antriebslosigkeit zu ersehen wären, liegt nicht vor. Hinzu kommt, dass das Kriterium verbale Aggression nicht jede Gereiztheit und jeden verbalen Konflikt, sondern nur schwerere verbale Angriffe, wie Beschimpfungen und Bedrohungen erfasst (Ziff. 4.9.3. BRi). Ebenso fällt unter die Antriebslosigkeit nur die schwere Form der Antriebsstörung, nicht aber schon die Antriebschwäche, der Antriebsmangel oder die Antriebsarmut (Ziff. 4.9.3. BRi). Eine spezifische Erkrankung aus dem depressiven Formenkreis ist beim Kläger – wie dargestellt – nicht festgestellt. Bei den weiteren Pflegekriterien im Bereich der Verhaltensweisen und psychische Problemlagen besteht kein Pflegebedarf. Für die Bewertung ist insoweit nicht die Häufigkeit des Auftretens von Ereignissen der in den Kriterien genannten Art, sondern die Häufigkeit des hierdurch ausgelösten personellen Unterstützungsbedarfs maßgeblich (Meßling, a.a.O., § 14 Rn. 160). Verhaltensauffälligkeiten, welche ohne Relevanz für die Pflege sind, bleiben unberücksichtigt. Pathologische Ängste, die in diesem Sinn eine personelle Intervention notwendig machen (vgl. Ziff. 4.9.3 BRi), bestehen beim Kläger nicht. Derartige Ängste sind in keinem der vorliegenden medizinischen Berichte beschrieben und auch in keiner anamnestischen Erhebung der Pflegegutachten vom Kläger erwähnt worden, worauf der Sachverständige N1 zutreffend hingewiesen hat. Gleiches gilt für selbstschädigendes oder autoaggressives Verhalten. Entsprechende medizinische Diagnosen sind beim Kläger nicht gestellt und die von B2 angegebenen Kratzspuren sind kein Anzeichen für selbstschädigende Verhaltensweisen. Auch hierauf hat der Sachverständige N1 überzeugend hingewiesen. Motorisch geprägte Verhaltensauffälligkeiten liegen beim Kläger nicht vor. Hierunter lässt sich die Gangstörung des Klägers nicht fassen, denn sie stellt keine „Verhaltensauffälligkeit“, wie etwa ein Umherirren oder eine allgemeine Rastlosigkeit o.ä. (vgl. Ziff. 4.9.3. BRi) dar, sondern ist als Einschränkung der Motorik in den Pflegebereichen 1 und 4 zu berücksichtigen, soweit durch sie ein Hilfebedarf bei bestimmten Verrichtungen entsteht (vgl. Senatsurteil vom 23. April 2021 – L 4 P 1105/20 – unveröffentlicht; Meßling, a.a.O., § 14 Rn. 168). Gleiches gilt, soweit B2 ein „Beschädigen von Gegenständen“ durch motorische Unsicherheit angenommen hat, zumal es an dem insoweit vorausgesetzten aggressiven Verhalten (vgl. Ziff. 4.9.3. BRi) fehlt. Auch dies hat der Sachverständige N1 zutreffend aufgezeigt. Eine nächtliche Unruhe tritt beim Kläger nicht auf. Gemeint sind hier nächtliches Umherirren oder nächtliche Unruhephasen bis hin zur Umkehr des Tag-Nacht-Rhythmus im Sinne von aktiv sein in der Nacht und schlafen während des Tages (Ziff. 4.9.3. BRi). Eine derartige Problemlage wird beim Kläger in den vorliegenden medizinischen Berichten und Pflegegutachten an keiner Stelle beschrieben. Dass der Kläger keinen geregelten Tag-Nacht-Rhythmus hat und schläft, wenn er müde ist, ist bei diesem Kriterium nicht zu werten, weil dies als solches keine pflegerische Relevanz hat (Meßling, a.a.O., § 14 Rn. 169). Auch in den weiteren Pflegekriterien dieses Moduls besteht kein Hilfebedarf.

Im Bereich der Selbstversorgung (Modul 4) benötigt der Kläger wegen seiner Standunsicherheit mit Fallneigung punktuelle personelle Hilfe bei einzelnen Verrichtungen der Körperpflege, insbesondere beim Duschen einschließlich Haarewaschen. Ansonsten kann der Kläger die Grundpflege selbstständig durchführen. Dies entnimmt der Senat der insoweit übereinstimmenden Darstellung in den im Verwaltungs- und Gerichtsverfahren eingeholten Gutachten. Weitere Hilfebedarfe ergeben sich nicht. Der Senat folgt der zutreffenden Bewertung des Sachverständigen N1. Danach ergibt sich im Modul 4 ein Pflegebedarf von 3 Einzelpunkten und damit 10 gewichteten Punkten.

Insgesamt vermag der Senat aus diesen Gründen eine höhere Gesamtsumme gewichteter Punkte als 20,00 nicht festzustellen. Dies entspricht dem von der Beklagten bereits zuerkannten Pflegegrad 1. Eine wesentliche Änderung ist somit nicht eingetreten.

An diesem Ergebnis ändert auch die Einschätzung des S in seinem Arztbrief vom 18. Mai 2018 nichts, wonach Pflegegrad 1 „bei weitem zu wenig“ sei. Diese Einschätzung ist für den Senat schon deshalb nicht nachvollziehbar, weil sie von S nicht begründet worden ist. Mangels näherer Begründung bleibt offen, welche konkreten Gesichtspunkte die Einordnung in einen höheren Pflegegrad notwendig machen sollen. So ist nicht zu erkennen, ob S mit dem Rechtsbegriff der Pflegebedürftigkeit im Sinne von § 14 SGB XI überhaupt vertraut gewesen ist, seine Einschätzung hieran orientiert, die maßgeblichen pflegefachlich begründeten Kriterien in den zu beurteilenden Bereichen herangezogen und entsprechend der Vorgaben in § 15 Abs. 3 SGB XI gewichtet hat. Aus den von S wiedergegebenen Befunden, die sich ausschließlich auf Beeinträchtigungen der Mobilität und der Standsicherheit beziehen, ist ein Grad der Pflegebedürftigkeit im Umfang von zumindest 27 gewichteten Punkten nicht sicher herzuleiten (s.o.).

Nach Aktenlage war nach allem der Pflegebedarf des Klägers – wie dargestellt – mit höchstens 20 gewichteten Punkten zu bewerten und ein höherer Grad der Pflegebedürftigkeit anhand des zu verwendenden Ableitungsinstrumentarien auch nicht indirekt zu belegen. Dies hat der Sachverständige N1 für den Senat schlüssig und nachvollziehbar herausgearbeitet. Weitergehende Beeinträchtigungen der Selbständigkeit und der Fähigkeiten, die beim Kläger zu (weiteren) berücksichtigungsfähigen Bedarfen an personeller Hilfe bei den pflegerelevanten Kriterien geführt haben könnten, sind durch den Senat nicht feststellbar. Solche Beeinträchtigungen hat der Kläger auch nicht konkret geltend gemacht. Eine weitere Beweisaufnahme etwa durch Vernehmung behandelnder Ärzte als sachverständige Zeugen scheidet aus, da sich der Kläger nach seinen eigenen Angaben seit längerem nicht mehr in ärztlicher Behandlung befindet. Die Umstände, die einen höheren Grad der Pflegebedürftigkeit begründen, müssen als anspruchsbegründende Tatsachen jedoch erwiesen sein, d.h. bei vernünftiger Abwägung des Gesamtergebnisses des Verfahrens muss der volle Beweis für das Vorliegen der genannten Tatsachen als erbracht angesehen werden können (vgl. z.B. BSG, Urteil vom 30. April 1985 – 2 RU 43/84 – juris; LSG Bayern, Urteil vom 24. Januar 2017 – L 2 P 11/05 – juris, Rn. 21). Ist ein solcher Nachweis nicht möglich, geht dies nach dem im sozialgerichtlichen Verfahren geltenden Grundsatz der objektiven Beweislast zu Lasten des Beteiligten, der aus diesem Sachverhalt Rechte herleitet, bei den anspruchsbegründenden Tatsachen also zu Lasten des jeweiligen Klägers (vgl. z.B. BSG, Urteil vom 27. Juni 1991 – 2 RU 31/90 – juris). Dementsprechend hat vorliegend auch der Kläger den Nachteil daraus zu tragen, dass sich ein höheres Ausmaß der Pflegebedürftigkeit trotz der umfangreichen Sachaufklärung im Verfahren nicht nachweisen ließ. Gründe für eine Beweislastumkehr bestehen im Streitfall nicht.

4. Die Kostenentscheidung beruht auf § 193 Abs. 1 Satz 1 SGG.

5. Die Revision war nicht zuzulassen, da Gründe hierfür (vgl. § 160 Abs. 2 SGG) nicht vorliegen. Der Rechtstreit wirft insbesondere keine Rechtsfragen von grundsätzlicher Bedeutung auf. Zu der vom Kläger für klärungsbedürftig erachteten Frage, ob eine wirksame Pflegebegutachtung auch ohne Beteiligung von Ärzten allein durch Pflegefachkräfte durchgeführt werden kann, hat das Bundessozialgericht bereits mit Beschluss vom 24. August 2017 (B 3 P 16/17 B – juris, Rn. 9) Stellung genommen. Im Übrigen ist die Frage – wie dargelegt – seitens des Gesetzgebers mit der Neufassung des § 18 Abs. 7 Satz 1 SGB XI durch das MDK-Reformgesetz zum 1. Januar 2020 geklärt worden und im Streitfall nicht (mehr) entscheidungserheblich, nachdem das SG die ärztlichen Befunde des behandelnden Neurologen beigezogen und der Senat im Berufungsverfahren ein ärztliches Gutachten eingeholt hat.

 

Rechtskraft
Aus
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