S 31 AS 17/22 ER

Land
Schleswig-Holstein
Sozialgericht
SG Kiel (SHS)
1. Instanz
SG Kiel (SHS)
Aktenzeichen
S 31 AS 17/22 ER
Datum
2. Instanz
Schleswig-Holsteinisches LSG
Aktenzeichen
L 6 AS 28/22 B ER
Datum
3. Instanz
-
Aktenzeichen
-
Datum
-
Kategorie
Beschluss
Leitsätze

Sowohl aus der Systematik des § 67 Abs. 3 SGB II, als auch aus dem Sinn und Zweck der Regelung folgt nach summarischer Prüfung, dass diese Vorschrift Neuanmietungen nicht erfasst.

 

  1. Der Eilantrag wird abgelehnt.
  2. Außergerichtliche Kosten sind nicht zu erstatten.
  3. Der Antragstellerin wird für das Verfahren vor dem Sozialgericht Kiel ab Antragstellung Prozesskostenhilfe bewilligt und Rechtsanwalt ... beigeordnet.

 

 

 

 

Gründe:

Die Antragstellerin steht beim Antragsgegner seit dem 01.12.2021 im laufenden Bezug von Leistungen nach dem Sozialgesetzbuch Zweites Buch (SGB II).

Zum 01.12.2021 mietete die Antragstellerin mittels Untermietvertrag die im Rubrum näher bezeichnete Wohnung an, ohne zuvor die Zusicherung des Antragsgegners einzuholen. Die Kosten dieser Wohnung belaufen sich auf eine Grundmiete von 421,00 €, kalte Nebenkostenvorauszahlungen in Höhe von 120,00 € und Heizkostenvorauszahlungen in Höhe von 59,00 € monatlich.

Mit Bescheid vom 14.01.2022 bewilligte der Antragsgegner der Antragstellerin Leistungen nach dem SGB II für den Zeitraum vom 01.12.2021 bis 30.11.2022 unter Berücksichtigung der in K. geltenden Mietobergrenze iHv. 397,00 € bruttokalt für einen Einpersonenhaushalt. Die Differenz zur tatsächlichen Bruttokaltmiete von 541,00 € - mithin 144,00 € - erkennt der Antragsgegner nicht als Unterkunftskosten an. Zur Begründung verweist der Antragsgegner im Bewilligungsbescheid vom 14.01.2022 darauf, dass die Antragstellerin „ohne Zustimmung des Jobcenters umgezogen“ sei. Deswegen könnten Kosten der Unterkunft lediglich bis zur Mietobergrenze von 397,00 € bruttokalt anerkannt werden.

Gegen den Bewilligungsbescheid vom 14.01.2022 wandte sich die Antragstellerin mit Widerspruch vom 01.02.2022, über den noch nicht entschieden ist.

Die Antragstellerin hat unter inhaltlicher Bezugnahme auf den Beschluss des Sozialgerichts Kiel vom 28.02.22 – Az. S 34 AS 4/22 ER am 22.02.22 um sozialgerichtlichen Eilrechtsschutz nachgesucht.

Ihre diesbezüglichen Anträge,

1. den Antragsgegner vorläufig zu verpflichten, ihr ab Eingang des Eilantrages bei Gericht bis zu einem vom Gericht zu bestimmenden Zeitpunkt, längstens jedoch bis zu einer Entscheidung in der Hauptsache, Leistungen zur Sicherung ihres Lebensunterhaltes nach dem Zweiten Buch Sozialgesetzbuch unter Berücksichtigung ihrer tatsächlichen Mietkosten monatlich zu gewähren,

2. den Antragsgegner zu verpflichten, ihre notwendigen außergerichtlichen Kosten der Antragstellerin zu tragen,

3. ihr ratenfreie Prozesskostenhilfe unter Beiordnung von Rechtsanwalt … zu gewähren,

sind zulässig. In der Sache hat das Begehren zu 1. und 2. keinen Erfolg.

Gemäß § 86 b Abs. 2 Satz 2 Sozialgerichtsgesetz (SGG) kann das Gericht auf Antrag eine einstweilige Anordnung zur Regelung eines vorläufigen Zustandes in Bezug auf ein streitiges Rechtsverhältnis treffen, wenn eine solche Regelung zur Abwendung wesentlicher Nachteile nötig erscheint (sog. Regelungsanordnung). Erforderlich für den Erlass einer einstweiligen Anordnung ist danach zum einen ein Anordnungsgrund, d.h. ein Sachverhalt, der die Notwendigkeit einer Eilentscheidung begründet, und zum anderen ein Anordnungsanspruch im Sinne einer hinreichenden Wahrscheinlichkeit eines in der Sache bestehenden materiellen Rechts. Nach § 86 b Abs. 2 Satz 4 SGG i.V.m. §§ 920 Abs. 2, 294 Zivilprozessordnung (ZPO) sind Anordnungsgrund und Anordnungsanspruch glaubhaft zu machen. Daran fehlt es hier. Die Antragstellerin hat keinen Anordnungsanspruch glaubhaft gemacht.

Ein Anordnungsanspruch folgt nicht aus § 22 Abs. 1 und 4 SGB II i.V.m. § 67 Abs. 3 SGB II.

Nach § 22 Abs. 4 Satz 1 soll die leistungsberechtigte Person vor Abschluss eines Vertrages über eine neue Unterkunft die Zusicherung des für die neue Unterkunft örtlich zuständigen kommunalen Trägers zur Berücksichtigung der Aufwendungen für die neue Unterkunft einholen. § 22 Abs. 4 Satz 1 bestimmt keine zwingbare Verpflichtung des erwerbsfähigen Leistungsberechtigten zur Einholung einer Zusicherung, sondern eine Obliegenheit. Das Fehlen einer Zusicherung nach Abs. 4 führt nicht dazu, dass die Aufwendungen für die neue Unterkunft ungedeckt bleiben müssen. Die Prüfung der Angemessenheit einer neuen Wohnung erfolgt nach den Grundregeln des Abs. 1, auch wenn – wie hier – ein Zusicherungsverfahren nicht durchgeführt worden ist (Karen Krauß in: Hauck/Noftz SGB II, § 22 Bedarfe für Unterkunft und Heizung, Rn. 293). Rechtsfolge einer unterbliebenen Zusicherung im Sinne des § 22 Abs. 4 SGB 2 ist, dass vom Grundsicherungsträger nur die iSd. § 22 Abs. 1 Satz 1 SGB II angemessenen Unterkunftskosten übernommen werden, dh. die unangemessenen Kosten für die neue Unterkunft werden selbst für die Übergangsfrist von sechs Monaten nicht übernommen (Hessisches Landessozialgericht, Urteil vom 01. Dezember 2021 – L 6 AS 126/20 –, juris). So liegt es hier.

Ein weitergehender Anspruch ergibt sich nicht aus der Vorschrift des § 67 Abs. 3 Satz 1 SGB II, da diese Vorschrift nach summarischer Prüfung im Falle der Antragstellerin keine Anwendung findet (iE. ebenso Landessozialgericht Niedersachsen-Bremen, Beschluss vom 26. Februar 2021 – L 9 AS 662/20 B ER –, juris).

§ 67 Abs. 1, Abs. 3 SGB II in der aktuellen Fassung lauten: Leistungen für Bewilligungszeiträume, die in der Zeit vom 01.03.2020 bis zum 31.03.2022 beginnen, werden nach Maßgabe der Absätze 2 bis 4 erbracht (§ 67 Abs. 1 SGB II). Nach § 67 Abs. 3 Satz 1 SGB II ist § 22 Abs. 1 mit der Maßgabe anzuwenden, dass die tatsächlichen Aufwendungen für Unterkunft und Heizung für die Dauer von sechs Monaten als angemessen gelten. Nach Ablauf des Zeitraums nach Satz 1 ist § 22 Abs. 1 Satz 3 mit der Maßgabe anzuwenden, dass der Zeitraum nach Satz 1 nicht auf die in § 22 Absatz 1 Satz 3 genannte Frist anzurechnen ist (Satz 2). Satz 1 gilt nicht in den Fällen, in denen im vorangegangenen Bewilligungszeitraum die angemessenen und nicht die tatsächlichen Aufwendungen als Bedarf anerkannt wurden (Satz 3).

Sowohl aus der Systematik des § 67 Abs. 3 SGB II, als auch aus dem Sinn und Zweck der Regelung folgt nach summarischer Prüfung, dass diese Vorschrift Neuanmietungen nicht erfasst.

Zwar mag die isolierte Betrachtung des Wortlauts von § 67 Abs. 3 Satz 1 SGB II auf den ersten Blick darauf hindeuten, dass die Fiktion der Angemessenheit der Unterkunftskosten iSd. § 22 Abs. 1 SGB II auch bei neu angemieteten Wohnungen gilt. Indes ist § 67 Abs. 3 Satz 1 SGB II aus Gründen der gesetzlichen Binnensystematik im Zusammenhang mit Satz 3 zu lesen. Die Fiktion der Angemessenheit der Unterkunftskosten nach § 67 Abs. 1 Satz 1 SGB II gilt gemäß § 67 Abs. 3 Satz 3 SGB II nicht in laufenden Leistungsfällen, in denen die Kosten der Unterkunft und/oder Heizung bereits während des vorangegangenen Bewilligungszeitraums auf das angemessene Maß abgesenkt waren. Dies hat nach dem Sinn und Zweck der Vorschrift den Hintergrund, dass die Betroffenen bereits vor der Corona-Pandemie wussten, dass sie sich um günstigeren Wohnraum bemühen mussten [Piepenstock in: Schlegel/Voelzke, jurisPK-SGB II, 5. Aufl., § 22 (Stand: 12.01.2022), Rn. 91_4]. Damit folgt aus § 67 Abs. 3 Satz 1 und 3 SGB II, dass der Anwendungsbereich der Vorschrift nur bei pandemiebedingten Notlagen eröffnet ist. Daran fehlt es hier.

Dieses Auslegungsergebnis steht im Einklang mit dem Sinn und Zweck der Regelung des § 67 SGB II, der vor dem Hintergrund des Gesamtzusammenhangs, der zu den Regelungen des Sozialschutzpaketes geführt hat, zu ermitteln ist. So stand die Bundesrepublik Deutschland im März 2020 vor der bislang noch nicht dagewesenen Situation einer Pandemie mit der Notwendigkeit, das gesellschaftliche und wirtschaftliche Leben massiv herunterzufahren. Dementsprechend bemühten sich die staatlichen Institutionen zügig um Lösungen, um einerseits die Pandemie zu bekämpfen und andererseits die Folgen für die Betroffenen abzumildern oder gar aufzufangen. Wenn zu diesem Zweck ein „Sozialschutzpaket“ erstellt und in diesem Kontext die hier in Rede stehende Regelung des § 67 Abs. 3 SGB II erlassen wird, kann dies bei der Auslegung der Regelung nicht unberücksichtigt bleiben. Sinn und Zweck der zur Bekämpfung der Pandemiefolgen erlassenen Regelung ist es dementsprechend zwar, dass sich SGB II-Leistungsbezieher in der Zeit der Pandemie „nicht auch noch um ihren Wohnraum sorgen müssen“ (vgl. Gesetzesbegründung, BT-Drs. 19/18107, S. 25); dies jedoch – und hierin liegt die Einschränkung – (nur) zur Abmilderung der wirtschaftlichen Auswirkungen der COVID-19-Pandemie (Gesetzesbegründung, BT-Drs. 19/18107, a.a.O.). Einem Schutz der Leistungsträger bei der Verfahrensbearbeitung dient § 67 Abs. 3 SGB II – anders als andere Maßnahmen in den Absätzen 2 – 4 des § 67 Abs. 3 SGB II – nicht (Gesetzesbegründung, BT-Drs. 19/18107, S. 25 f.).

Bei dieser Sachlage bestand für eine Modifizierung des gelegentlich als zu weit gefasst gerügten § 67 Abs. 3 SGB II bislang kein Anlass.

Die Kostenentscheidung beruht auf der entsprechenden Anwendung von § 193 Abs. 1 SGG und folgt dem Ausgang des Verfahrens.

Die Voraussetzungen für die Bewilligung von Prozesskostenhilfe liegen vor.

Dieser Beschluss ist nach § 172 Abs. 3 Nr. 1 SGG unanfechtbar, da der Wert des im Eilverfahren justiziablen Beschwerdegegenstands 750,00 € nicht übersteigt.

Rechtskraft
Aus
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