I. Der Beklagte wird verurteilt, an die Klägerin eine Erstattung in Höhe von 22.446,01 EURO zu leisten.
II. Der Beklagte hat die Kosten des Rechtstreits zu tragen.
T a t b e s t a n d :
Der Erstattungsstreit wird zwischen der Bundesagentur für Arbeit als Trägerin der Leistungen zur Teilhabe im Arbeitsleben und einem Jugendhilfeträger geführt. Es ist zwischen den Beteiligten die sachliche Zuständigkeit für die Heimunterbringung einer Hilfeempfängerin während der Berufsausbildung streitig.
Die Hilfeempfängerin, geboren 1997, zog nach Gewalterfahrungen in der Kindheit und Jugend im Jahr 2016 in eine Einrichtung der H.. Nach der fachärztlichen Stellungnahme des Rehabilitationszentrums besteht bei ihr die gesicherte Diagnose einer posttraumatischen Belastungsstörung, zusätzlich der Verdacht auf eine akute polymorphale psychotische Störung im Sinne einer emotional instabilen Persönlichkeitsstörung. Auf Grund der Schwere ihrer Erkrankung in Verbindung mit einem (trotz bestehender Volljährigkeit) noch erheblichen emotionalen Nachreifebedarf bestehe bei ihr ein besonderer Hilfebedarf / Sonderförderbedarf im Rahmen einer heilpädagogisch-therapeutischen Unterbringung mit diagnosespezifischem Setting. Durch die medizinischen Behandlungen besserte sich der Gesundheitszustand mit der Zeit so weit, dass die Hilfeempfängerin ab September 2017 die Aufnahme einer Berufsausbildung zur Fachinformatikerin anstrebte. Der ärztliche Dienst der Klägerin stellte fest, dass sie für die Ausbildung geeignet sei, wenn entsprechende Rahmenbedingungen eingehalten werden könnten - sie also weiterhin laufend fachärztlich und sozialtherapeutisch betreut werde. Auch sei betreutes Wohnen weiterhin erforderlich.
Am 03.08.2017 beantragte die Hilfeempfängerin beim Beklagten als Träger der Jugendhilfe die Wohnunterbringung. Auf Grund der traumatisierenden Gewalterfahrungen, welche sie zu Hause erlebt habe, könne sie nicht wieder bei ihrer Familie leben. Diesen Antrag leitete der Beklagte am 14.08.2017 an die Klägerin weiter.
Am 04.08.2017 beantragte die Hilfeempfängerin bei der Klägerin Leistungen zur Teilhabe am Arbeitsleben. Diesen Antrag leitete die Klägerin am 07.08.2017 teilweise, nämlich hinsichtlich des Bedarfes "Wohnen", wiederum an den Beklagten weiter. Zwar sei die Klägerin für die Gewährung von Leistungen zur Teilhabe am Arbeitsleben zuständig. Die heilpädagogische Unterbringung sei hingegen originäre Aufgabe der Jugendhilfe. Dies wies der Beklagte zurück, da er seinerseits den Antrag auf Wohnunterbringung vom 03.08.2017 fristgerecht an die Klägerin weitergeleitet habe.
Die Klägerin übernahm als zweitangegangene Leistungsträgerin vom 01.09.2017 bis 08.03.2018 die Kosten für die heilpädagogische Unterbringung der Hilfeempfängerin und machte erstmals mit Schreiben vom 23.08.2017 beim Beklagten dem Grunde nach eine Erstattung geltend. Dieser wies die Erstattungsforderung zurück, verzichtete aber mit Schreiben vom 27.11.2017 auf die Einrede der Verjährung. Der darauffolgende Schriftwechsel wurde teils mit dem Sozialamt, teils mit der OEG-Stelle des Beklagten geführt.
Mit Schreiben vom 18.05.2021 bezifferte die Klägerin die Erstattungsforderung für den Zeitraum 01.09.2017 bis 08.03.2018 auf 21.377,16 EUR zuzüglich einer Verwaltungskostenpauschale in Höhe von 1.068,85 EUR, so dass insgesamt eine Forderung in Höhe von 22.446,01 EUR geltend gemacht wurde. Der Beklagte beglich diese Forderung aber auch nach mehreren Aufforderungen der Klägerin nicht.
Am 15.07.2021 hat die Klägerin beim Sozialgericht Nürnberg Klage erhoben. Sie macht weiterhin eine Erstattung in Höhe von insgesamt 22.446,01 EUR beim Beklagten geltend. Zur Begründung führt sie im Wesentlichen aus, dass der Beklagte als Träger der Jugendhilfe originär für die Wohnunterbringung der Hilfeempfängerin zuständig gewesen sei. Die Unterbringung sei keine Annex-Leistung zu den Leistungen zur Teilhabe am Arbeitsleben, wenn mit ihr überwiegend psychosoziale Ziele verfolgt würden. Dies habe der Bayerische Verwaltungsgerichtshof im Urteil vom 02.12.2020, Az. 12 BV 20.1951 klargestellt. Im vorliegenden Fall habe sich die Klägerin schon vor der Berufsausbildung zur medizinischen Rehabilitation in der Einrichtung der H. aufgehalten. Ein betreutes Wohnen sei unabhängig von der Berufsausbildung ohnehin erforderlich gewesen.
Die Klägerin beantragt:
Die Beklagte wird verurteilt, den Erstattungsanspruch in H. v. 21.377,16 EUR sowie die Verwaltungskostenpauschale nach § 16 Abs. 3 SGB IX i. H. v. 1068,85 EUR, also insgesamt 22.446,01 EUR, zu erfüllen und eine entsprechende Zahlung an die Klägerin zu leisten.
Der Beklagte beantragt,
die Klage abzuweisen.
Zur Begründung verweist er im Wesentlichen darauf, dass kein Erstattungsanspruch bestehe, weil die Unterbringung der Hilfeempfängerin eine Annex-Leistung zu den Leistungen zur Teilhabe am Arbeitsleben darstelle. Mit Aufnahme der Berufsausbildung habe ein neuer Lebensabschnitt begonnen, für den die Klägerin nunmehr alle Leistungen "aus einer Hand" zu erbringen habe. Die Hilfebedarfe dürften nicht künstlich aufgespalten werden. Der Schwerpunkt der Maßnahmen liege bereits alleine wegen des Alters der Klägerin auf der Teilhabe am Arbeitsleben. Diese Leistungen würden pädagogische Hilfen umfassen, wozu auch eine Unterbringung gehöre. Selbst wenn man einen Erstattungsanspruch annehme, sei die Ausschlussfrist des § 111 SGB X bereits verstrichen gewesen, als der Beklagte erstmals am 24.11.2020 von dem Erstattungsbegehren Kenntnis erlangt habe. Die Höhe der Forderung sei unstreitig.
Die Leistungsakten der Klägerin und des Beklagten sind beigezogen worden. Zur Ergänzung des Sachverhaltes wird hierauf verwiesen.
E n t s c h e i d u n g s g r ü n d e :
Die Klage hat vollumfänglich Erfolg. Sie ist zulässig und begründet.
Gegenstand dieses Rechtsstreites ist die von der Klägerin mit Schreiben vom 23.08.2017 beim Beklagten erstmals geltend gemachte Erstattungsforderung für die Heimunterbringung der Hilfeempfängerin in der H. vom 01.09.2017 bis 08.03.2018.
Die Klage ist zulässig. Sie ist als isolierte Leistungsklage statthaft gem. § 54 Abs. 5 SGG (vgl. vgl. Keller in: Meyer-Ladewig/Keller/Leitherer, Sozialgerichtsgesetz, 11. Auflage 2014, § 54 Rn. 41 ff.).
Die Klage ist begründet, weil der Klägerin ein Erstattungsanspruch in Höhe von 22.446,01 EUR gegen den Beklagten zusteht.
Rechtsgrundlage für den Erstattungsanspruch ist § 16 Abs. 1 SGB IX, der den allgemeinen Erstattungsregelungen in §§ 105 ff. SGB X vorgeht. Danach erstattet der zuständige Rehabilitationsträger die Aufwendungen des leistenden Rehabilitationsträgers nach den für den leistenden Rehabilitationsträger geltenden Rechtsvorschriften, wenn ein leistender Rehabilitationsträger nach § 14 Absatz 2 Satz 4 SGB IX Leistungen erbracht, für die ein anderer Rehabilitationsträger insgesamt zuständig ist. Dieser Erstattungsanspruch umfasst die nach den jeweiligen Leistungsgesetzen entstandenen Leistungsaufwendungen und eine Verwaltungskostenpauschale in Höhe von 5 Prozent der erstattungsfähigen Leistungsaufwendungen (§ 16 Abs. 3 Satz 1 SGB IX).
Im vorliegenden Fall hat die Klägerin die Kosten der Wohnunterbringung der Hilfeempfängerin als zweitangegangene Leistungsträgerin übernommen, obwohl hierfür nach Auffassung der erkennenden Kammer der Beklagte zuständig gewesen wäre.
Die Rechtsfrage ist streitig, ob die Heimunterbringung eine Annex-Leistung zu den Leistungen zur Teilhabe am Arbeitsleben nach § 33 Abs. 6 und Abs. 7 SGB IX in der Fassung vom 20.12.2011 (bzw. jetzt: § 49 SGB IX i.d.F. vom 30.11.2019) darstellt mit der Folge, dass die Klägerin leistungspflichtig ist, oder ob eine originäre Leistungspflicht des Jugendhilfeträgers nach §§ 35a, 41 SGB VIII besteht, so dass der Beklagte zur Leistung verpflichtet ist.
Der BayVGH hat hierzu im Urteil vom 02.12.2020, 12 BV 20.1951 ausgeführt, dass der Träger der Jugendhilfe für die Unterbringung dann zuständig sei, wenn eine auswärtige Unterbringung der Hilfeempfängerin ohnehin notwendig gewesen wäre (juris-Rn. 32 des Urteils). In diesen Fällen handle es sich gerade nicht um einen Annex-Anspruch gegen den Träger der Leistungen zur Teilhabe am Arbeitsleben (so auch: SG Konstanz, Urteil vom 07. Februar 2007 - S 7 AL 669/06 -, juris; BeckOK SozR/Winkler, 63. Ed. 1.12.2021, SGB VIII § 10 Rn. 9; LPK-SGB VIII/Jan Kepert, 8. Aufl. 2022, SGB VIII § 10 Rn. 29).
Das Bayerische Landessozialgericht hat sich dem in einer aktuellen Entscheidung ebenfalls angeschlossen. Im Urteil vom 21.02.2022, L 10 AL 81/20 wird unter Verweis auf BSG, Urteil vom 26.10.2004 - B 7 AL 16/04 R - juris ausgeführt, dass zur Abgrenzung zwischen Leistungen der beruflichen Rehabilitation und anderen Rehabilitationsleistungen (etwa solchen zur sozialen Teilhabe im Sinne des § 5 Nr. 5 SGB IX) auf den Schwerpunkt der Maßnahme abzustellen sei. Der Förderrahmen der Leistungen zur Teilhabe am Arbeitsleben beschränke sich auf die durch die Berufsausübung bzw. Erreichung des Arbeitsplatzes ausgelöste Bedarfslage. Maßnahmen, die ohne unmittelbaren Bezug zur Berufsausübung zur persönlichen Lebensführung gehörten, die Verbesserung der Lebensqualität bewirkten sowie elementare Grundbedürfnisse befriedigten und sich auf diese Weise nur mittelbar bei der Berufsausübung auswirkten, seien nicht durch Leistungen zur Förderung der Teilhabe am Arbeitsleben förderungsfähig und allenfalls im Wege der Förderung der Teilhabe am sozialen Leben (jetzt nach §§ 76 ff. SGB IX) zu übernehmen.
Unter Berücksichtigung dieser Rechtsauffassungen, die die erkennende Kammer inhaltlich voll und ganz teilt, konnte im vorliegenden Einzelfall alleine der Beklagte für die Wohnunterbringung der Hilfeempfängerin zuständig sein. Denn diese hat eine längere Krankheitsgeschichte und ist zunächst zur medizinischen Rehabilitation in die H. gezogen. Auch wenn es - wie der Beklagte einwendet - so gewesen sein mag, dass die Einrichtung bereits unter Berücksichtigung des geäußerten Berufswunsches ausgewählt worden ist, so lag nichtsdestotrotz der Schwerpunkt der Unterbringung auch noch bei Aufnahme der Berufsausbildung eindeutig im heilpädagogischen Bereich und gerade nicht in der beruflichen Eingliederung. Dies ergibt sich bereits aus der fachärztlichen Stellungnahme des Rehabilitationszentrums, wonach bei der volljährigen Hilfeempfängerin auf Grund der Schwere ihrer Erkrankung in Verbindung mit einem noch erheblichen emotionalen Nachreifebedarf ein Sonderförderbedarf im Rahmen einer heilpädagogisch-therapeutischen Unterbringung mit diagnosespezifischem Setting bestand. Auch der ärztliche Dienst der Klägerin hat festgestellt, dass die Hilfeempfängerin auch während einer Berufsausbildung laufend fachärztlich und sozialtherapeutisch betreut werden müsse und betreutes Wohnen weiterhin erforderlich sei. Zuletzt hat die Klägerin selbst bereits im Rahmen ihres Antrages an den Beklagten auf Wohnunterbringung ausdrücklich angegeben, dass sie auf Grund der traumatisierenden Gewalterfahrungen, welche sie zu Hause erlebt habe, nicht wieder bei ihrer Familie leben könne. Sie hätte also ohnehin und unabhängig von ihrer beruflichen Eingliederung auswärtig untergebracht werden müssen. Damit war im Ergebnis der Jugendhilfeträger für die Wohnunterbringung zuständig nach §§ 35a, 41 SGB VIII - und gerade nicht die Klägerin im Rahmen der Leistungen zur Teilhabe am Arbeitsleben.
An diesem Ergebnis ändert auch der Einwand des Beklagten nichts, dass die einzelnen Bedarfe "aus einer Hand" zu erbringen seien und nicht künstlich aufgespalten werden dürften. Denn die Umgestaltung des SGB IX durch das BTHG hat ausdrücklich nicht eine einheitliche Leistungsgewährung durch einen einzigen Rehabilitationsträger unabhängig von der Zuordnung der jeweiligen Leistungen vorgegeben. In § 5 SGB IX i.d.F. des BTHG sind vielmehr weiterhin fünf Leistungsgruppen unterschieden, von denen die Klägerin als Rehabilitationsträgerin nur für Leistungen zur Teilhabe am Arbeitsleben und für unterhaltssichernde und andere ergänzende Leistungen vorgesehen ist, nicht aber für Leistungen zur sozialen Teilhabe, wie vorliegend. § 6 Abs. 2 SGB IX sieht weiterhin eine selbstständige und eigenverantwortliche Aufgabenwahrnehmung der Rehabilitationsträger vor; eine Aufgabe des gegliederten Systems ist somit nicht beabsichtigt worden. Auch richten sich die Zuständigkeit und die Voraussetzungen für die Leistungen zur Teilhabe nach den für den jeweiligen Rehabilitationsträger geltenden Leistungsgesetzen, § 7 Abs. 1 Satz 2 SGB IX (so BayLSG, a.a.O., juris-Rn. 38).
Der Erstattungsanspruch ist auch nicht ausgeschlossen, denn die Ausschlussfrist des § 111 SGB X ist nicht versäumt. Die Klägerin hat die Erstattung erstmals mit Schreiben vom 23.08.2017 gegenüber dem Beklagten geltend gemacht, also bereits vor Beginn der Leistungsgewährung. Aus ihren Akten ergibt sich, dass es mit Datum vom selben Tag zwei Erstattungs-Anmeldungen gegeben hat: Eine gegenüber der Kriegsopferfürsorgestelle (Bl. 6 der Beklagten-Akte), eine weitere (fast wortgleiche) gegenüber dem Landratsamt Esslingen allgemein (Bl. 85 der Reha-Akte der Klägerin), wegen der streitigen heilpädagogischen Unterbringung während der Ausbildung. Dies muss ausreichen, um die Anforderungen an die Geltendmachung einer Erstattungsforderung zu erfüllen, zumal der Beklagte von Beginn an wusste, dass Streit über die Zuständigkeit bezüglich der heilpädagogischen Unterbringung bestand.
Die Höhe des Erstattungsanspruches war zwischen den Beteiligten nicht streitig, so dass weitere Ausführungen dazu entbehrlich sind.
Im Ergebnis war die Klage erfolgreich.
Die Kostenentscheidung beruht auf § § 197a SGG i.V.m. § 154 Abs. 2 Verwaltungsgerichtsordnung (VwGO).
Gegen dieses Urteil findet gemäß § 143 SGG die Berufung an das Bayerische Landessozialgericht nach Maßgabe der beigefügten Rechtsmittelbelehrung statt.