I. Die Klage wird abgewiesen.
II. Die Klägerin hat die Kosten des Rechtsstreits zu tragen.
T a t b e s t a n d :
Der Erstattungsstreit wird zwischen dem Jugendhilfeträger (Klägerin) und dem Eingliederungshilfeträger (Beklagter) geführt. Es ist zwischen den Beteiligten die sachliche Zuständigkeit für die Unterbringungskosten eines noch nicht eingeschulten, seelisch behinderten Kindes nach Inobhutnahme bei Kindeswohlgefährdung streitig.
Der Hilfeempfänger, geboren 2016, wurde wegen Überforderung der Mutter und Kindeswohlgefährdung ab dem 10.10.2019 vom zuständigen Jugendamt in Obhut genommen, nachdem diese eine Fremdunterbringung ihres Sohnes beantragt hatte. Sie leidet an einer Persönlichkeitsstörung, dysthymen Verstimmung sowie posttraumatischen Belastungsstörung und befindet sich in psychotherapeutischer Behandlung. Deshalb erhält sie Unterstützung durch ein persönliches Budget und steht unter gesetzlicher Betreuung. Es wurde von den behandelnden Ärzten abgeraten, Mutter und Kind alleine in der Wohnung zu lassen. Der Hilfeempfänger selbst hat nach den Feststellungen von Dr. V. eine seelische Behinderung. Eine geistige oder körperliche Behinderung schloss dieser ausdrücklich aus.
Das Jugendamt sorgte im Anschluss an die Inobhutnahme für die Betreuung des Hilfeempfängers. Ab dem 26.02.2020 wurde er "als Maßnahme der Eingliederungshilfe für seelisch behinderte Kinder nach § 35a SGB VIII" in einer Pflegefamilie betreut. Nach einem Wohnungsbrand musste er jedoch schon nach wenigen Tagen von dort in eine Kindernotwohnung umziehen, bis schließlich ein Platz in einem sozialpädagogischen Kinderhaus organisiert werden konnte.
Mit Schreiben vom 02.03.2020 forderte der klagende Jugendhilfeträger den beklagten Bezirk zur Fallübernahme auf und machte dem Grunde nach die Kostenerstattung geltend, weil seiner Auffassung nach bei Frühforderung vor dem individuellen Schuleintritt nach Art. 64 Absatz 2 des Bayerischen Gesetzes zur Ausführung der Sozialgesetze (BayAGSG) vom 8. Dezember 2006 der überörtliche Sozialhilfeträger allumfassend zuständig sei, unter anderem auch für die Heimunterbringung. Der Eingliederungshilfeträger wies die Fallübernahme und Anerkennung einer Erstattungspflicht jedoch zurück. Der Hilfeempfänger sei zwar rein seelisch und nicht körperlich oder geistig behindert sowie im Vorschulalter, so dass grundsätzlich eine Zuständigkeit nach dieser bayerischen Sondervorschrift in Betracht kommen könnte. Im vorliegenden Fall sei der Hilfeempfänger aber aus rein erzieherischen Gründen aus seiner Familie genommen und untergebracht worden, so dass trotzdem der Jugendhilfeträger für die Heimunterbringung zuständig sei.
Im Juli 2020 kam der Hilfeempfänger in den Kindergarten. Der Beklagte übernimmt seitdem im Rahmen der Eingliederungshilfe die Förderung von 50 Fachdienststunden pro Jahr. Dem Hilfeplan kann entnommen werden, dass sich der Hilfeempfänger sehr schnell eingewöhnt habe, gut mitarbeite, in der Gruppe von allen akzeptiert werde und teilweise schon sehr selbständig geworden sei. Auch aus den weiteren vorliegenden Stellungnahmen/Berichten der Kindertageseinrichtung ist ersichtlich, dass er sich sehr positiv entwickelt hat.
Am 19.08.2021 hat die Klägerin beim Sozialgericht Nürnberg Klage erhoben. Sie begehrt eine Erstattung der im Zeitraum 26.02.2020 bis 30.06.2021 geleisteten Unterbringungskosten in Höhe von 80.200,15 EUR sowie die Feststellung, dass der beklagte Bezirk bis zum individuellen Schuleintritt des Hilfeempfängers sachlich zuständig sei. Zur Begründung verweist sie darauf, dass nach Art. 64 Abs. 2 AGSG die Maßnahmen der Frühförderung für Kinder unabhängig von der Art der Behinderung von den Trägern der Eingliederungshilfe nach Vorschriften des SGB IX zu gewähren seien. Der Hilfeempfänger sei im Übrigen nicht aus rein erzieherischen Gründen untergebracht worden, sondern zumindest auch wegen seiner Teilhabebeeinträchtigungen. Der Hilfebedarf dürfe nicht unzulässig aufgespalten werden.
Die Klägerin beantragt:
Der Beklagte wird verpflichtet der Klägerin die Kosten in Höhe von 80.200,15 EUR für die geleistete Jugendhilfe in Form von vollstationärer Eingliederungshilfe für seelisch Behinderte gemäß § 35 a Abs. 2 Nrn. 3 und 4 SGB Vlll für die Zeit vom 26.02.2020 bis 30.06.2021 (derzeit bis zu diesem Zeitpunkt mit Heim abgerechnet) gemäß §§ 102 ff SGB X, 104, Art. 53, 64 AGSG, 53 SGB XII, 10 Abs. 4 SGB Vlll, hilfsweise gemäß § 105 Abs. 3 SGB X zu erstatten und festzustellen, daß die sachliche Zuständigkeit für den Fall seit 26.02.2020 bis zum individuellen Schuleintritt E. beim Beklagten liegt.
Der Beklagte beantragt,
die Klage abzuweisen.
Zur Begründung verweist er im Wesentlichen darauf, dass die Unterbringung aus rein erzieherischen Gründen im Rahmen der Hilfen zur Erziehung erfolgt sei. Dies sei bereits daran zu erkennen, dass es sich bei dem Kinderhaus um eine pädagogisch-therapeutische Jugendhilfeeinrichtung handle. Die Vorschrift des Art. 64 BayAGSG gelte nicht, wenn sich Maßnahmen der Hilfe zu Erziehung und der Eingliederungshilfe überschnitten.
Die Leistungsakte des Beklagten ist beigezogen worden. Zur Ergänzung des Sachverhaltes wird hierauf verwiesen.
E n t s c h e i d u n g s g r ü n d e :
Die Klage hat keinen Erfolg.
Gegenstand des Rechtsstreites ist das erstmals mit Schreiben vom 02.03.2020 geltend gemachte Leistungs- und Feststellungsbegehren der Klägerin.
Die Klage ist im Leistungsantrag zulässig, aber nicht begründet.
Die Zulässigkeit ergibt sich insbesondere aus den §§ 87, 90 und 92 (Sozialgerichtsgesetz - SGG). Die Klage ist als isolierte Leistungsklage statthaft gem. § 54 Abs. 5 SGG (vgl. vgl. Keller in: Meyer-Ladewig/Keller/Leitherer, Sozialgerichtsgesetz, 11. Auflage 2014, § 54 Rn. 41 ff.).
Die Klage ist nicht begründet, weil der klagende Jugendhilfeträger keinen Erstattungsanspruch gegen den beklagten Träger der Eingliederungshilfe hat.
Ein Erstattungsanspruch besteht im vorliegenden Fall nicht, gleich ob er von der Klägerin nach § 104 SGB X oder hilfsweise nach 105 SGB X geltend gemacht wird, weil sie für die Heimunterbringung des noch nicht eingeschulten Hilfeempfängers trotz seelischer Behinderung selbst sachlich zuständig ist.
Die Leistungen nach dem SGB VIII gehen Leistungen nach dem SGB IX und XII grundsätzlich vor (§ 10 Abs. 4 Satz 1 SGB VIII). Gemäß der Kollisionsregel in § 10 Abs. 4 Satz 2 SGB VIII gehen aber Leistungen der Eingliederungshilfe nach dem SGB IX für junge Menschen, die körperlich oder geistig behindert oder von einer solchen Behinderung bedroht sind, den Leistungen nach dem SGB VIII vor. Landesrecht kann davon abweichend regeln, dass Leistungen der Frühförderung für Kinder unabhängig von der Art der Behinderung vorrangig von anderen Leistungsträgern zu gewähren sind. Dies ist in Bayern mit Art. 64 Abs. 2 Satz 1 BayAGSG geschehen, wonach Maßnahmen der Frühförderung für Kinder unabhängig von der Art der Behinderung von den Trägern der Eingliederungshilfe nach Vorschriften des SGB IX gewährt werden. Grund dafür ist, dass in den ersten Lebensjahren eines Kindes oftmals nur schwer festzustellen ist, ob eine Entwicklungsverzögerung auf einer geistigen, seelischen oder körperlichen Behinderung oder auf erzieherischen Gründen beruht (v. Koppenfels-Spies in: jurisPK-SGB VIII, 1. Aufl. 2014, § 35a SGB VIII, Rn 13).
Die Anwendung dieser Kollisionsnormen setzt aber notwendig voraus, dass sowohl ein Anspruch auf Jugendhilfe, als auch ein Anspruch auf Sozialhilfe besteht und beide Leistungen gleich, gleichartig, einander entsprechend, kongruent, einander überschneidend oder deckungsgleich sind. Nur dann besteht ein Bedürfnis für eine Vor- bzw. Nachrangregelung (vgl. grundlegend: BVerwG, Urteil vom 23. September 1999 - 5 C 26/98, juris-Rn. 13). Dies wäre unter Berücksichtigung der bayerischen Sonderregelung in Art. 64 Abs. 2 AGSG im Rahmen der Frühförderung seelisch behinderter Kinder vor Einschulung beispielsweise dann der Fall, wenn sowohl eine Heimerziehung nach Kinder- und Jugendhilferecht, als auch eine Heimunterbringung nach Sozialhilferecht erforderlich wäre.
Unter Berücksichtigung dieser Voraussetzungen besteht im vorliegenden Fall gerade kein Nebeneinander beider Ansprüche, so dass die Kollisionsregelungen gar nicht zur Anwendung kommen. Anlass und Grund für die Heimunterbringung des Hilfeempfängers war einzig und allein der Erziehungsausfall der Mutter, die auf Grund ihrer eigenen Gesundheitsstörungen mit der Erziehung überfordert war, was zu einer Inobhutnahme wegen Kindeswohlgefährdung geführt hat. In diesen Fällen hat der Jugendhilfeträger die Unterbringungskosten im Rahmen der Hilfe zur Erziehung nach §§ 27, 33, 34 SGB VIII bzw. § 42 Abs. 2 SGB VIII in originärer eigener Zuständigkeit zu übernehmen.
Ein gleicher, gleichartiger, einander entsprechender, kongruenter, einander überschneidender oder deckungsgleicher Anspruch auf Heimunterbringung gegen den Träger der Eingliederungshilfe besteht dagegen im vorliegenden Fall nicht. Nach Aktenlage hat sich der Kläger gut entwickelt, er ist schon sehr selbständig geworden und kommt gut zurecht. Vor diesem Hintergrund wäre eine Heimunterbringung wegen Teilhabebeeinträchtigungen im vorliegenden Fall sicher nicht in Betracht gekommen, ist aber im Übrigen auch nie beschrieben oder gar beantragt worden. Es verbleibt dabei, dass die Heimunterbringung vom Jugendhilfeträger in eigener sachlicher Zuständigkeit zu übernehmen ist.
Soweit die Klägerin - neben der allgemeinen Leistungsklage - auch eine Feststellungsklage erhoben hat, ist diese - wenn sie nicht bereits wegen Verstoßes gegen den Subsidiaritätsgrundsatz unzulässig ist (vgl. Senger in: Schlegel/Voelzke, jurisPK-SGG, 1. Aufl., § 55 SGG, Stand: 27.07.2021, Rn. 23) - aus den oben genannten Gründen jedenfalls unbegründet.
Im Ergebnis hatte die Klage keinen Erfolg und war abzuweisen.
Die Kostenentscheidung beruht auf §§ 193 Abs. 1 Satz 1, 197a SGG.