L 3 AS 1157/21 B ER

Land
Freistaat Sachsen
Sozialgericht
Sächsisches LSG
Sachgebiet
Grundsicherung für Arbeitsuchende
1. Instanz
SG Leipzig (FSS)
Aktenzeichen
S 2 AS 1470/21 ER
Datum
2. Instanz
Sächsisches LSG
Aktenzeichen
L 3 AS 1157/21 B ER
Datum
3. Instanz
-
Aktenzeichen
-
Datum
-
Kategorie
Beschluss
Leitsätze

Nach dem Wortlaut von § 3 Abs. 4 EAO kann ein Arbeitsloser unabhängig vom Grund der Abwesenheit (Beruf, Urlaub, Familie) keine Zustimmung für seine Ortsabwesenheit erhalten, wenn er sich länger als sechs Wochen außerhalb des zeit- und ortsnahen Bereiches aufhalten will

 

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L 3 AS 1157/21 B ER

S 2 AS 1470/21 ER Leipzig

 

 

 

Sächsisches Landessozialgericht

Beschluss

In dem Beschwerdeverfahren

 Z....

- Antragstellerin und Beschwerdegegnerin -

Prozessbevollmächtigter:       Rechtsanwalt B....
 

gegen

Jobcenter Leipzig, vertreten durch die Geschäftsführung, Georg-Schumann-Straße 150, 04159 Leipzig

- Antragsgegner und Beschwerdeführer -

hat der 3. Senat des Sächsischen Landessozialgerichts am 10. März 2022 in Chemnitz durch den Vorsitzenden Richter am Landessozialgericht Dr. Scheer, den Richter am Landessozialgericht Höhl und die Richterin am Landessozialgericht Schneider ohne mündliche Verhandlung beschlossen:

I.     Auf die Beschwerde des Antragsgegners wird der Beschluss des Sozialgerichts Leipzig vom 30. November 2021 aufgehoben, soweit eine Verpflichtung des Antragstellers zur Leistungserbringung erfolgte, und der Antrag auf einstweiligen Rechtsschutz vom 3. November 2021 in vollem Umfang abgelehnt.

 

II.    Außergerichtliche Kosten sind in beiden Instanzen nicht zu erstatten.

 

 

 

Gründe:

 

I.

 

Mit seiner Beschwerde wendet sich der Antragsgegner gegen den Beschluss des Sozialgerichts vom 30. November 2021, mit welchem er aufgrund des Eilantrages der Antragstellerin im Wege des Erlasses einer einstweiligen Anordnung verpflichtet worden ist, an die Antragstellerin für den Monat Dezember 2021 Leistungen zur Sicherung des Lebensunterhalts nach dem Sozialgesetzbuch Zweites Buch – Grundsicherung für Arbeitssuchende – (SGB II) zu erbringen.

 

Die 1965 in Taiwan geborene Antragstellerin geht einer selbständigen Tätigkeit als Gesangslehrerin und Sängerin nach. Aus dieser Tätigkeit erzielte sie lediglich ein geringes Einkommen. Sie bewohnt eine Wohnung in A...., für welche eine Gesamtmiete in Höhe von 350,00 EUR zu zahlen ist, und steht seit Juli 2018 beim Antragsgegner im laufenden Leistungsbezug. Die Eigentümer der Mietwohnung der Antragstellerin sprachen zum 31. August 2021 eine Eigenbedarfskündigung aus, gegen die sich die Antragstellerin gewandt haben soll. Der Stand des Verfahrens ist nicht bekannt.

 

Der Antragsgegner bewilligte der Antragstellerin mit Bescheid vom 9. Juni 2021 in der Fassung der Änderungsbescheide vom 15. Juli 2021 und 25. August 2021 Leistungen zur Sicherung des Lebensunterhaltes für die Zeit vom 1. Juli 2021 bis zum 31. Dezember 2021, konkret für den noch streitbefangenen Monat Dezember 2021 in Höhe von 796,00 EUR.

 

Zur Beseitigung der Hilfebedürftigkeit der Antragstellerin durch Aufnahme eines Beschäftigungsverhältnisses war nach den Angaben der Antragstellerin gegenüber dem Antragsgegner am 8. September 2021 der Aufbau eines Kinderchores und Auftritte als Sängerin bis zum Ende des Jahres 2021 geplant.

 

Den für Dezember 2021 geplanten Sprachkurs sagte die Antragstellerin am 26. Oktober 2021 ab und beantrage schriftlich die Zustimmung zur beruflichen Ortsabwesenheit vom 11. November 2021 bis zum 7. April 2022. Der Antragsgegner forderte die Antragstellerin sodann auf, Unterlagen zum Nachweis der beruflichen Ortabwesenheit, dem Umfang der Arbeitsstunden und den zu erwartenden Einnahmen einzureichen.

 

Im Rahmen der vereinbarungsgemäß telefonisch durchgeführten Besprechung am 2. November 2021 teilte die Antragstellerin dem Antragsgegner ausweislich des gefertigten Vermerks mit, dass sie einen knapp fünfmonatigen Aufenthalt in Taiwan für die notwendige dreiwöchige Corona-Quarantäne sowie die Vorbereitung und Aufführung einer selbst geschriebenen Oper plane. Die Kosten für den Flug und die Unterkunft würden durch ihre Familie getragen. Um die Miete und Krankenversicherung in Deutschland abzusichern, sei der weitere Bezug der Leistung notwendig. In der vorliegenden Anlage zur vorläufigen oder abschließenden Erklärung zum Einkommen aus selbständiger Tätigkeit, Gewerbebetrieb oder Land- und Forst­wirtschaft im Bewilligungszeitraum (EKS) zum Weiterbewilligungsantrag ab dem 1. Januar 2022 habe sie zwar angegeben, dass sie mit Verlusten aus der geplanten Opernaufführung rechne. Der Erfolg des Ticketverkaufs für die Uraufführung im März 2022 und der Erfolg der Oper seien unklar und die Einnahmen schwer zu schätzen. Daher gebe es auch bisher keine Pläne zu Nachfolgeaufführungen.

 

Die Antragstellerin wurde darauf hingewiesen, dass eine Zustimmung zur Ortsabwesenheit nicht erfolge, während des Aufenthaltes in Taiwan kein Leistungsanspruch bestehe und die Leistung für Dezember 2021 entzogen werde würde, da das Flugticket bereits vorliege. Würden die Pläne geändert, sei dies mitzuteilen.

 

Die anwaltlich vertretene Antragstellerin hat vor dem Sozialgericht am 3. November 2021 beantragt, dem Antragsgegner aufzugeben, ihrer Ortsabwesenheit im Zeitraum vom 11. November 2021 bis zum 7. April 2022, hilfsweise bis zu einem im Ermessen des Gerichts liegenden Datum, vorläufig zuzustimmen, äußerst hilfsweise über den Antrag auf Erteilung der Zustimmung zur Ortsabwesenheit ermessensfehlerfrei zu entscheiden. Über den Antrag auf Zustimmung zur Ortsabwesenheit sei nicht entschieden worden. Sie plane in ihrer Heimatstadt  Y.... am 31. März 2022 im X....-Kulturzentrum die Uraufführung eines Theaterstückes, an dem sie bereits seit vielen Jahren arbeite. Ein Vertrag sei geschlossen. Das Theaterstück solle der sogenannte "Durchbruch" werden. Für die Zeit von November 2021 bis März 2022 seien vor Ort eine Vielzahl von Vorbereitungen und Proben sowie Gespräche mit Sponsoren notwendig. Die Reise sei gebucht. Sie rechne mit einem Gesamtvolumen von ca. 10.000,00 EUR. Eine Klärung im Hauptsacheverfahren würde den Verlust der Wohnung, der Sicherheit des Lebensunterhalts und den beruflichen „Genickbruch“ bedeuten.

 

Die Antragstellerin hat die Reise wie geplant angetreten.

 

Der Antragsgegner hat mit Bescheid vom 18. November 2021 den Bescheid vom 9. Juni 2021 ab dem 1. Dezember 2021 aufgehoben und den Bescheid zur Gerichtsakte übermittelt. Eine private Ortabwesenheit habe auch für 21 Kalendertage wegen des spätestens für Dezember 2021 vereinbarten Sprachkurses nicht genehmigt werden können. Die angeforderten Nachweise für die gewerbliche Ortsabwesenheit seien nicht vorgelegt worden. Anhand der vorliegenden Unterlagen sei nicht ersichtlich, dass Einnahmen erzielt werden würden, welche auch nur die Reiskosten deckten. Vielmehr fehle sogar die Gewinnerzielungsabsicht. Im Übrigen wies der Antragsgegner darauf hin, dass auch ohne Zustimmung zur Ortabwesenheit die geplante Reise erfolgen könne. Die Leistung für November 2021 sei ausgezahlt worden.

 

Der Prozessbevollmächtige der Antragstellerin hat mit Schreiben vom 25. November 2021 um antragsgemäße Entscheidung gebeten und Rechtsmittel angekündigt. Im Verwaltungsverfahren hat er mit Schreiben vom gleichen Tag Widerspruch gegen den Bescheid vom 18. November 2021 eingelegt.

 

Das Sozialgericht hat ohne weitere rechtliche Hinweise mit Beschluss vom 30. November 2021 unter Ablehnung des Antrages im Übrigen den Antragsgegner im Wege des Erlasses einer einstweiligen Anordnung verpflichtet, der Antragstellerin für Dezember 2021 Leistungen zur Sicherung des Lebensunterhalts zu erbringen. Denn vor Erlass des Aufhebungsbescheides sei ein Anhörungsverfahren durchzuführen, so dass der Bescheid formell rechtswidrig sei. Ein Widerspruch habe sehr große Aussicht auf Erfolg.

 

Der Antragsgegner hat am 3. Dezember 2021 gegen den Beschluss Beschwerde eingelegt. Im Rahmen des Gesprächs am 2. November 2021 sei eine ausreichende Anhörung erfolgt. Zudem sei eine förmliche Anhörung unverzüglich nachgeholt worden. Die Antragstellerin habe ihren Lebensmittelpunkt ins Ausland verlegt. Das bloße Vorhalten von Wohnraum begründe keinen gewöhnlichen Aufenthalt, zumal das Bestehen des Mietverhältnisses nicht nachgewiesen sei. Zudem halte sie sich außerhalb des zeit- und ortsnahen Bereichs auf und stehe der Eingliederung in Arbeit nicht zur Verfügung. Eine Zustimmung habe nicht erteilt werden können. Der Leistungsanspruch entfalle ab dem ersten Tag der Ortabwesenheit.

 

Der Antragsgegner beantragt,

 

den Beschluss vom 30. November 2021 aufzuheben, soweit der Antragsgegner dazu verpflichtet wird, an die Antragstellerin für den Monat Dezember 2021 Leistungen zur erbringen.

 

Die Antragstellerin beantragt,

 

die Beschwerde zurückzuweisen.

 

Die Beschwerde sei bereits unzulässig, da die Ortsabwesenheit beantragt worden sei und erst in der Hauptsache auf den Aufhebungsbescheid und den Wert in Höhe von 796,00 EUR abzustellen sei. Es sei möglich, dass die Reise aufgrund der aktuellen militärischen Konflikte in Taiwan früher beendet werde.

 

Mit Schreiben vom 2. Dezember 2021 hat der Antragsgegner die Antragstellerin zur Aufhebung angehört. Da die Ortsabwesenheit nicht im Vorfeld, sondern nach Erwerb der Flugtickets angezeigt worden und ein Teil der Leistung bereits ausgezahlt worden sei, habe Eilbedürftigkeit vorgelegen. Auf eine förmliche Anhörung sei verzichtet worden. Die am 2. November 2021 vorgetragenen Umstände seien jedoch im Sinne einer Anhörung berücksichtigt und weitere Erläuterungen und Nachweise abgefordert worden. Zur Vervollständigung der Anhörung werde Gelegenheit zur Stellungnehme gegeben. Mit Schreiben vom 9. Dezember 2021 hat die Antragstellerin auf den Beschluss des Sozialgerichts und den Anhörungsmangel hingewiesen. Der Antragsgegner hat mit Widerspruchsbescheid vom 16. Februar 2022 den Widerspruch gegen den Bescheid vom 18. November 2021 zurückgewiesen.

 

Mit Beschluss vom 11. Februar 2022 hat der Senatsvorsitzende auf den Antrag des Antragsgegners die Vollstreckung aus dem Beschluss des Sozialgerichts Leipzig vom 30. November 2021 ausgesetzt.

 

Hinsichtlich der weiteren Einzelheiten des Sach- und Streitstandes wird auf die Gerichtsakte sowie die Verwaltungsakte des Antragsgegners verwiesen.

 

 

Gründe:

 

1. Die zulässige Beschwerde (vgl. §§ 172, 173 Abs. 1 SGG) ist begründet. Das Sozialgericht hat mit Beschluss vom 30. November 2021 den Antragsgegner zu Unrecht verpflichtet, der Antragstellerin für Dezember 2021 Leistungen zur Sicherung des Lebensunterhalts nach dem SGB II zu erbringen.

 

a) Die Beschwerde ist entgegen der Rechtsmittelbelehrung des Sozialgerichts auch für den Antragsgegner statthaft. Der Beschwerdewert übersteigt 750,00 EUR.

 

(1) Nach § 172 Abs. 3 Nr. 1 SGG ist in Verfahren des einstweiligen Rechtsschutzes die Beschwerde ausgeschlossen, wenn in der Hauptsache die Berufung der Zulassung bedürfte. Zulassungsbedürftig ist die Berufung nach § 144 Abs. 1 Satz 1 Nr. 1 SGG, wenn der Wert des Beschwerdegegenstandes bei einer Klage, die eine Geld-, Dienst- oder Sachleistung oder einen hierauf gerichteten Verwaltungsakt betrifft, 750,00 EUR nicht übersteigt. Ein auf eine Geldleistung gerichteter Verwaltungsakt ist nicht nur gegeben, wenn eine Leistung bewilligt wird, sondern auch, wenn eine Leistung abgelehnt, entzogen, auferlegt, erlassen oder gestundet wird (vgl. BSG, Urteil vom 19. Januar 1996 – 1 RK 18/95SozR 3-1500 § 158 Nr. 1 = NZS 1997, 388 ff. = juris Rdnr. 18; Leitherer, in: Meyer-Ladewig/Keller/Leitherer/Schmidt, SGG [12. Aufl., 2017], § 144 Rdnr. 10a). § 144 Abs. 1 Satz 1 Nr. 1 SGG gilt nicht, wenn die Berufung wiederkehrende oder laufende Leistungen für mehr als ein Jahr betrifft (vgl. § 144 Abs. 1 Satz 2 SGG).

 

Der Wert des Beschwerdegegenstandes ist danach zu bestimmen, was das Sozialgericht dem Rechtsmittelführer versagt oder auferlegt hat und was hiervon mit seinen Anträgen zum Zeitpunkt der Einlegung der Beschwerde weiterverfolgt oder angegriffen wird (vgl. BSG, Beschluss vom 4. Juli 2011 – B 14 AS 30/11 B – juris Rdnr. 4; BSG, Beschluss vom 5. August 2015 – B 4 AS 17/15 B – juris Rdnr. 6; Sächs. LSG, Urteil vom 15. Juni 2017 – L 3 AS 950/16 – juris Rdnr. 15, m. w. N.). Handelt es sich um einen Streitgegenstand, dessen Wert nicht offen zu Tage tritt, genügt eine überschlägige Berechnung oder Schätzung unter Bewertung des wirtschaftlichen Interesses des Rechtsmittelführers (vgl. BSG, Beschluss vom 5. August 2015, a. a. O., Rdnr. 7).

 

(2) Zwar hat die Antragstellerin allein beantragt, dem Antragsgegner aufzugeben, ihrer Ortsabwesenheit im Zeitraum vom 11. November 2021 bis zum 7. April 2022, hilfsweise bis zu einem im Ermessen des Gerichts liegenden Datum, vorläufig zuzustimmen, äußerst hilfsweise über den Antrag auf Erteilung der Zustimmung zur Ortsabwesenheit ermessensfehlerfrei zu entscheiden. Jedoch hat das Sozialgericht den Antragsgegner im Wege des Erlasses einer einstweiligen Anordnung auf diesen Antrag hin verpflichtet, an die Antragstellerin für den Monat Dezember 2021 Leistungen zur Sicherung des Lebensunterhalts nach dem SGB II zu erbringen. Denn die Weitergewährung der bewilligten Leistungen entsprach, nachdem der Antragsgegner mit Bescheid vom 18. November 2021 die Leistungsbewilligung ab dem 1. Dezember 2021 ganz aufgehoben hatte, der Intention der Antragstellerin. Jedenfalls entspricht somit der vom Antragsgegner nach dem angegriffenen Beschluss an die Antragstellerin zu zahlende Betrag in Höhe von 796,00 EUR seinem wirtschaftlichen Interesse als Rechtsmittelführer. Denn auch wenn das Sozialgericht rechtsfehlerhaft nicht die aufschiebende Wirkung des Widerspruchs nach § 86b Abs. 1 Satz 1 Nr. 2 SGG in Verbindung mit § 86a Abs. 2 Nr. 4 SGG, § 39 Nr. 1 SGB II angeordnet hat, verblieb es mit der Entscheidung in der Sache bei der erfolgten Bewilligung.

 

b) Die Beschwerde ist auch begründet. Nach der vorzunehmenden summarischen Prüfung bestand weder ein Anspruch auf Zustimmung zur Ortabwesenheit noch überwiegt das private Aussetzungsinteresse der Antragstellerin hinsichtlich des Aufhebungsbescheides vom 18. November 2021 gegenüber dem öffentlichen Vollzugsinteresse des Antragsgegners.

 

(1) Ein Antrag auf Anordnung der aufschiebenden Wirkung gemäß § 86b Abs. 1 Satz 1 Nr. 2 SGG ist begründet, wenn das private Interesse des Anfechtenden, den Vollzug des angefochtenen Bescheides bis zur Entscheidung in der Hauptsache auszusetzen (privates Aussetzungsinteresse), gegenüber dem öffentlichen Interesse an dessen Sofortvollzug (öffentliches Vollzugsinteresse) überwiegt. Dies ist im vorläufigen Rechtsschutzverfahren summarisch zu prüfen und dabei der Sachverhalt gemäß § 103 SGG von Amts wegen unter Heranziehung der Beteiligten zu ermitteln, soweit dies unter Berücksichtigung der Eilbedürftigkeit des Rechtsschutzbegehrens geboten ist. Die danach nötige Abwägung zwischen dem privaten Aussetzungsinteresse und dem öffentlichen Vollzugsinteresse hat sich an den Erfolgsaussichten in der Hauptsache zu orientieren, weil am Vollzug eines offensichtlich rechtswidrigen Bescheides in der Regel kein öffentliches Interesse besteht, während bei einem rechtmäßigen Bescheid das öffentliche Interesse angesichts der gesetzlich angeordneten, sofortigen Vollziehbarkeit in der Regel vorrangig ist. Daneben sind aber auch alle sonstigen Umstände des Einzelfalles, die für und gegen die sofortige Vollziehbarkeit sprechen, gegeneinander abzuwägen, insbesondere das besondere Vollzugsinteresse im Einzelfall, der Umfang der drohenden Rechtsbeeinträchtigung und die Folgen, die der Sofortvollzug eines rechtswidrigen Bescheides einerseits und das Aussetzen des Sofortvollzugs eines rechtmäßigen Bescheides andererseits mit sich bringen würde. Je geringer die Erfolgsaussichten in der Hauptsache sind, ums so gewichtiger müssen die sonstigen, gegen den Sofortvollzug sprechenden Umstände sein. Bei einem gänzlich offenen Ausgang in der Hauptsache müssen die sonstigen, gegen den Sofortvollzug sprechenden Umstände in jedem Fall höher zu bewerten sein, als die für ihn sprechenden, sonstigen Umstände, da es andernfalls bei der bereits gesetzlich angeordneten sofortigen Vollziehbarkeit bleibt. In den Fällen des § 39 SGB II, wo der Gesetzgeber aufgrund einer typisierenden Abwägung dem öffentlichen Interesse am Sofortvollzug den Vorrang gegenüber dem privaten Interesse einräumt, ist die Anordnung der aufschiebenden Wirkung die mit gewichtigen Argumenten zu begründende Ausnahme (vgl. Sächs. LSG, Beschluss vom 28. April 2008 – L 3 AS 110/08 AS-ER – juris Rdnr. 7; Sächs. LSG, Beschluss vom 16. August 2018 – L 3 AS 508/18 B ER – juris Rdnr. 33; Krodel, in: Krodel/Feldbaum, Das sozialgerichtliche Eilverfahren [4. Aufl., 2016], Rdnr. 186 ff.; Keller, in: Meyer-Ladewig/Keller/Leitherer/Schmidt, SGG [13. Aufl., 2020], § 86b Rdnr. 12a bis 12e).

 

(2) Unter Beachtung dieser Grundsätze überwiegt vorliegend das öffentliche Vollzugsinteresse gegenüber dem privaten Aussetzungsinteresse.

 

(2.1) Soweit ein Anhörungsmangel vorlag, ist dieser jedenfalls geheilt.

 

Bereits im Rahmen der mündlichen Erörterung des Antrages auf Ortsabwesenheit am 2. November 2021 wurde der Antragstellerin ausdrücklich erklärt, dass bei Vollzug der angekündigten Ortsabwesenheit beabsichtigt sei, für den Monat Dezember und somit für die Zukunft die bewilligte Leistung zur Sicherung des Lebensunterhaltes nach dem SGB II zu entziehen. Ihr wurde die Möglichkeit eingeräumt, weitere Unterlagen vorzulegen oder mitzuteilen, sollte sie von den Plänen Abstand nehmen, da ohne eine Mitteilung aufgrund der Vorlage der Flugtickets von der Ortabwesenheit ausgegangen werde. Mit dem vorliegenden Eilantrag hat sich die Antragstellerin zum Sachverhalt auch umfassend geäußert und weitere Unterlagen vorgelegt. Erst danach hat der Antragsgegner mit Bescheid vom 18. November 2021 eine Entscheidung getroffen.

 

§ 24 Abs. 1 des Sozialgesetzbuches Zehntes Buch – Sozialverwaltungsverfahren und Sozialdatenschutz – (SGB X) verlangt zur Durchführung einer Anhörung, dass dem Beteiligten Gelegenheit zur Äußerung zu gewähren ist. Dies setzt jedoch kein förmliches Verfahren oder besonderes Verwaltungsverfahren voraus, sondern kann mündlich, telefonisch, in Schriftform oder per E-Mail erfolgen (vgl. Franz, in: Schlegel/Voelzke, jurisPK SGB X [2. Aufl., 2017] § 24 Rdnr. 31 m. w. N.). Zudem kann nach § 24 Abs. 2 Nr. 3 SGB X von der Anhörung abgesehen werden, wenn die Verwaltung bei ihrer Entscheidung von den tatsächlichen Angaben des Beteiligten ausgeht und nicht zu dessen Ungunsten davon abweichen will. Vorliegend hatte sich die Antragstellerin vor Erlass des Aufhebungsbescheides umfassend zum Sachverhalt geäußert. Der tatsächliche Sachverhalt ist zwischen den Beteiligten auch unstreitig. Er wurde lediglich unterschiedlich rechtlich gewürdigt.

 

Es kann im Ergebnis jedoch dahinstehen, ob die Anhörung somit ausreichend mündlich erfolgte oder von ihr abgesehen werden konnte, da der Antragsgegner die Anhörung mit Scheiben vom 2. Dezember 2021 im laufenden Verwaltungsverfahren nachgeholt hat und ein eventueller Anhörungsmangel daher mit Erlass des Widerspruchsbescheides vom 16. Februar 2022 geheilt worden ist (vgl. § 41 Abs. 1 Nr. 3 SGB X).

 

(2.2) Rechtsgrundlage für den Aufhebungsbescheid vom 18. November 2021 ist § 40 Abs. 2 Nr. 3 SGB II in Verbindung mit § 48 Abs. 1 Satz 1 SGB X. Soweit in den tatsächlichen oder rechtlichen Verhältnissen, die beim Erlass eines Verwaltungsaktes mit Dauerwirkung vorgelegen haben, eine wesentliche Änderung eintritt, ist der Verwaltungsakt danach – wie vorliegend erfolgt – mit Wirkung für die Zukunft aufzuheben (vgl. § 48 Abs. 1 Satz 1 SGB X).

 

§ 7 Abs. 4a SGB II regelt den Leistungsausschluss für den Fall der Ortsabwesenheit. Gemäß § 77 Abs. 1 SGB II gilt § 7 Abs. 4a SGB II in der bis zum 31. Dezember 2010 geltenden Fassung (vgl. Artikel 1 Nr. 7 Buchst. d des Gesetzes vom 20. Juli 2006 [BGBl. I S. 1706]) weiter bis zum Inkrafttreten einer nach § 13 Abs. 3 SGB II erlassenen Rechtsverordnung. In der zuletzt genannten Regelung wird das Bundesministerium für Arbeit und Soziales ermächtigt, durch Rechtsverordnung ohne Zustimmung des Bundesrates nähere Bestimmungen zum zeit- und ortsnahen Bereich (§ 7 Abs. 4a SGB II) sowie dazu zu treffen, wie lange und unter welchen Voraussetzungen sich erwerbsfähige Leistungsberechtigte außerhalb des zeit- und ortsnahen Bereichs aufhalten dürfen, ohne Ansprüche auf Leistungen nach diesem Buch zu verlieren. Eine solche Rechtsverordnung existiert bislang nicht.

 

Nach § 7 Abs. 4a SGB II in der bis zum 31. Dezember 2010 geltenden Fassung erhält Leistungen nach dem SGB II nicht, wer sich ohne Zustimmung des persönlichen Ansprechpartners außerhalb des in der Erreichbarkeits-Anordnung vom 23. Oktober 1997 (ANBA 1997, 1685), geändert durch die Anordnung vom 16. November 2001 (ANBA 2001, 1476), definierten zeit- und ortsnahen Bereiches aufhält; die übrigen Bestimmungen dieser Anordnung gelten entsprechend.

 

Nach § 1 Abs. 1 Satz 2 der Anordnung des Verwaltungsrats der Bundesanstalt für Arbeit zur Pflicht des Arbeitslosen, Vorschlägen des Arbeitsamtes zur beruflichen Eingliederung zeit- und ortsnah Folge leisten zu können (Erreichbarkeits-Anordnung – EAO) hat der Arbeitslose sicherzustellen, dass das Arbeitsamt, vorliegend der Antragsgegner (vgl. § 44b Abs. 1 Satz 2; § 6 Abs. 1 SGB II) ihn persönlich an jedem Werktag an seinem Wohnsitz oder gewöhnlichen Aufenthalt unter der von ihm benannten Anschrift (Wohnung) durch Briefpost erreichen kann. Nach Maßgabe von § 3 Abs. 1 und 2 EAO steht eine auf Grund einer Ortsabwesenheit bedingte fehlende Erreichbarkeit der Verfügbarkeit bis zu drei Wochen im Kalenderjahr nicht entgegen. Nach Maßgabe von § 3 Abs. 3 EAO kann die Drei-Wochenfrist tageweise, höchstens um drei Tage verlängert werden. Wenn sich allerdings der Arbeitslose zusammenhängend länger als sechs Wochen außerhalb des zeit- und ortsnahen Bereiches aufhalten will, finden gemäß § 3 Abs. 4 EAO die Regelungen in § 3 Abs. 1 und 2 EAO keine Anwendung. Nach dem Wortlaut von § 3 Abs. 4 EAO bedeutet dies für die Antragstellerin, dass sie unabhängig vom Grund der Abwesenheit (Beruf, Urlaub, Familie) für ihren etwa fünfmonatigen Aufenthalt (vom 11. November 2021 bis zum 7. April 2022) in Taiwan keine Zustimmung für ihre Ortsabwesenheit erhalten kann. Zudem hat sie weder hinreichend dargelegt noch glaubhaft gemacht, dass sie während der Ortsabwesenheit ein Gewerbe ausübt und dieses auch tatsächlich zur Sicherung ihres Lebensunterhalts beiträgt. Vertrauensgesichtspunkte waren aufgrund der allein für die Zukunft erfolgten Aufhebung nicht zu prüfen.

 

2. Die Kostenentscheidung beruht auf einer entsprechenden Anwendung von § 193 Abs. 1 Satz SGG.

 

3. Diese Entscheidung ist unanfechtbar (vgl. § 177 SGG).

Rechtskraft
Aus
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