S 59 KR 1471/19

Land
Freistaat Bayern
Sozialgericht
SG München (FSB)
Sachgebiet
Krankenversicherung
1. Instanz
SG München (FSB)
Aktenzeichen
S 59 KR 1471/19
Datum
2. Instanz
-
Aktenzeichen
-
Datum
-
3. Instanz
-
Aktenzeichen
-
Datum
-
Kategorie
 
Leitsätze

1. Mit der neuen Rechtsprechung des BSG zur Gewöhnung an die maschinelle Beatmung als Voraussetzung für eine Entwöhnung vom Beatmungsgerät im Sinne der DKR 1001l (BSG, Urteil vom 17.12.2020 Az. B 1 KR 13/20 R) ist insbesondere klargestellt, dass keine wie auch immer zu definierende Mindestdauer einer vorherigen Beatmung, insbesondere über Tracheostoma, zu fordern ist, bis eine Entwöhnung beginnen kann. Vielmehr ist es möglich, dass eine maschinelle Beatmung, die bei intensivmedizinisch versorgten Patienten über Maskensysteme erfolgt, von Anfang an in Form einer Entwöhnung erbracht wird.

2. Es kann dahinstehen, ob ein Einwand, den die beklagte Krankenkasse erstmals in der mündlichen Verhandlung gegen die Abrechnung vorgebracht hat, schon deshalb präkludiert war, weil er nicht mit den wesentlichen Gründen innerhalb der Ausschlussfrist von 9 Monaten nach Übermittlung der Prüfanzeige mitgeteilt worden war (§ 8 Sätze 2, 3 und 4 Prüfverfahrensvereinbarung 2014).

 

I. Die Beklagte wird verurteilt, an die Klägerin einen Betrag in Höhe von 5.297,71 € nebst Zinsen in Höhe von 4 Prozentpunkten über dem jeweiligen Basiszinssatz seit dem 03.08.2016 zu zahlen.

II. Die Beklagte trägt die Kosten des Rechtsstreits.


T a t b e s t a n d :

Die Beteiligten streiten über einen Anspruch auf Vergütung von Krankenhausleistungen nach dem Sozialgesetzbuch Fünftes Buch (SGB V), wobei streitig die Anrechnung von Beatmungsstunden ist.

Die bei der Beklagten versicherte, 1939 geborene Patientin R. wurde vom 29.12.2015 bis zum 12.01.2016 im Klinikum M., dessen Träger die Klägerin ist, vollstationär behandelt. Die Aufnahme erfolgte aufgrund eines subakuten Hinterwandinfarkts, der noch am Tag der Aufnahme mittels Koronarintervention mit Ballondilatation und Bare-metal-stent-Anlage behandelt wurde. Während des Aufenthalts entwickelte die Patientin im Rahmen einer kardialen Dekompensation mit beiderseitigen Pleuraergüssen eine respiratorische Insuffizienz, sodass die vorübergehende Verlegung auf die Intensivstation erfolgte, wo eine nichtinvasive Beatmung durchgeführt wurde. In der Patientenakte dokumentiert ist eine nichtinvasive Beatmung am 31.12.2015 und am 01.01.2016 zu folgenden Zeiten:

- am 31.12.2015:
0:45 bis 9:30 Uhr: 8,75 h
15:00 bis 18:00 Uhr: 3 h
- am 01.01.2016:
2:44 bis 4:52 Uhr: 2 h
5:42 bis 8:00 Uhr: 2,25 h
15:15 bis 17:30 Uhr: 2,25 h
Als Gerät ist jeweils "BIPAP Vision" eingetragen; ferner finden jeweils Werte in der Spalte "IPAP/EPAP/FiO2".

Am 28.01.2016 rechnete die Klägerin gegenüber der Beklagten die Krankenhausleistungen mit einem Betrag von 14.649,74 € ab. Der größte Posten innerhalb der Abrechnung fiel mit 14.548, 83 € auf die DRG F43B "Beatmung > 24 Stunden bei Krankheiten und Störungen des Kreislaufsystems, Alter > 5 Jahre, ohne intensivmedizinische Komplexbehandlung > 392 / 552 Aufwandspunkte, mit komplizierender Konstellation oder bestimmter OR-Prozedur". Dem DRG-Grouping der Klinik lag die Annahme zugrunde, dass 41 Stunden Beatmungsdauer anzurechnen seien. Hierbei hatte die Klinik sämtliche Stunden ab Beginn der Beatmung am 31.12.2015 um 0:45 Uhr bis zu deren endgültigem Abschluss am 01.01.2016 um 17:30 Uhr inklusive der beatmungsfreien Intervalle gezählt.

Die Beklagte bezahlte zunächst die Rechnung in vollem Umfang, leitete jedoch ein Überprüfungsverfahren durch den MDK Bayern ein, der in seinem Gutachten vom 22.07.2016 nach Einsicht in die Patientenunterlagen zu dem Ergebnis kam, dass nur 19 Beatmungsstunden anzurechnen seien. Die beatmungsfreien Intervalle seien nicht mitzuzählen. Es handle sich im vorliegenden Fall um eine intermittierende nichtinvasive Beatmung, d. h. eine stundenweise Atmungsunterstützung mittels Maskensystems. Hierbei würden nur die tatsächlichen Beatmungsintervalle berücksichtigt; nicht aber der gesamte Zeitraum vom ersten Beatmungsintervall durchgängig bis zum letzten. Initial habe keine kontinuierliche Beatmung stattgefunden, diese sei aber Voraussetzung zur Abrechnung einer durchgängigen Beatmungsperiode (siehe auch Kodierrichtlinien DKR 1001). Von einer initialen "fortlaufenden" Beatmung könne nur dann ausgegangen werden, wenn die Beatmung über mindestens 24 Stunden ohne Unterbrechung erfolge; dies gelte auch für die Beatmung mit einem Maskensystem. Im Falle nichtinvasiver Beatmung mittels Maske liege eine fortlaufende Beatmung im Sinne der Kodierregel häufig nicht vor, da im Tagesverlauf fast immer Pausen, zum Beispiel im Zusammenhang mit Nahrungsaufnahme, Körperpflege oder sonstigen Verrichtungen am Patienten zwischengeschaltet sein. Zur Berechnung der Beatmungsdauer seien in diesem Fall nur die Zeitintervalle zu berücksichtigen, in denen der Patient tatsächlich beatmet worden sei. Durch diese Änderung resultiere die DRG F59A.

Unter Berücksichtigung der Auffassung des MDK Bayern errechnete die Beklagte eine Rückforderung in Höhe von 5297,71 €, die sie am 02.08.2016 gegen eine unstrittige Forderung der Klägerin aufrechnete.

Die Klägerin erhob am 21.05.2019 beim Sozialgericht München Klage auf den strittigen Betrag.

In ihrer Klageerwiderung vom 22.09.2020 hat die Beklagte auf das inzwischen ergangene Urteil des BSG vom 19.12.2017 Az. B 1 KR 18/17 R hingewiesen. Darin hatte das BSG ausgeführt, die Berücksichtigung von Zeiten von Spontanatmung während der Phase einer Entwöhnung von maschineller Beatmung setze voraus, dass zuvor eine Gewöhnung an die maschinelle Beatmung stattgefunden habe. Die Beklagte ist der Auffassung, die Voraussetzung der Gewöhnung an Maskenbeatmung liege nicht vor. Die Patientin sei ohne vorherige Intubation nicht an die Beatmungsmaschine gewöhnt gewesen.

Das Sozialgericht zog die Akte der Beklagten sowie die Patientenakte der Klägerin bei und bestimmte den Facharzt für Anästhesiologie und Medizincontroller R1. zum Sachverständigen, der in seinem Gutachten vom 14.05.2021 zu dem Ergebnis gekommen ist, dass die Klägerin die Leistung des Krankenhauses korrekt abgerechnet habe, insbesondere dass eine Beatmungszeit von 41 Stunden beim DRG-Grouping zu berücksichtigen sei. Die Patientin sei initial in der Beatmungsform BIPAP über eine Maske als Intubation ersetzende Maßnahme beatmet worden. Hierbei handle es sich um eine nichtinvasive Beatmungsform (NIV). Hinter dem Begriff BIPAP (Biphasic Positive Airway Pressure) stehe eine Beatmungsform, bei der das Beatmungsgerät abwechselnd einen hohen Druck zum Einatmen und einen niedrigeren Druck zum Ausatmen generiere. Bei dieser Beatmungsform würden mechanische Gase bewegt, und somit handle es sich gemäß der Definition der im Jahr 2015 gültigen Kodierrichtlinien DKR 1001l des InEK um eine maschinelle Beatmung.
Soweit die MDK-Gutachterin schreibe, von einer initial "fortlaufenden" Beatmung, die die Berücksichtigung von Seiten der Spontanatmung während der Entwöhnung ermögliche, könne nur dann ausgegangen werden, wenn die Beatmung über mindestens 24 Stunden ohne Unterbrechung erfolgt sei, so finde sich weder in der DKR 1001l noch in den aktuellen wissenschaftlichen Beatmungsleitlinien dafür eine Grundlage.
Soweit sich die Beklagte mit Schriftsatz vom 22.09.2020 darauf berufe, dass das BSG mit Urteil vom 19.12.2017 festgestellt habe, es müsse eine Gewöhnung an eine Beatmung gegeben haben, bevor eine Entwöhnung stattfinden könne, sei festzustellen, dass das BSG in seinem Urteil nicht erläutere, anhand welcher Patientenmerkmale zu erkennen oder zu diagnostizieren sei, dass sich ein Patient an eine Beatmung gewöhnt haben solle. Bei dem Prozess einer Entwöhnung im medizinischen Sinne sei es das Ziel, die Invasivität der maschinellen Beatmung und Atemunterstützung in Abhängigkeit von den individuellen Fähigkeiten eines Patienten unter Berücksichtigung seines Krankheitsverlaufs zunächst zu reduzieren und schließlich zu beenden.
Kritisch sei anzumerken, dass aus der Dokumentation vom 01.01.2016 weder erkennbar sei, mit welcher Beatmungsform noch mit welchen Beatmungsdrücken die Patientin beatmet worden sei. Dennoch lasse sich aus dem Verlauf der Blutgasanalysen entnehmen, dass in den Phasen, in denen nur "NIV" in der Intensivkurve dokumentiert sei, eine Beatmung erforderlich gewesen und durchgeführt worden sei. Selbst wenn die Beatmungsform nur "CPAP" gewesen sein sollte, wären diese Zeiten aufgrund der Regelung der DKR 1001l anrechenbar, da die Beatmungsperioden summarisch oberhalb von 6 Stunden täglich lagen.

Mit Schreiben vom 12.07.2021 hat die Beklagte das weitere Argument vorgebracht, dass die Entwöhnung nicht einem methodischen Vorgehen entsprochen habe. Die Beatmungstherapie infolge der Pleuraergüsse sei jeweils so lange herausgezögert worden, bis eine invasive Beatmungstherapie nicht mehr anwendbar gewesen sei. Ein methodisches Vorgehen setze jedoch nach den Vorgaben des BSG ein spezielles Konzept voraus. Dieses könne zum Beispiel in Form eines Weaning-Protokolls erfolgen. Gebe es kein Weaning-Protokoll, müssten die entsprechenden Punkte in der Vitalzeichenkurve dokumentiert sein. Nur so könne ein abgestimmtes und methodisch geleitetes Weaning stattfinden.
              
Hierzu hat der Sachverständige R1. in seiner ergänzenden Stellungnahme vom 05.10.2021 ausgeführt, dass weder in den Deutschen Kodierrichtlinien noch an anderer Stelle das methodische Vorgehen einer Beatmungsentwöhnung explizit definiert sei. Das von der Beklagten geforderte Weaning-Protokoll mit Abbruchkriterien finde sich erstmals im OPS-Code 8-718 "Beatmungsentwöhnung bei maschineller Beatmung" aus dem Jahr 2019. Im Jahr 2015 habe es keine inhaltlichen Vorgaben zur Dokumentation einer Beatmungsentwöhnung im OPS gegeben. Weiter hat der Sachverständige dargelegt, wie das Krankenhaus während der Entwöhnung die Beatmungsdrücke schrittweise reduziert hat, wie ein Absinken der Sauerstoffkonzentration gelang, wie die initiale Spontanatemfrequenz reduziert werden konnte und wie die Spontanatemphasen sukzessive ausgedehnt werden konnten. Darin habe das methodische Vorgehen einer Entwöhnung im medizinischen Sinne bestanden.
Die Behauptung der Beklagten, die Beatmungstherapie infolge der Pleuraergüsse sei so lange hinausgezögert worden, bis die invasive Beatmungstherapie nicht mehr anwendbar gewesen sei, sei in doppelter Hinsicht nicht korrekt. Zum einen sei eine noninvasive Beatmungstherapie durchgeführt worden, zum anderen sei es gerade das Ziel eines Intensivmediziners, die maschinelle Beatmung solange wie vertretbar zu vermeiden.
Weiter hat der Sachverständige darauf hingewiesen, dass das BSG in seinem Urteil vom 17.12.2020 (Az. B 1 KR 13/20 ER) vor dem Hintergrund der anhaltenden fachlichen Kritik an seinem Urteil vom 19.12.2017 festgestellt habe, dass die als Voraussetzung einer Entwöhnung vom Beatmungsgerät geforderte "Gewöhnung an eine maschinelle Beatmung" lediglich "die erhebliche Einschränkung oder den Verlust der Fähigkeit, über einen längeren Zeitraum vollständig und ohne maschinelle Unterstützung spontan atmen zu können" erfordere und nicht an weitere, darüber hinausgehende Voraussetzungen geknüpft sei (Rdnr. 19 des angegebenen Urteils). Dies sei dahingehend zu interpretieren, dass das BSG grundsätzlich den Auffassungen der medizinischen Fachgesellschaften gefolgt sei. Im streitgegenständlichen Fall habe die Patientin unter Spontanatmung trotz Sauerstoffgabe mehrfach signifikante Abfälle des Sauerstoffpartialdrucks unter den Grenzwert von 71 mmHg erlitten. Somit sei die Patientin gemäß der genannten Definition nachweislich mehrfach nicht in der Lage gewesen, über einen längeren Zeitraum spontan ohne maschinelle Unterstützung vollständig atmen zu können.

Die Klägerin beantragt,
die Beklagte zu verurteilen, an die Klägerin einen Betrag in Höhe von 5.297,71 € nebst Zinsen in Höhe von 4 Prozentpunkten über dem jeweiligen Basiszinssatz seit dem 03.08.2016 zu zahlen.

Die Beklagte beantragt,
die Klage abzuweisen.

In der mündlichen Verhandlung vom 17.02.2020 hat die Beklagte geltend gemacht, dass am 01.01.2016 keine maschinelle Beatmung stattgefunden habe, weil die jeweiligen Gasdruck-Werte und die Beatmungsform nicht dokumentiert worden seien.

Zur Ergänzung des Tatbestands wird auf die Prozessakten sowie auf die beigezogene Patientenakte der Klägerin und die Verwaltungsakte der Beklagten, deren wesentlicher Inhalt Gegenstand der mündlichen Verhandlung gewesen ist, verwiesen.


E n t s c h e i d u n g s g r ü n d e :

Für die Entscheidung war das Sozialgericht München örtlich (§ 57 Sozialgerichtsgesetz - SGG) und sachlich (§ 8 SGG) zuständig.

Die Klage ist zulässig. Sie ist als echte Leistungsklage gemäß § 54 Abs. 5 SGG statthaft.

Die Klage ist auch begründet. Die Klägerin hat den begehrten Anspruch aus einem hier nicht bekannten Grund, über den sich die Beteiligten einig sind. Die Rechtsprechung des BSG hat die Verurteilung wegen einer dem Grunde nach nicht näher bezeichneten Forderung in Krankenhausstreitigkeiten akzeptiert, wenn streitig allein die aufgerechnete Gegenforderung ist (BSG, Urteil vom 25.10.2016 Az. B 1 KR 7/16 R, Rdnr. 9 bei juris).

Die dagegen seitens der Beklagten erklärte Aufrechnung mit dem Anspruch auf Rückforderung der für die stationäre Krankenhausbehandlung der Versicherten R. vom 29.12.2015 bis zum 12.01.2016 geleisteten Vergütung in Höhe von 5.297,71 € war unwirksam, weil ein solcher Rückforderungsanspruch nicht besteht. Vielmehr hatte die Beklagte die Vergütung zu Recht bezahlt.

Rechtsgrundlage des von der Klägerin geltend gemachten Vergütungsanspruchs ist § 109 Abs. 4 Satz 3 SGB V i.V.m. § 7 Krankenhausentgeltgesetz (KHEntgG) und § 17b Krankenhausfinanzierungsgesetz (KHG). Das Gesetz regelt in diesen Vorschriften die Höhe der Vergütung der zugelassenen Krankenhäuser bei stationärer Behandlung gesetzlich Krankenversicherter und setzt das Bestehen des Vergütungsanspruchs als Gegenleistung für die Erfüllung der Pflicht, erforderliche Krankenhausbehandlung nach § 39 SGB V zu gewähren (§ 109 Abs. 4 Satz 2 SGB V), dem Grunde nach als Selbstverständlichkeit voraus. Der Anspruch wird durch Vereinbarungen auf Bundes- und Landesebene konkretisiert. Die Zahlungsverpflichtung der Krankenkasse entsteht - unabhängig von einer Kostenzusage - unmittelbar mit Inanspruchnahme der Leistung durch den Versicherten kraft Gesetzes, wenn die Versorgung - wie hier - in einem zugelassenen Krankenhaus durchgeführt wird und im Sinne von § 39 Abs. 1 Satz 2 SGB V erforderlich und wirtschaftlich ist (vgl. z.B. BSG, Urteil vom 8.11.2011 Az. B 1 KR 8/11 R - BSGE 109, 236 = SozR 4-​5560 § 17b Nr. 2, Rdnr. 13, 15 f; BSG, Urteil vom 19.11.2019 Az. B 1 KR 33/18 R, Rdnr. 10, 12 f. m. w. Nachw.).

Zu Recht hat das Krankenhaus der Klägerin die DRG F43B angesetzt und somit die Krankenhausleistung korrekt mit einem Betrag von insgesamt 14.649,74 € abgerechnet. Die DRG F43B setzt eine Dauer von mindestens 24h maschineller Beatmung voraus. Zu Recht hat die Klägerin 41 Beatmungsstunden angesetzt. Zwar wurde die Patientin im Zeitraum vom 31.12.2015 um 0:45 Uhr bis zur endgültigen Beendigung der maschinellen Beatmung am 01.01.2016 um 17:30 Uhr insgesamt 40 h 45 min insgesamt nur 19 h maschinell beatmet, weil zwischen den Phasen maschineller Beatmung immer wieder Phasen der Spontanatmung lagen, jedoch waren die Phasen der Spontanatmung mitzuberücksichtigen, so dass der gesamte Zeitraum vom 31.12.2015 um 0:45 Uhr bis zum 01.01.2016 um 17:30 Uhr mit einer Dauer von 40 h 45 min, aufgerundet zu 41, als Dauer der maschinellen Beatmung zu werten war.

Nr. 1001l der Deutschen Kodierrichtlinien (DKR) in der maßgeblichen Version 2015 sehen unter der Definition der maschinellen Beatmung vor, dass bei der künstlichen Beatmung der Patient in der Regel intubiert oder tracheotomiert und fortlaufend beatmet wird; bei intensivmedizinisch versorgten Patienten kann jedoch eine maschinelle Beatmung auch über Massensysteme erfolgen, wenn diese anstelle der bisher üblichen Intubation oder Tracheotomie eingesetzt werden kann. Dass die Beatmung der Patientin sowohl am 31.12.2015 als auch am 01.01.2016 auf der Intensivstation mittels des Maskensystems BIPAP als maschinelle Beatmung in diesem Sinne zu werten ist, haben sowohl der MDK Bayern in seinem Gutachten vom 22.07.2016 als auch der Sachverständige Dr. E. festgestellt.

Soweit die Beklagte das Vorliegen einer maschinellen Beatmung als solches mit der Begründung infrage gestellt hat, dass bestimmte Parameter der Beatmung in den Patientenunterlagen nicht dokumentiert waren, nimmt sie damit nur eine Formulierung im Gutachten des Sachverständigen R1. in seinem Gutachten vom 14.05.2021 auf, der dieses Argument jedoch gleichzeitig selbst widerlegt hatte, indem er darauf hinwies, dass selbst dann wenn die Maskenbeatmung nur in Form einer "CPAP" vorgelegen hätte, diese jedoch kalendertäglich mindestens 6 Stunden lang stattgefunden hätte, sodass nach der ausdrücklichen Regelung in der DKR 1001l (S. 103 unten/ 104 oben) auch diese Form der Beatmung als maschinelle Beatmung zu werten wäre. Auch entsprach es der ausdrücklichen Regelung in der DKR 1001l, Version 2015 (S. 103 Absatz 2), dass die Methode der Entwöhnung (z. B. CPAP, SIMV, PSV) bei der maschinellen Beatmung nicht kodiert wird. Es kann dahinstehen, ob dieser Einwand, den die Beklagte erstmals in der mündlichen Verhandlung vom 17.02.2022 vorgebracht hat, schon deshalb präkludiert war, weil er nicht mit den wesentlichen Gründen innerhalb der Ausschlussfrist von 9 Monaten nach Übermittlung der Prüfanzeige mitgeteilt worden war (§ 8 Sätze 2, 3 und 4 Prüfverfahrensvereinbarung 2014).

Die beatmungsfreien Intervalle der Spontanatmung sind nach der DKR 1001l so lange mitzuzählen, bis die Entwöhnung beendet ist. Das Ende der Entwöhnung kann retrospektiv nach Eintreten einer stabilen respiratorischen Situation festgestellt werden. Eine stabile respiratorische Situation liegt vor, wenn ein Patient über einen längeren Zeitraum vollständig und ohne maschinelle Unterstützung spontan atmet. Dieser Zeitraum wird für Patienten, die bis zu sieben Tage beatmet worden sind, als 24 Stunden definiert. Für die Berechnung der Beatmungsdauer gilt als Ende der Entwöhnung dann das Ende der letzten maschinellen Unterstützung der Atmung.

Soweit die Rechtsprechung des BSG für den Beginn einer "Entwöhnung" im Sinne der DKR 1001l das Vorliegen einer "Gewöhnung" gefordert hat, hat das BSG im Hinblick auf die dazu geäußerte massive fachliche Kritik in seinem Urteil vom 17.12.2020 (Az. B 1 KR 13/20 R) klargestellt, dass eine "Gewöhnung an die maschinelle Beatmung" als Voraussetzung für eine Entwöhnung vom Beatmungsgerät im Sinne der DKR 1001l lediglich "die erhebliche Einschränkung oder den Verlust der Fähigkeit, über einen längeren Zeitraum vollständig und ohne maschinelle Unterstützung spontan atmen zu können" erfordert und nicht an weitere, darüber hinausgehende Voraussetzungen geknüpft ist (aaO. Rdnr. 19). Unerheblich ist daher, ob die Fähigkeit zur Spontanatmung "nur" aufgrund der behandelten Erkrankung beeinträchtigt ist oder auch durch eine Schwächung der Atemmuskulatur infolge der Beatmung oder durch ein Zusammenwirken dieser Faktoren. Eine "Gewöhnung" an den Respirator ist danach nicht im Sinne einer pathophysiologischen Abhängigkeit zu verstehen, etwa wie bei Suchtkranken. Mit dieser neuen Rechtsprechung ist insbesondere klargestellt, dass keine wie auch immer zu definierende Mindestdauer einer vorherigen Beatmung, insbesondere über Tracheostoma, zu fordern ist, bis eine "Entwöhnung" beginnen kann. Vielmehr ist es möglich, dass eine maschinelle Beatmung, die bei intensivmedizinisch versorgten Patienten über Maskensysteme erfolgt, von Anfang an in Form einer "Entwöhnung" erbracht wird. Dies ist vom Ergebnis her auch sowohl medizinisch als auch ökonomisch sinnvoll, da es sowohl für die Gesundheit der Patienten als auch für die Ausgaben der Krankenkassen verheerend wäre, wenn ein abrechnungstechnischer Anreiz gesetzt würde, eine maschinelle Beatmung für eine Mindestdauer ohne Unterbrechung durchzuführen, bevor mit der Entwöhnung begonnen würde.

Für die vom MDK Bayern in seinem Gutachten vom 22.07.2016 als Voraussetzung einer "Entwöhnung" geforderte Voraussetzung einer vorausgegangenen ununterbrochenen maschinellen Beatmung über eine Dauer von mindestens 24 Stunden gibt es weder in der DKR 1001l noch in den aktuellen wissenschaftlichen Beatmungsleitlinien irgendeine Grundlage, wie der Sachverständige R1. in seinem Gutachten vom 14.05.2021 festgestellt hat.

Schließlich vermag auch der Vorwurf der Beklagten, bei der durchgeführten Entwöhnung sei kein methodisches Vorgehen erkennbar, in keiner Weise zu überzeugen. Auf die Ausführungen des Sachverständigen R1. in seiner ergänzenden Stellungnahme vom 05.10.2021, denen sich das Gericht in vollem Umfang anschließt, wird hierzu verwiesen. Darin wird klar ausgeführt, welche Parameter im Laufe der Entwöhnung systematisch verändert wurden, wobei immer wieder versucht wurde, Phasen der Spontanatmung so lange wie möglich einzuleiten und durchzuhalten, bis eine endgültige Beendigung der maschinellen Beatmung am 01.01.2016 um 17:30 Uhr gelang.

Der Anspruch auf Verzinsung ergibt sich aus der Pflegesatzvereinbarung.


Die Kostenentscheidung beruht auf § 197a Abs. 1 Satz 1 SGG i. V. m. § 154 Abs. 1 VwGO.

 

Rechtskraft
Aus
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