SOZIALGERICHT ALTENBURG
Im Namen des Volkes
URTEIL
In dem Rechtsstreit
………,
………..
- Kläger -
Prozessbevollm.:
………….,
………….
gegen
……………,
…………..
……………..,
…………..
- Beklagte -
hat die 25. Kammer des Sozialgerichts Altenburg durch ihren Vorsitzenden, Richter am Sozialgericht Wohlfart, sowie die ehrenamtliche Richterin Zänker und den ehrenamtlichen Richter Kupfer ohne mündliche Verhandlung am 16. Juni 2020 für Recht erkannt:
Die Klage wird abgewiesen.
Die Beteiligten haben einander keine Kosten zu erstatten.
Tatbestand
Die Beteiligten streiten um die Gewährung von Kindergeld für den Kläger selbst.
Der 1999 geborene ledige Kläger lebt seit August 2015 in Deutschland. Im September 2015 wurde sein älterer Bruder, der ihn in seinem Haushalt aufnahm, zum Vormund bestellt. Mit Bescheid des Bundesamtes für Migration und Flüchtlinge vom 11. Mai 2016 wurden dem Kläger subsidiärer Schutz und mit Bescheid vom 9. Februar 2017 die Flüchtlingseigenschaft zuerkannt.
Im September 2016 beantragte der Kläger die Gewährung von Kindergeld für sich selbst. Er gab an, der Aufenthaltsort der Eltern sei ihm bekannt. Diese hielten sich in Ankara auf. Kontakt habe zuletzt schriftlich, per Mail oder per SMS bestanden.
Die Beklagte lehnte den Antrag mit Bescheid vom 9. Februar 2017 ab und wies den dagegen gerichteten Widerspruch mit Widerspruchsbescheid vom 19. April 2017 zurück. Zur Begründung führte sie im Wesentlichen aus, Kindergeld für sich selbst erhalte, wer in Deutschland seinen gewöhnlichen Aufenthalt oder Wohnsitz habe, Vollwaise sei oder den Aufenthalt seiner Eltern nicht kenne und nicht bei einer anderen Person zu berücksichtigen sei. Dem Kläger sei der Aufenthalt seiner Eltern bekannt. Dass diese ihre elterlichen Pflichten nicht wahrnehmen könnten, sei nicht ausreichend.
Dagegen richtet sich die am 22. Mai 2017 erhobene Klage. Der Kläger vertritt die Auffassung, er erfülle die Voraussetzungen für die Gewährung von Kindergeld an sich selbst. Seine Eltern seien aus Syrien in die Türkei geflüchtet und hätten dort keinen Aufenthaltstitel. Eine Familienzusammenführung werde durch die zuständigen Institutionen geprüft. Syrische Flüchtlinge, die sich ohne ein Visum oder Aufenthaltstitel in der Türkei aufhielten, hielten sich bei Bekannten bzw. Dritten illegal auf oder sie befänden sich in entsprechenden Flüchtlingscamps. Eine konkrete klassische Adresse gäbe es schlichtweg nicht. Die Eltern hätten auch nicht von sich aus die Entscheidung getroffen, sich im Ausland aufzuhalten und nicht in Deutschland, wo sie in der Lage wären, einen Kindergeldantrag zu stellen und für ihn zu sorgen.
Der Kläger beantragt,
den Bescheid der Beklagten vom 9. Februar 2017 unter Az. F 14-KG-Nr. 002 FK679538 in Gestalt des Widerspruchsbescheides vom 19. April 2017 unter Az. F61.23-KGNr. 002FK679538-W-73504-00644/17 aufzuheben und die Beklagte zu verpflichten, mit Wirkung ab September 2016 entsprechend Antragstellung Kindergeld zu bewilligen.
Nachdem dem Bruder des Klägers Kindergeld für diesen ab dem Monat Januar 2019 bewilligt worden ist (Bescheid der Familienkasse Sachsen-Anhalt-Thüringen vom 2. Oktober 2019), hat der Kläger die Klage auf die Zeit von September 2016 bis Dezember 2018 beschränkt.
Die Beklagte beantragt,
die Klage abzuweisen.
Sie wiederholt und vertieft ihre Ausführungen aus dem Widerspruchsbescheid.
Entscheidungsgründe
Das Gericht hat nach § 124 Abs. 2 des Sozialgerichtsgesetzes (SGG) ohne mündliche Verhandlung entscheiden können, da die Beteiligten sich damit einverstanden erklärt haben.
Die Klage ist nicht begründet. Der Bescheid der Beklagten vom 9. Februar 2017 in der Gestalt des Widerspruchsbescheides vom 19. April 2017 ist rechtmäßig und verletzt den Kläger nicht in seinen Rechten. Der Kläger hat keinen Anspruch auf die Gewährung von Kindergeld für sich selbst.
Kindergeld für sich selbst erhält nach § 1 Absatz 2 Satz 1 des Bundeskindergeldgesetzes (BKGG), wer 1. in Deutschland einen Wohnsitz oder seinen gewöhnlichen Aufenthalt hat, 2. Vollwaise ist oder den Aufenthalt seiner Eltern nicht kennt und 3. nicht bei einer anderen Person als Kind zu berücksichtigen ist.
Der Kläger erfüllte im strittigen Zeitraum jedenfalls die unter Nr. 2. genannte Voraussetzung nicht. Die Vorschrift ist subjektiv ausgerichtet und stellt auf die Nichtkenntnis des das Kindergeld beanspruchenden Kindes ab (Bundessozialgericht [BSG], Urteil vom 8. April 1992, Az. 10 RKg 12/91, Rn. 17, juris). Der Kläger hat im Verwaltungsverfahren ausdrücklich angegeben, er kenne den Aufenthaltsort seiner Eltern. Selbst wenn das nicht in dem Sinne zutreffend sollte, dass er den genauen Aufenthaltsort innerhalb Ankaras oder sogar der Türkei kannte, weil die Eltern möglicherweise wechselnde Aufenthalte hatten, so konnte er sich die u. U. fehlende Kenntnis jedenfalls jederzeit über den bestehenden Kontakt per Telefon oder Internet beschaffen. Zwar enthält das BKGG keine Regelung für den Fall, dass ein antragstellendes Kind schuldhaft Hinweisen über den Aufenthalt der Eltern nicht nachgeht; der Kenntnis gleichzustellen ist aber eine missbräuchliche Nichtkenntnis (Landessozialgericht Sachsen-Anhalt, Urteil vom 23. Juni 2016, Az.: L 5 KG 1/15, Rn. 34, juris; vgl. auch BSG a. a. O. Rn. 18). Kriterien für eine missbräuchliche Unkenntnis sind das Verschließen der Augen vor einer sich aufdrängenden Kenntnis oder die unterbliebene Wahrnehmung von sich anbietenden und auf der Hand liegenden Erkenntnismöglichkeiten, deren Erlangung weder besondere Kosten noch nennenswerte Mühe verursacht (Landessozialgericht Sachsen-Anhalt a. a. O. Rn. 37; Bundesgerichtshof, Urteil vom 16. Mai 1989, Az. VI ZR 251/88, Rn. 15 m. w. N., juris; Dau, in: jurisPR-SozR 11/2016 Anmerkung 3 m. w. N.). So verhält es sich, wenn der genaue Aufenthaltsort im Rahmen eines telefonischen Kontaktes erfragt werden kann (Dau a. a. O.). Das Erfordernis einer dem deutschen Zustellungsrecht genügenden Adresse ist § 1 Abs. 2 Nr. 2 BKGG nicht zu entnehmen (Dau a. a. O.). Die eng gefasste Ausnahmeregelung lässt sich auch nicht entsprechend auf Kinder einwenden, für die kein Kindergeld gezahlt werden kann, weil ihre Eltern sich im Ausland aufhalten (Hessisches Landessozialgericht, Urteil vom 25. Juni 2014, Az. L6 KG 3/11 Rn. 21, juris; zustimmend Dau a. a. O.). Der Entstehungsgeschichte der Vorschrift ist zu entnehmen, dass dies nicht nur dem Wortlaut, sondern auch dem Willen des Gesetzgebers widerspräche; aus welchem Grund sich die Eltern nicht in der Bundesrepublik Deutschland aufhalten ist dabei ohne Belang (vgl. a. a. O.).
Es kann damit offenbleiben, ob ein Anspruch zudem deshalb ausgeschlossen ist, weil der Kläger auch im strittigen Zeitraum bei seinem Bruder als Kind zu berücksichtigen war. Insoweit wäre sonst auf die materielle Rechtslage abzustellen, d. h. es kommt nicht darauf an, ob die Berücksichtigung auch tatsächlich stattfand (Landessozialgericht Sachsen-Anhalt a. a. O. Rn. 44 m. w. N.).
Die Kostenentscheidung beruht auf § 193 SGG.