Ein Arbeitsloser, der nach Beendigung seines Beschäftigungsverhältnisses in Deutschland in einen anderen Mitgliedsstaat umzieht, hat keinen Anspruch auf Arbeitslosengeld, wenn er sich nicht im zeit- und ortsnahen Bereich einer deutschen Agentur für Arbeit aufhält und die Voraussetzungen für eine Mitnahme des Leistungsanspruchs, insbesondere die Nichterfüllung einer Wartezeit, nicht vorliegen. Wurde er vor dem Umzug hierauf in einer persönlichen Vorsprache hingewiesen und zieht er dennoch dorthin um, dann kann - abhängig von den jeweiligen Umständen dies Einzelfalls - der Fall vorliegen, dass er die Rechtswidrigkeit einer dennoch erfolgten Bewilligung gekannt bzw. infolge grober Fahrlässigkeit nicht gekannt hat.
I. Die Berufung gegen das Urteil des Sozialgerichts Nürnberg vom 10.06.2020 wird zurückgewiesen.
II. Außergerichtliche Kosten sind nicht zu erstatten.
III. Die Revision wird nicht zugelassen.
T a t b e s t a n d :
Streitig ist die Rücknahme der Bewilligung von Arbeitslosengeld (Alg) ab 01.08.2018 wegen fehlender Verfügbarkeit nach einem Umzug ins Ausland.
Der 1977 geborene Kläger ist polnischer Staatsangehöriger und bezog in der Vergangenheit zuletzt bis 31.03.2018 Alg von der Beklagten (Bescheid vom 22.05.2018). Ein zum 01.04.2018 aufgenommenes Arbeitsverhältnis als Produktionshelfer wurde von der Arbeitgeberin mit Wirkung zum 31.07.2018 gekündigt. Der Kläger meldete sich darauf am 02.07.2018 persönlich arbeitslos und beantragte die Zahlung von Alg ab 01.08.2018. Dabei wurde ihm unter anderem auch das Merkblatt 20 (Alg und Auslandsbeschäftigung) ausgehändigt. Nach einem Vermerk der Beklagten über ein Telefongespräch am 19.07.2018 habe der Kläger angegeben, noch bis zum 31.07.2018 beschäftigt zu sein. Danach wolle er gleich zurück nach Polen, um dort eine Arbeit zu suchen, und seinen Anspruch auf Alg mitnehmen. Der Kläger sei über den Export von Leistungen beraten und über die Wartefrist von vier Wochen aufgrund des Vorrangs des deutschen Arbeitsmarktes aufgeklärt worden. Am 23.07.2018 sprach der Kläger persönlich bei der Beklagten vor. Nach dem hierzu gefertigten Aktenvermerk der Beklagten habe der Kläger erklärt, bereits jetzt mit dem "PD U2" nach Polen ausreisen zu wollen. Er besitze ein Haus, an dem noch Reparaturen notwendig seien. Zudem wolle er Vater und Schwester früher besuchen. Ihm sei erklärt worden, dass ein Grund für die Verkürzung der Wartefrist nicht vorliege. Dennoch werde der Kläger schon heute ausreisen, auch ohne Alg. Mit dem Formblatt "Veränderungsmitteilung" teilte der Kläger am 23.07.2018 seinen Umzug an diesem Tag nach Polen auch schriftlich mit.
Die Beklagte bewilligte dem Kläger mit Bescheid vom 10.08.2018 Alg für die Zeit vom 01.08.2018 bis 08.05.2019 in Höhe von täglich 23,10 €. Mit Bescheid vom 27.08.2018 hob sie die Bewilligung von Alg ab 01.08.2018 wieder auf. Der Kläger habe sich selbst aus dem Leistungsbezug abgemeldet. Dagegen legte der Kläger Widerspruch ein. Er habe wieder früher nach Polen zurückkehren wollen, worüber er die Beklagte bereits vier Wochen zuvor informiert habe. Er habe jetzt weder Arbeit noch Geld. Er sei vier Wochen bei der Beklagten angemeldet gewesen und man habe über den Transfer seines Alg gesprochen. Das Formular PD U2 sei ihm nicht ausgehändigt worden. Die Beklagte wies den Widerspruch mit Widerspruchsbescheid vom 01.10.2018 zurück. Der Kläger hätte aus dem Merkblatt für Arbeitslose, dessen Erhalt und Kenntnisnahme er bestätigt habe, wissen oder zumindest leicht erkennen können, dass Anspruch auf Alg nur bestehe, wenn er den Vermittlungsbemühungen der Agentur für Arbeit zur Verfügung stehe. Damit liege grobe Fahrlässigkeit vor. Der Kläger könne sich nicht auf Vertrauensschutz berufen. Die Entscheidung vom 10.08.2018 sei deshalb ganz zurückzunehmen gewesen.
Dagegen hat der Kläger beim Sozialgericht Nürnberg (SG) Klage erhoben. Er habe bei der Vorsprache am 02.07.2018 bereits mitgeteilt, dass er zurück nach Polen zur Arbeitssuche wolle. Das Formular PD U2 sei nicht ausgehändigt worden. In einem Telefonat am 19.07.2018 sei ihm dann gesagt worden, er werde sofort abgemeldet, weil er zurück nach Polen wolle. Er habe der Mitarbeiterin gesagt, dies sei unzutreffend und die Abmeldung solle nicht erfolgen. Mit einem deutschen Kollegen habe er am 23.07.2018 bei der Beklagten vorgesprochen und mitgeteilt, er leide unter Rückenschmerzen. Er habe um den Transfer des Alg nach Polen gebeten. Danach sei er zurück nach Polen und habe gedacht, er erhalte Alg. Aufgrund des Bescheides vom 10.08.2018 habe er gedacht, es sei alles in Ordnung. Die Aufhebungsentscheidung im Bescheid vom 27.08.2018 habe er nicht verstanden. Er habe fünf Jahre in Deutschland gearbeitet und bekomme jetzt keine Hilfe von der Beklagten. Die Beklagte hat u.a. ausgeführt, ein beachtlicher Grund für eine Verkürzung der Wartefrist auf "0" liege nicht vor. Dem klägerischen Vortrag lägen keine zwingenden Gründe vor, die eine Beschäftigung im Inland unzumutbar machten. Das öffentliche Interesse sei daher höher als das private Interesse. Mit Schreiben vom 08.11.2019 hat die Beklagte den Kläger zur Rücknahme der Bewilligungsentscheidung unter Schilderung des Sachverhalts angehört. Hierauf schilderte der Kläger nochmals den Sachverhalt aus seiner Sicht und wiederholte seinen bisherigen Vortrag. Die Beklagte hat hierzu mitgeteilt, es ergäben sich keine neuen rechtserheblichen Gesichtspunkte. Es werde auf die bisherigen Ausführungen Bezug genommen. Das SG hat die Klage mit Urteil vom 10.06.2020 abgewiesen. Ein Anspruch auf Alg hätte nur aufrechterhalten werden können, wenn alle Voraussetzungen für den Anspruch auf Alg vor der Ausreise erfüllt gewesen wären. Wegen der Ausreise und der Verlagerung des Wohnsitzes fehle es offensichtlich an einer Verfügbarkeit. Ein Anspruch, wonach Alg auch im Rahmen der Arbeitssuche in Polen weiter zu gewähren gewesen wäre, sei zu keinem Zeitpunkt entstanden. Die Rechtswidrigkeit der dennoch erfolgten Bewilligung hätte dem Kläger gleichsam "ins Auge springen müssen". Er sei von der Beklagten mehrfach auf die zu beachtende Wartefrist von vier Wochen sowie den Vorrang des deutschen Arbeitsmarktes hingewiesen worden. Dies sei auch im Merkblatt 20 unmissverständlich ausgeführt. Zwingende Gründe, die eine Beschäftigung im Inland unzumutbar gemacht hätten, hätten nicht vorgelegen. Mangelnde Sprachkenntnisse könnten den Kläger insoweit nicht entlasten. Hätte er nicht verstanden, was in dem Merkblatt stehe, hätte er sich darum bemühen müssen, sich über die Voraussetzungen für eine Mitnahme des deutschen Alg zu informieren, und gegebenenfalls einen Dolmetscher hinzuziehen müssen. Auch lege der Aktenvermerk der Beklagten vom 23.07.2018 nahe, dass der Kläger sehr wohl über die entsprechenden Voraussetzungen informiert gewesen sei, ungeachtet dessen aber auch ohne Anspruch auf Alg nach Polen habe ausreisen wollen.
Dagegen hat der Kläger beim Bayerischen Landessozialgericht (LSG) Berufung eingelegt. Neben der Wiederholung seines bisherigen Vortrages hat der Kläger ausgeführt, er habe die ganze Zeit ab 02.07.2018 mit der Beklagten gesprochen und auf sein Arbeitsende in Deutschland hingewiesen. Seine Abmeldung aus der Wohnung und bezüglich der Krankenversicherung habe er bei der Beklagten abgegeben. Daraufhin sei ihm mitgeteilt worden, er sei sofort "abgemeldet", weil er zurück nach Polen wolle. Am 23.07.2018 habe er mit seinem Freund vorgesprochen und auf seine gesundheitlichen Probleme hinsichtlich der Rückenschmerzen hingewiesen.
Der Kläger beantragt sinngemäß,
das Urteil des Sozialgerichts Nürnberg vom 10.06.2020 und den Bescheid der Beklagten vom 27.08.2018 in der Gestalt des Widerspruchsbescheides vom 01.10.2018 aufzuheben.
Die Beklagte beantragt,
die Berufung als unbegründet zurückzuweisen.
Die Unrichtigkeit des ursprünglichen Bewilligungsbescheides habe der Kläger erkennen können. Aufgrund der Verlagerung seines Wohnsitzes nach Polen habe er den Vermittlungsbemühungen zu keinem Zeitpunkt zur Verfügung gestanden. Im Merkblatt 20 sei er auf die vierwöchige Wartefrist zur Mitnahme des Leistungsanspruchs hingewiesen worden. Dass kein Grund für eine Verkürzung vorliege, sei ihm im Gespräch am 23.07.2018 erklärt worden. Der Kläger habe nicht davon ausgehen können, dass die im Merkblatt aufgeführten Beispielsfälle auf ihn zugetroffen hätten, zumal dort auch nicht von einem Wegfall der Wartefrist die Rede sei. Schließlich sei zum Gespräch am 23.07.2018 vermerkt worden, der Kläger werde trotz des Hinweises auf das Fehlen eines Grundes für die Verkürzung der Wartefrist, "dennoch schon heute ausreisen, auch ohne Alg".
Zur Ergänzung des Tatbestands wird auf die von der Beklagten übersandten Verwaltungsakten sowie die Gerichtsakten erster und zweiter Instanz Bezug genommen.
Die Beteiligten haben sich mit einer Entscheidung ohne mündliche Verhandlung einverstanden erklärt
E n t s c h e i d u n g s g r ü n d e :
Die form- und fristgerecht eingelegte Berufung ist zulässig (§§ 143, 144, 151 Sozialgerichtsgesetz - SGG), aber nicht begründet. Das SG hat die Klage zu Recht abgewiesen. Der Bescheid vom 27.08.2018 in der Gestalt des Widerspruchsbescheides vom 01.10.2018 ist rechtmäßig und verletzt den Kläger nicht in seinen Rechten.
Streitgegenstand ist der Bescheid der Beklagten vom 27.08.2018 in der Gestalt des Widerspruchsbescheides vom 01.10.2018, mit dem sie die Bewilligung von Alg ab 01.08.2018 wieder aufgehoben hat. Dagegen wendet sich der Kläger zutreffend mit der statthaften Anfechtungsklage (§ 54 Abs. 1 SGG).
Die Beklagte hat vorliegend zu Recht den Bescheid vom 10.08.2018 zurückgenommen, mit dem Alg ab 01.08.2018 bewilligt worden war. Nach § 45 Abs. 1 und Abs. 2 Satz 3 Nr. 3 Zehntes Buch Sozialgesetzbuch (SGB X) i.V.m. § 330 Abs. 2 Drittes Buch Sozialgesetzbuch (SGB III) ist ein rechtswidriger Verwaltungsakt, der ein Recht oder einen rechtlich erheblichen Vorteil begründet oder bestätigt hat, mit Wirkung für die Zukunft oder für die Vergangenheit zurückzunehmen, soweit der Begünstigte die Rechtswidrigkeit des Verwaltungsaktes kannte oder in Folge grober Fahrlässigkeit nicht kannte.
Die Rücknahme der Bewilligungsentscheidung vom 10.08.2018 erfolgte formell rechtmäßig. Die zunächst unterbliebene Anhörung i.S.v. § 28 SGB X hat die Beklagte im Rahmen des Klageverfahrens vor dem SG nachgeholt. Hierzu wurde dem Kläger mit Schreiben vom 23.11.2019 der Sachverhalt ausführlich geschildert und ihm die Möglichkeit zur Stellungnahme zu der Rücknahme gegeben. Der Kläger hat sich hierzu mit Schreiben vom 23.11.2019 geäußert, worauf die Beklagte ihre Entscheidung nochmals geprüft und dann daran festgehalten hat. Die Verletzung der Anhörungspflicht wurde damit geheilt und ist somit unbeachtlich (§ 41 Abs. 1 Nr. 3, Abs. 2 SGB X).
Der Bescheid vom 10.08.2018 stellt einen den Kläger begünstigenden Verwaltungsakt dar, der rechtswidrig gewesen ist. Dem Kläger stand kein Anspruch auf Alg ab dem 01.08.2018 zu.
Eine Anspruchsgrundlage dafür findet sich im SGB III nicht. Nach § 3 Abs. 2 Nr. 4, § 19 Abs. 1 Nr. 4 Sozialgesetzbuch Erstes Buch (SGB I), § 137 Abs. 1 SGB III i.V.m. § 30 Abs. 1 SGB I haben Anspruch auf Alg bei Arbeitslosigkeit lediglich Personen, die ihren Wohnsitz oder gewöhnlichen Aufenthalt im Geltungsbereich des Sozialgesetzbuches, d.h. in der Bundesrepublik Deutschland haben. Einen Wohnsitz hat jemand dort, wo er eine Wohnung unter Umständen innehat, die darauf schließen lassen, dass er die Wohnung beibehalten und benutzen wird (§ 30 Abs. 3 Satz 1 SGB I). Maßgeblich sind regelmäßig die tatsächlichen und wirtschaftlichen Gegebenheiten, so dass ein Wohnsitz dort liegt, wo jemand den Schwerpunkt seiner Lebensverhältnisse hat (vgl. BSG, Urteil vom 12.12.2017 - B 11 AL 21/16 R - m.w.N. - juris). Den gewöhnlichen Aufenthalt hat jemand dort, wo er sich unter Umständen aufhält, die erkennen lassen, dass er an diesem Ort oder in diesem Gebiet nicht nur vorübergehend verweilt (§ 30 Abs. 3 Satz 2 SGB I), wobei auch die Möglichkeit eines gewöhnlichen Aufenthalts, wenn der Betreffende im streitigen Zeitraum (im Inland) über keinen Wohnsitz verfügt, in erster Linie nach den objektiv gegebenen tatsächlichen Verhältnissen unter Berücksichtigung des subjektiven Willens des Betreffenden zum Verbleib am Ort des gewöhnlichen Aufenthalts zu beurteilen ist (vgl. BSG a.a.O.).
Der Kläger lebte bereits vor dem 01.08.2018 wieder in Polen. Er ist unstreitig am 23.07.2018 dorthin zurück gezogen. Mangels eines Wohnsitzes oder gewöhnlichen Aufenthaltes in der Bundesrepublik Deutschland sind die Anspruchsvoraussetzungen für einen Anspruch nach dem SGB III daher nicht gegeben.
Zwar hat das Bundesverfassungsgericht (BVerfG, Beschluss vom 30.12.1999 - 1 BvR 809/95 - juris) entschieden, dass § 30 Abs. 1 SGB I im Lichte des Art. 3 Abs. 1 Grundgesetz (GG) verfassungskonform dahingehend auszulegen ist, dass dem Anspruch eines zuvor in Deutschland beitragspflichtigen Grenzgängers auf Alg der Auslandswohnsitz jedenfalls dann nicht entgegensteht, wenn die übrigen Leistungsvoraussetzungen erfüllt sind (vgl. dazu auch Valgolio in Hauck/Noftz, SGB III, Stand 09/2019, § 141 Rn. 99). Dies ist hier jedoch nicht der Fall. Der Kläger erfüllt nicht alle sonstigen Voraussetzungen eines Anspruchs auf Alg nach dem SGB III.
Ein Anspruch auf Alg setzt nach § 137 Abs. 1 SGB III Arbeitslosigkeit (Nr. 1), eine Arbeitslosmeldung (Nr. 2) und die Erfüllung der Anwartschaftszeit (Nr. 3) voraus. Arbeitslosigkeit erfordert u.a. nach § 138 Abs. 1 Nr. 3 SGB III, dass der Arbeitnehmer den Vermittlungsbemühungen der Agentur für Arbeit zur Verfügung steht (Verfügbarkeit). Den Vermittlungsbemühungen steht nach § 138 Abs. 5 SGB III zur Verfügung, wer u.a. Vorschlägen der Agentur für Arbeit zur beruflichen Eingliederung zeit- und ortsnah Folge leisten kann (§ 138 Abs. 5 Nr. 2 SGB III), wobei die Bundesagentur ermächtigt wird, durch Anordnung Näheres zu den Pflichten des Arbeitslosen zu bestimmen, Vorschlägen der Agentur für Arbeit zur beruflichen Eingliederung Folge leisten zu können (§ 164 Nr. 2 SGB III). In Ausübung dieser Anordnungsermächtigung hat die Beklagte in der Erreichbarkeitsanordnung (EAO) geregelt, dass Vorschlägen der Agentur für Arbeit zur beruflichen Eingliederung zeit- und ortsnah Folge leisten kann, wer in der Lage ist, die Agentur für Arbeit unverzüglich aufzusuchen (§ 1 Abs. 1 Satz 1 Nr. 2 EAO).
Um die berufliche Eingliederung des Klägers in den deutschen Arbeitsmarkt zu gewährleisten, ist nicht nur vorauszusetzen, dass er ohne (wesentliche) Zeitverzögerung auf Arbeitsplatzangebote unverzüglich reagieren und Vorstellungsgespräche wahrnehmen kann, sondern es ist von ihm auch zu fordern, dass er an Maßnahmen des Trägers der Arbeitslosenversicherung teilnimmt, um seine Integrationschancen in den (deutschen) Arbeitsmarkt zu erhöhen (vgl. BT-Drs. 13/4941 Seite 176; Urteil des Senats vom 06.08.2014 - L 10 AL 175/12 - juris). Der Arbeitnehmer muss hierfür im Nahbereich einer deutschen Agentur für Arbeit erreichbar sein (vgl. BSG, Urteil vom 09.02.1994 - 11 RAr 1/93; Urteil des Senats vom 06.08.2014 a.a.O. - beide zitiert nach juris). Nach § 2 Satz 1 Nr. 3 Satz 2 EAO gehören zum Nahbereich alle Orte in der Umgebung einer Agentur für Arbeit, von denen aus der Leistungsberechtigte erforderlichenfalls in der Lage wäre, die Beklagte täglich ohne unzumutbaren Aufwand zu erreichen. In Anlehnung an die Vorschrift des § 140 Abs. 4 SGB III kann der Nahbereich mit einer Entfernung von 75 Minuten für die einfache Strecke vom vorübergehenden Aufenthaltsort bis zur nächstgelegenen Agentur für Arbeit bestimmt werden, wobei auf die dem Kläger zur Verfügung stehenden Verkehrsmittel und den etwaigen Verkehrsfluss abzustellen ist (vgl. dazu insgesamt: Urteil des Senats vom 06.08.2014 - a.a.O. - m.w.N.).
Der Kläger ist nach A-Straße, M1, Polen, verzogen. Es ist daher offensichtlich, dass er nicht in der Lage ist, von dort die nächstliegende deutsche Agentur für Arbeit in weniger als 75 Minuten zu erreichen. So beträgt die Fahrzeit mit dem Auto zur deutschen Grenze lt. Google Maps rund sechs Stunden. Auch mit öffentlichen Verkehrsmitteln kann die nächstgelegene Agentur für Arbeit offenkundig nicht in 75 Minuten erreicht werden. Eine Ausnahme vom Erfordernis des Aufenthaltes im zeit- und ortsnahen Bereich nach § 3 Abs. 1 und 2 EAO liegt nicht vor. Insbesondere hat die Beklagte der Ortsabwesenheit nicht vorab zugestimmt. Es ist auch nicht ersichtlich, dass der Kläger sich für weniger als sechs Wochen an seinem Wohnort in Polen aufhalten wollte (§ 3 Abs. 4 EAO).
Gesundheitliche Gründe, die ihn hinsichtlich einer Beschäftigungsausübung einschränken würden, hat der Kläger im Rahmen seines Alg-Antrages nicht angegeben, vielmehr die entsprechende Frage ausdrücklich verneint. Unabhängig davon, dass hinsichtlich der Rückenschmerzen allein nicht erkennbar ist, dass eine mehr als sechsmonatige Minderung der Leistungsfähigkeit des Klägers auf weniger als 15 Stunden wöchentlich vorliegen würde, würde selbst bei Annahme eines Falls nach § 145 Abs. 1 SGB III lediglich eine mindestens 15 Stunden wöchentlich bestehende Leistungsfähigkeit hinsichtlich Beschäftigungen auf dem für den Kläger in Betracht kommenden Arbeitsmarkt fingiert, nicht jedoch die Erreichbarkeit.
Ein Anspruch des Klägers auf Alg ergibt sich auch nicht aus abweichenden Regelungen des über- oder zwischenstaatlichen Rechts (§ 30 Abs. 2 SGB I). Die zu berücksichtigenden europarechtlichen Vorgaben begründen einen solchen nicht.
Maßgebliches europäisches Koordinierungsrecht ist die Verordnung (EG) Nr. 883/2004 des Europäischen Parlaments und des Rates vom 29.04.2004 zur Koordinierung der Systeme der sozialen Sicherheit (VO (EG) Nr. 883/2004). Nach Art. 65 Abs. 2 Satz 1 VO (EG) Nr. 883/2004 muss sich eine vollarbeitslose Person, die während ihrer letzten Beschäftigung oder selbstständigen Erwerbstätigkeit in einem anderen als dem zuständigen Mitgliedstaat gewohnt hat und weiterhin in diesem Mitgliedstaat wohnt oder in ihn zurückkehrt, der Arbeitsverwaltung des Wohnmitgliedstaats zur Verfügung stellen, so dass sich in diesem Fall eine Zuständigkeit der Träger der Arbeitslosenversicherung in Polen ergeben würde. Zwar kann sich nach Art. 65 Abs. 2 Satz 2 VO (EG) Nr. 883/2004 eine vollarbeitslose Person unbeschadet des Art. 64 VO (EG) Nr. 883/2004 zusätzlich der Arbeitsverwaltung des Mitgliedstaats zur Verfügung stellen, in dem sie zuletzt eine Beschäftigung oder eine selbstständige Erwerbstätigkeit ausgeübt hat, damit ist aber für den betreffenden Arbeitnehmer nur eine zusätzliche Möglichkeit vorgesehen worden, sich bei der Arbeitsverwaltung dieses Mitgliedstaats als Arbeitsuchender zu melden, um dort zusätzliche Unterstützung bei der Wiedereingliederung zu erhalten, nicht jedoch auch um dort Arbeitslosenunterstützung zu erhalten (vgl. EuGH, Urteil vom 11.04.2013 - Rs. C-443/11 - Jeltes - juris). Ein Wahlrecht zwischen insgesamt oder teilweise günstigeren Regelungen im Wohnmitgliedstaat bzw. im Mitgliedstaat der letzten Beschäftigung besteht damit nicht (vgl. auch BSG, Urteil vom 12.12.2017 - B 11 AL 21/16 R - juris).
Auch unterstellt, der Kläger wäre kein Grenzgänger oder ein sog. "unechter" Grenzgänger gewesen, ergibt sich kein Anspruch auf Alg gegen die Beklagte. Nach Art. 65 Abs. 2 Satz 3 VO (EG) Nr. 883/2004 muss sich ein Arbeitsloser, der kein Grenzgänger ist und nicht in seinen Wohnmitgliedstaat zurückkehrt, der Arbeitsverwaltung des Mitgliedstaats zur Verfügung stellen, dessen Rechtsvorschriften zuletzt für ihn gegolten haben. Wenn ein sog. "unechter" Grenzgänger nicht in seinen Wohnmitgliedstaat zurückkehrt, ist gemäß Art. 11 Abs. 3 Buchst. a) VO (EG) Nr. 883/2004 der Beschäftigungsmitgliedstaat - dies wäre hier die Bundesrepublik Deutschland - der zuständige Mitgliedstaat, der u.a. Alg nach Maßgabe der Art. 61 ff. VO (EG) Nr. 883/2004 zu erbringen hat (vgl. dazu auch BSG, Urteil vom 12.12.2017 - B 11 AL 21/16 R - juris). Der Kläger ist aber nach Polen zurückgekehrt und hatte - wie oben bereits ausgeführt - dort seinen Wohnsitz bzw. gewöhnlichen Aufenthalt zu dem Zeitpunkt, ab dem er Leistungen bei der Beklagten beantragt hat.
Ein Anspruch auf Alg gegen die Beklagte ergibt sich schließlich auch nicht aus Art. 64 Abs. 1 VO (EG) Nr. 883/2004. Danach behält eine vollarbeitslose Person, die die Voraussetzungen für einen Leistungsanspruch nach den Rechtsvorschriften des zuständigen Mitgliedstaats erfüllt und sich zur Arbeitsuche in einen anderen Mitgliedstaat begibt, unter bestimmten Bedingungen und innerhalb bestimmter Grenzen den Anspruch auf Geldleistungen bei Arbeitslosigkeit. Nach Art. 64 Abs. 1 Buchst. a) Satz 1 VO (EG) Nr. 883/2004 muss der Arbeitslose dafür vor der Abreise während mindestens vier Wochen nach Beginn der Arbeitslosigkeit bei der Arbeitsverwaltung des zuständigen Mitgliedstaats als Arbeitsuchender gemeldet gewesen sein und zur Verfügung gestanden haben. Die zuständige Arbeitsverwaltung oder der zuständige Träger kann jedoch die Abreise vor Ablauf dieser Frist genehmigen (Art. 64 Abs. 1 Buchst. a) Satz 2 VO (EG) Nr. 883/2004).
Es fehlt an der Erfüllung der vierwöchigen Wartezeit und der Verfügbarkeit im Beschäftigungsstaat. Eine Genehmigung der vorzeitigen Abreise i.S.v. Art. 64 Abs. 1 Buchst. a) Satz 2 VO (EG) Nr. 883/2004 lag nicht vor. Vielmehr hat die Beklagte nach dem Vermerk über die Vorsprache am 23.07.2018 den Kläger darauf hingewiesen, dass ein Grund für Verkürzung der Wartefrist nicht vorliegt. Der Kläger hat auch selbst ausgeführt, dass ihm das Formular U2 nicht ausgehändigt worden ist. Es lag zudem kein Grund vor, der eine Verkürzung der Wartefrist gerechtfertigt hätte. Weder der Wunsch, Vater und Schwester bereits früher zu besuchen, noch Reparaturarbeiten an dem Haus in Polen legen nahe, dass es dem Kläger nicht zumutbar gewesen wäre, sich zunächst dem deutschen Arbeitsmarkt zur Verfügung zu stellen. Dies gilt auch für die vorgebrachten gesundheitlichen Beeinträchtigungen in Form von Rückenschmerzen. Es wäre zudem widersprüchlich, wenn der Kläger einerseits Renovierungsarbeiten an seinem Haus vornehmen wollte, gleichsam aber aus gesundheitlichen Gründen keine Beschäftigung in Deutschland hätte suchen können. Auch ist dem Bescheid vom 10.08.2018 weder eine ausdrückliche noch eine konkludente Genehmigung einer Verkürzung bzw. ein Verzicht auf die Einhaltung der Wartefrist zu entnehmen. Hätte die Beklagte Alg im Hinblick auf eine Mitnahme des Leistungsanspruchs nach Polen bewilligen wollen, so wäre eine solche auf drei Monate (Art. 64 Abs. 1 Buchst. b) 1. HS VO (EG) Nr. 883/2004) - mit einer Verlängerungsmöglichkeit auf sechs Monate (Art. 64 Abs. 1 Buchst. b) 2. HS VO (EG) Nr. 883/2004) - beschränkt gewesen. Die Beklagte hatte aber im Bescheid vom 10.08.2018 Alg für 278 Tage bewilligt, so dass offenkundig ist, dass es nicht um eine Bewilligung im Zusammenhang mit Art. 64 Abs. 1 VO (EG) 883/2004 gehandelt haben kann.
Der Kläger kannte die Rechtswidrigkeit des Bescheides vom 10.08.2018 bzw. kannte sie in Folge grober Fahrlässigkeit nicht (§ 45 Abs. 2 Satz 3 Nr. 3 SGB X). Grobe Fahrlässigkeit liegt vor, wenn der Begünstigte die erforderliche Sorgfalt in besonders schwerem Maße verletzt hat. Der Betroffene muss schon einfachste, ganz naheliegende Überlegungen nicht angestellt und deshalb dasjenige nicht beachtet haben, was im gegebenen Fall jedem einleuchten muss. Es ist auf die persönliche Urteils- und Kritikfähigkeit sowie die besonderen Umstände des Einzelfalls abzustellen. Es ist also nicht ein objektiver, sondern ein subjektiver Sorgfaltsmaßstab anzulegen; es gilt der subjektive Fahrlässigkeitsbegriff (vgl. BSG, Urteil vom 08.02.2001 - B 11 AL 21/00 R - juris).
Nach den Vermerken vom 19.07.2018 und 23.07.2018 wurde dem Kläger im Rahmen der telefonischen Beratung und der persönlichen Vorsprache deutlich gemacht, dass er bei einer Ausreise zum 01.08.2018 bzw. davor, seinen Anspruch auf Alg nicht mitnehmen kann und auch kein Grund für die Verkürzung der Wartefrist vorliegt. Unter Berücksichtigung der in dem ihm ausgehändigten Merkblatt 20 (Alg und Auslandsbeschäftigung) enthaltenen Hinweise konnte der Kläger nicht davon ausgehen, dass seine Ausreise vor Ablauf der 4-Wochenfrist des Art. 64 Abs. 1a VO (EG) Nr. 883/2004 genehmigt worden ist. Nach den Ausführungen im Merkblatt auf S. 22 kann auf Antrag eine frühere Ausreise gestattet werden, wenn eine Vermittlung in Arbeit in absehbarer Zeit nicht möglich ist; ferner kann die 4-Wochen-Frist verkürzt werden, wenn zwingende Gründe vorliegen, die eine Beschäftigung im Inland unzumutbar machen, aber einer Beschäftigung im vorgesehenen Land der Arbeitsuche nicht entgegenstehen. Dies kann z.B. ein gemeinsamer Umzug der Ehegatten sein, wenn der Ehegatte im Ausland eine Beschäftigung aufnimmt oder fortsetzt. Ein solcher Fall lag aber in Bezug auf den Kläger erkennbar nicht vor. Auch die "Rückenschmerzen" machen weder eine Beschäftigung im Inland unzumutbar noch machen sie eine Vermittlung in Arbeit in absehbarer Zeit unmöglich. Dies musste dem Kläger klar sein, denn er wollte sich zur Arbeitssuche nach Polen begeben, dies wäre aber unsinnig, würden die "Rückenschmerzen" eine Erwerbstätigkeit ausschließen. Einen Hinweis auf eine Gestattung der vorzeitigen Ausreise ist weder den Gesprächsvermerken noch dem Bescheid vom 10.08.2018 zu entnehmen. Selbst wenn der Kläger davon ausgegangen wäre, die Wartefrist hätte bereits mit der Meldung bei der Beklagten am 02.07.2018 begonnen, so wäre eine 4-Wochenfrist bei Ausreise am 23.07.2018 noch nicht abgelaufen gewesen.
Ferner ergibt sich aus dem Merkblatt unzweifelhaft, dass im Falle der Mitnahme eines Anspruchs auf Alg zur Arbeitssuche nach Polen der Leistungsanspruch nur während drei Monaten nach der Ausreise bestanden hätte und auf höchstens sechs Monate hätte verlängert werden können (Seite 23 des Merkblatts). Auch heißt es dort weiter auf Seite 21, dass die deutsche Agentur für Arbeit bei einer Leistungsmitnahme das Dokument PD U2 ausstellt, mit dem die Berechtigung zur Leistungsmitnahme gegenüber dem ausländischen Träger der Arbeitslosenversicherung nachgewiesen werden kann. Zwar heißt es weiter, dass das Formular auch an die ausländische Anschrift bzw. dem ausländischen Träger der Arbeitslosenversicherung gesandt werden kann, wenn es vor Ausreise nicht ausgehändigt werden kann. Der Kläger hat aber gerade darauf hingewiesen, dass ihm die Mitarbeiterin das Formular nicht gegeben hat und nicht, dass sie es nicht hätte aushändigen können. Aufgrund der uneingeschränkten Bewilligung von Alg im Bescheid vom 10.08.2018 für einen Zeitraum von 278 Tagen und nicht lediglich für (zunächst) drei Monate hätte der Kläger unter Berücksichtigung der erforderlichen Sorgfalt und dem Anstellen einfachster, ganz naheliegender Überlegungen erkennen können, dass die Beklagte versehentlich Alg bewilligt hat, ohne den Umzug nach Polen und den daraus folgenden fehlenden Anspruch zu berücksichtigen. Im Übrigen wird hinsichtlich des Vorliegens grober Fahrlässigkeit auf die Ausführungen des SG im Urteil vom 10.06.2020 Bezug genommen und von einer weiteren Darstellung der Gründe abgesehen (§ 153 Abs. 2 SGG).
Ein Ermessen im Rahmen der Rücknahmeentscheidung bestand für die Beklagte nicht (§ 330 Abs. 2 SGB III). Sie hat auch die Jahresfrist gewahrt (§ 45 Abs. 4 Satz 2 SGB X).
Die Berufung der Klägerin war nach alledem zurückzuweisen.
Die Kostenentscheidung folgt aus § 193 SGG.
Gründe für die Zulassung der Revision gemäß § 160 Abs. 2 Nr. 1 und 2 SGG liegen nicht vor.