L 5 KR 59/22 B ER

Land
Nordrhein-Westfalen
Sozialgericht
LSG Nordrhein-Westfalen
Sachgebiet
Krankenversicherung
Abteilung
5
1. Instanz
SG Münster (NRW)
Aktenzeichen
S 9 KR 3281/21 ER
Datum
2. Instanz
LSG Nordrhein-Westfalen
Aktenzeichen
L 5 KR 59/22 B ER
Datum
3. Instanz
-
Aktenzeichen
-
Datum
-
Kategorie
Beschluss

Die Beschwerde des Antragstellers gegen den Beschluss des Sozialgerichts Münster vom 04.01.2022 wird zurückgewiesen.

Kosten sind auch im Beschwerdeverfahren nicht zu erstatten.

 

Gründe

I.

Der Antragsteller begehrt im Wege des einstweiligen Rechtschutzes die Versorgung mit dem Arzneimittel Epidyolex für einen dreimonatigen Behandlungsversuch.

Der am 00.00.2005 geborene Antragsteller leidet an einer Mehrfachbehinderung unklarer Genese mit frühkindlichem Autismus und 2019 hinzugetretener fokaler Epilepsie. Er zeigt schwere Verhaltensstörungen mit Irritabilität, Agitation, Impulsivität sowie auto- und fremdaggressivem Verhalten in diversen Erscheinungsformen. Er ist nicht in der Lage sich selbst zu versorgen und kann nicht in Kommunikation mit der Umwelt treten. Es besteht eine ständige Gefahr der Selbst- oder Fremdverletzung, weil er Gefahrensituationen nicht erfassen oder bewerten kann. Er bedarf der permanenten Betreuung und Beaufsichtigung durch seine Eltern. Ihm ist Pflegegrad 4 zuerkannt.

Am 20.05.2021 beantragte der Antragsteller die Kostenübernahme für einen individuellen Heilversuch mit Cannabidiol. Zur Begründung übersandte er eine Stellungnahme des Facharztes für Kinder- und Jugendmedizin A. Danach würden die epileptischen Anfälle des Antragstellers immer wieder zu Sturzereignissen mit Verletzungsfolgen führen. Auf vier Antiepileptika habe der Antragsteller mit schweren psychiatrischen Nebenwirkungen reagiert, so dass die Behandlung jeweils habe abgebrochen werden müssen. Überbrückend erhalte er Clobazam, welches auf Grund der Toleranzentwicklung für die längerfristige Monotherapie nicht gut geeignet sei. Cannabidiol stelle als Antiepileptikum eine erfolgversprechende Behandlungsalternative dar, insbesondere wegen seines günstigen Nebenwirkungsprofils. Es sei eher ein positiver Effekt auf die bestehenden Verhaltensstörungen zu erwarten, nicht aber psychiatrische Nebenwirkungen. Von dem Heilversuch erwarte er auch eine Reduktion leidvoller Erfahrungen und sekundärer Morbidität sowie eine Verbesserung der Lebensqualität für die gesamte Familie.

Die Antragsgegnerin beauftragte den Medizinischen Dienst (MD) mit der Erstellung eines sozialmedizinischen Gutachtens zum Antrag, das dieser unter dem 17.08.2021 nach Einholung zweier Berichte des mitbehandelnden Kinderhospitals erstattete. Das Arzneimittel Epidyolex sei nur zugelassen zur Behandlung von Patienten ab zwei Jahren für die adjuvante Behandlung von Krampfanfällen im Zusammenhang mit dem Lennox-Gastaut-Syndrom und dem Dravet-Syndrom in Kombination mit Clobazam. Diese Voraussetzungen lägen bei dem Antragsteller nicht vor. Die Voraussetzungen des neu geschaffenen § 31 Abs. 6 SGB V lägen ebenfalls nicht vor, weil unter der aktuellen Therapie keine weiteren Anfälle und/oder schwerwiegende Nebenwirkungen aufgetreten seien.

Mit Bescheid vom 20.08.2021 lehnte die Antragsgegnerin die Kostenübernahme ab. Das Arzneimittel Epidyolex solle im Fall des Antragstellers außerhalb der Zulassung hinsichtlich des Anwendungsgebietes eingesetzt werden (Off-Label-Use). Die Voraussetzungen für eine solche Bewilligung lägen jedoch nicht vor. Nach den Feststellungen des MD seien unter der aktuellen Therapie keine neuen Anfälle aufgetreten und keine schwerwiegenden Nebenwirkungen eingetreten. Zudem müsse auch bei einer Behandlung mit Epidyolex das Medikament Clobazam in niedriger Dosierung weiterhin verabreicht werden, so dass die Einnahme von Epidyolex nicht notwendig sei. Es gebe aktuell auch keine nachgewiesenen und kontrollierten Studien, welche belegen würden oder erwarten ließen, dass das beantragte Arzneimittel zukünftig für die Erkrankung des Klägers zugelassen werde. Eine Therapie ohne entsprechende Studienlage könne auch zum Schutz des Patienten vor unerprobten Verfahren nicht empfohlen werden.

Hiergegen legte der Antragsteller am 23.08.2021 Widerspruch ein. Er habe seit dem Auftreten von Anfällen und der Behandlung mit Clobazam eine Wesensveränderung erfahren. Schulbesuch und Hausunterricht sowie andere soziale Kontakte seien nicht mehr möglich. Sein Anspruch bestehe auch auf Grund der Regelung des § 31 Abs. 6 SGB V. Zur weiteren Begründung legte er zwei ärztliche Stellungnahmen des A vom 27.08.2021 sowie der kommissarischen Leiterin der Klinik für Kinder- und Jugendpsychiatrie, -psychotherapie und –psychosomatik am Kinderhospital U R vom 02.09.2021 vor. A führte darin aus, dass nach dem Bericht der Eltern mit dem Auftreten von Anfällen eine Wesensveränderung des Antragstellers eingetreten sei, die sich durch die Behandlung mit Clobazam verstärkt habe. Dies habe zur Einleitung einer Psychopharmakotherapie mit Melperon geführt, unter der eine gewisse, aber nicht ausreichende Verbesserung eingetreten sei. Der Antragsteller sei daher auch zu Hause nicht mehr beschulbar, eine Teilhabe am sozialen Leben sei nicht mehr möglich. Ein Zusammenhang mit der Clobazam-Therapie könne nicht als gesichert gelten, sei aber gut denkbar, so dass von schwerwiegenden Nebenwirkungen auszugehen sei. Eine Behandlung mit Cannabidiol sei wesentlich erfolgsversprechender als die verbleibenden, für die Epiliepsietherapie zugelassenen Optionen. Daher solle der angestrebte Behandlungsversuch mit Cannabidiol mit Reduktion der Clobazam-Dosis, ggf. auch vollständigem Absetzen, unternommen werden. Frau R berichtete, dass neben dem frühkindlichen Autismus bei dem Antragsteller 2019 eine Epilepsie hinzugetreten sei, die eine Wesensveränderung mit sich gebracht habe. Der bislang emotional und sozial ausgeglichene Jugendliche habe eine schwerwiegende Tendenz zu ruptusartigen Impulsdurchbrüchen bei einer aggressiven Grundhaltung entwickelt. Es sei zu Übergriffen auf Dritte und selbstverletzendem Verhalten gekommen. Dieses Verhalten sei mit psychotherapeutischen/pädagogischen Interventionen nicht beherrschbar, so dass inzwischen eine Pharmakotherapie mit Melperon notwendig sei. Es sei ein enger Zusammenhang zwischen dem aggressiven Verhalten und den medikamentös kaum beherrschbaren cerebralen Anfällen zu beobachten. Der Antragsteller könne inzwischen die elterliche Wohnung nicht mehr verlassen, die Familie sei vollständig isoliert. Es müsse eine wechselnde Betreuung durch die Eltern gewährleistet sein, eine Aufsicht durch Dritte sei auf Grund der unvorhersehbaren aggressiven Impulsdurchbrüche nicht zumutbar. Vor diesem Hintergrund werde der beantragte Behandlungsversuch unterstützt.

Die Antragsgegnerin schaltete daraufhin erneut den MD ein, der unter dem 18.10.2021 ein weiteres Gutachten erstattete. Die Voraussetzungen für den beantragten Off-Label-Use seien weiterhin nicht erfüllt. Der Antragsteller leide zwar an einer schwerwiegenden, die Lebensqualität auf Dauer nachhaltig beeinträchtigenden Erkrankung. Es treffe jedoch nicht zu, dass keine andere Therapie verfügbar sei. Mit Levetiracetam und Valproinsäure seien weitere anerkannte antikonvulsive Therapeutika verfügbar. Es bleibe allgemein festzustellen, dass allen Antiepileptika dosisabhängige, zentralnervöse Nebenwirkungen zu Eigen seien. Dies treffe auch auf Cannabidiol zu. In den Fachinformationen zu Epidyolex würden mögliche unerwünschte Nebenwirkungen wie hepatozelluläre Schädigungen, Somnolenz und Sedierung, Krampfanfälle, vermindertes Gewicht, Diarrhöen, hämatologische Anomalien und Kreatininwert-Erhöhungen angegeben. Zudem werde in den Leitlinien der Deutschen Gesellschaft für Kinder- und Jugendpsychiatrie zur Behandlung von oppositionellen und aggressiven Verhaltensweisen im kindes- und Jugendalter eine Empfehlung zur Behandlung mit Risperidon und Aripiprazol ausgesprochen. Es werde darauf hingewiesen, dass für andere Stoffgruppen (insbesondere Antikonvulsiva, Cannabidoide etc.) keine oder ungenügende Evidenz bezüglich der Wirksamkeit bei oppositionellen und aggressiven Verhaltensweisen bestehe. Schließlich bestehe auf Grund der bestehenden Datenlage auch nicht die begründete Aussicht, dass mit dem beantragten Präparat ein Behandlungserfolg (kurativ oder palliativ) erzielt werde. Belastbare Erkenntnisse aus methodisch adäquaten Studien (vorrangig Phase III), die einen klinisch relevanten Nutzen bei vertretbaren Risiken belegen würden und über Qualität und Wirksamkeit des Arzneimittels in dem neuen Anwendungsgebiet zuverlässige, wissenschaftlich überprüfbare Aussagen zuließen, seien nicht vorgelegt und auch ansonsten nicht ersichtlich.

Der Antragsteller reichte ergänzend eine weitere Stellungnahme des behandelnden Neuropädiaters A vom 10.11.2021 sowie der Fachärztin für Kinder- und Jugendpsychiatrie R vom 18.11.2021 ein. A gestand zu, dass eine allgemein anerkannte, dem medizinischen Standard entsprechende Behandlung zur Verfügung stehe. Er halte unter Abwägung der zu erwartenden Nebenwirkungen und unter Berücksichtigung des Krankheitszustandes des Antragstellers diese für nicht zumutbar. Bei der Auswahl der bisher eingesetzten Antiepileptika sei auf ein möglichst geringes Risiko psychotroper Nebenwirkungen geachtet worden. Dennoch seien bereits bei geringer Dosierung schwerwiegende psychiatrische Nebenwirkungen eingetreten. Alle verbleibenden Substanzen würden ein mindestens ebenso hohes, überwiegend höheres Risiko aufweisen. In den Fachinformationen zu Epidyolex seien vergleichbare psychiatrische Nebenwirkungen in 1-10 % der Fälle zwar ebenfalls beschrieben, es entspreche aber seiner fachärztlichen Erfahrung, die im Austausch mit einschlägig befassten Kolleg:innen bestätigt werde, dass gerade bei Patienten mit schweren Verhaltensstörungen die Therapie mit Cannabidiol häufig zu einer Verbesserung des Schlafes und des Allgemeinbefindens sowie einer Reduktion von Problemverhalten führe. Diese Beobachtungen seien seines Wissens nach in Studien bisher nicht systematisch untersucht worden. Es sei aber eine nicht ganz entfernt liegende Aussicht auf eine spürbare positive Entwicklung auf die vorliegend schweren Symptome gegeben.

Frau R verwies auf die vorliegenden Fachinformationen zu Aripiprazol und Risperidon. Die Sicherheit und Wirksamkeit von Aripiprazol sei bei Kindern und Jugendlichen unter 18 Jahren bisher noch nicht erwiesen. In klinischen Studien seien bei der Behandlung mit Aripiprazol gelegentlich Krampfanfälle beobachtet worden, so dass das Medikament bei autistischen Patienten mit Krampfanfällen in der Anamnese oder bei Zuständen, die mit Krampfanfällen im Zusammenhang stünden, mit Vorsicht verwendet werden solle. Hinsichtlich der Anwendung von Risperidon werde zur Vorsicht bei der gleichzeitigen Anwendung von Antiepileptika geraten. Wegen eines erhöhten Risikos für die Entwicklung eines malignen neuroleptischen Syndroms, zum Beispiel mit dem Wirkstoff Lamotrigin, solle Risperidon nur dann zusammen verabreicht werden, wenn es anders nicht vermieden werden könne. Demgegenüber bestünden bei dem derzeit verordneten Präparat Melperon gute klinische Erfahrungen bei nebenwirkungsarmer Behandlung.

Mit Widerspruchsbescheid vom 15.12.2021 wies der Widerspruchsausschuss den Widerspruch des Antragstellers zurück. Die Voraussetzung für eine Kostenübernahme des individuellen Heilversuchs mit Epidyolex im Wege des Off-Label-Uses lägen nach den gutachterlichen Stellungnahmen des MD nicht vor. Die Voraussetzungen des § 31 Abs. 6 SGB V seien ebenfalls zu verneinen, weil das Arzneimittel Epidyolex ausschließlich Cannabidiol enthalte.

Am 22.12.2021 hat der Antragsteller vertreten durch seine Eltern bei dem Sozialgericht Münster um einstweiligen Rechtschutz nachgesucht. Zur Begründung hat er seine Ausführungen im Antrags- und Widerspruchsverfahren wiederholt.

Er hat nach Auslegung des Sozialgerichts beantragt,

die Antragsgegnerin im Wege der einstweiligen Anordnung zu verpflichten, den Antragsteller mit dem Arzneimittel Epidyolex (Cannabidiol im Off-Label-Use) für einen Behandlungsversuch über drei Monate zu versorgen.

Die Beklagte hat beantragt,

den Antrag abzulehnen.

Die Voraussetzungen für einen Off-Label-Use lägen nicht vor. Insbesondere bestünde die Option der Fortsetzung der bisherigen Therapie mit Clobazam und Melperon, zumal es unter dieser Therapie bislang zu keinen weiteren epileptischen Anfällen gekommen sei. Zudem bestünden weitere Behandlungsmöglichkeiten. Es könne auch keine „begründete Aussicht“ auf den Eintritt eines Behandlungserfolges erkannt werden. Erforderlich sei zumindest eine ausreichende Studienlage, die auch von den behandelnden Ärzten nicht behauptet werde. Dem Antragsteller drohten schließlich auch keine gesundheitlichen Nachteile, wenn die bisherige Therapie – ggf. modifiziert – fortgesetzt werde.

Das Sozialgericht hat mit Beschluss vom 04.01.2022 den Antrag des Antragstellers abgelehnt. Der Antragsteller habe einen Anordnungsgrund nicht glaubhaft gemacht. Eine wirksame Therapie mit zugelassenen Arzneimitteln sei aktuell sichergestellt. Diese könne nach den Feststellungen des MD im Antragsverfahren fortgesetzt werden. Ebenso bestehe die Möglichkeit der Gabe verbleibender, für die Epilepsietherapie zugelassener anderer Medikamente. Weitere epileptische Anfälle seien unter der aktuellen Therapie nicht aufgetreten. Der Eintritt von schwerwiegenden Nebenwirkungen wie die als Therapiefolge behauptete fehlende Beschulbarkeit des Antragstellers seien in ihrer Kausalität nicht belegt.

Am 05.01.2022 hat der Antragsteller einen Unfallbericht vom 21.11.2021 zu den Akten gereicht. Danach hatte er an jenem Tag nach einem epileptischen Anfall eine Schulterluxation erlitten.

Am 20.01.2022 hat der Antragsteller gegen den Beschluss des Sozialgerichts Beschwerde eingelegt. Es sei ihm nicht zumutbar, erst noch die Einnahme der weiteren zugelassenen Antiepileptika zu versuchen, weil nach Einschätzung der behandelnden Ärzte ein hohes Risiko von auftretenden Nebenwirkungen bestehe. Die Voraussetzungen des § 31 Abs. 6 SGB V lägen vor. Eine Umstellung der Medikamente sei dringend erforderlich, weil es unter der derzeitigen Medikation noch immer zu epileptischen Anfällen käme, zuletzt am 21.11.2021. Das Abwarten einer Entscheidung in der Hauptsache sei unzumutbar.

Der Antragsteller beantragt sinngemäß,

den Beschluss des Sozialgerichts Münster vom 04.01.2022 abzuändern und die Antragsgegnerin im Wege der einstweiligen Anordnung vorläufig zu verpflichten, ihn mit dem Arzneimittel Epidyolex für einen individuellen Behandlungsversuch über drei Monate zu versorgen.

Die Antragsgegnerin beantragt,

die Beschwerde zurückzuweisen.

Sie hält den erstinstanzlichen Beschluss für zutreffend.

Wegen der weiteren Einzelheiten des Sach- und Streitstandes wird auf den Inhalt der Gerichtsakten sowie der beigezogenen Vorgänge (Leistungsakten der Antragsgegnerin) Bezug genommen. Dieser ist Gegenstand der Entscheidungsfindung gewesen.

 

II.

Die zulässige Beschwerde des Antragstellers ist nicht begründet. Im Ergebnis zu Recht hat das Sozialgericht den Antrag auf Erlass einer einstweiligen Anordnung abgelehnt.

1.) Einstweilige Anordnungen sind nach § 86b Abs. 2 S. 2 SGG zur Regelung eines vorläufigen Zustands in Bezug auf ein streitiges Rechtsverhältnis zulässig, wenn eine solche Regelung zur Abwendung wesentlicher Nachteile nötig erscheint (Regelungsanordnung). Der Erlass einer einstweiligen Anordnung verlangt grundsätzlich Erfolgsaussichten in der Hauptsache sowie die Erforderlichkeit einer vorläufigen gerichtlichen Entscheidung. Die Erfolgsaussichten in der Hauptsache (Anordnungsanspruch) und die Eilbedürftigkeit der erstrebten einstweiligen Regelung (Anordnungsgrund) sind glaubhaft zu machen (§ 86b Abs. 2 S. 4 SGG i.V.m. § 920 Abs. 2 ZPO). Ob ein Anordnungsanspruch vorliegt, ist in der Regel durch summarische Prüfung zu ermitteln. Können ohne Eilrechtsschutz jedoch schwere und unzumutbare Nachteile entstehen, die durch das Hauptsacheverfahren nicht mehr zu beseitigen wären, ist eine abschließende Prüfung erforderlich (BVerfG, Beschluss vom 12.05.2005 – 1 BvR 569/05 Rn. 24 f.). Bei offenem Ausgang muss das Gericht anhand einer Folgenabwägung entscheiden, die die grundrechtlichen Belange der Antragsteller umfassend zu berücksichtigen hat (BVerfG a.a.O. Rn. 26).

Unter Zugrundelegung dieser Maßstäbe war die Antragsgegnerin nicht zur Versorgung des Antragstellers mit dem beantragten Arzneimittel zur Durchführung eines individuellen Heilversuchs zu verpflichten. Denn bei der vorliegend gebotenen, summarischen Prüfung ist das Vorliegen eines Anordnungsanspruchs nicht als überwiegend wahrscheinlich anzusehen.

1.) Es ist nicht erkennbar, dass ein Anspruch auf die Versorgung mit dem begehrten Arzneimittel besteht. Ein solcher ergibt sich weder unmittelbar aus den §§ 27 Abs. 1, 31 Abs. 1 SGB V (dazu unter a) noch aus § 31 Abs. 6 SGB V (dazu unter b). Er lässt sich auch nicht aus den Grundsätzen des sog. Off-Label-Use (dazu unter c) oder aus einer grundrechtsorientierten Auslegung des Leistungsrechts (dazu unter d) herleiten.

a) Nach § 27 Abs. 1 S. 1 SGB V haben Versicherte Anspruch auf Krankenbehandlung, wenn sie notwendig ist, um eine Krankheit zu erkennen, zu heilen, ihre Verschlimmerung zu verhüten oder Krankheitsbeschwerden zu lindern. Die Krankenbehandlung umfasst u.a. die Versorgung mit Arzneimitteln (§ 27 Abs. 1 S. 2 Nr. 3 Fall 1 i.V.m. § 31 Abs. 1 S. 1 SGB V). Versicherte können eine Versorgung mit einem verschreibungspflichtigen Fertigarzneimittel zulasten der GKV grundsätzlich nur beanspruchen, wenn eine arzneimittelrechtliche Zulassung für das Indikationsgebiet besteht, in dem es angewendet werden soll. Die Zulassung kann sich grundsätzlich aus nationalem Recht (§ 21 Abs. 1 Arzneimittelgesetz) oder aus dem Recht der Europäischen Union ergeben, nicht aber aus ausländischem Recht (BSG, Urteil vom 19.03.2020 – B 1 KR 22/18 R Rn. 13 m.w.N.).

Das durch den Antragsteller begehrte Arzneimittel Epidyolex besitzt eine Zulassung ausschließlich für die adjuvante Behandlung von Krampanfällen im Zusammenhang mit dem Lennox-Gastaut-Syndrom oder dem Dravet-Syndrom. Unstreitig liegt keine dieser Erkrankungen bei dem Antragsteller vor, so dass ein direkter Anspruch von vornherein ausscheidet.

b) Der Antragsteller kann den geltend gemachten Anspruch auch nicht auf § 31 Abs. 6 SGB V stützen. Danach haben Versicherte mit einer schwerwiegenden Erkrankung unter bestimmten weiteren Voraussetzungen Anspruch auf Versorgung mit Cannabis in Form von getrockneten Blüten oder Extrakten in standardisierter Qualität und auf Versorgung mit Arzneimitteln mit den Wirkstoffen Dronabinol oder Nabilon. Das vorliegend begehrte Arzneimittel Epidyolex enthält jedoch allein den Wirkstoff Cannabidiol, nicht aber Dronabinol oder Nabilon, und wird damit schon tatbestandlich nicht von der Regelung des § 31 Abs. 6 SGB V erfasst.

c) Auch die Voraussetzungen der Grundsätze für einen Off-Label-Use zu Lasten der GKV sind nicht gegegeben. Die Voraussetzungen des § 35c SGB V für eine zulassungsüberschreitende Anwendung von Arzneimitteln liegen unstreitig nicht vor. Es ist nicht ersichtlich, dass die Behandlung aufgrund von Empfehlungen des Gemeinsamen Bundesausschusses oder im Rahmen einer klinischen Studie erfolgen soll.

Darüber hinaus kommt nach den von dem Bundessozialgericht entwickelten Grundsätzen ein Off-Label-Use nur dann in Betracht, wenn

1. es um die Behandlung einer schwerwiegenden (lebensbedrohlichen oder die Lebensqualität auf Dauer nachhaltig beeinträchtigenden) Erkrankung geht,

2. keine andere Therapie verfügbar ist und

3. auf Grund der Datenlage die begründete Aussicht besteht, dass mit dem betreffenden Präparat ein Behandlungserfolg (kurativ oder palliativ) erzielt werden kann.

Abzustellen ist dabei auf die im jeweiligen Zeitpunkt der Behandlung vorliegenden Erkenntnisse (vgl. nur BSG, Urteil vom 13.12.2016 – B 1 KR 10/16 R Rn. 16).

Vorliegend besteht zwischen den Beteiligten auf Grundlage der Einschätzung des MD zwar Einigkeit, dass der Kläger an einer schwerwiegenden Erkrankung im Sinne dieser Vorgaben leidet. Es ist allerdings schon nicht erkennbar, dass keine andere Therapieoption zur Verfügung steht. Der behandelnde Neuropädiater A hat selbst zugestanden, dass eine allgemein anerkannte, dem medizinischen Standard entsprechende Behandlung zur Verfügung stehe. Er hat seinen Therapievorschlag betreffend das Medikament Epidyolex allein damit begründet, dass er unter Abwägung der zu erwartenden Nebenwirkungen und unter Berücksichtigung des Krankheitszustandes des Antragstellers die bestehenden Behandlungsalternativen für nicht zumutbar halte. Bei der Auswahl der bisher eingesetzten Antiepileptika sei auf ein möglichst geringes Risiko psychotroper Nebenwirkungen geachtet worden. Dennoch seien bereits bei geringer Dosierung schwerwiegende psychiatrische Nebenwirkungen eingetreten. Alle verbleibenden Substanzen würden ein mindestens ebenso hohes, überwiegend höheres Risiko aufweisen.

Auf Grund der Stellungnahme des A vom 27.08.2021 kann allerdings schon nicht mit der erforderlichen Sicherheit festgestellt werden, dass die bei dem Kläger aufgetretenen Verhaltensauffälligkeiten kausal auf die Einnahme der Antiepileptika zurückzuführen sind. A weist in jener Stellungnahme ausdrücklich darauf hin, dass die beim Antragsteller beobachtete Wesensveränderung mit Beginn der epiletischen Anfälle (im Jahr 2019) auftrat. Ein Zusammenhang mit der Clobazam-Therapie könne „nicht als gesichert gelten, sei aber gut denkbar“. Fehlt aber schon eine hinreichende Wahrscheinlichkeit, dass ein Wechsel des antiepileptischen Medikamentes zu einer Besserung der Verhaltensauffälligkeiten des Klägers führt, so kann die angestrebte Therapie im Rahmen des einstweiligen Rechtschutzes schon nicht als erfolgsversprechende Alternative angesehen werden, zumal – worauf auch A in seiner Stellungnahme vom 10.11.2021 hinweist – auch die Einnahme von Epidyolex häufig, nämlich in 1 – 10 % der Fälle, zu psychiatrischen Nebenwirkungen wie Reizbarkeit und Aggressionen führen kann. Vor diesem Hintergrund ist auch nicht ohne Weiteres davon auszugehen, dass auf Grund der Datenlage die begründete Aussicht besteht, dass mit dem betreffenden Präparat ein Behandlungserfolg (kurativ oder palliativ) erzielt werden kann. Hierfür wäre außerdem erforderlich, dass Forschungsergebnisse vorliegen, die erwarten lassen, dass das betroffene Arzneimittel für die relevante Indikation zugelassen werden kann. Es müssen also Erkenntnisse in der Qualität einer kontrollierten klinischen Prüfung der Phase III (gegenüber Standard oder Placebo) veröffentlicht sein und einen klinisch relevanten Nutzen bei vertretbaren Risiken belegen (vgl. BSG, Urteil vom 13.12.2016 – B 1 KR 10/16 R Rn. 17). A weist selbst darauf hin, dass sich seine Hoffnungen allein auf die eigenen Erfahrungen und den kollegialen Austausch stützen, ohne dass nach seiner Kenntnis bislang eine entsprechende Studienlage existiere. Wird aber eine entsprechende Studienlage vom Antragsteller schon nicht behauptet und ist eine solche im Rahmen der im einstweiligen Rechtschutzverfahren möglichen Ermittlungen für den Senat auch nicht ersichtlich, so kommt ein Anspruch des Antragstellers nach den Grundsätzen des Off-Label-Uses nicht in Betracht.

d) Ein Anspruch des Antragstellers kann schließlich auch nicht im Rahmen der grundrechtsorientierten Leistungsauslegung hergeleitet werden. Nach dem sog. Nikolaus-Beschluss des BVerfG vom 6.12.2005 folgt aus den Grundrechten nach Art. 2 Abs. 1 GG i.V.m. dem Sozialstaatsprinzip und nach Art. 2 Abs. 2 GG ein Anspruch auf Krankenversorgung in Fällen einer lebensbedrohlichen oder regelmäßig tödlichen Erkrankung, wenn für sie eine allgemein anerkannte, medizinischem Standard entsprechende Behandlung nicht zur Verfügung steht und die vom Versicherten gewählte andere Behandlungsmethode eine auf Indizien gestützte, nicht ganz fernliegende Aussicht auf Heilung oder wenigstens auf eine spürbare positive Einwirkung auf den Krankheitsverlauf verspricht (BVerfG, Beschluss vom 6.12.2005 - 1 BvR 347/98 Rn. 33). Das BSG hat diese verfassungsrechtlichen Vorgaben in der Folge näher konkretisiert und dabei in die grundrechtsorientierte Auslegung auch Erkrankungen einbezogen, die mit einer lebensbedrohlichen oder regelmäßig tödlichen Erkrankung wertungsmäßig vergleichbar sind, wie etwa der nicht kompensierbare Verlust eines wichtigen Sinnesorgans oder einer herausgehobenen Körperfunktion. Dem ist der Gesetzgeber mit der Kodifizierung des Anspruchs in § 2 Abs. 1a SGB V gefolgt. Danach können Versicherte mit einer lebensbedrohlichen oder regelmäßig tödlichen Erkrankung oder mit einer zumindest wertungsmäßig vergleichbaren Erkrankung, für die eine allgemein anerkannte, dem medizinischen Standard entsprechende Leistung nicht zur Verfügung steht, auch eine vom Qualitätsgebot (§ 2 Abs. 1 S. 3 SGB V) abweichende Leistung beanspruchen, wenn eine nicht ganz entfernt liegende Aussicht auf Heilung oder auf eine spürbare positive Einwirkung auf den Krankheitsverlauf besteht (BSG, Urteil vom 19.03.2020 – B 1 KR 22/18 R Rn. 20 ff.). Eine „wertungsmäßige Vergleichbarkeit“ bezieht sich nach der Rechtsprechung des BSG allerdings allein auf die Schwere und das Ausmaß der aus der Erkrankung folgenden Beeinträchtigung, indem der Gefahr des Todes der nicht kompensierbare Verlust eines wichtigen Sinnesorgans oder einer herausgehobenen Körperfunktion gleichgestellt wird. Die wertungsmäßige Gleichstellung ermöglicht dagegen keine Reduzierung der Anforderungen an den die individuelle Notlage kennzeichnenden erheblichen Zeitdruck für einen zur Lebenserhaltung bestehenden akuten Behandlungsbedarf.

Es mag dahinstehen, ob die Erkrankung des Antragstellers, der unter therapieresistenten epileptischen Anfällen und Verhaltensstörungen wie Eigen- und Fremdaggression leidet, wertungsmäßig mit einer lebensbedrohlichen Erkrankung vergleichbar ist. Zweifel bestehen jedenfalls deshalb, weil das Kriterium einer Krankheit, die zumindest mit einer lebensbedrohlichen oder regelmäßig tödlich verlaufenden Erkrankung in der Bewertung vergleichbar ist, nach der Rechtsprechung des BSG nämlich eine strengere Voraussetzung beschreibt, als sie mit dem Erfordernis einer "schwerwiegenden" Erkrankung für die Eröffnung des Off-Label-Use formuliert ist (vgl. BSG, Urteil vom 30.06.2009 – B 1 KR 5/09 R Rn. 46). Jedenfalls stehen aber – auch nach den Ausführungen des behandelnden Neuropädiaters – anderweitige, dem medizinischen Standard entsprechende Behandlungsmaßnahmen zur Verfügung, deren Wirksamkeit beim Antragsteller noch nicht erprobt wurde und die nach den bislang zur Verfügung stehenden Erkenntnissen nicht mit deutlich höheren Nebenwirkungen behaftet wären als die vom Antragsteller begehrte Therapie mit Epidyolex.

2.) Die Kostenentscheidung beruht auf einer entsprechenden Anwendung des § 193 SGG.

3.) Dieser Beschluss ist nicht mit der Beschwerde an das Bundessozialgericht anfechtbar (§ 177 SGG).

 

Rechtskraft
Aus
Saved