L 12 SB 211/21

Land
Baden-Württemberg
Sozialgericht
LSG Baden-Württemberg
Sachgebiet
Schwerbehindertenrecht
Abteilung
12.
1. Instanz
SG Mannheim (BWB)
Aktenzeichen
S 8 SB 3371/18
Datum
2. Instanz
LSG Baden-Württemberg
Aktenzeichen
L 12 SB 211/21
Datum
3. Instanz
-
Aktenzeichen
-
Datum
-
Kategorie
Urteil

Die Berufung der Klägerin gegen den Gerichtsbescheid des Sozialgerichts Mannheim vom 25.09.2020 wird zurückgewiesen.

Außergerichtliche Kosten sind auch im Berufungsverfahren nicht zu erstatten.

 

Tatbestand

Zwischen den Beteiligten ist die Höhe des Grades der Behinderung (GdB) streitig.

Die 1968 geborene Klägerin beantragte erstmalig am 24.07.2017 beim Beklagten die Feststellung des GdB.

Der versorgungsärztliche Dienst des Beklagten bewertete in seiner Stellungnahme vom Dezember 2017 nach Auswertung der beigezogenen medizinischen Unterlagen die Funktionsbeeinträchtigung der Klägerin auf seelischem Gebiet mit einem Einzel-GdB von 30, die Ohrgeräusche mit einem Einzel-GdB von 10 und die Funktionsbeeinträchtigung beider Füße mit einem weiteren Einzel-GdB von 10 und empfahl einen Gesamt-GdB von 30. Hierauf gestützt stellte der Beklagte mit Bescheid vom 27.12.2017 den GdB bei der Klägerin mit 30 seit 24.07.2017 fest.

Auf den hiergegen eingelegten Widerspruch hin zog der Beklagte weitere medizinische Unterlagen, unter anderem den Bericht des Prof. Dr. S, Universitätsklinikum H, vom April 2018 über die dort stationär durchgeführte Schmerztherapie im März 2018, bei. Der versorgungsärztliche Dienst bewertete in seiner Stellungnahme vom Juni 2018 die seelische Erkrankung (Depression, funktionelle Organbeschwerden, chronisches Schmerzsyndrom, Schwindel) nun mit einem Einzel-GdB von 40 sowie ergänzend die Funktionsbehinderung der Wirbelsäule mit Schulter-Arm-Syndrom mit einem weiteren Einzel-GdB von 10 und den Gesamt-GdB mit 40.

Der Beklagte stellte daraufhin mit Teil-Abhilfebescheid vom 28.06.2018 den Gesamt-GdB mit 40 fest und wies den darüberhinausgehenden Widerspruch mit Widerspruchsbescheid vom 16.10.2018 zurück.

Hiergegen hat die Klägerin am 13.11.2018 Klage beim Sozialgericht Mannheim (SG) erhoben und ihr Begehren weiterverfolgt. Das SG hat die behandelnden Ärzte der Klägerin als sachverständige Zeugen schriftlich vernommen. Bezüglich der Einzelheiten der sachverständigen Zeugenaussagen wird auf die Stellungnahme des psychologischen Psychotherapeuten Dr. S1 vom März 2018, des Nervenarztes S2 vom März 2019, des Internisten und Hausarztes Dr. S3 vom April 2019, des Orthopäden/Chirurgen und Rheumatologen Dr. B vom April 2019, des Dr. S4, Facharzt für Chirurgie und Orthopädie, vom April 2019 und der Dr. L, HNO-Ärztin, vom April 2019 verwiesen. Für den Beklagten hat der Versorgungsarzt Dr. H im August 2019 zum Ergebnis der schriftlichen Beweisaufnahme Stellung bezogen.

Das SG hat weiterhin den Nervenarzt und Internisten Dr. S5 mit der Erstattung eines Gutachtens über die Klägerin beauftragt. Der Sachverständige hat in seinem Gutachten vom 13.12.2018, beruhend auf einer ambulanten Untersuchung der Klägerin, bei dieser eine mittelgradige depressive Episode und eine anhaltende somatoforme Schmerzstörung, ferner ein nicht dekompensiertes Tinnitusleiden sowie Beschwerden des Bewegungs- und Haltungsapparats ohne neurologische Defizite diagnostiziert und den GdB auf seelischem Gebiet mit 40, zugleich auch der Gesamt-GdB, bewertet.

Mit Gerichtsbescheid vom 25.09.2020 hat das SG die Klage abgewiesen und sich zur Begründung im Wesentlichen auf das Gutachten des Dr. S5 gestützt.

Gegen den der Klägerin erst am 04.01.2021 zugestellten Gerichtsbescheid hat diese am 15.01.2021 Berufung eingelegt, zu deren Begründung sie vorgetragen hat, allein die Behinderung auf seelischem Gebiet sei mit einem Einzel-GdB von 50 zu bewerten. Hinzutreten würden noch die Funktionsbeeinträchtigungen aufgrund der Fibromyalgie, aufgrund der zahlreichen Allergien sowie auf orthopädischem Gebiet.

Der Bevollmächtigte der Klägerin beantragt,

den Gerichtsbescheid des Sozialgerichts Mannheim vom 25.09.2020 aufzuheben und den Beklagten unter Aufhebung des Bescheids vom 27.12.2017 sowie des Teilabhilfebescheids vom 28.06.2018, beide in Gestalt des Widerspruchbescheids vom 16.10.2018, zu verurteilen bei ihr einen Grad der Behinderung von wenigstens 50 festzustellen,

hilfsweise,

Dr. S6, Facharzt für Neurologie und Psychiatrie, M, mit der Erstattung eines Gutachtens gemäß § 109 Sozialgerichtsgesetz auf Kostenrisiko der Klägerin zu beauftragen,

höchst hilfsweise,

zum Beweis der Tatsache, dass die Teilhabe der Klägerin so eingeschränkt ist, dass ein Grad der Behinderung von 50 besteht, ein Gutachten gemäß § 106 Abs. 3 Nr. 5 SGG auf psychiatrischem Fachgebiet einzuholen.

Der Beklagte beantragt,

die Berufung zurückzuweisen.

Er hat zur Begründung auf die angefochtene Entscheidung des SG verwiesen und ergänzend geltend gemacht, eine Fibromyalgie sei nicht nachgewiesen und im Übrigen ohnehin im GdB für die seelischen Störungen enthalten. Allergien würden erst dann einen Einzel-GdB bedingen, wenn sie sich in Hautveränderungen oder Organbeschwerden bemerkbar machten, wofür die Klägerin keine Befunde vorgelegt habe.

Mit Verfügung vom 01.06.2021 hat der Berichterstatter ausgeführt, bei vorläufiger Prüfung sei die Bewertung mit einem Gesamt-GdB von 40 nicht zu beanstanden und weitere Ermittlungen von Amts wegen seien nicht beabsichtigt. Für die Stellung eines Antrags gemäß § 109 Sozialgerichtsgesetz (SGG) unter Benennung des zu beauftragenden Sachverständigen, Einzahlung eines Kostenvorschusses in Höhe von 2.000 € und Übermittlung einer von der Klägerin unterzeichneten Kostenverpflichtungserklärung werde eine Frist bis zum 06.07.2021 gesetzt.

Mit Schriftsatz vom 30.06.2021, Eingang beim Gericht am selben Tag, hat die Klägerin durch ihre Prozessbevollmächtigten den Antrag gestellt, den Nervenarzt Dr. S6 als Sachverständigen gemäß § 109 SGG mit der Erstattung eines Gutachtens zu beauftragen.

Unter dem 23.08.2021 hat der Berichterstatter den Prozessbevollmächtigten der Klägerin mitgeteilt, bislang sei weder eine von der Klägerin unterschriebene Kostenverpflichtungserklärung eingegangen, noch liege eine Zahlungsanzeige der Landesoberkasse über den angeforderten Kostenvorschuss vor, weshalb beabsichtigt sei, den Antrag auf Begutachtung gemäß § 109 SGG abzulehnen.

Dem sind die Prozessbevollmächtigten der Klägerin unter dem 25.08.2021 entgegengetreten. Die angekündigte Ablehnung des Antrags wegen vermeintlicher Fristversäumnis sei weder zulässig, noch gerechtfertigt, geschweige denn nachvollziehbar. Der Antrag sei fristgerecht gestellt worden. Eine Kostenverpflichtungserklärung sei dem Schreiben vom 01.06.2021 schon gar nicht beigefügt gewesen. Man werde im Übrigen die Rechtsschutzversicherung der Klägerin noch heute bitten, den Kostenvorschuss zu überweisen.

Der Berichterstatter hat in einer weiteren Verfügung vom 01.09.2021 ausgeführt, maßgeblich sei nur die (fehlende) fristgerechte Einzahlung des Kostenvorschusses.

Die Klägerin hat mit Schriftsatz ihrer Prozessbevollmächtigten vom 28.09.2021 und 19.10.2021 gegen den Berichterstatter Ablehnungsgesuche wegen Befangenheit angebracht. Mit Beschlüssen vom 12.10.2021 (L 12 SF 3080/21) und 20.10.2021 (L 12 SF 3252/21) hat der Senat diese Gesuche zurückgewiesen. In der mündlichen Verhandlung vom 22.10.2021 hat der Bevollmächtigte der Klägerin den Berichterstatter neuerlich abgelehnt.

Zur weiteren Darstellung des Sachverhalts und des Vorbringens der Beteiligten wird auf den Inhalt der vorliegenden Verwaltungsakten des Beklagte sowie der Prozessakten Bezug genommen.

 

Entscheidungsgründe

Die Berufung der Klägerin ist nach §§ 143, 144 SGG statthaft und auch im Übrigen zulässig, insbesondere form- und fristgerecht (§ 151 Abs. 1 SGG) erhoben. Sie ist aber unbegründet. Die Entscheidung des Senats konnte unter Mitwirkung des Berichterstatters, gegen den sich die Ablehnungsgesuche der Klägerin gerichtet haben, ergehen, nachdem diese Ablehnungsgesuche mit rechtskräftigen Beschlüssen des Senats vom 12.10.2021 und vom 20.10.2021 als unbegründet zurückgewiesen worden sind.

Der Senat ist an einer Entscheidung in der Sache unter Mitwirkung des Berichterstatters auch nicht durch das neuerliche Befangenheitsgesuch des Bevollmächtigten der Klägerin in der mündlichen Verhandlung vom 22.10.2021 gehindert. Dieses Ablehnungsgesuch wird als offensichtlich unzulässig verworfen. Der Senat ist zu einer Entscheidung hierüber in der Besetzung mit dem abgelehnten Richter befugt, ohne dass es hierzu einer gesonderten Entscheidung bedarf (Bundessozialgericht [BSG], Beschluss vom 07.09.2016, B 10 SF 2/16 C, juris; Keller, in Meyer-Ladewig/Keller/Leitherer, SGG, 13. Aufl. 2020, § 60 Rn. 10e).

Nach § 60 Abs. 1 SGG in Verbindung mit § 42 Abs. 1 und 2 Zivilprozessordnung ist die Ablehnung eines Richters wegen Besorgnis der Befangenheit begründet, wenn ein Grund vorliegt, der geeignet ist, Misstrauen gegen seine Unparteilichkeit zu rechtfertigen. Maßgebend ist dabei, ob vom Standpunkt des betreffenden Beteiligten aus genügend objektive Gründe vorliegen, die in den Augen eines vernünftigen Betrachters geeignet sind, Misstrauen gegen die Unparteilichkeit des Richters zu erregen. In der Rechtsprechung der obersten Bundesgerichtshöfe und des Bundesverfassungsgerichts ist anerkannt, dass rechtsmissbräuchliche oder gänzlich untaugliche Ablehnungsgesuche ausnahmsweise im vereinfachten Ablehnungsverfahren in der geschäftsplanmäßigen Besetzung des Gerichts unter Beteiligung der abgelehnten Richter behandelt werden können, wenn für die Verwerfung als unzulässig jedes Eingehen auf den Gegenstand des Verfahrens entbehrlich ist (BSG, a.a.O.). Dies ist der Fall, wenn das Gericht einen offensichtlichen Missbrauch des Ablehnungsrechts für sachfremde Zwecke verhindern will oder lediglich eine bloße Formalentscheidung über ein offensichtlich unzulässiges Gesuch trifft, die keinerlei Beurteilung des eigenen Verhaltens durch die entscheidenden Richter und kein Eingehen auf den Verfahrensgegenstand erfordert (BSG, a.a.O., m.w.N., auch zum Nachfolgenden). Um ein solches, offensichtlich unzulässiges Ablehnungsgesuch handelt es sich im vorliegenden Fall. Denn der Bevollmächtigte der Klägerin hat sein Ablehnungsgesuch neuerlich damit begründet, der Berichterstatter habe ihn als „Lügner“ dargestellt. Auf diese Begründung hat er aber bereits das erste Ablehnungsgesuch (auch) und das zweite Ablehnungsgesuch ausschließlich gestützt. Mit Beschlüssen vom 12.10.2021 und 20.10.2021 hat der Senat ohne Mitwirkung des Berichterstatters diese Ablehnungsgesuche rechtskräftig zurückgewiesen. Ein Ablehnungsgesuch ist aber unzulässig, wenn das Gericht bereits unanfechtbar entschieden hat, dass der vorgebrachte Ablehnungsgrund keine Besorgnis der Befangenheit rechtfertigt (Keller, a.a.O., § 60 Rn. 10b, mit weiteren Nachweisen); dies folgt aus der Rechtskraft des Beschlusses. In diesem Fall bedarf die Entscheidung über das völlig ungeeignete Ablehnungsgesuch keiner Beurteilung des eigenen Verhaltens; es handelt sich um eine bloße Formalentscheidung, weshalb die Befugnis des abgelehnten Richters über das ungeeignete Ablehnungsgesuch mitzuentscheiden, verfassungsrechtlich unbedenklich ist (Keller, a.a.O., § 60 Rn. 10d).

Streitgegenständlich ist vorliegend der Bescheid vom 27.12.2017 in der Gestalt des Teil-Abhilfebescheides vom 28.06.2018 und des Widerspruchsbescheides vom 16.10.2018, mit dem der Beklagte es abgelehnt hat, bei der Klägerin einen höheren GdB als 40 festzustellen.

Anspruchsgrundlage für die GdB-Feststellung ist § 2 Abs. 1 Neuntes Buch Sozialgesetzbuch (SGB IX) in den bis zum 31.12.2017 und ab dem 01.01.2018 geltenden Fassungen in Verbindung mit § 69 SGB IX in der bis zum 31.12.2017 geltenden Fassung beziehungsweise in Verbindung mit § 152 Abs. 1 und 3 SGB IX in der ab dem 01.01.2018 geltenden Fassung. Im Hinblick auf die den vorliegend zu beurteilenden Zeitraum betreffenden unterschiedlichen Gesetzesfassungen sind diese – da Übergangsregelungen fehlen – nach dem Grundsatz anzuwenden, dass die Entstehung und der Fortbestand des sozialrechtlichen Anspruchs auf Leistungen nach dem Recht zu beurteilen ist, welches zur Zeit der anspruchsbegründenden Ereignisse oder Umstände jeweils gegolten hat (BSG, Urteil vom 16.12.2014, B 9 SB 2/13 R, juris; BSG, Urteil vom 04.09.2013, B 10 EG 6/12 R, juris; vergleiche Stölting/Greiser in SGb 2015, 135-143).

Nach § 2 Abs. 1 SGB IX in der bis zum 31.12.2017 geltenden Fassung sind Menschen behindert, wenn ihre körperliche Funktion, geistige Fähigkeit oder seelische Gesundheit mit hoher Wahrscheinlichkeit länger als 6 Monate von dem für das Lebensalter typischen Zustand abweichen und daher ihre Teilhabe am Leben in der Gesellschaft beeinträchtigt ist. Nach § 2 Abs. 1 SGB IX in der ab dem 01.01.2018 geltenden Fassung sind Menschen mit Behinderungen Menschen, die körperliche, seelische, geistige oder Sinnesbeeinträchtigungen haben, die sie in Wechselwirkung mit einstellungs- und umweltbedingten Barrieren an der gleichberechtigten Teilhabe an der Gesellschaft mit hoher Wahrscheinlichkeit länger als 6 Monate hindern können, wobei eine Beeinträchtigung in diesem Sinne vorliegt, wenn der Körper- und Gesundheitszustand von dem für das Lebensalter typischen Zustand abweicht. 

Nach § 69 Abs. 1 Satz 1 SGB IX in der bis zum 31.12.2017 geltenden Fassung beziehungsweise nach § 152 Abs. 1 Satz 1 SGB IX in der ab dem 01.01.2018 geltenden Fassung gilt ergänzend, dass der GdB zum Zeitpunkt der Antragstellung festgestellt wird. Als GdB werden dabei nach nach § 69 Abs. 1 Satz 5 und 6 SGB IX in der bis zum 31.12.2017 geltenden Fassung beziehungsweise nach § 152 Abs. 1 Satz 5 und 6 SGB IX in der ab dem 01.01.2018 geltenden Fassung die Auswirkungen auf die Teilhabe am Leben in der Gesellschaft nach Zehnergraden abgestuft festgestellt, wobei eine Feststellung hierbei nur dann zu treffen ist, wenn ein GdB von wenigstens 20 vorliegt.

Nach § 70 Abs. 2 SGB IX in der bis zum 29.12.2016 geltenden Fassung wird das Bundesministerium für Arbeit und Soziales ermächtigt, durch Rechtsverordnung mit Zustimmung des Bundesrates die Grundsätze aufzustellen, die für die medizinische Bewertung des GdB und die medizinischen Voraussetzungen für die Vergabe von Merkzeichen maßgebend sind, die nach Bundesrecht im Schwerbehindertenausweis einzutragen sind. Nach § 70 Abs. 2 SGB IX in der bis zum 31.12.2017 geltenden Fassung beziehungsweise nach § 153 Abs. 2 SGB IX in der ab dem 01.01.2018 geltenden Fassung gilt diese Ermächtigung für die allgemeine – also nicht nur für die medizinische – Bewertung des GdB und die Voraussetzungen für die Vergabe von Merkzeichen sowie auch für die Kriterien für die Bewertung der Hilflosigkeit. Zwar ist von dieser Ermächtigung noch kein Gebrauch gemacht worden. Indes bestimmt § 159 Abs. 7 SGB IX in der bis zum 31.12.2017 geltenden Fassung beziehungsweise § 241 Abs. 5 SGB IX in der ab dem 01.01.2018 geltenden Fassung, dass – soweit eine solche Verordnung nicht erlassen ist – die Maßstäbe des § 30 Abs. 1 BVG und der auf Grund des § 30 Abs. 17 BVG in der bis zum 30.06.2011 geltenden Fassung beziehungsweise § 30 Abs. 16 BVG in der ab dem 01.07.2011 geltenden Fassung erlassenen Rechtsverordnungen entsprechend gelten. Mithin ist für die konkrete Bewertung von Funktionsbeeinträchtigungen die ab dem 01.01.2009 an die Stelle der „Anhaltspunkte für die ärztliche Gutachtertätigkeit im sozialen Entschädigungsrecht und nach dem Schwerbehindertengesetz“ (AHP) getretene Anlage VG zu § 2 Verordnung zur Durchführung des § 1 Abs. 1 und 3, § 30 Abs. 1 und § 35 Abs. 1 BVG (VersMedV) vom 10.12.2008 (BGBl. I S. 2412), die durch die Verordnungen vom 01.03.2010 (BGBl. I S. 249), 14.07.2010 (BGBl. I S. 928), 17.12.2010 (BGBl. I S. 2124), 28.10.2011 (BGBl. I S. 2153) und 11.10.2012 (BGBl. I S. 2122) sowie das Gesetz vom 23.12.2016 (BGBl. I S. 3234) geändert worden ist, heranzuziehen. In den VG sind unter anderem die Grundsätze für die Feststellung des Grades der Schädigungsfolgen (GdS) im Sinne des § 30 Abs. 1 BVG festgelegt worden. Diese sind nach den VG, Teil A, Nr. 2 auch für die Feststellung des GdB maßgebend. Die VG stellen ihrem Inhalt nach antizipierte Sachverständigengutachten dar. Dabei beruht das für die Auswirkungen von Gesundheitsstörungen auf die Teilhabe an der Gesellschaft relevante Maß nicht allein auf der Anwendung medizinischen Wissens. Vielmehr ist die Bewertung des GdB auch unter Beachtung der rechtlichen Vorgaben sowie unter Heranziehung des Sachverstandes anderer Wissenszweige zu entwickeln (BSG, Urteil vom 17.04.2013, B 9 SB 3/12 R, juris).

Liegen mehrere Beeinträchtigungen der Teilhabe am Leben in der Gesellschaft vor, so wird der GdB nach § 69 Abs. 3 Satz 1 SGB IX in der bis zum 31.12.2017 geltenden Fassung beziehungsweise nach § 152 Abs. 3 Satz 1 SGB IX in der ab dem 01.01.2018 geltenden Fassung nach den Auswirkungen der Beeinträchtigungen in ihrer Gesamtheit unter Berücksichtigung ihrer wechselseitigen Beziehungen festgestellt. Zur Feststellung des GdB werden in einem ersten Schritt die einzelnen nicht nur vorübergehenden Gesundheitsstörungen im Sinne von regelwidrigen (von der Norm abweichenden) Zuständen nach § 2 Abs. 1 SGB IX und die sich daraus ableitenden, für eine Teilhabebeeinträchtigung bedeutsamen Umstände festgestellt. In einem 2. Schritt sind diese dann den in den VG genannten Funktionssystemen zuzuordnen und mit einem Einzel-GdB zu bewerten. In einem 3. Schritt ist dann in einer Gesamtschau unter Berücksichtigung der wechselseitigen Beziehungen der einzelnen Beeinträchtigungen der Gesamt-GdB zu bilden. Dabei können die Auswirkungen der einzelnen Beeinträchtigungen ineinander aufgehen (sich decken), sich überschneiden, sich verstärken oder beziehungslos nebeneinanderstehen (BSG, Urteil vom 17.04.2013, B 9 SB 3/12 R, juris). Nach den VG, Teil A, Nr. 3 Buchst. c ist bei der Bildung des Gesamt-GdB in der Regel von der Beeinträchtigung mit dem höchsten Einzel-GdB auszugehen und sodann im Hinblick auf alle weiteren Funktionsbeeinträchtigungen zu prüfen, ob und inwieweit hierdurch das Ausmaß der Behinderung größer wird, ob der Ausgangswert also wegen der weiteren Funktionsbeeinträchtigungen um 10, 20 oder mehr Punkte zu erhöhen ist, um der Behinderung insgesamt gerecht zu werden. Insoweit führen nach den VG, Teil A, Nr. 3 Buchst. d, von Ausnahmefällen abgesehen, zusätzliche leichte Gesundheitsstörungen, die nur einen GdB von 10 bedingen, nicht zu einer Zunahme des Ausmaßes der Gesamtbeeinträchtigung, die bei der Gesamtbeurteilung berücksichtigt werden könnte, auch dann nicht, wenn mehrere derartige leichte Gesundheitsstörungen nebeneinander bestehen. Auch bei leichten Funktionsbeeinträchtigungen mit einem GdB von 20 ist es danach vielfach nicht gerechtfertigt, auf eine wesentliche Zunahme des Ausmaßes der Behinderung zu schließen. Außerdem sind nach den VG, Teil A, Nr. 3 Buchst. b bei der Gesamtwürdigung die Auswirkungen mit denjenigen zu vergleichen, für die in der GdB-Tabelle der VG feste Grade angegeben sind.

Die Bemessung des GdB ist grundsätzlich tatrichterliche Aufgabe. Dabei hat insbesondere die Feststellung der nicht nur vorübergehenden Gesundheitsstörungen unter Heranziehung ärztlichen Fachwissens zu erfolgen (BSG, Urteil vom 17.04.2013, a.a.O.).

Unter Berücksichtigung dieser Maßstäbe ist es nicht zu beanstanden, dass der Beklagte bei der Klägerin (nur) einen Gesamt-GdB von 40 festgestellt hat. Die Voraussetzungen für einen höheren Gesamt-GdB liegen nicht vor.

Ganz im Vordergrund stehen bei der Klägerin, auch nach Einschätzung der behandelnden Ärzte, die Funktionsbehinderungen auf seelischem Gebiet. Bei der Klägerin liegt ein depressives Syndrom, derzeit mittelgradige depressive Episode sowie eine somatoforme Schmerzstörung, ferner ein nicht dekompensiertes Tinnitusleiden und Beschwerden des Bewegungs- und Haltungsapparats, ohne relevantes neurologisches Defizit, vor. Dies entnimmt der Senat, wie zuvor bereits das SG, dem Gutachten des Sachverständigen Dr. S5. Dies deckt sich im Wesentlichen mit der Einschätzung der behandelnden Ärzte, namentlich des Nervenarztes S2 (rezidivierende depressive Störung, somatoforme Störung), des Hausarztes Dr. S3 und des Prof. Dr. S (anhaltende somatoforme Schmerzstörung, depressive Episode). Soweit der psychologische Psychotherapeut Dr. S1 eine soziale Phobie diagnostiziert haben, sind die hierfür vorgegebenen Diagnosekriterien nicht erfüllt, so Dr. S5. Die Diagnose einer sozialen Phobie wird auch von den behandelnden Ärzten nicht geteilt.

Die Bewertung der seelischen Erkrankung der Klägerin richtet sich nach den VG, Teil B, Nr. 3.7. Danach sind leichtere psychovegetative oder psychische Störungen mit einem Einzel-GdB von 0 bis 20, stärker behindernde Störungen mit wesentlicher Einschränkung der Erlebnis- und Gestaltungsfähigkeit (z. B. ausgeprägtere depressive, hypochondrische, asthenische oder phobische Störungen, Entwicklungen mit Krankheitswert, somatoforme Störungen) mit einem Einzel-GdB von 30 bis 40, schwere Störungen (z. B. schwere Zwangskrankheit) mit mittelgradigen sozialen Anpassungsschwierigkeiten mit einem Einzel-GdB von 50 bis 70 und mit schweren sozialen Anpassungsschwierigkeiten mit einem Einzel-GdB von 80 bis 100 zu bewerten.

Danach ist die Bewertung der seelischen Funktionsbeeinträchtigungen mit einem Einzel-GdB von 40 nicht zu beanstanden. Mit dieser Bewertung, insbesondere der Ausschöpfung des hierfür vorgesehenen Bewertungsrahmens nach oben, wird dem Umstand, dass bei der Klägerin eine bereits ausgeprägtere depressive wie auch somatoforme Störung vorliegt, zureichend Rechnung getragen, so zu Recht Dr. S5, gestützt auf das Ergebnis seiner ambulanten Untersuchung sowie auf die sorgfältige Auswertung der umfangreichen Aktenlage. So liegt bei der Klägerin zwar bereits eine wesentliche Einschränkung der Erlebnis- und Gestaltungsfähigkeit in Gestalt von psychischen Anpassungsschwierigkeiten, namentlich einer Kontaktschwäche und einer Vitalitätseinbuße, vor. Das Ausmaß der Funktionsbeeinträchtigung wird auch durch die regelmäßige fachärztliche und psychotherapeutische Betreuung, welche die Klägerin in Anspruch nimmt, bestätigt.

Dagegen sind mittelgradige soziale Anpassungsschwierigkeiten, mithin ein Einzel-GdB von mindestens 50, erst anzunehmen, wenn neben einer in den meisten Berufen sich auswirkenden psychischen Veränderung, die auch eine berufliche Gefährdung einschließt, erhebliche familiäre Probleme durch Kontaktverlust und affektive Nivellierung (wenngleich noch keine Isolierung und noch kein sozialer Rückzug in einem Umfang, der zum Beispiel eine vorher intakte Ehe stark gefährden könnte) vorliegen (Sachverständigenbeirat im Beiratsprotokoll vom 18./19.03.1998, vergleiche Wendler/Schillings, Schwerbehindertenrecht, VdK-Kommentar, 7. Aufl., zu VG Nr. 3.6, S. 143 und 144, Nr. 3.7, S. 149).

Diese Voraussetzungen liegen bei der Klägerin noch nicht vor. Im Rahmen der Untersuchung durch den Sachverständigen wirkte die Klägerin niedergeschlagen, depressiv, verbittert und enttäuscht über das Verhalten des Arbeitgebers. Es zeigte sich eine Affektlabilität bis hin zur Affektdurchlässigkeit, wobei die affektive Resonanzfähigkeit zum negativen Pol hin verschoben war. Es bestand aber keine Antriebsminderung oder gar psychomotorische Hemmung. Die Klägerin hat sich in der Untersuchung geistig gut flexibel gezeigt, ohne dass kognitive oder mnestische Defizite relevanten Ausmaßes erhoben werden konnten. Auch liegen bei der Klägerin noch keine erheblichen Probleme durch sozialen Rückzug innerhalb der Familie vor. Vielmehr sind ihre Sozialkontakte nach ihren Angaben gegenüber dem Sachverständigen, bezogen auf die Familie, auf die sie zentriert ist, gut. Sie hat ihre Ehe als intakt beschrieben und versteht sich auch gut mit ihrem Sohn. Ein gutes Verhältnis besteht nach ihren Angaben auch zu den Eltern und ihren Geschwistern.

In Übereinstimmung mit den VG hat der Sachverständige weniger auf die konkrete Diagnose, als vielmehr auf das Ausmaß der Teilhabebeeinträchtigung abgestellt. Das Vorliegen einer stärker behindernden Störung mit wesentlicher Einschränkung der Erlebnis- und Gestaltungsfähigkeit wird aber auch durch die Diagnose des Sachverständigen bestätigt. Angesichts des von ihm erhobenen Befundes hat dieser auch für den Senat schlüssig und nachvollziehbar eine mittelgradige depressive Episode diagnostiziert und zumindest gegenwärtig die Diagnosekriterien für eine schwere depressive Episode als nicht erfüllt angesehen. Soweit Dr. S1 und der Nervenarzt S2 von einer schwergradigen Ausprägung ausgegangen sind, allerdings ohne einen detaillierteren Befund darzulegen, der diese Einschätzung tragen würde, kann zwar nicht ausgeschlossen werden, dass es der Klägerin mitunter schlechter gegangen ist. Andererseits wurde auch im Bericht des Universitätsklinikum H vom April 2018 eine mittelgradige Ausprägung der depressiven Episode bestätigt. Vor allem aber waren akutstationäre psychiatrische Aufenthalte, wie sie in der Regel bei einer ambulant unzureichend therapierbaren, schweren psychischen Symptomatik indiziert sind, bisher nicht notwendig, so zu Recht der Sachverständige.

Die weiterhin vorliegende somatoforme Schmerzstörung ist entsprechend den Vorgaben der VG in Teil A, Nr. 2 Buchst. e mit dem depressiven Syndrom zu einem Einzel-GdB zusammenzufassen. Der Einzel-GdB von 40 wird dadurch nicht erhöht, so schlüssig und nachvollziehbar Dr. S5. Denn zum einen weisen beide psychiatrische Erkrankungen ganz erhebliche Schnittmengen auf. Zum anderen richtet sich auch die Bewertung der somatoformen Schmerzstörung gemäß den VG, Teil B, Nr. 3.7 nach dem Ausmaß der Einschränkung der Erlebnis- und Gestaltungsfähigkeit. Die somatoforme Schmerzstörung führt nicht zu einer weitergehenden Teilhabebeeinträchtigung. Vielmehr ist deren Ausmaß insgesamt, wie zuvor ausführlich dargestellt, mit einem Einzel-GdB von 40 angemessen bewertet.

Das von der Klägerin in der Berufungsbegründung geltend gemachte Fibromyalgiesyndrom hat der Sachverständige nicht festgestellt. Auch der Nervenarzt S2 (in seiner Stellungnahme gegenüber dem SG) und Prof. Dr. S haben auf die Diagnose eines Fibro­myalgiesyndroms zusätzlich zu der anhaltenden somatoformen Schmerzstörung verzichtet, während Dr. B bei Ausschluss einer entzündlichen bzw. rheumatischen Erkrankung klinisch ein myofasziales Schmerzsyndrom mit „Fibromyalgiesyndrom-Charakter“ gesehen hat. Letztendlich bedarf die Frage, ob diese Diagnose (zusätzlich) gerechtfertigt ist, vorliegend keiner Klärung. Die Fibromyalgie ist nach den VG, Teil B, 18.4 jeweils im Einzelfall entsprechend der funktionellen Auswirkungen analog zu beurteilen. Nachdem – entgegen der in der Berufungsbegründung geltend gemachten Verbindung zum rheumatoiden Erkrankungskreis – Rheuma-Erkrankungszeichen ausweislich der Stellungnahme des Rheumatologen Dr. B gerade nicht vorliegen, kommt auch für die Fibromyalgie vorliegend nur eine Bewertung nach den VG, Teil B, Nr. 3.7 in Betracht. Denn das Beschwerdebild der Klägerin wird auch nach Einschätzung des Dr. B insoweit maßgeblich durch eine chronifizierte Störung der Schmerzverarbeitung mit vegetativen Symptomen, Leistungseinbußen und Körperfunktionsstörungen ohne organisches Korrelat geprägt. Dies bedeutet, dass als Vergleichsmaßstab auch hier am ehesten die in den VG, Teil B, Nr. 3.7 aufgeführten psychovegetativen oder psychischen Störungen in Betracht kommen. Deshalb sind zur Beurteilung der funktionellen Auswirkungen des Fibromyalgiesyndroms im Fall der Klägerin die Grundsätze für die Beurteilung von psychovegetativen und psychischen Störungen analog heranzuziehen (LSG Berlin-Brandenburg, Urteil vom 23.09.2015, L 11 SB 35/13, juris, mit weiteren Nachweisen). Damit ist diese Erkrankung gleichfalls Gegenstand des vom Sachverständigen für die Gesamtheit der unter den VG, Teil B, Nr. 3.7 zu subsumierenden Störungen festgestellten und mit einem Einzel-GdB von 40 zutreffend bewerteten Ausmaßes der Einschränkung der Erlebnis- und Gestaltungsfähigkeit. Raum für eine eigenständige (zusätzliche) Bewertung besteht nicht.

Der von der HNO-Ärztin Dr. L diagnostizierte Tinnitus, der nach den Feststellungen des Sachverständigen nicht mit nennenswerten psychischen Begleiterscheinungen einhergeht, ist mit einem Einzel-GdB von 10 zu bewerten (VG, Teil B, Nr. 5.3).

Die vom Beklagten vorgenommene Bewertung der Funktionsbeeinträchtigungen auf orthopädischem Gebiet (Gebrauchseinschränkung beider Füße: Einzel-GdB von 10; Funktionsbehinderung der Wirbelsäule, Schulter-Arm-Syndrom: Einzel-GdB von 10) ist gleichfalls nicht zu beanstanden. Der behandelnde Arzt auf orthopädischem Gebiet Dr. B ist bezüglich des von ihm berichteten, überlastungsbedingten Schulter-Arm-Syndroms beidseitig wie auch der chronischen Rückenschmerzen von einer psychischen Überlagerung im Rahmen der somatoformen Schmerzstörung ausgegangen (vergleiche hierzu auch Dr. H) und hat die relevanten Beeinträchtigungen der Klägerin auf psychiatrischem Gebiet gesehen. Zu derselben Beurteilung ist bei gleichfalls weitgehend unauffälligem orthopädischen Befund (Finger-Boden-Abstand 5 cm, flüssiges Gangbild, verschiedene Gang- und Standarten problemlos demonstrierbar, Schürzen- und Nackengriff möglich, freie Beweglichkeit von Halswirbelsäule und Brustwirbelsäule, freie Beweglichkeit der großen Gelenke) auch Professor Dr. S gelangt. Auch der Sachverständige hat keine relevante Funktionsbeeinträchtigung der Wirbelsäule sowie aufgrund des Schulter-Arm-Syndroms gesehen, so dass die Bewertung mit einem Einzel-GdB von 10 sachgerecht ist. Der von Dr. B diagnostizierte Senk-Spreiz-Fuß rechtfertigt gleichfalls keinen Einzel-GdB jenseits von 10.

Den erstmalig im Berufungsverfahren vorgetragenen allergischen Reaktionen (lt. vorgelegtem Allergie-Pass Überempfindlichkeit gegenüber Nickelsulfat, Phenylquecksilberacetat und Propylen­glycol) lassen sich keine Anhaltspunkte für eine Bewertung mit einem Einzel-GdB von wenigstens 10 entnehmen. Relevante Auswirkungen dieser Allergien, wie beispielsweise Hautveränderungen (vergleiche VG, Teil B, Nr. 17.1) oder eine Hyperreagibilität mit zumindest seltenen und/oder leichten Anfällen (VG, Teil B, Nr. 8.5) hat die Klägerin nicht vorgetragen und lassen sich auch den medizinischen Unterlagen nicht entnehmen.

Unter Berücksichtigung der vorstehend dargestellten Grundsätze zur Bildung des Gesamt-GdB ist dieser bei der Klägerin, ausgehend vom höchsten Einzel-GdB von 40 für die Erkrankungen auf seelischen Gebiet, der durch die weiteren, jeweils mit einem Einzel-GdB von max. 10 zu bewertenden Funktionsbeeinträchtigungen nicht erhöht wird, insgesamt mit 40 zu bewerten.

Die Hilfsanträge der Klägerin lehnt der Senat ab.

Der Sachverhalt ist in tatsächlicher Hinsicht aufgeklärt. Aufgrund des wie dargelegt schlüssigen und nachvollziehbaren Gutachtens des Sachverständigen Dr. S5 stehen das Ausmaß der Beeinträchtigung auf nervenärztlichem Gebiet und die hieraus resultierenden Funktionsbeeinträchtigungen fest. Anhaltspunkte dafür, weshalb sich der Senat hätte gedrängt sehen müssen, ein weiteres Gutachten von Amts wegen bei einem, vom Prozessbevollmächtigten der Klägerin nicht benannten, Sachverständigen auf nervenärztlichem Gebiet einzuholen, liegen nicht vor. Insbesondere gibt es keinerlei Anhaltspunkte für eine Verschlechterung des Gesundheitszustandes der Klägerin seit Begutachtung durch Dr. S5. Die Klägerin selbst hat keinen weiteren Aufklärungs- oder Ermittlungsbedarf dargelegt.

Den Antrag der Klägerin auf gutachtliche Anhörung des Dr. S6 lehnt der Senat gemäß § 109 Abs. 2 SGG in Ausübung des ihm dort eingeräumten Ermessens ab.

Gemäß § 109 Abs. 1 Satz 1 SGG muss auf Antrag des behinderten Menschen ein bestimmter Arzt gutachtlich gehört werden. Gemäß Satz 2 der Regelung kann die Anhörung davon abhängig gemacht werden, dass der Antragsteller die Kosten vorschießt und vorbehaltlich einer anderen Entscheidung des Gerichts endgültig trägt. Nach § 109 Abs. 2 SGG kann ein Antrag unter anderem abgelehnt werden, wenn durch die Zulassung die Erledigung des Rechtsstreits verzögert würde und der Antrag nach der freien Überzeugung des Gerichts aus grober Nachlässigkeit nicht früher vorgebracht worden ist. § 109 Abs. 2 SGG ist entsprechend anzuwenden, wenn der Vorschuss erst verspätet gezahlt wird (Keller, a.a.O., § 109 Rn. 14c und 11a; LSG Nordrhein-Westfalen, Urteil vom 11.04.2018, L 17 U 442/16, juris). Dabei muss sich der Beteiligte das Verhalten seines Vertreters zurechnen lassen (Keller, a.a.O., § 109 Rn. 11). Eine Ablehnung kann sowohl vorab durch Beschluss als auch, wie vorliegend, in den Entscheidungsgründen des Urteils erfolgen (Keller, a.a.O., § 109 Rn. 11a).

Die Voraussetzungen für eine Ablehnung liegen danach vor.

Die Klägerin hat den Kostenvorschuss mit erheblicher Verspätung eingezahlt. Die am selben Tage den Prozessbevollmächtigten der Klägerin zugestellte Verfügung vom 01.06.2021, mit der für das beantragte Gutachten gemäß § 109 SGG ein Vorschuss in Höhe von 2.000 € angefordert wurde, enthält neben einer ausführlichen Darlegung, weshalb bei vorläufiger Prüfung von einer Unbegründetheit der Berufung ausgegangen wird, den Hinweis, dass weitere Ermittlungen von Amts wegen nicht beabsichtigt sind und dass der Vorschuss für ein Gutachten nach § 109 SGG bis 06.07.2021 einzuzahlen ist. Ungeachtet dessen hat die Klägerin die Einzahlung des Kostenvorschusses erst zum 30.09.2021 veranlasst.

Durch die Zulassung des Antrags auf gutachtliche Anhörung nach Einzahlung des Kostenvorschusses am 30.09.2021 hätte sich die Erledigung des Rechtsstreits auch verzögert. Eine Verzögerung tritt nämlich auch dann ein, wenn sich wegen der Beweisaufnahme nach § 109 Abs. 1 SGG der durch die bereits erfolgte oder erkennbar bevorstehende Terminierung bereits ins Auge gefasste Zeitpunkt der Verfahrensbeendigung verschieben würde (LSG Nordrhein-Westfalen, a.a.O., mit weiteren Nachweisen). Dies wäre vorliegend der Fall gewesen. Der Rechtsstreit war, wie sich aus der Aufklärungsverfügung des Berichterstatters vom 01.06.2021 ergab, bereits zu diesem Zeitpunkt entscheidungsreif und ist weiterhin mit Verfügung vom 15.09.2021, somit deutlich vor Einzahlung des Kostenvorschusses am 30.09.2021, auf den 22.10.2021 geladen worden. Die Beauftragung eines Gutachters und die Erstattung eines Gutachtens nach ambulanter Untersuchung der Klägerin, was nach den Erfahrungen des Senats, zumal unter den aktuellen besonderen pandemiebedingten Umständen, regelmäßig mindestens 2 bis 3 Monate in Anspruch nimmt, hätte eine Vertagung der für den 22.10.2020 anberaumten mündlichen Verhandlung und eine deutlich spätere Entscheidung des Rechtsstreits erforderlich gemacht.

Die verspätete Einzahlung des Kostenvorschusses am 30.09.2021 und damit erst nach rund 3 Monaten und nach erfolgter Terminierung ist auch grob nachlässig. Grobe Nachlässigkeit liegt vor, wenn jede zur sorgfältigen Prozessführung erforderliche Sorgfalt außer Acht gelassen worden ist, d.h., wenn nicht getan wurde, was jedem einleuchten muss. Setzt das Gericht eine angemessene Frist und lässt der Beteiligte diese ohne hinreichenden Grund verstreichen, beruht dies auf Nachlässigkeit (Keller, a.a.O., § 109 SGG Rn. 11). Die 5 Wochen Zahlungsziel waren ausreichend bemessen. Regelmäßig ist eine Frist von 4 Wochen angemessen und muss der Antragsteller erforderlichenfalls Fristverlängerung beantragen (Keller, a.a.O., § 109 Rn. 13). Die Prozessbevollmächtigten der Klägerin haben demgegenüber zu keiner Zeit zum Ausdruck gebracht, dass diese Zeit nicht ausreichend sei und erst auf die Erinnerung vom 23.08.2021 reagiert; allerdings nicht mit einer wenigstens zeitnahen Einzahlung des Vorschusses, sondern mit dem Hinweis, die Kostenverpflichtungserklärung nicht erhalten zu haben. Man werde die Versicherung noch heute darum bitten, den angeforderten Kostenvorschuss zu überweisen. Die Prozessbevollmächtigten der Klägerin haben somit selbst eingeräumt, eine fristgerechte Einzahlung des Kostenvorschusses versäumt zu haben. Sie haben auch keine Gründe genannt, welche das Versäumnis entschuldigen könnten.

Eine Rechtfertigung des Fristversäumnisses können die Prozessbevollmächtigten der Klägerin insbesondere nicht daraus herleiten, dass der Verfügung des Berichterstatters vom 01.06.2021 nicht der Vordruck für die gleichfalls innerhalb derselben Frist angeforderte Kostenverpflichtungserklärung beigefügt war. In der Verfügung ist unmissverständlich zum Ausdruck gebracht worden, dass auch der Kostenvorschuss bis zum 06.07.2021 einzuzahlen ist. Dabei konnte aufgrund der Formulierung kein Zweifel bestehen, dass die Voraussetzungen für die Einholung des Gutachtens (fristgerechter Antrag, fristgerechte Einzahlung des Kostenvorschusses, fristgerechte Übersendung der Kostenverpflichtungserklärung) kumulativ und nicht etwa alternativ bestehen. Zumindest bei einem rechtskundig vertretenen Beteiligten, wie hier der Klägerin, kann im Übrigen erwartet werden, dass bei etwaigen Zweifeln beim Gericht hinsichtlich der Kostenverpflichtungserklärung nachgefragt wird. Wenn die Prozessbevollmächtigten stattdessen die Frist auch für die Einzahlung des Kostenvorschusses verstreichen lassen, dann beruht dies auf grober Nachlässigkeit. Dass die Prozessbeteiligten die (isolierte) Notwendigkeit einer fristgerechten Einzahlung des Kostenvorschusses erkannt haben, belegt im Übrigen auch deren Stellungnahme vom 25.08.2021, in welcher angekündigt wurde, die Rechtsschutzversicherung noch am selben Tag um Einzahlung des Kostenvorschusses zu ersuchen. Auch hat der Berichterstatter die Anforderung einer fristgerechten Übersendung der Kostenverpflichtungserklärung, auf deren nicht fristgerechte Übersendung nach herrschender Meinung ohnedies keine Ablehnung eines Antrags gemäß § 109 Abs. 2 SGG gestützt werden kann, in der Verfügung vom 01.09.2021 nicht mehr aufrechterhalten. Soweit dann auch nach dem 25.08.2021 keine Einzahlung des Kostenvorschusses erfolgt ist, sondern dieser erst am 30.09.2021 dem angegebenen Konto bei der Landesoberkasse gutgeschrieben worden ist, kann dies deshalb von vornherein nicht mehr ursächlich auf der ursprünglichen Anforderung auch der Kostenverpflichtungserklärung beruht haben. Aus demselben Grund kann auch eine – nach Auffassung der Prozessbevollmächtigten der Klägerin gebotene – frühzeitigere Erinnerung an die Einzahlung des Kostenvorschusses von vornherein nicht ursächlich sein. Eine solche Erinnerung ist aber ohnehin, jedenfalls bei einem rechtskundig vertretenen Beteiligten, nicht geboten und kann deshalb eine verspätete Antragstellung nicht entschuldigen. Die Fristsetzung in der Verfügung vom 01.06.2021 war klar, eindeutig und aufgrund der entsprechende Gestaltung des Schriftbildes (Fettdruck sowohl der Frist wie auch des zu überweisenden Betrags) nicht zu übersehen. Wie bei sonstigen gerichtlichen Fristen kann auch im Falle einer Fristsetzung nach § 109 SGG erwartet werden, dass die Prozessbevollmächtigten bei Anwendung der gehörigen Sorgfalt, insbesondere durch entsprechende Organisation ihrer Büroorganisation, solche Fristen wahren.

Nach alledem war die Berufung zurückzuweisen.

Die Kostenentscheidung beruht auf § 193 Abs. 1 Satz 1 SGG.

Die Revision ist nicht zuzulassen, da keiner der Gründe des § 160 Abs. 2 Nr. 1 und 2 SGG gegeben ist.

Rechtskraft
Aus
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