Auf die Berufung des Beklagten wird das Urteil des Sozialgerichts Ulm vom 19. Juli 2021 abgeändert und die Klage vollumfänglich abgewiesen.
Die Anschlussberufung der Klägerin wird zurückgewiesen.
Außergerichtliche Kosten sind in beiden Instanzen nicht zu erstatten.
Tatbestand
Zwischen den Beteiligten ist die Feststellung der gesundheitlichen Voraussetzungen für die Inanspruchnahme der Merkzeichen „aG“ (außergewöhnliche Gehbehinderung) und „RF“ (Rundfunkgebührenermäßigung) umstritten.
Die Klägerin ist am 4. März 1943 geboren, hat keinen Beruf erlernt und war als Helferin in einer Käserei beschäftigt. Seit 2008 steht sie im Rentenbezug. Sie ist verwitwet, hat vier in den 70er- Jahren geborene Kinder und lebt im Wohneigentum (vgl. Anamnese R).
Am 15. Februar 2017 beantragte sie bei dem Landratsamt B (LRA) erstmals die Feststellung des Grades der Behinderung (GdB) und legte hierzu Befundberichte vor. Der H beschrieb eine Distorsion D1 der linken Hand im Grundgelenk, die betroffene Extremität sei mit einer Orthese ruhiggestellt worden. A, Schwerpunktpraxis Rheumatologie, gab eine schmerzhaft eingeschränkte Rechtsrotation der Halswirbelsäule (HWS) an. An den Kniegelenken habe sich eine anteromediale Instabilität und ein Druckschmerz über dem medialen Gelenkspalt gefunden. Es seien Chirotherapie für die HWS und die Brustwirbelsäule (BWS) sowie Kniebandagen zur muskulären Stabilisierung verordnet worden.
Der N befundete bei der ambulanten Untersuchung am 3. Januar 2011 keine Hirnnervenparese sowie keine manifeste oder latente Parese im Bereich der Arme. In der Kernspintomographie (MRT) des Schädels habe eine frische Ischämie ausgeschlossen werden können.
Die MRT der HWS (R1) vom 31. Januar 2017 zeigte fortgeschrittene Facetten- und Bandscheibenschäden der HWS im Sinne von Osteochondrosen. Mäßige radikuläre Kompressionen von C4 bis C7 seien denkbar.
Das LRA zog Behandlungsunterlagen des W bei, der unter anderem den Bericht des K vorlegte, wonach sich bei der ambulanten Untersuchung am 10. Februar 2017 ein unauffälliges Gangbild zeigte und sich ein unauffälliger Lokalbefund ohne Bewegungseinschränkung der HWS ergab. Weiterhin wurde die ohrenärztliche Verordnung einer Hörhilfe vorgelegt.
P sah versorgungsärztlich einen Teil-GdB von 30 für den operierten Bandscheibenschaden, die Funktionsbehinderung der Wirbelsäule, degenerative Veränderungen der Wirbelsäule und eine Spinalkanalstenose. Die Schwerhörigkeit links führe zu einem Teil-GdB von 10, sodass der Gesamt-GdB mit 30 einzuschätzen sei. Ortsübliche Wegstrecken könnten zurückgelegt, öffentliche Verkehrsmittel ohne regelmäßige Hilfe benutzt werden. Die Gehfähigkeit sei nicht auf das Schwerste eingeschränkt.
Mit Bescheid vom 15. Mai 2017 stellte das LRA einen GdB von 30 seit dem 15. Februar 2017 fest und lehnte die Feststellungen der gesundheitlichen Voraussetzungen für die Feststellung von Merkzeichen ab.
Gegen den Bescheid erhob die Klägerin Widerspruch und legte die Kostenübernahmezusage der Krankenkasse (AOK) für einen Rollstuhl sowie den Befundbericht des S1 über die ambulante Untersuchung vom 1. Juni 2017 vor. Dieser beschrieb, dass sich die Situation nicht verändert, eher noch etwas verstärkt habe. Die Klägerin sei auch für kurze Strecken auf einen Rollator angewiesen und müsse oft auch einen Rollstuhl benutzen. Auf jeden Fall sei die Hilfe von Familienangehörigen notwendig, sodass die starke Einschränkung der Mobilität jetzt zunehmend zum Problem werde. Es sei daher befürwortet worden, dass die Klägerin dauerhaft einen Rollstuhl bekomme.
Das LRA erhob den Befundschein des W, der ein multilokal degeneratives LWS-Syndrom mit Spinalkanalstenose im Bereich der HWS und Lendenwirbelsäule (LWS) mit Gangkoordinationsstörungen beschrieb, sodass die Klägerin auch am Rollator nur schwer mobilisierbar sei. Die Situation habe sich in den letzten Monaten verschärft. Sie sei nunmehr auch für kurze Strecken auf den Rollator angewiesen sei. Der Orthopäde habe die Verordnung eines Rollstuhls befürwortet.
P empfahl versorgungsärztlich eine Teil-Abhilfe. Der Wirbelsäulenschaden sei höher zu bewerten und der Gesamt-GdB mit 70 anzunehmen. Die Gehfähigkeit sei nicht auf das Schwerste eingeschränkt, die Teilnahme an öffentlichen Veranstaltungen in nennenswertem Umfang zumutbar. Mit Teil-Abhilfebescheid vom 7. September 2017 stellte das LRA einen GdB von 70 seit dem 15. Februar 2017 sowie die gesundheitlichen Voraussetzungen für die Inanspruchnahme der Merkzeichen „G“ (erhebliche Beeinträchtigung der Bewegungsfähigkeit im Straßenverkehr) und „B“ (ständige Begleitung) fest. Die Feststellung der gesundheitlichen Voraussetzungen für die Inanspruchnahme der Merkzeichen „aG“ und „RF“ wurde abgelehnt.
Den Widerspruch im Übrigen wies das Regierungspräsidium S – Landesversorgungsamt – mit Widerspruchsbescheid vom 21. November 2017 zurück. Der GdB sei mit 70 zu bewerten gewesen, eine außergewöhnliche Gehbehinderung liege nicht vor. Eine mobilitätsbezogene Teilhabebeeinträchtigung mit einem GdB von mindestens 80 bestehe nicht, die Grundvoraussetzungen für die Zuerkennung des Merkzeichens „aG“ seien deshalb nicht gegeben. Das Merkzeichen „RF“ könne unabhängig vom Vorliegen der übrigen gesundheitlichen Voraussetzungen nicht festgestellt werden, da der GdB weniger als 80 betrage.
Am 11. Dezember 2017 hat die Klägerin Klage beim Sozialgericht Ulm (SG) erhoben, die Feststellung der gesundheitlichen Voraussetzungen für die Inanspruchnahme der Merkzeichen „aG“ und „RF“ beansprucht und ein Attest des S1 vom 15. Dezember 2017 vorgelegt. Danach sei eine zunehmende Störung der Gehmöglichkeit gegeben, sodass es für dringend notwendig erachtet werde, dass die Klägerin dauerhaft auf einen Rollstuhl angewiesen sei.
Zur weiteren Sachaufklärung hat das SG die sachverständige Zeugenauskunft des S1 erhoben, der bekundet hat, die Klägerin seit dem 30. Januar 2017 zu behandeln. Es bestehe eine ausgeprägte degenerative Veränderung der HWS und der LWS, ein Zustand nach Bandscheibenvorfall, ein Zustand nach Wirbelfraktur mit Kyphoplastie, ein stark ausgeprägter Fersensporn und eine durch unklare Ursache bestehende Gangstörung. Aus den Diagnosen ergäbe sich vor allem die ausgeprägte Gangstörung, die dazu führe, dass die Klägerin glaubhaft und wie dies wiederholt vorgeführt worden sei, nur wenige Meter unter Zuhilfenahme von ein bis zwei Helfern zurücklegen könne, ansonsten sei sie an den Rollstuhl gefesselt. Die Gangstörung sei sehr schwer, das degenerative HWS/LWS-Syndrom mit Spinalkanalstenose mittelschwer, der Fersensporn sowie der Bandscheibenvorfall mittelschwer. Die durchgeführten MRT der HWS und BWS erklärten und untermauerten die Beschwerden. Die MRT der HWS/BWS vom 10. Januar 2018 (K1) zeige ausgeprägte degenerative Wirbelsäulenveränderungen bei Steilstellung der HWS im Liegen. Daneben bestehe eine mehrsegmental mäßiggradige neuroforaminale Einengung der HWS, konstant zur Voruntersuchung. Die Teilnahme an öffentlichen Veranstaltungen sei im Rollstuhl mit Begleitung möglich. Ergänzend hat der sachverständige Zeuge seine Befundberichte vorgelegt. Im Befundbericht vom 14. März 2018 hat er ausgeführt, dass sich die Situation massiv verstärkt habe, sodass die Klägerin auch für kurze Strecken einen Rollator verwende und oft einen Rollstuhl benutzen müsse.
Der W hat eine Bewegungseinschränkung der HWS, eine schmerzbedingte Bewegungsstörung auf Grund der Fersensporne, ein Schmerzsyndrom, eine Gonarthrose und eine Hörminderung beschrieben. Der Gesundheitszustand habe sich seit Februar 2017 weiter verschlechtert, es bestehe eine deutliche Einschränkung in der Mobilität, weswegen bereits das Nutzen eines Rollstuhls vom Orthopäden empfohlen worden sei. Eine Gehstrecke von 2 km sei nicht möglich. Beim Gehen sei die Klägerin auf fremde Hilfe angewiesen, sie benötige einen Rollator oder einen Rollstuhl. Die genaue Meterzahl der Gehstrecke sei nicht untersucht worden. An öffentlichen Veranstaltungen könne die Klägerin teilnehmen.
Der B1 hat versorgungsärztlich den Teil-GdB von 70 als äußerst wohlwollend eingeschätzt. Dieser entspräche dem Verlust eines Beines im Oberschenkel oder besonders schweren Auswirkungen von Wirbelsäulenschäden, vergleichbare Befunde bestünden bei der Klägerin nicht. Erst recht ergebe sich kein GdB von 80, sodass die Grundvoraussetzungen für die Zuerkennung des Merkzeichens „aG“ und auch des Merkzeichens „RF“ nicht erfüllt seien. Bezüglich „RF“ sei noch darauf hinzuweisen, dass die Klägerin nicht von Veranstaltungen jedweder Art ausgeschlossen sei. Sie könne zum Beispiel im Sitzen im Freien an Pfarrfesten, an der Kirmes, an Sportveranstaltungen usw. teilnehmen.
Weiter hat die Klägerin den Befundbericht des K2 nach ambulanter Untersuchung vom 20. September 2018 vorgelegt, wonach sich ein überwiegend seitengleiches Muskeleigenreflexverhalten bei Schonhaltung der HWS mit endgradig limitierter Funktion und ausgeprägter muskulärer Dysbalance entlang der HWS und entsprechendem Druckschmerz der unteren HWS gezeigt habe. Die Klägerin sei aufgrund der Wirbelsäulenerkrankung, der Fußschmerzen beidseits und der allgemeinen Schwäche dauerhaft bis auf weiteres auf einen Rollstuhl angewiesen.
W1 hat versorgungsärztlich an der bisherigen Einschätzung festgehalten, da keine detaillierten Funktionsparameter von Seiten der Wirbelsäule mitgeteilt worden seien. Die angegebenen Bewegungsmaße der Hüft-, Knie- und Sprunggelenke seien jeweils nur geringgradig und trügen in keiner Weise zu einer außergewöhnlichen Gehbehinderung bei. Sofern K2 ausführe, dass die Klägerin dauerhaft bis auf weiteres auf einen Rollstuhl angewiesen sei, so sei dies nach Lage der Akten nicht nachzuvollziehen. Weiter sei nicht erkennbar, weshalb es ihr nicht möglich sein sollte, mit einer Begleitperson in zumutbarer Weise an öffentlichen Veranstaltungen teilzunehmen.
Daraufhin hat das SG das orthopädische Sachverständigengutachten des J aufgrund ambulanter Untersuchung vom 2. Mai 2019 erhoben, der zu dem Ergebnis gekommen ist, dass die Voraussetzung für das Merkzeichen „aG“ nicht erfüllt seien. Diesem gegenüber hat die Klägerin bestätigt, wegen der Bewegungseinschränkung zunehmend auf einen Rollator angewiesen zu sein. Sie könne nur sehr kurze Strecken von 20 bis 30 Metern zurücklegen, konkrete Angaben über die Bewegung in der Wohnung seien nicht gemacht worden. Öffentliche Verkehrsmittel benutze sie nicht. Sie habe am Rollator in Begleitung ihres Sohnes den Untersuchungsraum betreten. Die Beweglichkeit der Kniegelenke habe rechts bei 0-0-120°, links bei 5-0-120° gelegen. Bei beidseitiger Kapselschwellung habe sich kein Gelenkerguss gezeigt. Im Bereich der Wirbelsäule habe keine skoliotische Fehlhaltung bestanden, aber eine vermehrte Lordose der LWS mit kompensatorisch verstärkter BWS-Kyphose und daraus resultierender verstärkter HWS-Lordose. Die Rotation der HWS sei beidseits mit 20° möglich gewesen. An der BWS sei die Beweglichkeit bei guter Atemexkursion eingeschränkt gewesen. An der LWS hätten Schmerzen sowohl beim Vorbeugen als auch bei der Reklination bestanden, eine Lumboischialgie sei nicht angegeben worden. Die Reflexe seien auf beiden Seiten nicht sicher erhältlich. Es lägen keine seitendifferenten Kennmuskel vor. Im Bereich der Schultergelenke bestehe beidseits eine Beweglichkeit für Flexion/Extension von 130-0-10° und Innen-/Außenrotation von 60-0-60°. Die Armhebung sei mit 120° beidseits möglich gewesen. Am Ellenbogengelenk bestehe eine freie Beugung und Streckung. Die Klägerin sei durch die Gonarthrose sowie die Funktionseinschränkungen der LWS, BWS und HWS in ihrer Gehfähigkeit deutlich beeinträchtigt. Die bisherige Einstufung des GdB betrage 70. Der GdB berücksichtige nicht nur die orthopädischen Funktionsbeeinträchtigungen, sondern auch die Nebendiagnosen. Eine solche Einschränkung sei vergleichbar mit einem Menschen, der langstreckige Versteifungsoperationen der Wirbelsäule durchgemacht haben. Daneben sei die Beeinträchtigung vergleichbar mit einem Menschen, der eine Oberschenkelamputation durchgemacht habe. Die Bewegungseinschränkung und die Minderung der Gehfähigkeit bei der Klägerin überstiegen das genannte Maß nicht. Daneben sei die Einstufung mit dem Kennzeichen „aG“ formal an das Vorliegen einer MdE von 80 gebunden, sodass das Merkzeichen nicht festgestellt werden könne. Die zu bewältigende Wegstrecke werde auf 200 Meter geschätzt. Die in den Unterlagen angegebenen Probleme eines Fersensporns bzw. einer operativen Maßnahme an der Wirbelsäule ließen sich durch keine bildgebende Diagnostik oder vorliegende Dokumente belegen. Es sei sicher unstrittig, dass die Klägerin in ihrer Gehfähigkeit deutlich einschränkt sei. Mit Hilfe des Rollators sei sie aber noch in der Lage, Wegstrecken zu bewältigen. Die Voraussetzungen die dem Merkzeichen „aG“ zu Grunde lägen, bestünden nicht.
Im Termin zur mündlichen Verhandlung vom 9. Oktober 2019 hat das SG die Klägerin und ihren Sohn persönlich angehört (vgl. Protokoll vom gleichen Tag). Dabei ist erstmals angegeben worden, dass sie zur Untersuchung bei J nicht mit dem Rollator, sondern auch im Rollstuhl erschienen sei. Ihr Sohn hat angegeben, dass der Sachverständige zu Unrecht ausführe, dass seine Mutter einen Gehstock habe. Richtig sei, dass er einen Gehstock benutze. Ihm selbst sei das Merkzeichen „aG“ ebenfalls zuerkannt. Das SG hat sodann die mündliche Verhandlung zur Durchführung weiterer Ermittlungen vertagt.
Nach zwei nicht wahrgenommenen Begutachtungsterminen hat der Sachverständige R die Klägerin am 22. Juli 2020 ambulant untersucht und in seinem orthopädisch-unfallchirurgischen Sachverständigengutachten die Voraussetzungen des Merkzeichens „aG“ nunmehr als erfüllt angesehen. Die Durchblutung von Haut und Schleimhäuten sei normal und rosig gewesen. Eine Atemnot bei leichter Belastung habe nicht bestanden. Das Aus- und Ankleiden sei nur mit Hilfe durch den Sohn gelungen. Die Klägerin habe im Rollstuhl gesessen und könne nur durch Dritte mobilisiert werden. Sie werde durch ihre Tochter versorgt, morgens aus dem Bett in den Rollstuhl gehoben, dann abends wieder zurück ins Bett gebracht. Geduscht werde im Sitzen mittels Drehduschstuhl durch die Angehörigen. Gehen und Stehen sei ihr allein nicht mehr möglich. Die Nahrungsaufnahme erfolge selbstständig, eine normale Untersuchung der Klägerin sei nicht möglich gewesen, es habe kein ordentlicher orthopädischer Befund erhoben werden können. Die Bewertung erfolge aufgrund der eingereichten Röntgenbilder. Die Hände seien arthrotisch verändert, die Finger könnten nicht komplett gestreckt werden, aber auch die Flexion (Faustschluss) sei nicht komplett möglich. Im Stand müsse sie sich nach vorne gebückt abstützen. Sie deute auf den linken Gluteus hin, der Schmerzen bereite. Bei mittlerem Beklopfen der Wirbelsäule habe kein nennenswerter Schmerz ausgelöst werden können. Die Beine könnten im Stand nicht durchgedrückt werden, die Klägerin müsse sich nach kurzer Zeit wieder hinsetzen. Die Rotation der HWS sei rechts/links auf 45-0-45° limitiert, eine Untersuchung der unteren Extremitäten nicht möglich gewesen. Das Anheben beider Arme sei nur bis 50° Abduktion und Elevation gelungen. Beim passiven Durchbewegen habe sich keine Krepitation, jedoch ein Druckschmerz an den Ansätzen der Rotatorenmanschette beidseits gezeigt. Die Ellenbogen hätten beidseits nicht aktiv und passiv voll gestreckt werden können (20° Defizit) bei freier und voller Flexion aktiv und passiv. Eine aussagekräftige neurologische Untersuchung sei nicht möglich gewesen, die Klägerin habe mehrfach erwähnt sterben zu wollen. Eine grob neurologische Untersuchung habe keine Defizite gezeigt, die Sensibilität habe aufgrund des fehlenden Verständnisses und der fehlenden Sprachbeherrschung nicht aussagekräftig eruiert werden können. Die Erkrankungen hätten mittlerweile zu einer nahezu kompletten Immobilisation der Klägerin geführt. Auch wenn die körperlichen, orthopädischen Leiden eine gewichtige Rolle spielten, so sei die Gesamtkonstitution multifaktorell. Der Tod des Ehemanns habe wohl zum deutlichen Fortschreiten der Depression geführt. Die Klägerin sei nachvollziehbar alleinig nicht mobilisierbar gewesen, nur mit Hilfe des Sohnes sei ein Aufstehen in den gebückten Stand unter Festhalten am Tisch möglich. Inwieweit eine Simulation oder Aggravation vorgetäuscht worden sei, könne nicht abschließend beurteilt werden. Die Degenerationen der LWS seien mit einem GdB von 20, die mehrsegmentalen degenerativen Veränderungen der HWS mit einem GdB von 20, die beidseitigen Gonarthrosen mit Retropatellararthrosen mit einem GdB von 30, das subacromiale Impignement links mit einem GdB von 10 und das chronische Schmerzsyndrom mit einem GdB von 30 zu bewerten. Auf rein orthopädischem Fachgebiet betrage der Gesamt-GdB 80, sicherlich spielten die internistischen, HNO- und psychischen Aspekte/Erkrankungen auch eine nicht unwesentliche Rolle, die er fachfremd nicht beurteilen könne. Verglichen zu der Begutachtung bei J im Mai 2019, zu der sie zunehmend auf einen Rollator angewiesen gewesen sei, sei sie nunmehr im Rollstuhl immobilisiert. Ein Aufstehen sei alleine nicht möglich, an ein Herumgehen im Untersuchungszimmer nicht zu denken gewesen. Ein konkreter Zeitpunkt zu dem die Immobilisation eingetreten sei, könne nicht festgelegt werden. Die Ausführungen von S1 und W seien nachvollziehbar, die des B1 hingegen nicht. Dieser habe die Klägerin offensichtlich nicht selbst gesehen und stütze sich nur auf die Arztberichte. Die Ausführungen des J seien unter den erhobenen Befunden und unter Betrachtung der gesamten Unterlagen nachvollziehbar. Dennoch sei eine deutliche Diskrepanz zu dem erhobenen Befund 05/2019 und den nunmehr erhobenen Befunden zu sehen, die eine Verschlechterung begründeten. Einen wesentlichen Aspekt spiele die Psyche, die sicherlich auch lähme. Der GdB betrage unzweifelhaft 100. Ergänzend hat er neben bereits aktenkundigen Befunden die Befundberichte der Radiologischen Praxis N/F über die MRT der HWS und LWS vom 12. Juni 2019 abgedruckt.
B3 ist dem Sachverständigengutachten versorgungsärztlich entgegengetreten. Die reine Bewertung von Röntgenbildern und die Tatsache, dass jemand mit Hilfe Dritter aus dem Rollstuhl mobilisiert werden müsse, führe nicht automatisch zu den Voraussetzungen für das Merkzeichen „aG“. Auch die Gesamt-GdB-Bildung auf orthopädischem Gebiet mit einem GdB von 80 sei aufgrund der Teil-GdB nicht schlüssig. Er ergäbe sich aufgrund dieser Teil-GdB weder ein Gesamt-GdB von 80, noch ließen die Teil-GdB, die sich auf das Gehvermögen auswirkten, auf eine derart schwere Behinderung schließen, dass die Voraussetzungen für das Merkzeichen „aG“ erfüllt seien. Ein aktuelles Pflegegutachten läge nicht vor, aus den bislang vorliegenden Unterlagen ergäbe sich kein derart ausgeprägter Befund, als dass eine absolute Rollstuhlpflicht begründbar sei. Auch fänden sich keine aktuellen Befunde bezüglich der ausgeprägten Depressionen. Eine fachärztliche Behandlung finde nicht statt. Auf HNO-ärztlichem Gebiet liege ein Tonaudiogramm vom 28. Januar 2018 ohne Diagnose vor, ein Sprachaudiogramm fehle. Verlaufsbefunde seien nicht aktenkundig, sodass die die Voraussetzungen für das Merkzeichen „RF“ ebenfalls nicht vorlägen.
Auf Nachfrage des SG hat die Klägerin mitgeteilt, dass keine Pflegebegutachtung stattgefunden habe und keine Pflegeleistungen bezogen würden. Die Pflege erfolge durch die Kinder.
Mit Urteil ohne mündliche Verhandlung vom 19. Juli 2021 hat das SG den Bescheid vom 15. Mai 2017 in der Fassung des Teilabhilfebescheides vom 7. September 2017 in der Gestalt des Widerspruchsbescheides vom 21. November 2017 abgeändert und den Beklagten verpflichtet, die gesundheitlichen Voraussetzungen für die Inanspruchnahme des Merkzeichens „aG“ ab dem 22. Juli 2020 festzustellen. Im Übrigen hat es die Klage abgewiesen. Zur Begründung hat es ausgeführt, dass die Klägerin an einer beidseitigen Gonarthrose mit Retropatallarthrose, Osteochondrosen der LWS, BWS und HWS, einer Spinalkanalstenose der HWS, einer beidseitigen Rhizarthrose und an einem chronischen Schmerzsyndrom leide, welches mit starken Schmerzmitteln behandelt werde. Zusätzlich befinde sich die Klägerin in einem adipösen Ernährungszustand, was ihre Bewegungsfähigkeit zusätzlich einschränke. Sie sei aufgrund der Gonarthrose sowie der Funktionseinschränkungen der LWS, der HWS und der BWS in ihrer Gehfähigkeit deutlich beeinträchtigt. Nach den Ausführungen von R sei sie nachvollziehbar nicht alleinig mobilisierbar gewesen, dass Stehen am Tisch nur im gebückten Stand unter Festhalten am Tisch möglich. Sie sei zur Untersuchung im Rollstuhl erschienen und ein Umhergehen im Untersuchungszimmer nicht möglich gewesen. Diese mobilitätsbezogene Teilhabebeeinträchtigung entspräche einem GdB von mindestens 80. Die Beeinträchtigung sei vergleichbar mit Wirbelsäulenschäden bei schwerster Belastungsinsuffizienz, die bis zur Geh- und Stehunfähigkeit führten. Dabei seien zusätzlich die Kniescheibenbeschwerden und das chronische Schmerzsyndrom zu berücksichtigen. Sowohl R als auch die behandelnden Ärzte, die schriftlich als sachverständige Zeuge vernommen worden seien, bestätigten, dass die Klägerin überwiegend nur noch mit einem Rollstuhl bewegt werden könne. S1 habe bereits in der Auskunft vom 12. März 2018 angegeben, dass bei der Klägerin eine ausgeprägte Gangstörung bestehe und sie wenige Meter nur unter Zuhilfenahme von ein bis zwei Helfern bewältigen könne, ansonsten nur im Rollstuhl bewegt werde. Auch W beschreibe, dass die Klägerin nur eine sehr eingeschränkte Wegstrecke zurücklegen könne und ansonsten mit dem Rollstuhl bewegt werden müsse. Die Voraussetzungen für die Feststellung der gesundheitlichen Voraussetzungen des Merkzeichens „RF“ lägen nicht vor, da der Klägerin die Teilnahme an öffentlichen Veranstaltungen nicht ständig unmöglich sei. Sie sei mit dem Rollstuhl und einer Begleitperson hinreichend mobil, um an öffentlichen Veranstaltungen teilnehmen zu können, wie sich sowohl aus der Auskunft von S1 vom 12. März 2018, als auch aus der Auskunft von W vom 11. April 2019 ergebe. Beide hielten eine Teilnahme an einer öffentlichen Veranstaltung mit Begleitung und im Rollstuhl für möglich.
Gegen das am 13. August 2021 zugestellte Urteil hat der Beklagte am 7. September 2021 Berufung beim Landessozialgericht Baden-Württemberg (LSG) eingelegt und auf die versorgungsärztliche Stellungnahme des W1 verwiesen. Danach ließen sich die Voraussetzungen eines mobilitätsbezogenen GdB von 80 nicht nachweislich ableiten. Weder von Seiten der unteren Extremitäten noch der Wirbelsäule seien entsprechend ausgeprägte Funktionseinschränkungen fassbar, als dass diese zu einem mobilitätsbedingten GdB von 80 führten. R beschreibe selbst, dass eine normale Untersuchung der Klägerin nicht möglich gewesen sei. Er habe keinen ordentlichen Befund erheben können und damit sei die Annahme einer außergewöhnlichen Gehbehinderung nur aufgrund der von der Klägerin demonstrierten Immobilität erfolgt, wonach sie im Rollstuhl sitze und nur durch Dritte mobilisiert werden könne. R gebe aber ausdrücklich an, dass nicht beurteilt werden könne, inwieweit eine Simulation oder Aggravation vorgelegen habe. Damit fehle es am Nachweis der Voraussetzungen für das Merkzeichen „aG“. Weiterhin sei die Höhe des GdB mit 70 im Klageverfahren nicht angegriffen worden und damit rechtskräftig. Hierüber habe das SG auch keine Entscheidung getroffen.
Der Beklagte beantragt,
das Urteil des Sozialgerichts Ulm vom 19. Juli 2021 abzuändern, die Klage vollumfänglich abzuweisen und die Anschlussberufung der Klägerin zurückzuweisen.
Die Klägerin beantragt, sinngemäß,
das Urteil des Sozialgerichts Ulm vom 19. Juli 2021 abzuändern, den Beklagten zu verpflichten, unter weiterer Abänderung des Bescheide vom 15. Mai 2017 in der Fassung des Teilabhilfebescheides vom 7. September 2017 in der Gestalt des Widerspruchsbescheides vom 7. September 2017 die gesundheitlichen Voraussetzungen für die Inanspruchnahme des Merkzeichens „aG“ bereits am dem 15. Februar 2017 sowie die gesundheitlichen Voraussetzungen für die Inanspruchnahme des Merkzeichens „RF“ ab dem 15. Februar 2017 festzustellen und die Berufung des Beklagten zurückzuweisen.
Sie macht geltend, die Feststellung der gesundheitlichen Voraussetzungen sowohl für das Merkzeichen „aG“ als auch für das Merkzeichen „RF“ jeweils ab Antragstellung beanspruchen zu können.
Hinsichtlich des weiteren Sach- und Streitstandes wird auf die Verwaltungs- und Gerichtsakte Bezug genommen.
Entscheidungsgründe
Der Senat konnte verhandeln und entscheiden, obwohl die Klägerin zum Termin zur mündlichen Verhandlung nicht erschienen ist, da mit der ordnungsgemäß zugestellten Ladung auf diese Möglichkeit hingewiesen worden ist (§ 110 Abs. 1 Satz 2 Sozialgerichtsgesetz [SGG]). Einen Antrag auf Terminverlegung hat die Klägerin nicht gestellt, vielmehr hat der Sohn lediglich mitgeteilt, zum Termin zur mündlichen Verhandlung nicht erscheinen zu können, aber telefonisch erreichbar zu sein (vgl. Aktenvermerk vom 18. November 2021).
Die form- und fristgerecht (§ 151 SGG) eingelegte Berufung des Beklagten ist statthaft (§§ 143, 144 SGG), auch im Übrigen zulässig und begründet. Die unselbstständige Anschlussberufung der Klägerin ist nach § 202 Satz 1 SGG i. V. m. § 524 ZPO statthaft (Keller in: Meyer-Ladewig/Keller/Leitherer/Schmidt, Kommentar zum SGG, 13. Aufl. 2020, § 143 Rz. 5), im Übrigen zulässig, insbesondere nicht fristgebunden, aber unbegründet.
Streitgegenstand des Berufungsverfahrens ist das Urteil des SG vom 19. Juli 2021, mit dem der Beklagte auf die kombinierte Anfechtungs- und Verpflichtungsklage (§ 54 Abs. 1 SGG) verpflichtet worden ist, unter Abänderung des Bescheides vom 15. Mai 2017 in der Fassung des Teil-Abhilfebescheides (§ 86 SGG) vom 7. September 2017 in der Gestalt des Widerspruchsbescheides (§ 95 SGG) vom 21. November 2017 die gesundheitlichen Voraussetzungen für die Inanspruchnahme des Merkzeichens „aG“ ab dem 22. Juli 2020 festzustellen sowie die Klage im Übrigen abgewiesen worden ist. Nachdem der Senat das Vorbringen der Klägerin unter Berücksichtigung des Meistbegünstigungsgrundsatzes als – unselbstständige – Anschlussberufung auslegt, mit der das Merkzeichen „aG“ ab einem früheren Zeitpunkt und das Merkzeichen „RF“ bereits ab Antragstellung begehrt wird, ist das Urteil des SG nicht teilweise rechtskräftig geworden, sondern vollumfänglich Gegenstand des Berufungsverfahrens. Hinsichtlich der Höhe des GdB ist bereits keine Klage erhoben worden, sodass der Bescheid bestandskräftig ist und das SG hierüber folgerichtig nicht entschieden hat. Maßgebender Zeitpunkt für die Beurteilung der Sach- und Rechtslage ist bei dieser Klageart grundsätzlich der Zeitpunkt der letzten mündlichen Verhandlung in den Tatsacheninstanzen (vgl. Bundessozialgericht [BSG], Urteil vom 2. September 2009 – B 6 KA 34/08 –, juris, Rz. 26; Keller in: Meyer-Ladewig/Keller/Leitherer/Schmidt, a. a. O., § 54 Rz. 34).
Die Begründetheit der Berufung und die Unbegründetheit der Anschlussberufung folgen aus der Unbegründetheit der Klage. Der Bescheid vom 15. Mai 2017 in der Fassung des Teil-Abhilfebescheides vom 7. September 2017 in der Gestalt des Widerspruchsbescheides vom 21. November 2017 ist rechtmäßig und verletzt die Klägerin nicht in ihren Rechten (§ 54 Abs. 1 Satz 2 SGG). Sie kann die Feststellung der gesundheitlichen Voraussetzungen für die Inanspruchnahme des Merkzeichens „aG“ insgesamt, somit auch nicht zu einem früheren Zeitpunkt, ebenso wenig beanspruchen wie die des Merkzeichens „RF“. Dies folgt für den Senat aus dem Sachverständigengutachten des J, der die gegenteiligen Einschätzungen der behandelnden Ärzte anhand der von ihm erhobenen Befunde überzeugend widerlegen konnte. Abweichende Befunde hat der Sachverständige R nicht objektivieren können, sodass seine Schlussfolgerungen schon auf keinen tragfähigen Anknüpfungstatsachen basieren und im Übrigen seine GdB-Einschätzung weder mit den rechtlichen Vorgaben korrespondiert noch einen mobilitätsbezogenen Teil-GdB von 80 rechtfertigt.
Anspruchsgrundlage für die begehrte Feststellung ist § 152 Abs. 4 Sozialgesetzbuch Neuntes Buch (SGB IX). Dieser bestimmt, dass wenn neben dem Vorliegen einer Behinderung weitere gesundheitliche Merkmale Voraussetzungen für die Inanspruchnahme von Nachteilsausgleichen sind, die zuständigen Behörden die erforderlichen Feststellungen im Verfahren nach Absatz 1 treffen. Zu diesen Merkmalen gehört das im Sinne des § 6 Abs. 1 Nr. 14 Straßenverkehrsgesetz (StVG) oder entsprechender straßenverkehrsrechtlicher Vorschriften in den Schwerbehindertenausweis einzutragende Merkzeichen „aG“ (§ 3 Abs. 1 Nr. 1 Schwerbehindertenausweisverordnung).
§ 229 Abs. 3 SGB IX enthält nunmehr die Legaldefinition des Nachteilsausgleichs „außergewöhnlich gehbehindert“, die zuvor aufgrund Artikel 3 Nr. 13 des Gesetzes zur Teilhabe und Selbstbestimmung von Menschen mit Behinderungen (Bundesteilhabegesetz vom 23. Dezember 2016) seit 30. Dezember 2016 in § 146 Abs. 3 SGB IX enthalten war. Nach § 229 Abs. 3 SGB IX sind schwerbehinderte Menschen mit außergewöhnlicher Gehbehinderung Personen mit einer erheblichen mobilitätsbezogenen Teilhabebeeinträchtigung, die einem Grad der Behinderung von mindestens 80 entspricht (Satz 1). Eine erhebliche mobilitätsbezogene Teilhabebeeinträchtigung liegt vor, wenn sich die schwerbehinderten Menschen wegen der Schwere ihrer Beeinträchtigung dauernd nur mit fremder Hilfe oder mit großer Anstrengung außerhalb ihres Kraftfahrzeuges bewegen können (Satz 2). Hierzu zählen insbesondere schwerbehinderte Menschen, die auf Grund der Beeinträchtigung der Gehfähigkeit und Fortbewegung – dauerhaft auch für sehr kurze Entfernungen – aus medizinischer Notwendigkeit auf die Verwendung eines Rollstuhls angewiesen sind (Satz 3). Verschiedenste Gesundheitsstörungen (insbesondere Störungen bewegungsbezogener, neuromuskulärer oder mentaler Funktionen, Störungen des kardiovaskulären oder Atmungssystems) können die Gehfähigkeit erheblich beeinträchtigen (Satz 4). Diese sind als außergewöhnliche Gehbehinderung anzusehen, wenn nach versorgungsärztlicher Feststellung die Auswirkung der Gesundheitsstörungen sowie deren Kombination auf die Gehfähigkeit dauerhaft so schwer ist, dass sie der unter Satz 1 genannten Beeinträchtigung gleichkommt (Satz 5).
Nach der Gesetzesbegründung (vgl. BT-Drucks. 18/9522 zu Nr. 13 [§146] S. 318) kann beispielsweise bei folgenden Beeinträchtigungen eine solche Schwere erreicht werden, dass eine erhebliche mobilitätsbezogene Teilhabebeeinträchtigung vorliegt: zentralnervösen, peripher-neurologischen oder neuromuskulär bedingten Gangstörungen mit der Unfähigkeit, ohne Unterstützung zu gehen, oder wenn eine dauerhafte Rollstuhlbenutzung erforderlich ist (insbesondere bei Querschnittlähmung, Multipler Sklerose, Amyotropher Lateralsklerose [ALS], Parkinsonerkrankung, Para- oder Tetraspastik in schwerer Ausprägung), einem Funktionsverlust beider Beine ab Oberschenkelhöhe oder einem Funktionsverlust eines Beines ab Oberschenkelhöhe ohne Möglichkeit der prothetischen oder orthetischen Versorgung (insbesondere bei Doppeloberschenkelamputierten und Hüftexartikulierten), schwerster Einschränkung der Herzleistungsfähigkeit (insbesondere bei Linksherzschwäche Stadium NYHA I), schwersten Gefäßerkrankungen [insbesondere bei arterieller Verschlusskrankheit Stadium IV), Krankheiten der Atmungsorgane mit nicht ausgleichbarer Einschränkung der Lungenfunktion schweren Grades und einer schwersten Beeinträchtigung bei metastasierendem Tumorleiden (mit starker Auszehrung und fortschreitendem Kräfteverfall).
§ 229 Abs. 3 SGB IX normiert mehrere (kumulative) Voraussetzungen: Zunächst muss bei dem Betroffenen eine mobilitätsbezogene Teilhabebeeinträchtigung bestehen; diese muss einem GdB von mindestens 80 entsprechen. Darüber hinaus muss die mobilitätsbezogene Teilhabebeeinträchtigung auch erheblich sein. Mit der Bezugnahme auf mobilitätsbezogene Teilhabebeeinträchtigungen wollte sich der Gesetzgeber von der Einengung auf orthopädische Gesundheitsstörungen lösen, so dass „keine Fallgestaltung von vornherein bevorzugt oder ausgeschlossen wird, auch nicht dem Anschein nach“ (BT-Drs. 18/9522, S. 318). Trotz dieser Ausweitung übernimmt die Neuregelung den bewährten Grundsatz, dass das Recht, Behindertenparkplätze zu benutzen, nur unter engen Voraussetzungen eingeräumt werden darf und verlangt daher auf der zweiten Prüfungsstufe einen – relativ hohen – GdB von wenigstens 80 für die mobilitätsbezogene Teilhabebeeinträchtigung (vgl. Senatsurteil vom 3. August 2017 – L 6 SB 3654/16 – n. v.; Vogl in: jurisPK-SGB XI, 3. Aufl. 2018, § 229 Rz. 32 ff.).
Nach diesen Maßstäben kann sich der Senat nicht vom Bestehen einer erheblichen mobilitätsbezogenen Teilhabebeeinträchtigung überzeugen, die einem GdB von 80 entspricht. Somit kommt es nicht entscheidungserheblich darauf an, dass der Beklagte bei der Klägerin bislang nur einen GdB von 70 festgestellt hat.
Im Bereich der unteren Extremitäten leidet die Klägerin unter einer beidseitigen Gonarthrose, wie der Senat dem Sachverständigengutachten des J entnimmt. Diese führt indessen zu keiner relevanten Bewegungseinschränkung, vielmehr ist von dem Sachverständigen eine Beweglichkeit des rechten Knies mit 0-0-120° und des linken Knies mit 5-0-120° befundet worden. Diese Befunde entsprechen denen des K2, dessen Bericht der Senat im Wege des Urkundsbeweises verwertet (§ 118 Abs. 1 SGG i. V. m. §§ 415 ff. Zivilprozessordnung [ZPO]). Dieser hat eine beidseitige Beweglichkeit von 0-5-130° angegeben. Es bestehen somit weitgehende Normalbefunde, die nach den VG, Teil B, Nr. 18.14 nicht einmal zur Annahme einer wenigstens geringgradigen Einschränkung der Beweglichkeit führen, die erst bei einer nur möglichen Streckung/Beugung von 0-0-90° beidseits mit einem GdB von 10 bis 20 anzunehmen wäre. Die objektivierte leichtgradige Einschränkung der Streckung bei im Wesentlichen freier Beugung rechtfertigt die Annahme einer relevanten Bewegungseinschränkung nicht. Daneben hat J zwar eine Kapselschwellung beschrieben, einen Gelenkerguss aber beidseits nicht sichern können. Anhaltspunkte für anhaltende Reizerscheinungen, die eine gesonderte Bewertung der Knorpelschäden nach den VG, Teil B, Nr. 18.14 rechtfertigen könnte, sind daher keine gegeben. Vielmehr ist bei der Klägerin die Streckung nur minimal eingeschränkt und die Beugung zeigt annähernde Normalmaße.
Weiterhin haben J und K2 normale Beweglichkeiten an den Hüften und Sprunggelenken befundet. Soweit in den Befundberichten auf einen Fersensporn beidseits verwiesen wird, hat der Sachverständige J überzeugend dargelegt, dass sich für daraus resultierende Funktionseinschränkungen kein Anhalt ergab. Abweichendes hat R, der nach eigenem Bekunden keinen ordentlichen orthopädischen Befund erhoben hat, nicht beschrieben. Seinen spärlichen Befunden lässt sich aber immerhin entnehmen, dass die grob neurologische Untersuchung keine Defizite zeigte.
An der Wirbelsäule beschreibt J Osteochondrosen der LWS, BWS und HWS und gibt an letzterer Spinalkanalstenosen an. Er hat einen Linksüberhang ohne skoliotische Fehlhaltung befundet sowie eine vermehrte Lordose der LWS mit kompensatorisch verstärkter BWS-Kyphose und einer daraus resultierenden verstärkten HWS-Lordose. Passend hierzu beschreibt die MRT der HWS/BWS eine denkbare mäßige Kompression im Bereich der HWS und schließt einen Kompressionseffekt an der BWS aus. Die Beweglichkeit der HWS gibt J für die Rotation mit 20-0-20° an und beschreibt eine eingeschränkte Beweglichkeit der BWS mit guter Atemexkursion. An der LWS ist keine Lumboischialgie angegeben worden, Schmerzen wurden beim Vor- und Rückbeugen an der LWS geklagt.
Hinsichtlich der Spinalkanalstenose, die J als mittelgradig ohne Myelopathiesignal beschreibt, hat B1 versorgungsärztlich überzeugend herausgearbeitet, dass es einer absoluten Spinalkanalstenose der HWS bedarf, um relevante Ausfallerscheinungen an den unteren Gliedmaßen und damit bezogen auf die Mobilität zu begründen. Eine solche verneint er schlüssig, nachdem er die MRT dahin auswertet, dass sich im Bereich der HWS zwar ausgeprägte degenerative Veränderungen zeigten, aber nur mäßiggradige Einengungen der Zwischenwirbellöcher bestehen und keine Kompression des zervikalen Rückenmarks vorliegt. Korrespondierend hierzu hat der K in seinem Befundbericht über die ambulante Untersuchung vom 10. Februar 2017 bei mittels MRT beschriebener multisegmentalen degenerativen Veränderungen der HWS mit Spinalkanalstenose ein unauffälliges Gangbild mit auffälligem Druckschmerz der HWS ohne Bewegungseinschränkung der HWS beschrieben. Paresen oder Sensibilitätsstörungen zeigten sich nicht. Ebenso hat K2 nur eine endgradig limitierte Funktion und ausgeprägte Disbalance entlang der HWS befundet. Dass die von K2 befundendete Beweglichkeit keinen Rückschluss auf die Notwendigkeit zur Nutzung eines Rollstuhls ergibt, ist von W1 versorgungsärztlich überzeugend dargelegt worden. Eine relevante Befundverschlechterung ist insoweit nicht gegeben, nachdem die MRT der HWS vom 12. Juni 2019 keine aktivierte Osteochondrose bei Bandscheibenprotusionen mit ausreichend weiten Neuroforamina zeigte und auch an der BWS keine wesentliche neuroforaminale Enge bestand.
Auch wenn Bewegungseinschränkungen an der HWS allein keine mobilitätsbezogenen Einschränkungen begründen, ergibt sich aus dem Sachverständigengutachten des J eine Beweglichkeit der HWS mit 20-0-20°, während R diese mit 45-0-45° befundet und damit einen deutlich besseren Befund erhoben hat. Eine Verschlechterung wird dadurch klinisch gerade nicht belegt. Eine aufgehobene Rotationsfähigkeit der HWS besteht somit entgegen der Darlegungen des W ebenfalls nicht.
Wenn der S1 (Befundbericht über die ambulante Untersuchung vom 6. Februar 2017) selbst beschreibt, dass die Degenerationen an der HWS geeignet sind, eine Spinalkanalstenose zu verursachen, erfreulicherweise aber keine wesentliche Myelonkompression besteht, überzeugt es – insbesondere unter Berücksichtigung des neurochirurgischen Berichtes des K (vgl. oben) – nicht, wenn er in der Folge aus diesen Befunden eine stark eingeschränkte Mobilität herleitet, weswegen er die Verordnung eines Rollstuhls für erforderlich hält. Demgegenüber hat er in seiner sachverständigen Zeugenauskunft selbst eingeräumt, dass das degenerative HWS/LWS-Syndrom nur mittelschwer ist und die angenommene Gangstörung unklarer Genese sehr schwer sei und die Klägerin an den Rollstuhl fessele, was wiederum mit den Feststellungen des Sachverständigen J, der das Gehvermögen anhand der erhobenen Befunde auf 200 Meter eingeschätzt hat, nicht vereinbar ist.
Letztlich ergibt sich aus der MRT der LWS vom 12. Juni 2019 im Bereich der LWS weiterhin nur eine leichte neuroforaminale Einengung durch Bandscheibenprotusionen vor allem LWK3/4 rechts bei fehlender relevanter Einengung rechts, sodass eine Befundverschlechterung hier ebenfalls nicht zu erkennen ist. Passend hierzu hat R angegeben, dass bei mittlerem Beklopfen der Wirbelsäule keine nennenswerte Schmerzangabe erfolgte.
Die zu objektivierenden Befunde rechtfertigen die Zuerkennung des Merkzeichens somit weder nach geltendem Recht, noch aufgrund der vor 2018 geltenden Rechtslage.
Soweit die Klägerin erstmals im Termin zur mündlichen Verhandlung beim SG geltend gemacht hat, zu der Untersuchung bei J nicht mit dem Rollator, sondern im Rollstuhl sitzend erschienen zu sein, stellt dies die Richtigkeit des Sachverständigengutachtens nicht in Frage. Der Sachverständige hat seine Schlussfolgerung nämlich nicht tragend darauf gestützt, wie die Klägerin zu der Untersuchung erschienen ist, sondern hat diese aus seinen erhobenen medizinischen Befunden hergeleitet. Dass er dabei berücksichtigt hat, dass die Klägerin über einen Rollator als Hilfsmittel verfügt, steht seiner Einschätzung nicht entgegen und entspricht im Übrigen den Darlegungen des behandelnden S1, dass neben dem Rollstuhl ein Rollator genutzt wird. Dass die von J erhobenen Befunde die Schlussfolgerungen tragen und plausibel sind, ist von dem Sachverständigen R ausdrücklich bestätigt worden. Die für die Entscheidung in prozessualer und materieller Hinsicht wesentlichen Tatsachen sind daher durch das Sachverständigengutachten bereits festgestellt gewesen und bedurften deshalb keines weiteren Beweises (vgl. Keller in: Meyer-Ladewig/Keller/Leitherer/Schmidt, a. a. O., § 118 Rz. 7), sodass die Erhebung eines weiteren Sachverständigenbeweises – durch die Begutachtung R – schon nicht geboten gewesen ist.
Es kann somit dahinstehen, dass das SG zu Recht darauf hingewiesen hat, dass es nicht nachvollziehbar ist, weshalb die Klägerin den Umstand, nicht mit dem Rollator zur Untersuchung erschienen zu sein, erst gut ein halbes Jahr nachdem ihr das Sachverständigengutachten zur Kenntnis gegeben wurde, gerügt hat (vgl. zur Pflicht der Beteiligten, Einwendungen innerhalb eines angemessenen Zeitraums mitzuteilen: § 118 Abs. 1 Satz 1 SGG i. V. m. § 411 ZPO). Lediglich ergänzend ist darauf hinzuweisen, dass es überhaupt nicht glaubhaft ist, dass dem Sohn – nach seinen Angaben – das Merkzeichen „aG“ zuerkannt worden ist, wenn er nach eigenem Bekunden nur einen Gehstock benötigt, er aber trotzdem seine im Rollstuhl sitzende Mutter begleiten kann.
Weitere Funktionseinschränkungen, die sich auf die Mobilität auswirken könnten, sind nicht durch entsprechende ärztliche Befundberichte belegt und von der Klägerin letztlich nicht geltend gemacht worden. Soweit R auf Funktionseinschränkungen auf anderen Fachgebieten verweist, hat er hierzu weder einen eigenen Befund mitgeteilt noch Anknüpfungsbefunde benannt, die Rückschlüsse auf solche zulassen würden. Dies gilt insbesondere insofern, als er die Zunahme einer Depression beschreibt, da es hierfür an entsprechenden Befunden fehlt, wie B3 zu Recht bemängelt, sodass es sich um eine bloße Mutmaßung des Sachverständigen handelt.
Daneben lässt sich anhand der objektivierten Funktionseinschränkungen kein mobilitätsbezogener GdB von 80 bilden, wie B1 versorgungsärztlich überzeugend dargelegt hat. Soweit sich das SG zur Begründung seiner abweichenden Auffassung auf die Darlegungen des Sachverständigen R stützt, beachtet es nicht hinreichend, dass dieser gerade keine Funktionseinschränkungen objektiviert hat. Vielmehr ist er seiner zentralen Aufgabe als Sachverständiger, einen körperlichen Untersuchungsbefund zu erheben, nicht nachgekommen. Seine Schlussfolgerungen beruhen daher nicht auf objektivierten Befunden und können als Entscheidungsgrundlage nicht herangezogen werden. Unabhängig davon ergeben die von R mitgeteilten Teil-GdB keinesfalls einen orthopädischen bzw. mobilitätsbezogenen GdB von 80, worauf B3 zu Recht hinweist. Soweit R meint, die Bewertung der Wirbelsäulenfunktionseinschränkungen nur an den radiologischen Befundberichten ausrichten zu können, übersieht er, dass es auf den radiologischen Befund nach den Vorgaben der VG (vgl. VG, Teil B, Nr. 18.1) gerade nicht ankommt, sondern dieser nur zur Plausibilisierung heranzuziehen ist. Aus der nur eingeschränkten Rotationsfähigkeit der HWS allein lässt sich nicht auf mittelgradige Funktionseinschränkungen der HWS, entsprechend eines Teil-GdB von 20, schließen. Für den weiteren Teil-GdB von 20 für die LWS fehlt es an einem erhobenen Funktionsbefund, wobei aus beiden Befunden zusammen für die Wirbelsäule als Ganzes (im Funktionssystem „Rumpf“) damit kein höherer Teil-GdB als 30 zu bilden ist, der nicht vollumfänglich als mobilitätsbezogen angesehen werden kann, wie oben ausgeführt. Der für die Gonarthrose angenommene Teil-GdB von 30 kann von seinen Befunden schon deshalb nicht gestützt werden, da er dargelegt hat, keine Untersuchung der unteren Gliedmaßen durchgeführt zu haben. Dabei setzt er sich auch nicht damit auseinander, dass J die Kniebeweglichkeit mit 0-0-120° bzw. 5-0-120° befundet hat, was nach den VG, Teil B, Nr. 18.14 einer nicht einmal geringgradigen beidseitigen Bewegungseinschränkung (0-0-90°) entspricht, die mit einem Teil-GdB von 10 bis 20 zu bewerten wäre. Soweit er an die Knorpelschäden anknüpfen möchte, übersieht er, dass nach den VG Knorpelschäden nur bei anhaltenden Reizerscheinungen zu bewerten sind (vgl. VG, Teil B, Nr. 18.14), J einen Gelenkerguss aber gerade verneint und R einen solchen, mangels Untersuchung, nicht festgestellt hat (vgl. oben). Letztlich sieht R nicht, dass die Wirbelsäulenbeschwerden und das von ihm angenommene chronische Schmerzsyndrom Überschneidungen aufweisen, die bei der Gesamt-GdB-Bildung bzw. der Bildung des mobilitätsbezogenen GdB ebenfalls zu berücksichtigen sind und auch gegen einen mobilitätsbezogenen GdB von wenigstens 80 sprechen, wie von B3 versorgungsärztlich für den Senat überzeugend herausgearbeitet worden ist.
Lediglich ergänzend ist darauf hinzuweisen, dass die Ausführungen des R nicht dadurch an Überzeugungskraft gewinnen und das Sachverständigengutachten des J nicht in Frage stellen, dass er darauf hinweist, Simulation und Aggravation nicht abschließend ausschließen zu können, worauf W1 versorgungsärztlich zu Recht hingewiesen hat.
Letztlich erweisen sich die Ausführungen des R zu den Vorbefunden als unplausibel. Wenn er konstatiert, dass den Ausführungen der behandelnden Ärzte in ihren Einschätzungen zu folgen sei, die Befunde des J zu dessen Untersuchungszeitpunkt nachvollziehbar seien und sich eine Verschlechterung im Befund eingestellt habe, verkennt er – was auch das SG nicht berücksichtigt –, dass die Befunde der behandelnden Ärzte ausnahmslos vor der Untersuchung durch J erhoben worden sind und die Einschätzungen gerade nicht bestätigt haben. Weiter geht die Auffassung des R fehl, dass den Darlegungen des Versorgungsarztes B1 schon deshalb nicht gefolgt werden kann, weil dieser die Klägerin nicht selbst untersucht habe. Vielmehr hat der Versorgungsarzt – überzeugend – herausgearbeitet, dass und weshalb die bisherige Einschätzung des Teil-GdB anhand der dokumentierten Befunde übersetzt gewesen ist. Dabei hat er insbesondere die radiologischen Befunde ausgewertet und die Plausibilität zwischen den beschriebenen Einschränkungen und der Befunde geprüft.
Nachdem die Voraussetzungen für die Feststellung der gesundheitlichen Voraussetzungen für das Merkzeichen „aG“, entgegen der Auffassung des SG, zu keinem Zeitpunkt gegeben sind, kommt die von der Klägerin begehrte frühere Zuerkennung ebenfalls nicht in Betracht, sodass ihre Anschlussberufung unbegründet ist.
Auch die weitergehende Anschlussberufung auf Feststellung der gesundheitlichen Voraussetzungen für die Inanspruchnahme des Merkzeichens „RF“ ist unbegründet, das SG hat die Klage zu Recht im Übrigen abgewiesen.
Rechtsgrundlage für den von der Klägerin geltend gemachten Anspruch ist § 152 Abs. 4 SGB IX in der in der aktuellen, seit 1. Januar 2018 geltenden Fassung durch Art. 1 und 26 Abs. 1 des Gesetzes zur Stärkung der Teilhabe und Selbstbestimmung von Menschen mit Behinderungen (Bundesteilhabegesetz – BTHG) vom 23. Dezember 2016 (BGBl I S. 3234). Demnach treffen die für die Durchführung des Bundesversorgungsgesetzes (BVG) zuständigen Behörden, wenn neben dem Vorliegen der Behinderung weitere gesundheitliche Merkmale Voraussetzung für die Inanspruchnahme von Nachteilsausgleichen sind, die erforderlichen Feststellungen im Verfahren nach § 152 Abs. 1 SGB IX. Nach § 152 Abs. 5 SGB IX in Verbindung mit § 3 Abs. 1 Nr. 5 Schwerbehindertenausweisverordnung (SchwbAwV) ist in den Schwerbehindertenausweis auf der Rückseite das Merkzeichen „RF“ einzutragen, wenn der schwerbehinderte Mensch die landesrechtlich festgelegten Voraussetzungen für die Befreiung von der Rundfunkgebührenpflicht erfüllt.
Seit dem 1. Januar 2013 sind diese Voraussetzungen im RBStV vom 15. Dezember 2010 geregelt, der in Baden-Württemberg durch das Gesetz zum Fünfzehnten Rundfunkänderungsstaatsvertrag und zur Änderung medienrechtlicher Vorschriften vom 18. Oktober 2011 zum 1. Januar 2013 in Kraft gesetzt worden ist. Nach § 4 Abs. 2 RBStV wird bei gesundheitlichen Einschränkungen keine Befreiung von der Rundfunkgebührenpflicht mehr gewährt, es werden lediglich die Rundfunkbeiträge auf ein Drittel für die in § 4 Abs. 2 Nr. 1 bis 3 RBStV genannten natürlichen Personen ermäßigt. Die Voraussetzungen für die Beitragsermäßigung erfüllen (Nr. 1) blinde oder nicht nur vorübergehend wesentlich sehbehinderte Menschen mit einem GdB von wenigstens 60 allein wegen der Sehbehinderung, (Nr. 2) hörgeschädigte Menschen, die gehörlos sind oder denen eine ausreichende Verständigung über das Gehör auch mit Hörhilfen nicht möglich ist, oder (Nr. 3) behinderte Menschen, deren GdB nicht nur vorübergehend wenigstens 80 beträgt und die wegen ihres Leidens an öffentlichen Veranstaltungen ständig nicht teilnehmen können.
Die Klägerin erfüllt die Voraussetzungen des § 4 Abs. 2 Nr. 1 bis 3 RBStV nicht. Sie ist nicht blind oder nicht nur vorübergehend wesentlich sehbehindert mit einem GdB von wenigstens 60 allein für die Sehbehinderung (§ 4 Abs. 2 Nr. 1 RBStV). Sie zählt auch nicht zum Kreis der in § 4 Abs. 2 Nr. 2 RBStV genannten hörgeschädigten Menschen, denn sie ist weder gehörlos noch ist ihr eine ausreichende Verständigung über das Gehör auch mit Hörhilfen nicht möglich. Den Sachverständigengutachten lässt sich eine relevante Einschränkung des Hörvermögens nicht entnehmen und dem Befundbericht der S2 entnimmt der Senat lediglich, dass die Reintonaudiometrie eine hörgerätepflichtige kombinierte Innenohrschwerhörigkeit links ergeben hat, sodass die Notwendigkeit zur Hörgeräteneuversorgung gesehen worden ist.
Die Voraussetzungen des § 4 Abs. 2 Nr. 3 RBStV liegen bei der Klägerin zur Überzeugung des Senats ebenso nicht vor. Abgesehen davon, dass bei ihr mit dem Teilabhilfebescheid vom 7. September 2017 – bestandskräftig – nur eine Teil-GdB von 70, aber kein solcher von 80, festgestellt ist, ist ihr die Teilnahme an öffentlichen Veranstaltungen nicht ständig unmöglich.
Öffentliche Veranstaltungen sind Zusammenkünfte politischer, künstlerischer, wissenschaftlicher, kirchlicher, sportlicher, unterhaltender und wirtschaftlicher Art, die länger als 30 Minuten dauern (vgl. BSG, Urteil vom 10. August 1993 – 9/9a RVs 7/91 –, juris, Rz. 12). Dazu gehören nicht nur Theater-, Oper-, Konzert- und Kinovorstellungen, sondern auch Veranstaltungen wie etwa Ausstellungen, Messen, Museen, Märkte, Gottesdienste, Volksfeste, Sportveranstaltungen, Tier- und Pflanzengärten sowie letztlich auch öffentliche Gerichtsverhandlungen (vgl. LSG Nordrhein-Westfalen, Urteil vom 14. Juni 2019 – L 21 SB 347/16 –, juris, Rz. 32, 47). Die Unmöglichkeit der Teilnahme an solchen Veranstaltungen ist nur dann gegeben, wenn der Schwerbehinderte wegen seines Leidens ständig, damit allgemein und umfassend, vom Besuch ausgeschlossen ist; also allenfalls an einem nicht nennenswerten Teil der Gesamtheit solcher Veranstaltungen teilnehmen kann (vgl. BSG, Urteil vom 12. Februar 1997 – 9 RVs 2/69 –, juris, Rz. 11; Bayerisches LSG, Urteil vom 14. November 2018 – L 18 SB 84/18 –, juris, Rz. 19). Maßgeblich ist dabei allein die Möglichkeit der körperlichen Teilnahme, gegebenenfalls mit technischen Hilfsmitteln, zum Beispiel einem Rollstuhl, und/oder mit Hilfe einer Begleitperson (vgl. BSG, Urteil vom 12. Februar 1997 – 9 RVs 2/96 –, juris, Rz. 12; Bayerisches LSG, Urteil vom 14. November 2018 – L 18 SB 84/18 –, juris, Rz. 19).
Selbst wenn die Klägerin somit auf die dauernde Nutzung eines Rollstuhls angewiesen wäre, wovon sich der Senat bereits nicht überzeugen konnte (vgl. oben), wäre ihr allein dadurch die Teilnahme an öffentlichen Veranstaltungen ebenso wenig verschlossen, wie aufgrund des Umstandes, dass sie ggf. eine Begleitperson benötigte. Dementsprechend hat der S1 in seiner sachverständigen Zeugenauskunft selbst ausgehend von seiner medizinischen Wertung des Sachverhaltes die Möglichkeit zur Teilnahme an öffentlichen Veranstaltungen im Rollstuhl mit Begleitung bejaht und der W hat diese in seiner sachverständigen Zeugenauskunft ebenfalls bejaht.
Auf die Berufung des Beklagten war daher das Urteil des SG abzuändern, die Klage vollumfänglich abzuweisen sowie die Anschlussberufung der Klägerin zurückzuweisen.
Die Kostenentscheidung folgt aus § 193 SGG und berücksichtigt das Unterliegen der Klägerin in beiden Instanzen.
Gründe, die Revision zuzulassen, sind nicht gegeben, da die Voraussetzungen des § 160 Abs. 2 SGG nicht vorliegen.