L 7 R 458/21

Land
Baden-Württemberg
Sozialgericht
LSG Baden-Württemberg
Sachgebiet
Rentenversicherung
Abteilung
7.
1. Instanz
SG Karlsruhe (BWB)
Aktenzeichen
S 7 R 734/20
Datum
2. Instanz
LSG Baden-Württemberg
Aktenzeichen
L 7 R 458/21
Datum
3. Instanz
-
Aktenzeichen
-
Datum
-
Kategorie
Urteil

Die Berufung des Klägers gegen das Urteil des Sozialgerichts Karlsruhe vom 12. November 2020 wird zurückgewiesen.

Außergerichtliche Kosten sind auch im Berufungsverfahren nicht zu erstatten.

 

Tatbestand

Zwischen den Beteiligten ist der Zeitpunkt des Beginns der großen Witwerrente des Klägers im Streit.

Der 1949 geborene Kläger und seine 1953 geborene Ehefrau waren seit dem 25. Oktober 1979 verheiratet. Die Ehefrau des Klägers wurde zuletzt am 10. November 2004 in T gesehen. Seitdem gab es keine Hinweise zu ihrem weiteren Verbleib und auch die diesbezüglichen kriminalpolizeilichen Ermittlungen verliefen ergebnislos.

Am 22. Januar 2015 beantragte der Kläger bei dem Amtsgericht Reutlingen (AG), seine Ehefrau für tot zu erklären. Dies lehnte das AG zunächst mit Beschluss vom 22. Juni 2016 (– 66 UR II 1/15 –) ab. Nachdem das Oberlandesgericht Stuttgart (OLG) diese Entscheidung aufhob (Beschluss vom 11. Dezember 2018 – 8 W 313/16 –), erklärte das AG die Ehefrau des Klägers mit weiterem Beschluss vom 7. Mai 2019 für tot und stellte den 31. Dezember 2010 als Zeitpunkt des Todes fest. Auf die Beschwerde des Klägers änderte das AG diesen Beschluss dahingehend ab, dass es mit Beschluss vom 10. Juli 2019 den 30. November 2004 als Zeitpunkt des Todes feststellte.

Bereits am 5. Juli 2017 wandte sich die Stadt B-B, von welcher der Kläger seit dem 1. Januar 2017 Leistungen nach dem Zwölften Buch Sozialgesetzbuch (SGB XII) bezog, an die Beklagte und teilte mit, dass der Kläger bei Antragstellung erklärt habe, seine Ehefrau werde seit Jahren vermisst. Weiter bat die Stadt B-B um Mitteilung, in welcher Höhe mit einer Witwerrente für den Kläger zu rechnen sei.

Der Kläger selbst beantragte am 23. Mai 2019 im Rahmen einer persönlichen Vorsprache Hinterbliebenenleistungen bei der Beklagten aufgrund der Verschollenheit seiner Ehefrau. Mit Bescheid vom 8. August 2018 gewährte die Beklagte dem Kläger eine große Witwerrente ab dem 1. Mai 2018. Die Rente werde längstens für zwölf Monate vor dem Antragsmonat geleistet. Mit seinem dagegen am 9. September 2019 eingelegten Widerspruch begehrte der Kläger, den Rentenbeginn auf den 1. Dezember 2004 anzusetzen und eine entsprechende Nachzahlung unter Berücksichtigung des sog. Sterbevierteljahres zu erhalten, da ihm eine Antragstellung mit hinreichender Erfolgsaussicht zu einem früheren Zeitpunkt nicht möglich gewesen sei.

Die Beklagte half dem Kläger mit Bescheid vom 25. Oktober 2019 insoweit ab, als dass sie dem Kläger Witwerrente ab dem 1. Juli 2016 bewilligte. Einen gegen diese Entscheidung eingelegten Widerspruch nahm der Kläger auf den Hinweis der Beklagten, dass der Bescheid Gegenstand des Widerspruchsverfahrens sei, zurück. Mit Widerspruchsbescheid vom 31. Januar 2020 wies die Beklagte den Widerspruch im Übrigen zurück. Dies begründete sie dahingehend, dass eine Anfrage des Sozialhilfeträgers als Rentenantrag zu werten gewesen sei. Grundsätzlich müsse der Todestag der Versicherten durch geeignete Unterlagen bei einem Antrag auf Hinterbliebenenrente nachgewiesen sein. Eine Todesfeststellung könne auch nach § 49 Sechstes Buch Sozialgesetzbuch (SGB VI) im Verwaltungsverfahren durch den Rentenversicherungsträger erfolgen, wenn Versicherte seit mindestens einem Jahr verschollen seien und die Umstände den Tod wahrscheinlich machten. Da der Kläger nach Ablauf eines Jahres keinen weiteren Hinweis auf das Ableben seiner Frau gehabt habe, sei eine Antragstellung auf eine Rente wegen Todes bei Verschollenheit im November 2005 möglich gewesen.

Die gegen diese Entscheidung am 4. März 2020 erhobene Klage hat das Sozialgericht Karlsruhe (SG) mit Urteil vom 12. November 2020 abgewiesen. Zur Begründung hat das SG ausgeführt, aufgrund der Vorschrift des § 99 Abs. 2 Satz 3 SGB VI könne Hinterbliebenenrente nicht für mehr als zwölf Kalendermonate vor dem Monat der Antragstellung gewährt werden. Zwar sei vor dem Beschluss des AG am 7. Mai 2019 der Tod der Ehefrau nicht nachgewiesen gewesen. Der Kläger habe dennoch die Gewährung einer Witwerrente unter Verweis auf § 49 SGB VI beantragen können. Es handele sich hierbei um ein Prüfverfahren des Rentenversicherungsträgers unabhängig von den Bestimmungen des Verschollenheitsgesetzes (VerschG), das unter Umständen erst nach zehn Jahren eine Todesfeststellung ermögliche. Eine solche Antragstellung sei durch den Kläger nicht erfolgt. Sie könne auch nicht fingiert werden. Denkbar sei dies allenfalls bei Vorliegen der Voraussetzungen für einen sozialrechtlichen Herstellungsanspruch. Dies sei vorliegend jedoch nicht ersichtlich, da Anhaltspunkte dafür, dass die Beklagte einen Beratungs- oder Auskunftsanspruch des Klägers aus §§ 14 und 15 Erstes Buch Sozialgesetzbuch (SGB I) nicht oder schlecht erfüllt haben könnte, fehlten. Eine Ausnahme vom Fristerfordernis des § 99 Abs. 2 Satz 3 SGB VI aus Billigkeitsgründen komme ebenfalls nicht in Betracht, da es sich bei dieser Norm um eine materielle Ausschlussfrist handele.

Gegen das seinem Prozessbevollmächtigten am 15. Januar 2020 zugestellte Urteil hat der Kläger am 4. Februar 2021 Berufung zum Landessozialgericht Baden-Württemberg eingelegt (LSG). Er trägt vor, die in § 99 Abs. 2 Satz 3 SGB VI statuierte 12-Monatsfrist könne nur zu laufen beginnen, wenn ihm eine Antragstellung tatsächlich möglich gewesen sei. Das SG stelle im angefochtenen Urteil nicht fest, ab welchem Zeitpunkt von einer Verschollenheit seiner Ehefrau nach dem VerschG ausgegangen werden müsse und welche Umstände den Tod der Ehefrau wahrscheinlich gemacht hätten. Der Normzweck des § 99 Abs. 2 Satz 3 SGB VI bestehe darin, bei Hinterbliebenenrenten den Verlust von Rentenansprüchen in den Fällen zu vermeiden, in denen aus Unkenntnis über den Tod des Versicherten oder über das Bestehen eines Rentenanspruchs erst innerhalb der verlängerten Frist ein Rentenantrag gestellt werden könne. Die Norm könne also nicht auf Fälle angewendet werden, in welchen der Tod tatsächlich nicht eingetreten sei oder der Rentenanspruch tatsächlich nicht bestanden habe. Hierfür spreche auch, dass nach der Gesetzesbegründung die Frist von einem Jahr der Höchstdauer entspreche, nach der bei unverschuldetem Versäumnis einer Frist auch eine Wiedereinsetzung in den vorigen Stand nicht mehr möglich sei. Auf der Basis der polizeilichen Ermittlungen und der damals festgestellten Umstände sei in den Jahren nach dem Verschwinden der Ehefrau weder von einer Verschollenheit im Sinne des VerschG noch von Umständen, die ihren Tod wahrscheinlich machten, auszugehen gewesen sei. Es könne jedenfalls nicht ohne weiteres davon ausgegangen werden, dass die Beklagte die Verschollenheit seiner Ehefrau im Jahre 2016 bei einer Gesamtwürdigung derselben Umstände anders bewertet hätte, als das AG. Vor diesem Hintergrund sei die Annahme des SG, ihm sei es zumutbar gewesen, bereits ein Jahr nach dem Verschwinden seiner Ehefrau, den Antrag zu stellen, um die ihm gegebenenfalls später zustehenden Ansprüche auf Gewährung der großen Witwerrente nicht zu verlieren, nicht mehr nachvollziehbar. Ein Ausschluss solcher Ansprüche könne nur für den Zeitraum von 12 Monaten ab dem Zeitpunkt angenommen werden, ab dem die Verschollenheit der Ehefrau im Sinne des Verschollenheitsgesetzes und die weiteren Voraussetzungen des § 49 SGB VI frühestens hätte festgestellt werden können. Insbesondere auf Basis der Entscheidung des OLG könne eine Verschollenheit frühestens für den Zeitraum nach dem Zeitpunkt der Entscheidung des OLG angenommen werden. Hätte das SG darauf abgestellt, wann die Voraussetzungen für die erstmalige Antragstellung vorgelegen hätten, hätte ihm die große Witwerrente bereits ab dem 1. Dezember 2004 gewährt werden müssen.

Der Kläger beantragt, sachgerecht gefasst,

das Urteil des Sozialgerichts Karlsruhe vom 12. November 2020 aufzuheben und die Beklagte unter Abänderung des Bescheides vom 8. August 2019 in der Fassung des Bescheides vom 25. Oktober 2019 und in Gestalt des Widerspruchsbescheides vom 31. Januar 2020 zu verurteilen, dem Kläger eine große Witwerrente ab dem 1. Dezember 2004 in gesetzlicher Höhe zu gewähren.

Die Beklagte beantragt,

die Berufung zurückzuweisen.

Sie schließt sich den Urteilsgründen des SG an.

Die Beteiligten haben sich mit einer Entscheidung ohne mündliche Verhandlung einverstanden erklärt.

Zur weiteren Darstellung des Sachverhalts wird auf den Inhalt der Beklagtenakten und der Ermittlungsakten der Kriminalpolizei R sowie der Gerichtsakten beider Rechtszüge ergänzend Bezug genommen.

 

Entscheidungsgründe

Die gemäß § 143 Sozialgerichtsgesetz (SGG) statthafte und gemäß § 151 Abs. 1 SGG form- und fristgerecht eingelegte Berufung des Klägers, über die der Senat gemäß §§153 Abs. 1, 124 Abs. 2 SGG im Einverständnis der Beteiligten ohne mündliche Verhandlung entscheidet, ist auch im Übrigen zulässig, da laufende Leistungen für mehr als ein Jahr streitig sind.

Die Berufung ist jedoch unbegründet. Das SG hat die als kombinierte Anfechtungs- und Leistungsklage (§ 54 Abs. 4 SGG) statthafte und zulässige Klage zu Recht als unbegründet abgewiesen. Denn der Kläger hat gegen die Beklagte keinen Anspruch auf die Gewährung einer großen Witwerrente vor dem 1. Juli 2016.

Gegenstand des Verfahrens ist der Bescheid der Beklagten vom 8. August 2019, abgeändert durch den gemäß § 86 SGG zum Gegenstand des Widerspruchsverfahrens gewordenen Bescheid vom 25. Oktober 2019 und in der Fassung des Widerspruchsbescheids vom 31. Januar 2020 (§ 95 SGG), mit welchem die Beklagte dem Kläger eine große Witwerrente ab dem 1. Juli 2016 gewährt hat.

Anspruchsgrundlage für die große Witwerrente im Falle des Klägers ist § 46 Abs. 2 Satz 1 Nr. 2 i.V.m § 242a Abs. 4 SGB VI in der Fassung vom 20. April 2007. Danach haben Witwen und Witwer, die nicht wieder geheiratet haben, nach dem Tod eines versicherten Ehegatten, der die allgemeine Wartezeit erfüllt hat, Anspruch auf große Witwenrente oder Witwerrente, wenn sie das 45. Lebensjahr vollendet haben und der Versicherte vor dem 1. Januar 2012 verstorben ist. Diese Voraussetzungen sind im Falle des 1949 geborenen und nicht erneut verheirateten Klägers – zwischen den Beteiligten unstreitig – erfüllt, nach dem dessen gesetzlich rentenversicherte Ehefrau am 10. November 2004 verschwunden und mit Beschluss des AG vom 7. Mai 2019 in der Fassung des Beschlusses vom 10. Juli 2019 ihr Tod am 30. November 2004 festgestellt worden ist.

Der Beginn der großen Witwerrente richtet sich nach § 99 Abs. 2 i.V.m. § 115 Abs. 1 Satz 1 SGB VI. Nach § 99 Abs. 2 Satz 1 SGB VI wird eine Hinterbliebenenrente von dem Kalendermonat an geleistet, zu dessen Beginn die Anspruchsvoraussetzungen für die Rente erfüllt sind. Das Rentenverfahren beginnt dabei, mangels anderweitiger Bestimmungen, mit dem Antrag (vgl. § 115 Abs. 1 Satz 1 SGB VI). Eine Hinterbliebenenrente wird, wie § 99 Abs. 2 Satz 3 SGB VI bestimmt, nicht für mehr als zwölf Kalendermonate vor dem Monat, in dem die Rente beantragt wird, geleistet. Die Antragsgebundenheit des Rentenbeginns auch einer Witwerrente wird durch die Regelungen in § 115 Abs. 2 und 3 Satz 2 SGB VI verdeutlicht, welche diesbezügliche Ausnahmen bzw. Fiktionen normieren.

Hiervon ausgehend hat die Beklagte den Beginn der großen Witwerrente des Klägers, unter Zugrundelegung des zugunsten des Klägers als Rentenantrag nach § 95 Satz 1 Zwölftes Buch Sozialgesetzbuch (SGB XII) gewerteten Schreibens der Stadt Baden-Baden als Sozialhilfeträger vom 5. Juli 2017, zutreffend auf den 1. Juli 2016 festgesetzt.

Eine frühere Rentengewährung kommt nach der vorliegenden Sach- und Rechtslage nicht in Betracht, da § 99 Abs. 2 Satz 3 SGB VI die Möglichkeit des rückwirkenden Rentenbeginns für Hinterbliebenenrenten umfassend und nicht nur für bestimmte Ausnahmekonstellationen abschließend regelt. Eine über diese Jahresfrist hinausgehende rückwirkende Gewährung einer Witwerrente findet keine gesetzliche Grundlage in den maßgebenden Regelungen des SGB VI. Hierbei kann in der vorliegenden Sache dahinstehen, ob es sich bei der in § 99 Abs. 2 Satz 3 SGB VI normierten Jahresfrist um eine materiell-rechtliche Ausschlussfrist handelt, wie es etwa die Beklagte vertritt, oder um eine Antragsfrist (vgl. hierzu Kater in: Kasseler Kommentar Sozialversicherungsrecht, Werkstand: 113. EL März 2021, SGB VI § 99 Rdnr. 27).

Eine weitergehende Rentengewährung ist auch unter Berücksichtigung von Sinn und Zweck des § 99 Abs. 2 Satz 3 SGB VI nicht geboten. Nach den Ausführungen im Bericht des Ausschusses für Arbeit und Sozialordnung des Deutschen Bundestages zu dieser – im Gesetzgebungsverfahren zunächst in § 98 SGB VI verorteten – Regelung (BT-Drs. 11/5530 S. 45) soll für Hinterbliebenenrenten, anders als bei Renten aus eigener Versicherung, „nunmehr eine Beginnsfrist von zwölf Monaten gelten. Die Verlängerung der Beginnsfrist bei Hinterbliebenenrenten soll den Verlust von Rentenansprüchen in den Fällen vermeiden, in denen Hinterbliebene aus Unkenntnis über den Tod des Versicherten oder über das Bestehen eines Rentenanspruchs erst innerhalb der verlängerten Frist einen Rentenantrag stellen können. Die Frist von einem Jahr entspricht der Höchstdauer, nach der bei unverschuldetem Versäumnis einer Frist auch eine Wiedereinsetzung in den vorigen Stand nicht mehr möglich ist (§ 27 SGB X).“

Dieser Begründung, welche der seither unveränderten Regelung des § 99 Abs. 2 Satz 3 SGB VI zugrunde liegt, lässt sich zunächst entnehmen, dass der Gesetzgeber das Problem erkannt hat, das Hinterbliebene aus – unverschuldeter – Unkenntnis über den Tod eines Versicherten oder eines diesbezüglichen Rentenanspruchs oft erst später als in Fällen einer Rente aus eigener Versicherung in der Lage sind, Rentenleistungen zu beantragen. Daher hat er sich entgegen des ursprünglichen Gesetzentwurfs der Bundesregierung (BR-Drs. 120/89 S. 39) entschieden, keinen Gleichlauf zwischen Versicherten- und Hinterbliebenenrente mit einer Rückwirkung von (nur) drei Kalendermonaten zu schaffen. Er hat sich jedoch gleichzeitig bewusst dafür entschieden, die Rückwirkung auf zwölf Kalendermonate zu beschränken und Hinterbliebenenrenten gerade nicht unbegrenzt ab dem Kalendermonat zu leisten, in welchem die diesbezüglichen Anspruchsvoraussetzungen erstmals vorgelegen haben. So ist im Laufe des Gesetzgebungsverfahren diese Möglichkeit, welche den zuvor geltenden Grundsätzen für Hinterbliebenenrenten entsprochen hätte, diskutiert und in Betracht gezogen (vgl. BT-Drs. 11/4452 S. 9 und BT-Drs. 11/5530 S. 8), jedoch schließlich nicht umgesetzt worden. Vielmehr hat sich der Gesetzgeber entschieden, wie durch die dargestellte Bezugnahme auf § 27 Zehntes Buch Sozialgesetzbuch (SGB X) deutlich wird, nach Ablauf einer Jahresfrist der Schaffung von Rechtssicherheit den Vorzug zu geben (vgl. dazu Mutschler in: Kasseler Kommentar Sozialversicherungsrecht, Werkstand: 113. EL März 2021, § 27 SGB X Rdnr. 18).

Vor dem Hintergrund dieser abschließenden und als abschließend gewollten Regelung des § 99 Abs. 2 Satz 3 SGB VI kommt der Frage, ab wann dem Kläger in der vorliegenden Sache eine erfolgversprechende Antragstellung – eben gerade aufgrund seiner fehlenden ausreichenden oder „rechtssicheren“ Kenntnis vom Tod seiner Ehefrau – auf eine Witwerrente möglich gewesen wäre, keine entscheidende Bedeutung bei. In Anbetracht des dargestellten Sinns und Zwecks der „Beginnsfrist“ für Hinterbliebenenrenten besteht auch kein Ansatzpunkt für eine Abweichung von dieser Regelung aus Billigkeitserwägungen.

Dem Kläger ist auch keine Wiedereinsetzung in den vorigen Stand nach § 27 Abs. 1 Satz 1 SGB X zu gewähren, wobei eine Wiedereinsetzung grundsätzlich auch bei der Versäumung einer Frist des materiellen Sozialrechts in Betracht kommt (vgl. BSG, Urteil vom 6. Mai 2010 – B 13 R 44/09 R – juris Rdnr. 21). Hierbei kann dahinstehen, ob durch § 99 Abs. 2 Satz 3 SGB VI die Anwendung von § 27 SGB X von vorneherein ausgeschlossen ist (vgl. dazu auch BSG, a.a.O. Rdnrn. 21 f.). Denn die Voraussetzungen für eine Wiedereinsetzung in den vorigen Stand sind vorliegend nicht erfüllt.

Nach § 27 Abs. 2 Satz 1 und 3 SGB X ist ein Antrag auf Wiedereinsetzung in den vorigen Stand innerhalb von zwei Wochen nach Wegfall des der Fristwahrung entgegenstehenden Hindernisses zu stellen, wobei innerhalb der Antragsfrist die versäumte Handlung nachzuholen ist. Gemäß § 27 Abs. 3 SGB X kann die Wiedereinsetzung nach einem Jahr seit dem Ende der versäumten Frist nicht mehr beantragt oder die versäumte Handlung nicht mehr nachgeholt werden, außer wenn dies vor Ablauf der Jahresfrist infolge höherer Gewalt unmöglich gewesen ist. Dabei ist zu berücksichtigen, dass eine Unkenntnis des Rechts und der Befristung seiner Ausübung, die im Gesetz wie hier in § 99 Abs. 2 Satz 3 SGB VI geregelt ist, eine Wiedereinsetzung nicht zu rechtfertigen vermag (vgl. BSG a.a.O. Rdnr. 24 m.w.N.).

Der Kläger hätte, wie bereits die Beklagte zutreffend ausgeführt hat, einen Antrag auf Witwerrente nach § 46 Abs. 2 Satz 1 i.V.m. § 115 Abs. 1 Satz 1 SGB VI noch im November 2005 stellen und damit einen Rentenbeginn ab dem erstmaligen Vorliegen der Anspruchsvoraussetzungen erreichen können. Denn die Beklagte wäre insoweit für die Zwecke der Rentenleistung gemäß § 49 SGB VI befugt gewesen, den mutmaßlichen Todestag der Ehefrau des Klägers festzustellen, nachdem seit einem Jahr ab dem 10. November 2004 keine Nachrichten über ihr Leben mehr eingegangen sind. Die Beklagte hätte hierbei eigenständig zu prüfen und zu entscheiden gehabt, ob die Umstände den Tod der Ehefrau des Klägers wahrscheinlich machten. Soweit der Kläger diesbezüglich ausführt, dass von ihm nicht erwartet werden könne, nicht hinreichend erfolgversprechende Anträge zu stellen und ausreichende Erfolgsaussichten erst seit dem Beschluss des OLG vom 11. Dezember 2018 angenommen werden könnten, ist hervorzuheben, dass die Möglichkeit der Todesfeststellung durch den jeweiligen Rentenversicherungsträger gerade geschaffen worden ist, um für rentenrechtliche Zwecke unabhängig von dem Aufgebotsverfahren zur Todesfeststellung nach § 2 VerschG den Tod einer unbekannt verbliebenen Person festzustellen. Die Unabhängigkeit der Todesfeststellung durch den jeweiligen Träger der Rentenversicherung gemäß § 49 Satz 3 SGB VI von der Todeserklärung nach § 2 VerschG wird durch die Regelung des § 49 Satz 4 SGB VI verdeutlicht, welcher die rentenversicherungsrechtliche Feststellung des mutmaßlichen Todestages für die Zwecke der Rentenleistung selbst gerichtlicher Feststellung oder Beurkundung eines abweichenden Todesdatums für maßgeblich erklärt. Welches Ergebnis die Prüfung der Beklagten im vorliegenden Fall gezeitigt hätte, ist spekulativ und weder von dem Kläger noch dem Senat vorherzusagen. Allerdings ist anzumerken, dass der Entscheidung des OLG vom 11. Dezember 2018 mit Ausnahme des weiteren Zeitablaufs kein wesentlich weitreichenderer Erkenntnisstand zugrunde gelegen hat, als er bereits im November 2005 bestanden hat. Auch bei Annahme, dass eine etwaige Antragstellung im November 2005 mangels Vorliegens ausreichender tatsächlicher Anhaltspunkte für den Tod der Ehefrau des Klägers zunächst abschlägig beschieden worden wäre, hätte der Kläger über § 44 SGB X bei veränderter Sachlage eine spätere Überprüfung veranlassen und damit – in den zeitlichen Grenzen des § 44 Abs. 4 SGB X – gegebenenfalls eine auf die ursprüngliche Antragstellung zurückgehende Rentengewährung erreichen können.

Selbst wenn man die Auffassung des Klägers zugrunde legen wollte, dass ihm eine Antragstellung erst bei – nach seiner Bewertung – hinreichenden Erfolgsaussichten möglich oder jedenfalls zuzumuten gewesen sei, ist die Jahresfrist zur Wiedereinsetzung nach § 27 Abs. 3 SGB X im Zeitpunkt seiner Rentenantragstellung am 23. Mai 2019 verstrichen gewesen. Denn der Kläger hat den Antrag auf Todesfeststellung nach dem VerschG am 22. Januar 2015 und damit im ersten Monat gestellt, in dem nach den Vorgaben des § 3 Abs. 1 Var. 1 VerschG eine Todeserklärung möglich war, mithin nach dem Verstreichen von zehn Jahren nach dem Ende des Jahres, in dem seine Ehefrau nach den vorhandenen Nachrichten noch gelebt hat. Er ist demnach zu diesem Zeitpunkt selbst davon ausgegangen, dass die Voraussetzungen der Todeserklärung bereits vorgelegen haben. Die Annahme, ihm sei ein Antrag auf Todeserklärung nach dem VerschG zu diesem Zeitpunkt möglich gewesen, aber nicht die Stellung eines Rentenantrags, ist abwegig.

Schließlich kommt eine frühere Rentengewährung auch nicht über den sogenannten sozialrechtlichen Herstellungsanspruch (vgl. etwa BSG, Urteil vom 16. Dezember 2014 – B 1 KR 19/14 R – juris Rdnr. 16; LSG Baden-Württemberg, Beschluss vom 16. November 2017 – L 7 R 2725/17 – juris Rdnrn. 41 f.) in Betracht, wie das SG zutreffend dargestellt hat. Auf die Ausführungen des SG in dem Urteil vom 12. November 2020 wird insoweit nach § 153 Abs. 2 SGG Bezug genommen.

Die Kostenentscheidung beruht auf § 193 SGG.

Gründe für die Zulassung der Revision (§ 160 Abs. 2 Nrn. 1 und 2 SGG) liegen nicht vor.

Rechtskraft
Aus
Saved