Auf die Berufung der Klägerin wird der Gerichtsbescheid des Sozialgerichts Mannheim vom 16. Juli 2021 aufgehoben und der Rechtsstreit zur erneuten Verhandlung und Entscheidung an das Sozialgericht Mannheim zurückverwiesen.
Tatbestand
Zwischen den Beteiligten ist die Herabsetzung des Grades der Behinderung (GdB) von 70 auf 40 streitig, wobei die Klägerin vorrangig die Zurückverweisung des Rechtsstreits zur erneuten Verhandlung und Entscheidung an das Sozialgericht Mannheim (SG) begehrt.
Die 1957 geborene Klägerin ist türkische Staatsangehörige. Sie ist verheiratet und Mutter von vier Kindern. Beschäftigt ist sie als Arbeiterin in einem Unternehmen, in dem unter anderem Urinbeutel hergestellt werden (vgl. ärztlicher Entlassungsbericht der A Kliniken, Wklinik D).
Am 17. Oktober 2014 stellte die Klägerin beim Landratsamt R (LRA) einen Erstantrag auf Feststellung des GdB, den sie mit den Gesundheitsstörungen chronisches Asthma, hoher Blutdruck, Arthrose (rechtes Knie), Pollenallergie und Brustkrebs begründete.
Nach Auswertung der zur Akte gelangten medizinischen Unterlagen bewertete B versorgungsärztlich den Gesamt-GdB mit 50. Dieser Bewertung lag ein Einzel-GdB von 10 für einen Bluthochdruck, ein Einzel-GdB von 50 für eine Erkrankung der linken Brust (in Heilungsbewährung) und ein Einzel-GdB von 10 für ein Bronchialasthma sowie eine Allergie zugrunde. Die Funktionsbehinderung des rechten Kniegelenks sei nicht mit einem Einzel-GdB von mindestens 10 zu bewerten.
Das LRA stellte durch Bescheid vom 24. November 2014 einen GdB von 50 seit dem 17. Oktober 2014 fest und lehnte die Feststellung der gesundheitlichen Merkmale für die Inanspruchnahme von Nachteilsausgleichen ab.
Den von der Klägerin erhobenen Widerspruch wies der Beklagte durch Widerspruchsbescheid vom 11. August 2015 zurück.
In dem sich anschließenden Klageverfahren vor dem SG (S 8 SB 2721/15) kam zur Vorlage der ärztliche Entlassungsbericht der A Kliniken, Wklink D (Diagnosen: Mai 2014 Mammacarzinom links pT1c, pMO [0/1 sn], RO, G2, Rekonvaleszenz nach kombinierter Therapie, zytostatikainduzierte Polyneuropathie I. Grades, Fatigue-Symptomatik). Das SG hörte im Weiteren schriftlich die behandelnden Ärzte der Klägerin als sachverständige Zeugen. Die H schätzte den Gesamt-GdB aufgrund der seelischen Beeinträchtigungen auf 60, H1, zfp Psychiatrisches Zentrum N, sah auf psychiatrisch-psychotherapeutischen Fachgebiet einen Einzel-GdB von 50, die B1 schloss sich der versorgungsmedizinischen Stellungnahme an, die K berichtet von der Diagnose einer Depression, machte keine Angaben zur Höhe des GdB, und der S stimmte der versorgungsärztlichen Stellungnahme zu.
Der Beklagte bot vergleichsweise die Feststellung eines GdB von 70 ab dem 17. Oktober 2014 an. Diesem Vergleichsangebot lag die versorgungsärztliche Stellungnahme der Dr. Franke zugrunde, aus der sich die Bewertung der Erkrankung der linken Brust (in Heilungsbewährung) mit einem Einzel-GdB von 50, des Bronchialasthmas und der Allergie mit einem Einzel-GdB von 20, der seelischen Störung, des chronischen Schmerzsyndroms und des psychovegetativen Erschöpfungssyndroms mit einem Einzel-GdB von 20 sowie des Bluthochdrucks mit einem Einzel-GdB von 10 ergab. Die Klägerin nahm dieses Vergleichsangebot an.
In Ausführung des Vergleichs stellt das LRA durch Bescheid vom 8. Juni 2016 einen GdB von 70 seit dem 17. Oktober 2014 fest.
Am 20. August 2019 leitete das LRA das – vorliegend streitgegenständliche – Nachprüfungsverfahren ein. Unter Auswertung der zur Vorlage gekommenen medizinischen Unterlagen (Radiologisches Zentrum S1: Gonarthrose beidseits; Bericht des S: DMP Asthma bronchiale, allergische Rhinokonjunktivitis, Z. n. Mammacarzinom-Resektion; Radiologisches Zentrum S1: altersentsprechender kardiologischer Befund; B2: Innenmeniskus-Teilresektion, isolierter Knorpelschaden mediale Femurkondyle links; W1: Säurerefluxkrankheit, Adipositas, Typ C-Gastritis, Z. n. Hysterrektomie; K: Z. n. Mammacarzinom und brusterhaltender OP, depressive Reaktion auf Krebserkrankung, psychosomatische Depression, V. a. Fibromyalgie-Syndrom, Gelenk- und Weichteilschmerzen, V. a. Fatigue-Syndrom, Tinnitus) bewertete S2 versorgungsärztlich den Gesamt-GdB mit 40. Berücksichtigt wurden hierbei ein Bronchialasthma und eine Allergie mit einem Einzel-GdB von 20, eine seelische Störung, ein chronisches Schmerzsyndrom und ein psychovegetatives Erschöpfungssyndrom mit einem Einzel-GdB von 30 sowie ein Bluthochdruck mit einem Einzel-GdB von 20.
Nach Anhörung der Klägerin zur beabsichtigten Herabsetzung des GdB auf 40 und auf die Einwände der Klägerin durchgeführte weitere Sachverhaltsermittlung (H2 und K2: degeneratives Cervicalsyndrom, Rizarthrose bds., Gonarthrose bds.; K: Mammae und LAW bds. inspektorisch und palpatorisch unauffällig) bewertete B versorgungsärztlich den Gesamt-GdB weiterhin mit 40. Er berücksichtigte das Bronchialasthma und die Allergie mit einem Einzel-GdB von 20, die seelische Störung, das chronische Schmerzsyndrom und das psychovegetative Erschöpfungssyndrom mit einem Einzel-GdB von 30, den Bluthochdruck mit einem Einzel-GdB von 10, die Funktionsbehinderung beider Kniegelenke mit einem Einzel-GdB von 20, die Daumensattelgelenksarthrose mit einem Einzel-GdB von 10 und die Funktionsbehinderung der Wirbelsäule (WS) mit einem Einzel-GdB von 10.
Das LRA änderte durch Bescheid vom 29. April 2020 die Bescheide vom 24. November 2014, vom 11. August 2015 und vom 8. Juni 2016 ab und stellte ab dem 2. Mai 2020 einen GdB von 40 fest.
Die Klägerin erhob deswegen Widerspruch, den der Beklagte nach Einholung einer weiteren versorgungsärztlichen Stellungnahme der W2, wonach der Gesamt-GdB 40 betragen habe (Heilungsbewährung eingetreten, Rezidiv nicht dokumentiert, Einzel-GdB für die seelischen Folgebeschwerden nach der Carziniomerkrankung erhöht), durch Widerspruchsbescheid vom 18. Juni 2020 zurückwies. In den Verhältnissen, die dem letzten maßgebenden Bescheid zugrunde gelegen hätten, sei eine wesentliche Änderung insoweit eingetreten, als die Heilungsbewährung von fünf Jahren abgelaufen sei. Laut Auskunft der K sei kein Rezidiv der Brust-erkrankung aufgetreten. Der Teilverlust der linken Brust bedinge keinen Einzel-GdB von mindestens 10. Unter Berücksichtigung der weiteren Funktionsbeeinträchtigungen ergebe sich ein Gesamt-GdB von 40.
Am 6. Juli 2020 hat die Klägerin erneut Klage beim SG erhoben.
Das SG hat die behandelnden Ärzte der Klägerin schriftlich als sachverständige Zeugen angehört. Die K hat die erhobenen Diagnosen Z. n. Mammacarzinom, psychosomatische Funktionsstörung und Fibromyalgie-Syndrom mitgeteilt. Die Mammae und LAW seien beidseits inspektorisch und palpatorisch unauffällig gewesen. Aus der sachverständigen Zeugenaussage des S hat sich eine Asthmaerkrankung, die mit einem Einzel-GdB von 20 zu bewerten sei, ergeben. H2, hat ausgeführt, der Beklagte habe die Funktionsbehinderung beider Kniegelenke und die Daumensattelgelenksarthrose zutreffend bewertet. Hingegen sei die Funktionsbehinderung der WS mit einem Einzel-GdB von 20 statt 10 einzuschätzen, so dass der Gesamt-GdB 50 betrage. Die B1 war der Ansicht, der Einzel-GdB für die seelische Störung (Depression) und das Fatigue-Syndrom sei ebenso wie der für das Mammacarzinom mit 50 zu bewerten. Zuletzt hat die P u. Gaffron von den Diagnosen Angst und rezidivierende depressive Episoden, degeneratives WS-Syndrom, chronische Schmerzstörung, Z. n. Mammacarcinom, Chemotherapie und Radio, Carpaltunnelsyndrom und akute nervöse Erschöpfung berichtet. Zur Schätzung der Höhe des GdB hat sie sich nicht in der Lage gesehen.
Der Beklagte hat den Gesamt-GdB mit 40 auch weiterhin für zutreffend bewertet gehalten und hat die versorgungsärztliche Stellungnahme des H3 vorgelegt. Demnach könne die Erhöhung des Gesamt-GdB nicht vorgeschlagen werden, da bei integrativer Betrachtung der festgestellte Gesamt-GdB von 40 zutreffend sei.
Das SG hat die Beteiligten zur Entscheidung durch Gerichtsbescheid angehört und ihnen Gelegenheit zur abschließenden Stellungnahme bis zum 15. Juli 2021 gegeben.
Mit am 15. Juli 2021 beim SG eingegangenem Schreiben vom gleichen Tag hat die Klägerin darauf hingewiesen, dass nach der sachverständigen Zeugenaussage des H2 der Gesamt-GdB 50 betrage. Für den Fall, dass das SG nicht von einem Gesamt-GdB in dieser Höhe ausgehen sollte, werde die Erhebung eines Sachverständigengutachtens nach § 109 Sozialgerichtsgesetz (SGG) bei S3, Estraße, M, beantragt.
Durch Gerichtsbescheid vom 16. Juli 2021 hat das SG die Klage abgewiesen. Die fünfjährige Heilungsbewährung sei rezidivfrei abgelaufen, wodurch eine wesentliche Änderung in den Verhältnissen eingetreten sei. Die Atemwegserkrankung sei nach der sachverständigen Zeugenaussage des S allenfalls mit einem Einzel-GdB von 20 zu bewerten. Für die seelische Störung, das chronische Schmerzsyndrom und das psychovegetative Erschöpfungssyndrom sei der vom Beklagten angenommene Einzel-GdB von 30 ausreichend. Hinweise darauf, dass eine besonders gravierende Einschränkung der Erlebnis- und Gestaltungsfähigkeit vorliege (Einzel-GdB dann 40), ergäben sich aus dem Aktenmaterial nicht. Den Ausführungen des sachverständigen Zeugen H2, der für das Wirbelsäulenleiden einen Einzel-GdB von 20 angenommen habe, sei nicht zu folgen gewesen. Die von diesem mitgeteilten Befunde deuteten nur auf ein Funktionsdefizit der Halswirbelsäule (HWS) – geringe Einschränkungen bei der Rotation nach rechts – hin. Aus den für die Bildung des Gesamt-GdB maßgeblichen Einzel-GdB-Werten von 30 und 20 sei ein Gesamt-GdB von 40 zu bilden. Zum Antrag der Klägerin nach § 109 SGG hat sich der Gerichtsbescheid nicht verhalten.
Das SG hat der Klägerin mit Verfügung vom 16. Juli 2021 mitgeteilt, dass ihr Schreiben vom 15. Juli 2021 leider erst nach Fertigstellung und Versand des Gerichtsbescheides dem Kammervorsitzenden vorgelegt worden sei und deshalb nicht habe berücksichtigt werden können.
Gegen den ihren Prozessbevollmächtigten am 16. Juli 2021 zugestellten Gerichtsbescheid hat die Klägerin am 12. August 2021 beim SG Berufung eingelegt, das die Berufung dem Landessozialgericht Baden-Württemberg (LSG) vorgelegt hat.
Zur Berufungsbegründung führt die Klägerin aus, das Verfahren vor dem SG habe an einem wesentlichen Mangel gelitten, da das Gericht ihren Antrag nach § 109 SGG, der fristgerecht gestellt worden sei, nicht beachtet habe. Dieses Versäumnis habe das SG auch mit Schreiben vom 16. Juli 2021 eingeräumt. Der Verfahrensmangel sei wesentlich, denn bei Erhebung eines Sachverständigengutachtens nach § 109 SGG wäre nicht auszuschließen gewesen, dass das SG zu einem anderen Ergebnis gelangt wäre. Die Zurückverweisung des Rechtsstreits liege im Ermessen des LSG. In Abwägung zwischen den Interessen der Beteiligten an einer möglichst schnellen Sachentscheidung und dem Grundsatz der Prozessökonomie einerseits sowie dem Verlust einer Instanz andererseits, sei es vorliegend angezeigt, den Rechtsstreit an das SG zurückzuverweisen. Dabei sei zu berücksichtigen, dass die Berufung seit dem 12. August 2021 in der Berufungsinstanz anhängig und das Zurückverweisungsbegehren am 2. November 2021 geltend gemacht worden sei. Durch die Zurückverweisung entstehe ihr kein wesentlicher zeitlicher Nachteil und der Rechtsstreit sei aus den vorgenannten Gründen nicht entscheidungsreif. Ergänzend hat die Klägerin das Urteil des LSG Baden-Württemberg vom 22. Juli 2021 – L 10 U 3803/20 – vorgelegt. Das LSG Baden-Württemberg hat in diesem Verfahren einen Gerichtsbescheid aufgehoben und den Rechtsstreit zu erneuten Verhandlung und Entscheidung an das SG zurückverwiesen, weil das SG einem ordnungsgemäß gestellten Antrag nach § 109 SGG rechtsfehlerhaft nicht nachgekommen war.
Die Klägerin beantragt – sinngemäß –,
den Gerichtsbescheid des Sozialgerichts Mannheim vom 16. Juli 2021 aufzuheben und den Rechtsstreit zur erneuten Verhandlung und Entscheidung an das Sozialgericht Mannheim zurückzuverweisen,
hilfsweise, den Gerichtsbescheid des Sozialgerichts Mannheim vom 16. Juli 2021 und den Bescheid des Beklagten vom 29. April 2020 in der Gestalt des Widerspruchsbescheides vom 18. Juni 2020 aufzuheben.
Der Beklagte hat keinen Antrag gestellt. Er hat ausgeführt, das Vorbringen der Klägerin hinsichtlich der formellen Situation scheine plausibel. Der Hilfsantrag sei nach der derzeitigen Aktenlage nicht begründet.
Die Beteiligten haben sich mit einer Entscheidung des Senats ohne mündliche Verhandlung einverstanden erklärt.
Wegen der weiteren Einzelheiten des Sachverhalts und des Vorbringens der Beteiligten wird ergänzend auf die Gerichtsakten und die Verwaltungsakte des Beklagten verwiesen.
Entscheidungsgründe
Die form- und fristgerecht (§ 151 SGG) eingelegte Berufung der Klägerin, über die der Senat mit Einverständnis der Beteiligten ohne mündliche Verhandlung entscheidet (§ 124 Abs. 2 SGG), ist statthaft (§§ 143, 144 SGG) sowie auch im Übrigen zulässig und im Sinne der Aufhebung des Gerichtsbescheides des SG vom 16. Juli 2021 sowie der Zurückverweisung des Rechtsstreits an das SG zur erneuten Verhandlung und Entscheidung begründet.
Gegenstand des Berufungsverfahrens ist der Gerichtsbescheid des SG vom 16. Juli 2021, mit dem das SG die Anfechtungsklage (§ 54 Abs. 1 SGG) der Klägerin auf Aufhebung des Bescheides des Beklagten vom 29. April 2020 in der Gestalt des Widerspruchsbescheides vom 18. Juni 2020 (§ 95 SGG), mit dem der Beklagte unter teilweiser Aufhebung des Bescheides vom 24. November 2014 in der Gestalt des Widerspruchsbescheides vom 11. August 2015 in der Fassung des Bescheides vom 8. Juni 2016 den festgestellten GdB von 70 auf 40 herabgesetzt hat, abgewiesen hat, ohne über den Antrag der Klägerin nach § 109 SGG auf Erhebung eines Sachverständigengutachtens bei S3 zu entscheiden, weil es von diesem Antrag zum Zeitpunkt der Abfassung und Versendung des Gerichtsbescheides keine Kenntnis hatte.
Nach § 159 Abs. 1 Nr. 2 SGG kann das LSG durch Urteil die angefochtene Entscheidung aufheben und die Sache an das SG zurückverweisen, wenn das Verfahren an einem wesentlichen Mangel leidet und auf Grund dieses Mangels eine umfangreiche und aufwändige Beweisaufnahme notwendig ist.
Gemessen an diesen Vorgaben ist die Berufung der Klägerin im Sinne der Aufhebung des Gerichtsbescheides des SG vom 16. Juli 2021 und der Zurückverweisung des Rechtsstreits an das SG zur erneuten Verhandlung und Entscheidung begründet.
Das Verfahren vor dem SG leidet an einem Verfahrensmangeln, weil das SG bei seiner Entscheidung durch Gerichtsbescheid den Antrag der Klägerin nach § 109 Abs. 1 Satz 1 SGG übergangen hat.
Ein Verfahrensmangel ist ein Verstoß gegen eine das Gerichtsverfahren regelnde Vorschrift. Erfasst sind Fehler auf dem Weg zur Entscheidung, grundsätzlich nicht Fehler der Entscheidung selbst (vgl. LSG Baden-Württemberg, Urteil vom 22. Juli 2021 – L 10 U 3803/20 –, n. v.; LSG Baden-Württemberg, Urteil vom 11. Dezember 2020 – L 4 R 1223/20 –, juris, Rz. 33; Keller, in: Meyer-Ladewig/Keller/Leitherer/Schmidt, Kommentar zum SGG, 13. Aufl. 2020, § 159 Rz. 3; Binder, in: HKK-SGG, 6. Aufl. 2021, § 159 Rz. 7).
Nach § 109 Abs. 1 Satz 1 SGG muss auf Antrag des Versicherten, des behinderten Menschen, des Versorgungsberechtigten oder Hinterbliebenen ein bestimmter Arzt gutachtlich gehört werden. Die Anhörung kann davon abhängig gemacht werden, dass der Antragsteller die Kosten vorschießt und vorbehaltlich einer anderen Entscheidung des Gerichts endgültig trägt (§ 109 Abs. 1 Satz 2 SGG). Der Antrag muss auf Anhörung eines namentlich benannten bestimmten Arztes gehen, wobei das Beweisthema nicht näher umrissen werden muss, sofern es sich durch Auslegung ergibt (vgl. Bundessozialgericht [BSG], Urteil vom 20. April 2010 – B 1/3 KR 22/08 R –, juris, Rz. 16; Keller, a. a. O., § 109 Rz. 4).
Der Antrag der Klägerin vom 15. Juli 2021 hat den Vorgaben des § 109 Abs. 1 Satz 1 SGG entsprochen. Sie hat die Erhebung eines Sachverständigengutachtens bei einem namentlich benannten Arzt, S3, unter Angabe dessen Praxisanschrift beantragt. Unschädlich war, dass ein bestimmtes Beweisthema nicht ausdrücklich angegeben worden ist (vgl. oben). Aus dem Streitgegenstand des Verfahrens, die Herabsetzung des GdB ab dem 2. Mai 2020 von 70 auf 40, hat sich hinreichend ergeben, dass S3 zur Frage der Höhe des GdB zu diesem Zeitpunkt ein Sachverständigengutachten erstellen sollte. Unschädlich war im Weiteren, dass die Klägerin die Antragstellung davon abhängig gemacht hat, ob sich das SG den Ausführungen des als sachverständigen Zeugen angehörten H2 anschließt und den Gesamt-GdB mit 50 bewertet. Denn auch ein hilfsweiser Antrag nach § 109 SGG ist zulässig (vgl. Keller, a. a. O., § 109 Rz. 7; Pitz, in: Schlegel/Voelzke, jurisPK-SGG, 1. Aufl. 2017, Stand: 12. April 2021, § 109 Rz. 17). Zudem hätte im Hinblick auf die Ausführungen der Klägerin im Rahmen der Antragstellung, wenn sich das SG, wie aus dem Gerichtsbescheid vom 16. Juli 2021 deutlich geworden ist, nicht den Ausführungen des H2 anschließt, eine Hinweispflicht bestanden (vgl. Keller, a. a. O., § 109 Rz. 9a).
Die Klägerin hat den Antrag nach § 109 Abs. 1 Satz 1 SGG auch fristgemäß am 15. Juli 2020 gestellt. Das SG hat im Rahmen der Anhörung der Beteiligten zur Entscheidung durch Gerichtsbescheid diesen Gelegenheit zur abschließenden Stellungnahme bis zum 15. Juli 2020 gegeben. Vor diesem Hintergrund hätte das SG den Antrag auch nicht nach § 109 Abs. 2 SGG ablehnen können. Nach § 109 Abs. 2 SGG kann das Gericht den Antrag nur dann ablehnen, wenn durch die Zulassung die Erledigung des Rechtsstreits verzögert werden würde und der Antrag nach der freien Überzeugung des Gerichts in der Absicht, das Verfahren zu verschleppen, oder aus grober Nachlässigkeit nicht früher vorgebracht worden ist. Die Voraussetzungen des § 109 Abs. 2 SGG haben demnach offensichtlich nicht vorgelegen.
Unabhängig von dem Umstand, dass das SG den Antrag nicht verfahrensfehlerfrei nach § 109 Abs. 2 SGG hätte ablehnen können, ergibt sich die Ablehnung des Antrags auch weder ausdrücklich noch konkludent aus dem Gerichtsbescheid vom 16. Juli 2021. Denn das SG hat der Klägerin mit Schreiben vom 16. Juli 2021 mitgeteilt, dass ihr Schreiben vom 15. Juli 2021 mit dem Antrag nach § 109 SGG erst nach Fertigstellung und Versand des Gerichtsbescheids dem Kammervorsitzenden vorgelegt worden ist und deshalb nicht hat berücksichtigt werden können.
Der vorliegende Verfahrensmangel ist auch wesentlich im Sinne des § 159 Abs. 1 Nr. 2 SGG.
Wesentlich ist der Mangel, wenn das Urteil (oder der Gerichtsbescheid) des SG auf ihm beruhen kann. Bei der Beurteilung ist auf die Rechtsansicht des SG abzustellen; es liegt also kein Verfahrensfehler vor, wenn das SG Ermittlungen unterlassen hat, auf die es nach seiner Rechtsauffassung zum materiellen Recht nicht angekommen ist. Bei Verfahrensfehlern, die absolute Revisionsgründe sind (§ 202 Satz 1 SGG in Verbindung mit § 547 Zivilprozessordnung [ZPO]), beruht das Urteil stets auf dem Verfahrensmangel (vgl. LSG Baden-Württemberg, Urteil vom 22. Juli 2021 – L 10 U 3803/20 –, n. v.; LSG Baden-Württemberg, Urteil vom 11. Dezember 2020 – L 4 R 1223/20 –, juris, Rz. 56; Keller, a. a. O., § 159 Rz. 3a m. w. N.).
Vorliegend ist der Verstoß gegen § 109 Abs. 1 Satz 1 SGG wesentlich. Das SG hat den Antrag nicht aufgrund seiner Rechtsauffassung zum materiellen Recht abgelehnt, sondern hat diesen schlicht nicht beachtet, weil ihm der (fristgemäße) Antrag erst nach Abfassung und Versendung des Gerichtsbescheides zur Kenntnis gelangt ist. Hätte es hingegen dem Antrag entsprochen und bei S3 ein Sachverständigengutachten nach § 109 SGG erhoben, wäre es nicht auszuschließen gewesen, dass es im Rahmen seiner Beweiswürdigung zu einem anderen Ergebnis gekommen wäre und die Klage nicht oder nur teilweise abgewiesen hätte.
Wegen des vorliegenden Verfahrensmangels ist auch eine umfangreiche und aufwändige Beweisaufnahme im Sinne des § 159 Abs. 1 Nr. 2 SGG erforderlich. Dies ist dann gegeben, wenn die Beweisaufnahme einen erheblichen Einsatz von personellen und sachlichen Mitteln erfordert (vgl. BT-Drucks. 17/6764, S. 27, zu Art. 8 Nr. 8). Davon ist auszugehen, wenn weitere Ermittlungen in Form der Einholung zumindest einer gutachterlichen Stellungnahme geboten sind. Denn schon mit der Einholung eines solchen Sachverständigengutachtens ist typischerweise der Einsatz erheblicher sachlicher und mit Blick auf die Auswertung und Bewertung auch erheblicher personeller Mittel verbunden. Zudem kann dies ggf. auch weitere Ermittlungen nach sich ziehen (vgl. LSG Baden-Württemberg, Urteil vom 22. Juli 2021 – L 10 U 3803/20 –, n. v.; LSG Baden-Württemberg, Urteil vom 11. Dezember 2020 – L 4 R 1223/20 –, juris, Rz. 60 m. w. N.; a. A.: Keller, a. a. O., § 159 Rz. 4; Adolf, in: Schlegel/Voelzke, jurisPK-SGG, 1. Aufl. 2017, Stand 15. Juli 2017, § 159 Rz. 21).
Vorliegend wäre auf den Antrag der Klägerin nach § 109 Abs. 1 Satz 1 SGG S3, da auch keine Gründe nach § 109 Abs. 2 SGG, wegen denen der Antrag hätte abgelehnt werden können, vorgelegen haben (vgl. oben), mit der Erstellung eines Sachverständigengutachtens durch das SG zu beauftragen gewesen. Nach Erstellung dieses Sachverständigengutachtens wären ggf. weitere Sachverhaltsermittlungen in medizinischer Hinsicht durchzuführen gewesen.
Die Zurückverweisung steht bei Vorliegen der Tatbestandsvoraussetzungen des § 159 Abs. 1 Nr. 2 SGG im Ermessen des Berufungsgerichts. Dieses muss zwischen den Interessen der Beteiligten an einer möglichst schnellen Sachentscheidung einerseits und dem Verlust einer Instanz andererseits abwägen, wobei der Ausnahmecharakter der Vorschrift zu berücksichtigen ist (vgl. BSG, Beschluss vom 14. Februar 2006 – B 9a SB 22/05 B –, juris, Rz. 7; LSG Baden-Württemberg, Urteil vom 22. Juli 2021 – L 10 U 3803/20 –, n. v.; LSG Baden-Württemberg, Urteil vom 11. Dezember 2020 – L 4 R 1223/20 –, juris, Rz. 62; Keller, a. a. O., § 159 Rz. 5 f.).
In Abwägung zwischen den Interessen der Beteiligten an einer möglichst schnellen Sachentscheidung und dem Grundsatz der Prozessökonomie einerseits sowie dem Verlust einer Instanz andererseits hält es der Senat vorliegend für angezeigt, den Rechtsstreit an das SG zurückzuverweisen. Dabei berücksichtigt der Senat, dass die Klägerin die Berufung am 12. August 2021 beim SG erhoben hat. Die Begründung der Berufung und auch die erstmalige Formulierung des Zurückverweisungsbegehrens sind erst am 2. November 2021 erfolgt. Der Klägerin entsteht durch die Zurückverweisung somit kein wesentlicher zeitlicher Nachteil. Auch ist der Rechtsstreit aus den genannten Gründen nicht entscheidungsreif. Zudem kann nicht außer Acht bleiben, dass die Klägerin die Nichtbeachtung ihres Rechts nach § 109 SGG erstinstanzlich nicht rügen konnte. Der Verlust einer Instanz wirkt daher besonders schwer. Die Klägerin hat die Zurückverweisung auch ausdrücklich beantragt und der Beklagte hat hiergegen keine Einwendungen erhoben (vgl. auch LSG Baden-Württemberg, Urteil vom 22. Juli 2021 – L 10 U 3803/20 –, n. v.; LSG Baden-Württemberg, Urteil vom 11. Dezember 2020 – L 4 R 1223/20 –, juris, Rz. 63).
Aufgrund des Erfolgs des Hauptantrags ist über den Hilfsantrag nicht mehr zu befinden.
Nach alledem war der Gerichtsbescheid des SG vom 16. Juli 2021 aufzuheben und der Rechtsstreit zur erneuten Verhandlung und Entscheidung an das SG zurückzuverweisen.
Die Kostenentscheidung bleibt der endgültigen Entscheidung des SG vorbehalten.