L 7 R 4156/20

Land
Baden-Württemberg
Sozialgericht
LSG Baden-Württemberg
Sachgebiet
Rentenversicherung
Abteilung
7.
1. Instanz
SG Heilbronn (BWB)
Aktenzeichen
S 13 R 2579/19
Datum
2. Instanz
LSG Baden-Württemberg
Aktenzeichen
L 7 R 4156/20
Datum
3. Instanz
-
Aktenzeichen
-
Datum
-
Kategorie
Urteil

Die Berufung des Klägers gegen den Gerichtsbescheid des Sozialgerichts Heilbronn vom 25. November 2020 wird zurückgewiesen.

Außergerichtliche Kosten sind nicht zu erstatten.

 

Tatbestand

Die Beteiligten streiten noch über die Gewährung einer Rente wegen teilweiser Erwerbsminderung.

Der 1982 geborene Kläger erlitt im September 2013 einen Motorradunfall, bei dem er sich ein Polytrauma und schwere Verletzungen, vor allem im Bereich der rechten Schulter und der Wirbelsäule zuzog. Zuletzt war er bis 2017 im technischen Vertriebsaußendienst versicherungspflichtig beschäftigt. Seitdem ist er arbeitslos bzw. arbeitsunfähig erkrankt. Seit Juni 2018 ist bei ihm ein Grad der Behinderung (GdB) von 50 festgestellt.

In der Zeit vom 18. Juli 2017 bis 8. August 2017 führte der Kläger eine stationäre Rehabilitationsmaßnahme in der B.-Klinik in B. K. durch, aus der er arbeitsunfähig, aber aus orthopädischer Sicht mit einem Leistungsvermögen von sechs Stunden und mehr für leichte bis mittelschwere Tätigkeiten entlassen wurde (Entlassbericht vom 9. August 2017, Diagnosen: Persist. Dorsalgien, Z. n. Polytrauma 23. September 2013: BWK 5-8 Frakt., Querfortsatzfr. BW 2-6 re., Dornfortsatzfr. BW 3-5, Persist. Omaligien, Z.n. Skapulatrümmerfraktur 23. September 2013, konserv. Th, fragl. Thoracic Outlet-Syndr., Cervikobrachialgien, muskuläre Dysbalance, mäßige Degeneration, chron. Rez. Lumbalgien seit Jugend, anamnest. BSV, Polytrauma 9/13: Rippenserienfrakturen bds., Rippenansatzfrakturen BWK 3-6, Lungenkontusion, V.a. posttraumat. Belastungsstörung, Belastung durch die körperl. Erkr.).

In der Zeit vom 4. Juni 2018 bis 15. Juni 2018 befand sich der Kläger zu einer Arbeitserprobung im Berufsförderungswerk S. (vgl. Medizinische Stellungnahme vom 19. Juni 2018).

Am 23. November 2018 beantragte der Kläger bei der Beklagten die Gewährung einer Rente wegen Erwerbsminderung, welche die Beklagte mit Bescheid vom 4. Dezember 2018 ablehnte, weil der Kläger die medizinischen Voraussetzungen nicht erfülle. 

Am 14. Dezember 2018 legte der Kläger hiergegen unter Hinweis auf die fehlende Berücksichtigung der bei ihm bestehenden Schmerzerkrankung und Übersendung einer Auskunft des Arztes für Nervenheilkunde K. Widerspruch ein.

Die Beklagte ließ den Kläger sodann durch den Unfallchirurgen und Orthopäden Dr. S. begutachten, der bei dem Kläger im Gutachten vom 16. April 2019 folgende Diagnosen stellte: Zustand nach Polytrauma 9/2013 mit BWK 5- bis 8-Frakturen, Rippenserienfrakturen beidseitig, Lungenkontusion, Scapula-Fraktur rechts, BWS/LWS-Syndrom ohne radikuläre Symptomatik, Funktionseinschränkung des rechten Schultergelenkes nach Scapula-Fraktur 2013 mit leichter Impingementsymptomatik. Aus orthopädischer Sicht könne der Kläger leichte Tätigkeiten auf dem allgemeinen Arbeitsmarkt sechs Stunden und mehr ausüben. Eine Tätigkeit als Außendienstmitarbeiter sei nur noch unter drei Stunden möglich. In dem außerdem auf Veranlassung der Beklagten erstatteten Gutachten des Facharztes für Neurologie, Psychiatrie und Psychotherapie Dr. H. vom 2. Mai 2019 beschrieb dieser gestützt auf eine ambulante Untersuchung des Klägers ausgeprägte, nicht authentische Beschwerdeschilderungen und Verhaltensweisen. Diese fänden sich in der Anamneseerhebung sowie in der körperlichen und testpsychologischen Untersuchung. Auffallend seien insoweit die Angaben des Klägers zur Sensibilität. So habe der Kläger horizontale Sensibilitätsstörungen im Rückenbereich beidseits, sowohl paramedian als auch weit lateral angegeben, jedoch keine Sensibilitätsstörungen im Bereich der vorderen Brustwand und im Bauchbereich mitgeteilt. Dies sei anatomisch nicht möglich. Insgesamt habe der Kläger anhaltend lächelnd und ohne Leidensdruck geschildert. Das Gangbild auf dem Weg zum Untersuchungszimmer sei gering breitbasig, demonstrativ vorsichtig ausgeführt worden, nach dem Verlassen des Untersuchungszimmers habe sich das Gangbild komplett normalisiert. Es bestünden gelegentliche Anpassungsstörungen, zum Untersuchungszeitpunkt jedoch weder eine depressive Symptomatik noch eine posttraumatische Belastungsstörung. Aus nervenärztlicher Sicht sei der Kläger als Industriekaufmann, als Außendienstmitarbeiter, als Metallarbeiter ebenso wie für mittelschwere Tätigkeiten ohne Wirbelsäulenzwangshaltungen sechs Stunden und mehr leistungsfähig.

Mit Widerspruchsbescheid vom 12. Juli 2019 wies die Beklagte den Widerspruch gegen den Bescheid vom 4. Dezember 2018 zurück.

Am 31. Juli 2019 hat der Kläger unter Vorlage einer Vielzahl von Befundberichten Klage zum Sozialgericht Heilbronn (SG) erhoben. Die im Widerspruchsverfahren eingeholten Gutachten seien teilweise unvollständig und in ihren Feststellungen bewusst gegen ihn erfolgt. Es müsse sogar von Befangenheit ausgegangen werden. Insbesondere die Ausführungen des Dr. H. hinterließen den Eindruck, dass es dem Gutachter vor allem darum gegangen sei, den Kläger in ein möglichst schlechtes Licht zu rücken. Er sei vielmehr aufgrund der vorliegenden Multimorbidität nicht mehr in der Lage vollschichtig tätig zu sein.  

In der Zeit vom 20. Januar 2020 bis 5. Februar 2020 hat sich der Kläger zu einer stationären Behandlung in der Lungenklinik L. befunden (vgl. vorläufiger Entlassbericht vom 5. Februar 2020, Diagnosen: Chronische Schmerzstörung mit somatischen und psychischen Faktoren bei BWS-Syndrom beidseits bei Wirbelkörperfrakturen und Omalgie rechts bei Scapulatrümmerfraktur, spinale Ataxie bei Z. n. Polytrauma mit Contusio Spinalis 2013, Depression, Posttraumatische Belastungsstörung, Z. n. Herzoperation 2002).  

Zur weiteren Aufklärung des medizinischen Sachverhalts hat das SG das Gutachten des Neurologen und Psychiaters Prof. Dr. R. sowie das Zusatzgutachten des Facharztes für Orthopädie und Rheumatologie, Physikalische und Rehabilitative Medizin PD Dr. R. erhoben. PD Dr. R. hat in seinem Gutachten vom 13. Mai 2020 folgende Gesundheitsstörungen festgestellt: 1. Zustand nach Polytrauma durch Motorradunfall 23. September 2013 mit Verletzungen der Brustwirbelsäule, Querfortsatz-, Dornfortsatz-, Rippenansatzfrakturen BWK 1 bis 6 rechts, Kompressionsfrakturen der Wirbelkörper 5 bis 8, knöchern fest verheilt mit Deformität des vorderen und seitlichen Keilwirbels, insbesondere BWK 6 und 7 und dadurch Deformität der Brustwirbelsäule mit leichter bis mäßiger Hyperkyphose, Rundrücken und leichter rechtskonvexer skoliotischer Fehlhaltung, Fehlstatik mit schmerzhaften Muskelverspannungen, leichte bis mäßige Einschränkung der Bewegungs- und Belastungsfunktion der Rumpfwirbelsäule, Brustwirbelsäule, 2. Skapula-Mehrfragment-Fraktur (Schulterblatt) am 23. September 2013 in mäßiger Fehlstellung knöchern fest verheilt, leichte bis mäßige Fehlstellung der Schultern mit Verkürzung und Absenkung, mit Impingement-Symptomatik und Verdacht auf Schädigung der Rotatorenmanschette, keine Instabilität, schmerzhafte Muskelverspannungen, mäßige Einschränkung der Bewegungs- und Belastungsfunktion der rechten Schulter und Schultergelenk, 3. Spiralfraktur im Grundgelenk fünfter Finger rechts, knöchern in geringfügiger Fehlstellung fest verheilt, geringfügiges Streckdefizit, keine wesentlichen Funktionseinschränkungen der rechten Hand, 4. Thoraxtrauma mit Rippenserienfrakturen rechts 2 bis 8, links 2 bis 5, Lungenkontusion und Hämatopneumothorax 23. September 2013, keine wesentlichen nachweisbaren Funktionseinschränkungen, 5. Querfortsatz-Fraktur der Halswirbelsäule HWK 7 rechts, knöchern fest verheilt, keine wesentlichen nachweisbaren Funktionseinschränkungen, 6. chronisches Schmerzsyndrom der Brust- und Lendenwirbelsäule ohne Nachweis von Reizung oder Schädigung einer Nervenwurzel. Aus orthopädisch-rheumatologischer Sicht und ohne Berücksichtigung von Gesundheitsstörungen im Fachbereich Neurologie/Psychiatrie/Schmerzmedizin könne der Kläger ohne Gefährdung seiner Gesundheit eine leichte körperliche Tätigkeit auf dem allgemeinen Arbeitsmarkt noch mindestens sechs Stunden täglich verrichten. Auszuschließen seien aus orthopädisch-rheumatologischer Sicht schwere und mittelschwere körperliche Arbeiten mit Heben und Tragen von Lasten mehr als acht bis zehn kg oder mehr als fünf bis sechs kg mit der rechten Hand und dem rechten Arm, Zwangshaltungen mit Rumpfvorhaltung, Rumpfseithaltung, häufiges Bücken und Knien, Anheben von Lasten aus diesen Körperpositionen heraus, Arbeiten auf Leitern und Gerüsten und mit Absturzgefahr, Gehen auf unebenem Gelände, häufiges Treppensteigen, Arbeiten in Nässe und Kälte ohne Schutzkleidung, starke Vibrationsbelastungen der Wirbelsäule, ständiges Sitzen und Gehen, Zwangshaltungen der rechten Schulter mit Armvorhaltung und Armseithaltung sowie Arbeiten mit der rechten Hand über Schulterniveau. Prof Dr. R. hat in seinem Gutachten vom 7. Juli 2020 auf nervenärztlichem Fachgebiet folgende Gesundheitsstörungen festgestellt: eine leichtgradige, anhaltende somatoforme Schmerzstörung, eine Dysthymia, einen leichten chronischen Nervenwurzelschaden TH 6 rechts und eine leichte posttraumatische Belastungsstörung. Der Kläger könne leichte Tätigkeiten auf dem allgemeinen Arbeitsmarkt noch mindestens sechs Stunden täglich verrichten. Zwangshaltungen der Wirbelsäule seien zu vermeiden, Arbeiten auf Leitern und auf Gerüsten seien angesichts der Schmerzsymptomatik und wegen des leichten Nervenwurzelschadens nicht mehr leidensgerecht. Gelegentliches Treppensteigen sei zumutbar. Arbeiten unter der Exposition von Kälte, Wärme, Staub, Gasen, Dämpfen oder Nässe seien zu vermeiden, wobei Tätigkeiten im Freien unter günstigen Witterungsbedingungen nicht grundsätzlich auszuschließen seien. Nachtschichten könne der Kläger wegen der Gefahr einer Verschlimmerung seiner Schlafstörungen nicht mehr ausüben.

Der Kläger hat nach der Untersuchung durch die Gutachter, aber vor der Erstattung der Gutachten ein Gedächtnisprotokoll von der Begutachtung vorgelegt.  Diesbezüglich wird auf Bl. 85 ff. der SG-Akte Bezug genommen. Der Kläger hat weiter mitgeteilt, es sei bei ihm der Eindruck verblieben, dass sich beide Gutachter anhand der gerichtlichen Unterlagen ein Ziel gesetzt hätten, in welche Richtung das Ergebnis des Gutachtens laufen solle. Er verbitte sich den immer wieder aufblitzenden Vorwurf, dass er einfach nur nicht arbeiten wolle.

Mit Gerichtsbescheid vom 25. November 2020 hat das SG die Klage gestützt auf die Gutachten des Prof. Dr. R. und des PD Dr. R. abgewiesen.

Gegen den seiner Prozessbevollmächtigten am 30. November 2020 zugestellten Gerichtsbescheid hat der Kläger am 29. Dezember 2020 Berufung zum Landessozialgericht Baden-Württemberg (LSG) eingelegt. Zur Begründung verweist er auf sein Vorbringen im erstinstanzlichen Verfahren. Er befinde sich weiterhin in regelmäßiger fachärztlicher Behandlung und versuche immer wieder durch Arbeitsaufnahmen in den beruflichen Alltag zurückzukommen. Er sei zwar halbtags tätig, diese Tätigkeit werde jedoch häufig durch Krankschreibungen wegen Überlastung unterbrochen. Eine mehr als vierstündige Tätigkeit führe zu einem Anstieg im Bereich der Schmerzen, was wiederum Schlafstörungen zur Folge habe.

Der Kläger beantragt,

den Gerichtsbescheid des Sozialgerichts Heilbronn vom 25. November 2020 aufzuheben und die Beklagte unter Aufhebung des Bescheides vom 4. Dezember 2018 in der Gestalt des Widerspruchbescheides vom 12. Juli 2019 zu verurteilen, ihm Rente wegen teilweiser Erwerbsminderung ab Antragstellung zu bewilligen. 

Die Beklagte beantragt,

die Berufung zurückzuweisen.

Sie erachtet den angefochtenen Gerichtsbescheid für zutreffend.

Der Senat hat auf Antrag des Klägers gemäß § 109 Sozialgerichtsgesetz (SGG) das Gutachten des Facharztes für Chirurgie, Orthopädie und Unfallchirurgie Prof. Dr. D. erhoben. Dieser hat in seinem Gutachten vom 6. Mai 2021 angegeben, die hauptursächliche Beeinträchtigung des Klägers bestehe in einer ausgeprägten Funktionseinschränkung des rechten Schultergelenkes begleitet von einer als belastungsgemindert einzustufenden Wirbelsäule, die auf die Mobilität des Klägers einen entscheidenden beeinträchtigenden Einfluss nehme. Ausgeschlossen seien aus orthopädisch-traumatologischer Sicht schwere und mittelschwere körperliche Arbeiten mit Heben und Tragen von Lasten von mehr als acht bis zehn kg oder mehr als fünf bis sechs kg mit der rechten Hand und dem rechten Arm. Aus orthopädisch-rheumatologischer Sicht kämen folgende Berufsbilder in Betracht: Leichte Bürotätigkeit, Tätigkeiten an einer betrieblichen Poststelle, aufsichtführende Tätigkeiten, z.B. in einem Museum, Tätigkeiten in der Qualitätskontrolle, Arbeiten an einer Rezeption oder einer Pforte. Diese Tätigkeiten könne der Kläger noch vier Stunden täglich ausüben. Der Kläger sei in der Lage, täglich viermal eine Wegstrecke von bis zu 500 m zu absolvieren. Möglich erscheine dies nur unter Anwendung von Hilfsmitteln (z.B. Gehstützen). Auch der Zeitraum innerhalb von jeweils 20 Minuten erscheine zumutbar. Schwierigkeiten seien zu erwarten, wenn öffentliche Verkehrsmittel während der Hauptverkehrszeiten benutzt würden. Dies begründe sich dadurch, dass zu diesem Zeitraum kaum Sitzplätze in den öffentlichen Verkehrsmitteln zur Verfügung stünden und der Kläger auf die Haltefunktion bezüglich des rechten Armes angewiesen sei, wenn er mit dem linken Arm die erforderliche Gehstütze absichern müsse. Der Benutzung eines Kraftfahrzeuges stünden keine Bedenken entgegen.

Die Beklagte ist dem Gutachten entgegengetreten und hat eine sozialmedizinische Stellungnahme der Fachärztin für Chirurgie Dr. L. vorgelegt. Diese hat ausgeführt, dass sich keine wesentlichen Diskrepanzen bei der Befunderhebung zu den Vorgutachten auf orthopädischem bzw. orthopädisch-chirurgischem Fachgebiet ergäben. Auffällig sei, dass der Gutachter mehrfach betone, dass es sich um ein unverschuldetes Unfallereignis 2013 handele mit schwerwiegenden Verletzungen und einer nicht adäquaten Primärdiagnostik. Für die Leistungsbeurteilung sei dies allerdings unerheblich, zu bewerten sei der medizinische Befund auf Grundlage des aktuellen, erhobenen Befundes und der dokumentierten ärztlichen Vorberichte, Gutachten etc. Die Ausführungen des Gutachters zur Leistungsbeurteilung seien widersprüchlich, auf der einen Seite werde angegeben, dass sich das Leistungsvermögen zu den gutachterlichen Erhebungen 2020 nicht wesentlich geändert habe, auf der anderen Seite werde eine quantitative Leistungsfähigkeit für sinngemäß drei bis unter sechs Stunden angegeben, ohne dass der Gutachter diese quantitative Einschränkung begründe. Der Eintrittszeitpunkt werde auf etwa zwei Jahre zurückliegend geschätzt, ohne dass der Gutachter dies begründen könne oder in irgendeiner Form ableite.

Der Kläger hat unter Vorlage eines Attestes des Orthopäden Nadler vom 26. Januar 2022 mitgeteilt, dass die rechte Schulter nunmehr eine schwere posttraumatische Arthrose aufweise, wie sich in einer Röntgenuntersuchung am 19. Januar 2022 gezeigt habe. Die Bewegungseinschränkungen seien daher noch erheblicher geworden. Die Beklagte hat hierzu die sozialmedizinische Stellungnahme des Facharztes für Chirurgie/Unfallchirurgie, Orthopädie und Unfallchirurgie Dr. S. vom 11. Februar 2022 vorgelegt.

Mit Schreiben vom 11. Februar 2022 hat der Kläger weiter einen Bericht der Radiologischen Praxis am D.-Klinikum vom 7. Juli 2021 vorgelegt. Danach konnten bei der Magnetresonanztomographie der Halswirbelsäule und der Brustwirbelsäule weiterhin kein Nachweis einer (posttraumatischen) Myelopathie, keine Plaques i.S. einer MS, keine Spinalkanalstenose und kein Bandscheibenvorfall gefunden werden. Eine eindeutige Facettengelenksarthrose war nicht zu erkennen, es zeigten sich jedoch beginnende arthrotische Veränderungen in den Gelenken zwischen den Rippen 5-8 und den Querfortsätzen der Wirbelkörper 5-8 rechts.

Wegen weiterer Einzelheiten des Sachverhalts sowie des Vorbringens der Beteiligten wird auf die Gerichtsakten erster und zweiter Instanz sowie die Verwaltungsakten der Beklagten Bezug genommen.

 

Entscheidungsgründe

Die gemäß § 151 Abs. 1 SGG form- und fristgerecht eingelegte Berufung des Klägers ist zulässig, insbesondere statthaft (§ 144 Abs. 1 Satz 2 SGG), aber unbegründet.

Gegenstand des Verfahren ist der Bescheid vom 4. Dezember 2018 in der Gestalt des Widerspruchbescheides vom 12. Juli 2019 (vgl. § 95 SGG), mit dem die Beklagte die Gewährung einer Rente wegen Erwerbsminderung abgelehnt hat. Dagegen wendet sich der Kläger statthaft mit einer kombinierten Anfechtungs- und Leistungsklage (§§ 54 Abs. 1 und 4, 56 SGG), mit der er (noch) die Gewährung einer Rente wegen teilweiser Erwerbsminderung geltend macht.  

Nach § 43 Abs. 2 Satz 1 Sozialgesetzbuch Sechstes Buch (SGB VI) in der ab 1. Januar 2008 geltenden Fassung (Gesetz vom 20. April 2007, BGBl. I, S. 554) haben Versicherte bis zum Erreichen der Regelaltersgrenze Anspruch auf Rente wegen voller Erwerbsminderung, wenn sie voll erwerbsgemindert sind (Nr. 1), in den letzten fünf Jahren vor Eintritt der Erwerbsminderung drei Jahre Pflichtbeiträge für eine versicherte Beschäftigung oder Tätigkeit haben (Nr. 2) und vor Eintritt der Erwerbsminderung die allgemeine Wartezeit erfüllt haben (Nr. 3). Voll erwerbsgemindert sind Versicherte, die wegen Krankheit oder Behinderung auf nicht absehbare Zeit außer Stande sind, unter den üblichen Bedingungen des allgemeinen Arbeitsmarktes mindestens drei Stunden täglich erwerbstätig zu sein (§ 43 Abs. 2 Satz 2 SGB VI). Voll erwerbsgemindert sind auch Versicherte nach § 1 Satz 1 Nr. 2 SGB VI, die wegen Art oder Schwere der Behinderung nicht auf dem allgemeinen Arbeitsmarkt tätig sein können, und Versicherte, die bereits vor Erfüllung der allgemeinen Wartezeit voll erwerbsgemindert waren, in der Zeit einer nicht erfolgreichen Eingliederung in den allgemeinen Arbeitsmarkt (§ 43 Abs. 2 Satz 3 SGB VI). Versicherte haben nach § 43 Abs. 1 Satz 1 SGB VI bis zum Erreichen der Regelaltersgrenze Anspruch auf Rente wegen teilweiser Erwerbsminderung, wenn neben den oben genannten versicherungsrechtlichen Voraussetzungen eine teilweise Erwerbsminderung vorliegt. Teilweise erwerbsgemindert sind Versicherte, die wegen Krankheit oder Behinderung auf nicht absehbare Zeit außer Stande sind, unter den üblichen Bedingungen des allgemeinen Arbeitsmarktes mindestens sechs Stunden täglich erwerbstätig zu sein (§ 43 Abs. 1 Satz 2 SGB VI). Erwerbsgemindert ist nicht, wer unter den üblichen Bedingungen des allgemeinen Arbeitsmarktes mindestens sechs Stunden täglich erwerbstätig sein kann; dabei ist die jeweilige Arbeitsmarktlage nicht zu berücksichtigen (§ 43 Abs. 3 SGB VI).

Die Tatsachengerichte der Sozialgerichtsbarkeit haben von Amts wegen (§ 103 SGG) mit Hilfe (medizinischer) Sachverständiger (§ 106 Abs. 3 Nr. 5 SGG) zu ermitteln und festzustellen, a) Art, Ausprägung und voraussichtliche Dauer der Krankheit(en) oder Behinderung(en), an denen der Versicherte leidet, b) Art, Umfang und voraussichtliche Dauer der quantitativen und qualitativen Leistungseinschränkungen (Minderbelastbarkeiten, Funktionsstörungen und -einbußen) sowie den c) Ursachenzusammenhang („wegen“) zwischen a) und b) (z.B. Bundessozialgericht [BSG], Urteil vom 9. Mai 2012 – B 5 R 68/11 R – juris Rdnr. 13).

Der Kläger hat die allgemeine Wartezeit von fünf Jahren sowie die besonderen versicherungsrechtlichen Voraussetzungen im Zeitpunkt der Rentenantragstellung erfüllt, was auch zwischen den Beteiligten unstreitig ist. Der Senat ist jedoch nicht davon überzeugt, dass der Kläger erwerbsgemindert ist. Bei der Beurteilung seiner beruflichen Leistungsfähigkeit standen im maßgeblichen Zeitraum im Vordergrund seine Gesundheitsstörungen auf orthopädischem und nervenärztlichem Fachgebiet. Diese waren jedoch nicht von einer solchen Schwere, dass sie das Leistungsvermögen des Klägers in zeitlicher Hinsicht eingeschränkt haben. Vielmehr genügten qualitative Einschränkungen, um seinen Leiden gerecht zu werden. Der Senat stützt sich hierbei auf die vom SG bei Prof. Dr. R. und PD Dr. R. eingeholten Gutachten, die im Verwaltungsverfahren von der Beklagten eingeholten Gutachten von Dr. S. und Dr. H., die der Senat im Wege des Urkundsbeweises verwertet (vgl. BSG, Beschluss vom 14. November 2013 – B 9 SB 10/13 B – juris Rdnr. 6; BSG, Urteil vom 5. Februar 2008 – B 2 U 8/07 R – juris Rdnr. 51).

Die bei dem Kläger vorliegenden somatischen Erkrankungen begründen keine Leistungseinschränkungen in quantitativer Hinsicht. Dies entnimmt der Senat insbesondere dem Gutachten des PD Dr. R.. PD Dr. R. hat in seinem Gutachten vom 13. Mai 2020 in Einklang mit den Untersuchungsbefunden sowie den aktenkundigen Vorbefunden folgende Gesundheitsstörungen festgestellt: 1. Zustand nach Polytrauma durch Motorradunfall 23. September 2013 mit Verletzungen der Brustwirbelsäule, Querfortsatz-, Dornfortsatz-, Rippenansatzfrakturen BWK 1 bis 6 rechts, Kompressionsfrakturen der Wirbelkörper 5 bis 8, knöchern fest verheilt mit Deformität des vorderen und seitlichen Keilwirbels, insbesondere BWK 6 und 7 und dadurch Deformität der Brustwirbelsäule mit leichter bis mäßiger Hyperkyphose, Rundrücken und leichter rechtskonvexer skoliotischer Fehlhaltung, Fehlstatik mit schmerzhaften Muskelverspannungen, leichte bis mäßige Einschränkung der Bewegungs- und Belastungsfunktion der Rumpfwirbelsäule, Brustwirbelsäule, 2. Skapula-Mehrfragment-Fraktur (Schulterblatt) am 23. September 2013 in mäßiger Fehlstellung knöchern fest verheilt, leichte bis mäßige Fehlstellung der Schultern mit Verkürzung und Absenkung, mit Impingement-Symptomatik und Verdacht auf Schädigung der Rotatorenmanschette, keine Instabilität, schmerzhafte Muskelverspannungen, mäßige Einschränkung der Bewegungs- und Belastungsfunktion der rechten Schulter und Schultergelenk, 3. Spiralfraktur im Grundgelenk fünfter Finger rechts, knöchern in geringfügiger Fehlstellung fest verheilt, geringfügiges Streckdefizit, keine wesentlichen Funktionseinschränkungen der rechten Hand, 4. Thoraxtrauma mit Rippenserienfrakturen rechts 2 bis 8, links 2 bis 5, Lungenkontusion und Hämatopneumothorax 23. September 2013, keine wesentlichen nachweisbaren Funktionseinschränkungen, 5. Querfortsatz-Fraktur der Halswirbelsäule HWK 7 rechts, knöchern fest verheilt, keine wesentlichen nachweisbaren Funktionseinschränkungen, 6. chronisches Schmerzsyndrom der Brust- und Lendenwirbelsäule ohne Nachweis von Reizung oder Schädigung einer Nervenwurzel. Nach den von PD Dr. R. beschriebenen Befunden zeigte sich das Gangbild auf dem Weg zum Untersuchungszimmer ohne Gehhilfen aufrecht, etwas vorsichtig und unsicher, ohne wesentliches Hinken, ohne Hinweise auf ein paretisches Gangbild, ohne Stolpern oder Schlürfen und ohne Fallneigung. Während der Befragung von eineinhalb Stunden stand der Kläger auf eigenen Wunsche ununterbrochen, nur nach Aufforderung durch den Gutachter setzte sich der Kläger zeitweise für wenige Minuten. Zuvor bei der Vor- und Röntgenbesprechung war ein Sitzen von 20 Minuten möglich. Bei der orthopädischen Ganganalyse durchschritt der Kläger ohne Gehhilfen das Untersuchungszimmer mit mittlerer und gleichseitiger Schrittlänge. Es zeigte sich eine normale Fußabrollung in Sporthalbschuhen, ohne Hinken und ohne Schwanken. Dabei fand sich weder eine Gelenkinstabilität noch eine sichtbare Beinverkürzung. Das Gangbild war sicher und ohne Hinweise auf ein paretisches Gangbild, eine auffällige Ataxie fand sich nicht. Bei der Beobachtung des Entkleidungsvorganges im Sitzen fanden sich keine sichtbaren Behinderungen und keine Schmerzäußerungen. Die Entkleidung des T-Shirts über den Kopf erfolgte unter Schonung der rechten Schulter und des rechten Arms, eine Abspreizung von mehr als 20° wurden dabei vermieden. Beim Barfußgang zeigte sich ein leichtes Schwanken nach beiden Seiten und eine leicht eingeschränkte Fußabrollung bei erheblichen Senkfüßen und leichten Spreizfüßen beidseits. Der Fersengang wurde nur sehr vorsichtig, unvollständig und für wenige Schritte ausgeführt, wobei keine Schmerzen angegeben wurden, sondern eine Unsicherheit bei Gangataxie. Die Beweglichkeit der Rumpfwirbelsäule war in der Rumpfvorneigung aktiv mäßig und passiv gering eingeschränkt. Es zeigten sich Schmerzen in der Brustwirbelsäule. Der Finger-Boden-Abstand betrug 30 cm. Die Wiederaufrichtung gelang ohne Kletterphänomen, ohne Haltsuche und ohne Hinweis auf eine Instabilität. Die Seitneigung und Rotation der Rumpfwirbelsäule zeigte sich aktiv und passiv nicht wesentlich eingeschränkt und ohne Schmerzangaben. Die Beweglichkeit der Halswirbelsäule war aktiv und passiv nicht eingeschränkt und auch endgradig ohne Schmerzangaben. Eine Schmerzausstrahlung in Schultern oder Arme bzw. Gefühlsstörungen wurden nicht angegeben. Die Einnahme der Bauchlage gelang zügig, unbehindert und ohne Schmerzangabe. Dabei wurden beide Schultern, Arme und Hände zeitweise mit dem vollen Körpergewicht belastet. Es gelang dem Kläger, den Oberkörper mit angelegten Armen mit einem Brustbein-Liege-Abstand von ca. zwei bis drei cm von der Liege abzuheben und mehrere Sekunden ohne Schmerzäußerung zu halten. Der Nackengriff wurde links aktiv rasch und vollständig ausgeführt, rechts zögerlich und leicht eingeschränkt in der Abspreizung und Rückführung, wobei die Ausführung vom Gutachter passiv nur gering zu verbessern war. Die Muskelprofile waren dabei beidseits kräftig, rechts leicht vermindert. Der Schürzenbindegriff gelang links aktiv zügig und vollständig, rechts zögerlich und unvollständig, Dabei war die Innenrotation und Rückführung der rechten Schulter endgradig schmerzhaft eingeschränkt. Die Beweglichkeit im rechten Schultergelenk zeigte sich aktiv stark eingeschränkt, die Seitwärtshebung gelang aktiv mit 100°, passiv mit 110° (Normalwerte 170 - 180°). Dabei zeigte sich eine starke Muskelverspannung und Schmerzen im Bereich des Akromions, subakromial und im Bereich des Schulterblatts. Die Armvorwärtsführung gelang rechts aktiv mit 110°, passiv mit 130° (Normalwerte 150 - 170°), danach gab der Kläger Schmerzen an. Das Schulterblatt war dabei wenig beweglich und fixiert ab einer Abspreizung von 100° und Armvorführung von 110°. Die Rotation im rechten Schultergelenk war gering eingeschränkt, endgradig mit Schmerzangaben in der gesamten vorbeschriebenen Region. Die Beweglichkeit der linken Schulter war aktiv und passiv nicht eingeschränkt.

Auch Gesundheitsstörungen auf nervenärztlichem Fachgebiet rechtfertigen keine Einschränkungen der beruflichen Leistungsfähigkeit des Klägers in zeitlicher Hinsicht. Dies entnimmt der Senat insbesondere dem Gutachten des Prof. Dr. R.. Dieser hat in seinem Gutachten vom 7. Juli 2020 in Einklang mit den Untersuchungsbefunden sowie den aktenkundigen Vorbefunden folgende Gesundheitsstörungen festgestellt: eine leichtgradige, anhaltende somatoforme Schmerzstörung, eine Dysthymia, einen leichten chronischen Nervenwurzelschaden TH 6 rechts und eine leichte posttraumatische Belastungsstörung. Nach den von Prof. Dr. R. mitgeteilten Befunden erschien der Kläger pünktlich und korrekt gekleidet zum Untersuchungstermin. Das Aus- und Ankleiden erfolgte rasch und wurde nicht von Schmerzäußerungen begleitet. Während der Exploration wirkte der Kläger freundlich, offen und ruhig. Auf an ihn gerichtete Fragen gab er prompt und bereitwillig Auskunft. Im Verlauf der mehrstündigen Begutachtung kam es nicht zu einem Nachlassen der Konzentriertheit oder der Aufmerksamkeit. Der Kläger war bewusstseinsklar und zu allen Qualitäten orientiert. Die Antriebslage wirkte unauffällig, Hinweise für eine äußerlich erkennbare, innere Unruhe fanden sich nicht. Hinsichtlich der Stimmungslage wirkte der Kläger streckenweise subdepressiv. Beim Besprechen angenehmer Themen kam es jedoch rasch zu einer Stimmungsaufhellung. Die affektive Modulationsfähigkeit war nicht eingeschränkt. Die Auffassungsgabe, die Konzentrationsfähigkeit und die Aufmerksamkeitsdauer waren ungestört. Das Kurz- und das Langzeitgedächtnis wiesen keine Einschränkungen auf. Der Kläger wirkte intelligent und gebildet. Er war gut in der Lage, abstrakten gedanklichen Anforderungen zu genügen. Der formale Gedankengang war unauffällig. Gedankeninhaltlich kreiste der Kläger um seine Beschwerden. Insgesamt handelt es sich damit um einen nur geringfügig normabweichenden psychischen Befund.   

Die gegenüber dem Sachverständigen Prof. Dr. R. geschilderten Alltagsaktivitäten belegen, dass der Kläger durchaus zu einem geregelten Tagesablauf in der Lage ist. Er hat angegeben, morgens um 5:00 Uhr aufzustehen, wenn der Wecker seiner Ehefrau klingele. Er berichtet, noch in der Lage zu sein, gymnastische Übungen zu machen, sich die Mahlzeiten zu richten, die Nachrichten im Internet auf seinem Laptop-Computer zu verfolgen, seine Ehefrau abends zum Reitstall zu begleiten, einzukaufen, ein Kraftfahrzeug zu führen, zwei Hasen und zwei Katzen zu versorgen, spazieren zu gehen, Fahrrad zu fahren, zu schwimmen, in einem Therapiezentrum zu trainieren, gelegentlich ein Restaurant aufzusuchen, Urlaubsreisen zu unternehmen, seinen Geburtstag im Freundes- und Familienkreis zu feiern, die Spülmaschine ein- und auszuräumen sowie die Wäsche zu machen.

Prof. Dr. R. hat ferner darauf hingewiesen, dass bei der Serumblutspiegelbestimmung der Amitriptylin-Spiegel weit unterhalb des therapeutischen Bereichs gelegen hat und sich die Einnahme von Tramaldon nicht nachweisen ließ, wobei der Kläger angeben hat, das opioidhaltige Schmerzmittel Tramaldon in mittlerer Dosierung und das trizyklische Antidepressivum Amitriptylin ebenfalls in mittlerer Dosierung einzunehmen. Ein belangvoller Leidensdruck kann danach nicht angenommen werden. 

Wegen der Beeinträchtigungen im Bereich der rechten Schulter ist der Kläger nicht mehr in der Lage, schwere und mittelschwere Arbeiten mit Heben und Tragen von Lasten mehr als acht bis zehn kg und mehr als fünf bis sechs kg mit dem rechten Arm und der rechten Hand auszuüben. Zu vermeiden sind auch Zwangshaltungen mit Armvorhaltung und Armseithaltung, Arbeiten mit der rechten Hand und dem rechten Arm über Schulterniveau, Arbeiten auf Leitern und Gerüsten und mit Absturzgefahr sowie Arbeiten in Nässe und Kälte ohne Schutzkleidung. Wegen der Beeinträchtigungen im Bereich des Rückens sind weiter zu vermeiden Zwangshaltungen mit Rumpfvorhaltung, Rumpfseithaltung, häufiges Bücken und Knien, Anheben von Lasten aus diesen Körperpositionen heraus, Arbeiten auf Leitern und Gerüsten und mit Absturzgefahr, Gehen auf unebenem Gelände, häufiges Treppensteigen, ständiges Sitzen und Gehen sowie Arbeiten in Nässe und Kälte ohne Schutzkleidung. Tätigkeiten in der Früh- bzw. in der Spätschicht kommen noch in Frage, während Nachtschichten aufgrund der Gefahr einer Verschlimmerung der Schlafstörungen zu vermeiden sind.

Eine andere Leistungsbeurteilung folgt auch nicht aus dem von Prof. Dr. D. erstatteten Gutachten vom 6. Mai 2021. Zwar kommt Prof. Dr. D. in seinem Gutachten zu dem Ergebnis, der Kläger könne leichte Tätigkeiten auf dem allgemeinen Arbeitsmarkt nur noch in einem Umfang von vier Stunden täglich ausüben. Wesentliche Diskrepanzen bei der Befunderhebung zu dem orthopädischen Vorgutachten des PD Dr. R. ergeben sich aber nicht, worauf sowohl Fachärztin für Chirurgie Dr. L. in ihrer sozialmedizinischen Stellungnahme für die Beklagte als auch Prof. Dr. D. selbst zutreffend hinweisen. Dies gilt insbesondere auch für die Beweglichkeit im Schultergelenk.  Prof. Dr. D. gibt einerseits an, dass „Einvernehmlichkeit im Hinblick auf die Beurteilung der begrenzten Leistungsfähigkeit des Klägers, wie sie in den früheren Begutachtungen am 13.05.2020 und am 07.07.2020 festgelegt wurden“ bestehe und sich das Leistungsvermögen im Vergleich zu den Vorbegutachtungen nicht in relevantem Umfang verändert habe, auf der anderen Seite wird eine quantitative Leistungsfähigkeit für sinngemäß drei bis unter sechs Stunden festgestellt, ohne dass diese quantitative Einschränkung begründet wird. Soweit Prof. Dr. D. sich zur Begründung weiterer qualitativer Leistungseinschränkungen auf die Diagnose einer posttraumatischen Belastungsstörung bezieht, übersieht er, dass nicht allein die Diagnose maßgeblich ist, sondern das Ausmaß der negativen Beeinflussung von – dauerhaften – Gesundheitsbeeinträchtigungen auf das verbliebene Leistungsvermögen (BSG, Beschluss vom 12. Dezember 2003 – B 13 RJ 179/03 B – juris Rdnr. 6; BSG, Beschluss vom 8. Oktober 2018 – B 5 R 112/18 B – juris Rdnr. 10). Entsprechende Beeinträchtigungen stellt Prof. Dr. D. im Hinblick auf die posttraumatische Belastungsstörung, die im Übrigen auch von Prof. Dr. R. diagnostiziert wurde, jedoch nicht fest, eine diesbezügliche Befunderhebung betrifft auch schon nicht sein Fachgebiet. Soweit Prof. Dr. D. weiter auf eine seit dem Unfall bestehende Gangataxie bei dringendem Verdacht auf eine stattgehabte Contusio spinalis (Rückenmarkstrauma) abstellt, ließ sich eine solche bei der Begutachtung durch Prof. Dr. R. und PD Dr. R. nicht feststellen. Prof. Dr. R. ist insoweit davon ausgegangen, dass die im Wirbelsäulenzentrum des Diakonie Klinikums Stuttgart vermutete Contusio spinalis folgenlos abgeklungen ist. Eigene Feststellungen des Prof. Dr. D. fehlen dazu. Insgesamt trifft Prof. Dr. D. seine Einschätzung auf der Grundlage einer mit den vorausgegangenen Begutachtungen vergleichbaren objektiven Befundlage. Bei dieser identischen Ausgangslage kann der Senat seine Feststellungen auf die vorausgegangenen medizinischen Stellungnahmen stützen. Ihre zeitlich frühere Erstellung ändert im Hinblick auf die im Wesentlichen vergleichbare objektive Befundlage nichts an ihrer Gültigkeit. 

Soweit der Kläger nunmehr noch ein Attest des Orthopäden Dr. N. vorgelegt hat, wonach bei ihm im Bereich der rechten Schulter eine schwere posttraumatische Arthrose vorliegt, ergibt sich hieraus ebenfalls keine andere Beurteilung. Der Senat kann dabei offenlassen, ob sich bei dem Kläger tatsächlich eine Schulterarthrose entwickelt hat, was Dr. S. in seiner sozialmedizinischen Stellungnahme für die Beklagte unter Berücksichtigung der Vorbefunde als sehr unwahrscheinlich einschätzt. Denn jedenfalls ergeben sich auch hieraus  keine quantitativen Einschränkungen, worauf auch Dr. S. in seiner Stellungnahme für die Beklagte hinweist. Allerdings sind qualitative Einschränkungen für anhaltende Armvorhalte und Überkopfarbeiten anzunehmen, solche wurden jedoch auch bereits zuvor durch die Gutachter festgestellt,

Auch der zuletzt vorgelegte Befundbericht der Radiologischen Praxis am D.Klinikum vom 7. Juli 2021 führt zu keiner anderen Leistungseinschätzung. Der Nachweis einer (posttraumatischen) Myelopathie konnte nicht geführt werden, ebenso wenig zeigten sich Plaques im Sinne einer MS. Es konnte keine Spinalkanalstenose und auch kein Bandscheibenvorfall festgestellt werden. Es zeigten sich zwar beginnende arthrotische Veränderungen in den Gelenken zwischen den Rippen 5-8 und den Querfortsätzen der Wirbelkörper 5-8 rechts. Funktionseinschränkungen lassen sich hieraus jedoch nicht ableiten, zumal die MRT zeitnah zur Untersuchung durch Prof. Dr. D. durchgeführt wurde, bei welcher der Befund im Wesentlichen nicht von dem Befund bei der Untersuchung durch PD Dr. R. abwich.        

Nach dem Gesamtergebnis des Verfahrens steht zur Überzeugung des Senats – in Übereinstimmung mit der Einschätzung der Sachverständigen Prof. Dr. R. und PD Dr. R. – fest, dass der Kläger noch in der Lage ist, mindestens sechs Stunden täglich jedenfalls eine körperlich leichte Tätigkeit unter Beachtung qualitativer Leistungseinschränkungen zu verrichten.

Steht das krankheits- bzw. behinderungsbedingte (Rest-)Leistungsvermögen fest, ist im nächsten Prüfungsschritt die Rechtsfrage zu klären, ob der Versicherte damit außerstande ist, „unter den üblichen Bedingungen des allgemeinen Arbeitsmarkts“ tätig zu sein (dazu BSG, Urteil vom 9. Mai 2012 – B 5 R 68/11 R – juris Rdnr. 17 ff. m.w.N.). Diese Frage ist hier zu verneinen. „Bedingungen“ sind dabei alle Faktoren, die wesentliche Grundlage des Arbeitsverhältnisses sind. Hierzu gehört vor allem der rechtliche Normrahmen, wie etwa Dauer und Verteilung der Arbeitszeit, Pausen- und Urlaubsregelungen, Beachtung von Arbeitsschutzvorschriften sowie gesetzliche Bestimmungen und tarifvertragliche Vereinbarungen. Die Bedingungen sind „üblich“, wenn sie nicht nur in Einzel- oder Ausnahmefällen anzutreffen sind, sondern in nennenswertem Umfang und in beachtlicher Zahl. Der Arbeitsmarktbegriff erfasst alle denkbaren Tätigkeiten, für die es faktisch „Angebot“ und „Nachfrage“ gibt. Das Adjektiv „allgemein“ grenzt den ersten vom zweiten – öffentlich geförderten – Arbeitsmarkt, zu dem regelmäßig nur Leistungsempfänger nach dem Zweiten Buch Sozialgesetzbuch (SGB II) und dem Dritten Buch Sozialgesetzbuch (SGB III) Zugang haben, sowie von Sonderbereichen ab, wie beispielsweise Werkstätten für behinderte Menschen und andere geschützte Einrichtungen.

Der Kläger kann – wie dargelegt – an fünf Tagen in der Woche mindestens sechs Stunden arbeiten. Sieht man davon ab, dass ihm (Nacht-)Schichtarbeiten krankheitsbedingt nicht mehr zugemutet werden dürfen, benötigt er im Hinblick auf Dauer und Verteilung der Arbeitszeit keine Sonderbehandlung, die auf dem allgemeinen Arbeitsmarkt unüblich wäre. Er hat auch keinen erhöhten, betriebsunüblichen Pausen- oder Urlaubsbedarf und ist in einem Betrieb, also außerhalb geschützter Einrichtungen, einsetzbar. Soweit Prof. Dr. D. angegeben hat, es sei „denkbar“, dass während der Arbeitszeit Pausen eingelegt werden müssen, ergibt sich hieraus nichts Anderes.  Der Senat ist weiter der Auffassung, dass der Kläger über die für die Ausübung einer Erwerbstätigkeit notwendigen kognitiven Grundfähigkeiten verfügt. Nach der Rechtsprechung des BSG werden unter den Begriff der üblichen Bedingungen „auch tatsächliche Umstände“ verstanden, wie z.B. die für die Ausübung einer Verweisungstätigkeit allgemein vorausgesetzten Mindestanforderungen an Konzentrationsvermögen, geistige Beweglichkeit, Stressverträglichkeit und Frustrationstoleranz, mithin ausschließlich kognitive Grundfähigkeiten (BSG, Urteil vom 19. Oktober 2011 – B 13 R 78/09 R – juris Rdnr. 29). Wie dargelegt, liegt bei dem Kläger kein Leiden vor, das leichte körperliche Tätigkeiten auf dem allgemeinen Arbeitsmarkt ausschließt. Die angesprochenen kognitiven Grundfähigkeiten sind nicht betroffen.

Die gesundheitlichen Einschränkungen sind weder in ihrer Art noch in ihrer Summe geeignet, die Gefahr der Verschlossenheit des Arbeitsmarktes zu begründen (dazu BSG, a.a.O. Rdnr. 24 ff.). Im Regelfall kann davon ausgegangen werden, dass ein Versicherter, der nach seinem verbliebenen Restleistungsvermögen noch in der Lage ist, körperlich leichte und geistige einfache Tätigkeiten – wenn auch mit qualitativen Einschränkungen – mindestens sechs Stunden täglich zu verrichten, auf dem allgemeinen Arbeitsmarkt unter dessen üblichen Bedingungen erwerbstätig sein kann. Denn dem Versicherten ist es mit diesem Leistungsvermögen in der Regel möglich, diejenigen Verrichtungen auszuführen, die in ungelernten Tätigkeiten regelmäßig gefordert werden, wie z.B. Zureichen, Abnehmen, Transportieren, Reinigen, Bedienen von Maschinen, Kleben, Sortieren, Verpacken, Zusammensetzen von Teilen sowie für Bürohilfsarbeiten (ständige Rechtsprechung des BSG, vgl. zuletzt Urteil vom 19. Oktober 2011 – B 13 R 79/09 RBSGE 109, 189; Urteil vom 11. Dezember 2019 – B 13 R 7/18 R – juris). Der Senat ist der Überzeugung, dass das Restleistungsvermögen des Klägers es diesem erlaubt, die oben genannten Verrichtungen oder Tätigkeiten, die in ungelernten Tätigkeiten üblicherweise gefordert werden, auszuüben. Insbesondere steht auch die eingeschränkte Schulterbeweglichkeit rechts dem nicht entgegen.  Nach der überzeugenden Einschätzung des PD Dr. R. ist zudem das Heben und Tragen von Lasten zwischen acht und zehn kg bzw. fünf bis sechs kg mit der rechten Hand und dem rechten Arm noch leidensgerecht. Hiervon weicht im Übrigen auch Prof. Dr. D. nicht ab. Es liegt weder eine spezifische Leistungsbehinderung noch eine Summierung ungewöhnlicher Leistungseinschränkungen vor.

Der Senat ist weiter davon überzeugt, dass bei dem Kläger die erforderliche Wegefähigkeit vorliegt (vgl. dazu BSG, Urteil vom 12. Dezember 2011 – B 13 R 79/11 RBSGE 110, 1). Soweit Prof. Dr. D. eine Einschränkung bei der Benutzung öffentlicher Verkehrsmittel während der Hauptverkehrszeiten sieht, weil die Gefahr bestehe, dass der Kläger stehen müsse, folgt der Senat dieser Einschätzung nicht. Die Notwendigkeit, einen Sitzplatz einzunehmen, beseitigt auch in Hauptverkehrszeiten die Fähigkeit zur Benutzung öffentlicher Verkehrsmittel grundsätzlich nicht. Denn nach § 5 Abs. 2 Satz 2 Verordnung über die Allgemeinen Beförderungsbedingungen für den Straßenbahn- und Obusverkehr sowie den Linienverkehr mit Kraftfahrzeugen sind Sitzplätze u.a. für Schwerbehinderte – eine entsprechende Feststellung liegt bei dem Kläger vor – oder in der Gehfähigkeit Beeinträchtigte freizugeben (vgl. hierzu Freudenberg in jurisPK-SGB IV, 3. Auflage 2021 (Stand 1. April 2021), § 43 Rdnr. 256; BSG, Urteil vom 26. Mai 1987 – 4a RJ 21/86 – juris Rdnr. 15). Daneben dürfte es dem Kläger durchaus möglich sein, sich mit der gesunden linken Hand festzuhalten.

Mit dem festgestellten Leistungsvermögen ist der Kläger weder teilweise noch voll erwerbsgemindert im Sinne des § 43 SGB VI.

Die Kostenentscheidung beruht auf § 193 SGG.

Gründe für die Zulassung der Revision (§ 160 Abs. 2 Nrn. 1 und 2 SGG) liegen nicht vor.

Rechtskraft
Aus
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