L 3 U 1144/21

Land
Baden-Württemberg
Sozialgericht
LSG Baden-Württemberg
Sachgebiet
Unfallversicherung
Abteilung
3.
1. Instanz
SG Stuttgart (BWB)
Aktenzeichen
S 13 U 3424/18
Datum
2. Instanz
LSG Baden-Württemberg
Aktenzeichen
L 3 U 1144/21
Datum
3. Instanz
-
Aktenzeichen
-
Datum
-
Kategorie
Urteil

Die Berufung der Beklagten gegen den Gerichtsbescheid des Sozialgerichts Stuttgart vom 26.02.2021 wird zurückgewiesen.

Die Beklagte trägt auch die außergerichtlichen Kosten der Klägerin des Berufungsverfahrens.

 

Tatbestand

Zwischen den Beteiligten ist die Gewährung einer Verletztenrente streitig.

Während ihrer beruflichen Beschäftigung als Verkäuferin bei der Firma N erlitt die im Jahr 1967 geborene Klägerin am 18.10.2016 einen Arbeitsunfall, indem sie sich beim Ausräumen von Tiefkühlkost, als ein von ihr aus dem Kühlhaus herausgezogener Tiefkühlcontainer gegen eine hinter ihr liegende Wand rollte, ihre linke Hand einklemmte.

Nachdem sie zunächst weitergearbeitet hatte, suchte sie noch am Nachmittag des Unfalltages den (Unfall-)Chirurgen und Orthopäden W auf, der nach Durchführung einer röntgenologischen Untersuchung zunächst eine Prellung der linken Hand diagnostizierte. Im Rahmen einer aufgrund anhaltender Schmerzen am 09.11.2016 durchgeführten magnetresonanztomographischen Untersuchung des linken Handgelenks durch den Radiologen H wurden eine nichtdislozierte Fraktur an der Basis des dritten Mittelhandknochens, eine Kontusion an der Basis des zweiten Mittelhandknochens und geringe degenerative Veränderungen des Discus triangularis diagnostiziert. Die Weiterbehandlung erfolgte bei W und J.

Wegen eines sich in der Folgezeit entwickelten komplexen regionalen Schmerzsyndroms wurde die Klägerin sodann in der Klinik für Hand-, Plastische- und Mikrochirurgie des Karl-Olga-Krankenhauses S behandelt, insbesondere stationär vom 12.12.2016 bis zum 23.12.2016. Bei der dortigen am 31.03.2017 erfolgten Kontrolluntersuchung zeigte sich eine Verbesserung der Weichteilschwellung der gesamten linken Hand und der Fingerbeweglichkeit, ein normales Hautkolorit, kein vermehrtes Schwitzen mehr und keine vermehrte Behaarung, woraufhin die behandelnden Ärzte eine Fortsetzung der bisherigen Therapie mit Ergotherapie, manueller Therapie und Lymphdrainage empfahlen und im Hinblick auf die medikamentöse Schmerztherapie Tilidin abgesetzt wurde und die Klägerin noch dreimal täglich Novalgin einnahm. Die am 16.05.2017 bei den Neurologen Dr. M, Dr. M1 und K2 erfolgte Untersuchung bestätigte den zunächst geäußerten Verdacht auf ein Karpaltunnelsyndrom an der linken oberen Extremität weder am Nervus medianus noch am Nervus ulnaris.

Während der vom 29.05.2017 bis zum 16.06.2017 in der Orthopädischen Klinik M2 durchgeführten stationären Behandlung konnte die Kraft minimal gesteigert, die Beweglichkeit der Finger verbessert und die Schwellung gut abgebaut werden, so dass die linke Hand im Alltag besser eingesetzt werden konnte, woraufhin die behandelnden Ärzte empfahlen, weiterhin eine ambulante Ergotherapie und Physiotherapie durchzuführen. Ab dem 19.06.2017 erfolgte eine Wiedereingliederung der Klägerin in ihre berufliche Beschäftigung. Unter dem 26.07.2017 hielten die behandelnden Ärzte der Orthopädischen Klinik M2 die Klägerin wieder für arbeitsfähig, woraufhin Verletztengeld nur noch bis zum 29.07.2017 gewährt wurde. Seither ist die Klägerin wieder als Verkäuferin bei der Firma N – mit einer Wochenarbeitszeit von 20 Stunden – beschäftigt, wobei sie mit Rücksicht auf ihre Verletzung der linken Hand überwiegend an der Kasse eingesetzt wird.

Sodann holte die Beklagte die Gutachten des Prof. Dr. H1, Ärztlicher Direktor an der Orthopädischen Klinik M2, vom 09.09.2017 und des Neurologen Dr. B vom 15.09.2017 ein. Dr. B kam zu dem Ergebnis, dass bei der Klägerin als Unfallfolgen an der linken Hand eine Atrophie, eine leichte Kraftminderung, brennende Dysästhesien sowie eine Hypästhesie und Hypalgesie verblieben seien, und schätzte die Minderung der Erwerbsfähigkeit (MdE) auf neurologischem Fachgebiet mit 10 vom Hundert (v. H.) ein. Prof. Dr. H1 kam zu dem Ergebnis, dass bei der Klägerin als Unfallfolgen an der linken Hand eine Bewegungseinschränkung der Langfinger bei der Streckung und Beugung, eine belastungsabhängige Schmerzhaftigkeit und eine Kraftminderung verblieben seien, und schätzte die MdE aufgrund dieser Verletzungsfolgen mit 10 v. H. und die Gesamt-MdE inklusive des neurologischen Befundes ebenfalls mit 10 v. H. ein.

Mit Bescheid vom 20.12.2017 lehnte die Beklagte die Gewährung einer Verletztenrente ab. Sie führte zur Begründung aus, bei der Klägerin bestehe ein verheilter Bruch des dritten Mittelhandknochens und eine verheilte Knochenprellung des zweiten Mittelhandknochens links mit nachfolgendem regionalem Schmerzsyndrom. Aufgrund der noch bestehenden Streck-Beugeeinschränkung im Bereich der Finger mit unvollständigem Faustschluss, der Kraftminderung mit belastungsabhängigen Beschwerden und Empfindungsstörungen im Bereich der Hand liege keine MdE um mindestens 20 v. H. vor, so dass eine Verletztenrente nicht zu gewähren sei.

Hiergegen erhob die Klägerin am 11.01.2018 mit der Begründung Widerspruch, dass nach der Einschätzung der behandelnden Ärzte die Entscheidung der Beklagten nicht korrekt sei. Diese seien allesamt der Ansicht, dass aufgrund des erlittenen Arbeitsunfalls mindestens eine MdE um 20 v. H. vorliege. Sie könne ihre linke Hand nicht mehr gebrauchen, nichts mit ihr greifen und festhalten, da alles herunterfalle. Zudem bestehe eine Überbelastung der rechten Seite, weshalb auch Probleme an der Halswirbelsäule bestünden. Die ständige Schmerzbelastung habe zudem dazu geführt, dass sich eine Depression entwickelt habe. Auch dies sei bei der MdE zu berücksichtigen.

Mit Widerspruchsbescheid vom 05.06.2018 wies die Beklagte den Widerspruch der Klägerin zurück.

Hiergegen hat die Klägerin am 02.07.2018 Klage zum Sozialgericht (SG) Stuttgart erhoben. Zur Begründung hat sie im Wesentlichen die Widerspruchsbegründung wiederholt.

Das SG Stuttgart hat zunächst über den Allgemeinmediziner P dessen Karteikarte und ärztliche Befundunterlagen beigezogen, aus denen unter anderem hervorgeht, dass im Jahr 2011 ein Schulter-Arm-Syndrom bestand, im Jahr 2014 Cervicocephalgien sowie ein Hals- und Brustwirbelsäulensyndrom bestanden und im Januar 2015 ein cervicaler Bandscheibenvorfall diagnostiziert wurde, und die Psychiaterin P1schriftlich als sachverständige Zeugin gehört, die in ihrer Auskunft vom 12.12.2018 mitgeteilt hat, dass sich die Klägerin am 30.01.2018, 12.02.2018, 20.03.2018, 30.10.2018 und 06.12.2018 bei ihr vorgestellt und sie eine mittelgradige depressive Episode diagnostiziert habe.

Sodann hat das SG Stuttgart von Amts wegen das neurologisch-psychiatrisch-schmerzmedizinische Gutachten des Prof. Dr. Dr. W1 vom 19.05.2019 eingeholt, in dem der Gutachter ausgeführt hat, dass bei der Klägerin noch eine residuale Symptomatik eines komplexen regionalen Schmerzsyndroms mit belastungsabhängig schmerzhafter Bewegungseinschränkung der linken Hand bestehe. Es habe noch eine Temperaturminderung, eine leichtgradig indurierte Haut und eine verminderte Schweißresektion vorgelegen. Er gehe unter Berücksichtigung der Beeinträchtigungen der Klägerin beim Heben und Tragen von Lasten sowie der Schmerzsituation von einer MdE um 20 v. H. aus. Weiterhin bestehe bei der Klägerin eine depressive Symptomatik. Es bestünden insbesondere Ängste hinsichtlich eines Arbeitsplatzverlustes. Sollte die depressive Symptomatik als Unfallfolge zu werten sein, sei eine MdE um 30 v. H. gerechtfertigt.

Der Neurologe Dr. W2 in der von der Beklagten eingeholten beratungsärztlichen Stellungnahme vom 31.07.2019 ausgeführt, bei der Klägerin sei von einem Residualzustand eines komplexen regionalen Schmerzsyndroms auszugehen. Es bestehe hierdurch bedingt nachvollziehbar eine gewisse Einschränkung der Beweglichkeit der betroffenen Finger. Allerdings gehe er nicht vom Bestehen eines außergewöhnlichen Schmerzsyndroms aus, das erhöhend bei der MdE zu berücksichtigen wäre. Hierbei sei nicht primär auf die die Schmerzangaben der betroffenen Person, sondern auf die Funktionseinschränkungen durch die Schmerzen abzustellen. Bei der Begutachtung durch Prof. Dr. H1 seien die Muskelumfänge gleich gewesen, bei Prof. Dr. Dr. W1 sei am Oberarm links bei Rechtshändigkeit lediglich eine Minderung um 0,5 cm festgestellt worden, so dass nicht von einer schmerzbedingten Muskelminderung auszugehen sei. Auch ergebe sich aus den Angaben in dem Gutachten keine relevante Funktionsminderung des linken Armes wegen der Schmerzen. So habe die Klägerin zum Beispiel beim Be- und Entkleiden die linke Hand nur gering vermindert eingesetzt. Zudem sei nicht überprüft worden, inwieweit die von der Klägerin angegebenen Beschwerden stimmten. Es sei kein Medikamentenspiegel erhoben worden. Die Klägerin nehme nur bedarfsweise niederpotente, peripher-wirksame Analgetika ein und die von ihr beim Faustschluss demonstrierte nicht messbare Kraft sei nicht nachvollziehbar. Die Depression könne nicht als Unfallfolge gewertet werden. Aufgrund der Schmerzen bestehe keine wesentliche depressive Symptomatik. Prof. Dr. Dr. W1 habe diese auf Ängste vor dem Verlust des Arbeitsplatzes und auf die konkrete Arbeitsplatzsituation zurückgeführt. Da der Verlust eines Arbeitsplatzes nicht als mittelbare Unfallfolge, sondern vielmehr als Risiko der allgemeinen Lebensführung gewertet werde, könne auch die Angst vor diesem Verlust nicht als Unfallfolge eingeschätzt werden. Insoweit könne der MdE-Bestimmung des Sachverständigen nicht beigetreten werden.

Daraufhin hat Prof. Dr. Dr. W1 in seiner ergänzenden gutachterlichen Stellungnahme vom 04.10.2019 ausgeführt, dass in einem ersten Schritt die motorischen Funktionsbeeinträchtigungen als solche, einschließlich der zu erwartenden üblichen Schmerzen bei der MdE-Bewertung zu bestimmen seien. Hierfür sei im vorliegenden Fall sicherlich die MdE mit 10 v. H. korrekt eingeschätzt. Die festgestellten Funktionsbeeinträchtigungen allein würden jedoch keinesfalls eine Schmerzmedikation begründen. Da die Klägerin unter Schmerzen leide, die eine ärztliche Behandlung und nunmehr über Jahre hinweg eine regelmäßige Einnahme von Schmerzmitteln erforderten, gehe er von einer ungewöhnlichen Schmerzhaftigkeit aus, die eine Erhöhung der MdE rechtfertige. Aufgrund der detaillierten Schilderung der Medikamenteneinnahme, der authentischen Befunde sowie der in den Akten dokumentierten regelmäßigen Einnahme von Schmerzmitteln habe er keine Zweifel an den Angaben der Klägerin. Darüber hinaus wäre angesichts der kurzen Halbwertszeit sowohl von Ibuprofen als auch von Novaminsulfon die Bestimmung des Medikamentenspiegels nicht sinnvoll gewesen. Die zunächst demonstrierte fehlende Kraftentfaltung in der linken Hand beim ersten diesbezüglichen Test, mit danach nachvollziehbaren Werten interpretiere er nicht als Aggravation, sondern als eine übliche Verdeutlichung im Rahmen der Gutachtenssituation. Bei der Klägerin liege ohne vernünftigen Zweifel eine über die Bewegungseinschränkung der Hand hinausgehende Schmerzsituation vor, die in der arbeitstäglichen Belastung eine regelmäßige Behandlung mit nebenwirkungsbehafteten Medikamenten bedürfe. Er gehe daher weiterhin von einer MdE um 20 v. H. aus.

Im weiteren Verlauf hat die Klägerin den Befundbericht des Karl-Olga-Krankenhauses vom 15.10.2019 vorgelegt.

Ferner hat das SG Stuttgart den Entlassungsbericht der L-klinik S über die ganztägige ambulante Rehabilitationsmaßnahme vom 16.10.2019 bis zum 27.11.2019 beigezogen.

Das SG Stuttgart hat mit Gerichtsbescheid vom 26.02.2021 die Beklagte unter Aufhebung des Bescheides vom 20.12.2017 in der Gestalt des Widerspruchsbescheides vom 05.06.2018 verurteilt, der Klägerin ab dem 30.07.2017 eine Verletztenrente nach einer MdE um 20 v. H. zu gewähren.

Bei der Klägerin bestehe ein Residualzustand eines komplexen regionalen Schmerzsyndroms mit verbliebener Bewegungseinschränkung, Kraftminderung und Schmerzen, das eine MdE um 20 v. H. bedinge. Prof. Dr. H1 habe in seinem Gutachten eine linksseitige Beweglichkeitseinschränkung der Langfinger festgestellt. Ein Faustschluss und eine Fingerstreckung seien nicht vollständig möglich gewesen und es habe sich eine Einschränkung in den Mittelgelenken gezeigt. Weiterhin habe eine deutliche Einschränkung beziehungsweise Aufhebung der Kraft beim Faustschluss linksseitig bestanden. Dem Gutachten des Prof. Dr. H1 sei insoweit zu folgen, dass diese Bewegungseinschränkung mit einer MdE um 10 v. H. zu bewerten sei. Diese sei aufgrund der kontinuierlichen, noch bestehenden Schmerzhaftigkeit, entsprechend dem Gutachten von Prof. Dr. Dr. W1 auf 20 v. H. zu erhöhen. Das Gericht habe keine Zweifel daran, dass insbesondere belastungsabhängige Schmerzen, teilweise auch eine Schmerzhaftigkeit in Ruhe, bestünden. Insoweit sei nicht der Ansicht des Dr. W2, dass die Schmerzen nicht zu objektivieren seien, zu folgen. Keiner der drei Gutachter habe Hinweise auf eine Aggravation festgestellt oder Zweifel an der Glaubhaftigkeit der Klägerin geäußert. Hinzu komme, dass die Einnahme von Schmerzmedikamenten aufgrund der Aktenlage gut dokumentiert sei. Zwar sei es richtig, dass die Klägerin in der Vergangenheit bei Bedarf (an Arbeitstagen) insbesondere Ibuprofen eingenommen und keine regelmäßige Schmerztherapie durchgeführt habe. Dies sei jedoch darauf zurückzuführen, dass die Schmerztherapie nicht optimal gewesen sei und habe angepasst werden müssen, und nicht darauf, dass die Klägerin keine erheblichen Schmerzen gehabt habe. Entsprechend sei dem Befundbericht des Karl-Olga-Krankenhauses vom 15.10.2019 zu entnehmen, dass die Klägerin bereits seit mehreren Jahren Ibuprofen sowie Novalgin einnehme. Deshalb hätten die behandelnden Ärzte bei der geplanten Rehabilitationsmaßnahme eine Anpassung der Schmerztherapie und für den Fall, dass dies nicht möglich sei, eine schmerztherapeutische Einstellung und im Übrigen die Fortführung der manuellen Therapie, Ergotherapie, gegebenenfalls auch einer Lymphdrainage, empfohlen, wobei diesbezüglich eine Langzeitverordnung in Betracht gezogen worden sei. Dem Entlassungsbericht der L-klinik vom 27.11.2019 sei zu entnehmen, dass bei der Klägerin persistierende Ruheschmerzen und Schmerzen in der Nacht bestünden, so dass eine Umstellung der bisherigen Schmerztherapie erfolgt sei. Es sei Pregabalin hinzugenommen und das – bei Bedarf eingenommene – Metamizol fest angesetzt worden. Hierdurch hätten sich die Schmerzen in der Nacht gebessert. Weiterhin sei dem Bericht zu entnehmen, dass eine deutliche schmerzbedingte Kraftminderung im Bereich der linken Hand bei der Beugung und Streckung der Fingergelenke sowie im Handgelenk bestehe. Diese Kraftminderung sei nicht nur im Rahmen der ärztlichen Untersuchung feststellbar. Die Schwäche der linken Hand habe sich auch beim ergotherapeutischen Werken (Korbflechten) gezeigt. Insoweit erachte das Gericht es als ausgeschlossen, dass die von Prof. Dr. Dr. W1 festgestellte schmerzbedingte Kraftminderung der linken Hand auf eine Aggravation der Klägerin bei den Begutachtungen zurückzuführen sei. Denn diese sei auch außerhalb der Begutachtungssituation nachgewiesen worden und es sei nicht davon auszugehen, dass die Klägerin im Rahmen einer Reha-Behandlung beim Korbflechten entsprechende Beschwerden simuliere. Da die Klägerin insbesondere an belastungsbedingten Schmerzen leide, teilweise aber auch Schmerzen in Ruhe aufträten, bis zur Rehabilitationsbehandlung in der L-klinik eine bedarfsorientierte, aber regelmäßige Analgetikaeinnahme erfolgt sei, seither eine regelmäßige Schmerztherapie erfolge, auch ansonsten noch Behandlungsbedürftigkeit bestehe, die Klägerin weiterhin eine manuelle Therapie und Ergotherapie durchführe und die Beklagte ergänzend zur Schmerztherapie eine Akkupunktur-Behandlung genehmigt habe, erachte das Gericht eine MdE um 20 v. H. als gerechtfertigt.

Die mittelgradige depressive Episode führe nicht zu einer Erhöhung der MdE auf über 20 v. H. Diese Gesundheitsstörung sei nicht mit Wahrscheinlichkeit in rechtlich wesentlicher Weise durch den Unfall beziehungsweise die Unfallfolgen verursacht oder wesentlich verschlimmert worden. Ein psychiatrischer Gesundheitserstschaden bestehe vorliegend nicht. Psychiatrische Gesundheitsstörungen seien zeitnah nach dem Unfall nicht festgestellt worden. Bei der Klägerin sei erst im Januar 2018, also mehr als ein Jahr nach dem Unfallereignis, eine depressive Erkrankung aufgetreten. Für die Anerkennung einer sekundären Gesundheitsstörung sei erforderlich, dass diese durch einen Gesundheitserstschaden verursacht worden sei. Die depressive Erkrankung sei nicht rechtlich wesentlich durch den körperlichen Gesundheitserstschaden verursacht. Denn maßgeblich für die Entstehung der Depression sei nach dem Gutachten des Prof. Dr. Dr. W1 nicht die körperliche Beeinträchtigung, die durch den Unfall entstanden sei (insbesondere die Beweglichkeits- und Belastungseinschränkung der linken Hand sowie die bestehenden Schmerzen), sondern es bestünden insbesondere Verlustängste bezüglich des bisherigen Arbeitsplatzes (ohne dass ein solcher Arbeitsplatzverlust bisher eingetreten oder konkret zu befürchten sei). Eine depressive Erkrankung sei immer multifaktoriell und vorliegend könne den Folgen des Arbeitsunfalles keine so erhebliche Bedeutung beigemessen werden, dass insoweit die depressive Erkrankung rechtlich wesentlich als Folge des Unfalls anzuerkennen wäre. Insoweit sei zu beachten, dass schon die lange zeitliche Verzögerung zwischen dem erstmaligen Auftreten der psychischen Erkrankung und dem Unfallereignis gegen den Unfallzusammenhang spreche. Hinzu komme, dass psychische Störungen, die sich nach einem Unfallereignis aufgrund veränderter Lebensumstände, wie beispielsweise dem Arbeitsplatzverlust entwickelten, nicht als Unfallfolge anzuerkennen seien. Vorliegend habe sich die depressive Erkrankung der Klägerin nicht aus der bestehenden körperlichen Beeinträchtigung entwickelt, sondern die Klägerin habe, ohne dass es hierfür objektiv einen Anlass gebe, Ängste im Hinblick auf einen Arbeitsplatzverlust entwickelt. Insoweit sei die depressive Erkrankung nicht als Unfallfolge zu werten.

Die Beschwerden im Bereich der Halswirbelsäule seien nicht als Unfallfolge anzusehen. Diese sei bei dem Unfall nicht verletzt worden und es seien bereits vor dem Unfall entsprechende Beschwerden dokumentiert. Insoweit lasse sich ein Unfallzusammenhang nicht wahrscheinlich machen.

Gegen den Gerichtsbescheid des SG Stuttgart hat die Beklagte am 26.03.2021 Berufung zum Landessozialgericht (LSG) Baden-Württemberg eingelegt.

Sie habe die Gutachten des Prof. Dr. H1 und des Dr. B eingeholt. Prof. Dr. H1 habe eine Gesamt-MdE um 10 v. H. empfohlen. Prof. Dr. Dr. W1 habe in seinem Gutachten die nach funktionellen Aspekten unstreitige MdE um 10 v. H. wegen eines nach seiner Ansicht außergewöhnlichen Schmerzsyndroms bei einem residualen komplexen regionalen Schmerzsyndrom aufgestockt und sei deswegen zu einer Gesamt-MdE um 20 v. H. gekommen. Sie habe, auch gestützt auf die beratungsärztliche Stellungnahme des Dr. W2, dargelegt, warum dieser Bewertung nicht gefolgt werden könne. Es fehlten jegliche Schonungszeichen, die bei einem Mindereinsatz der Hand wegen andauernden außergewöhnlichen Schmerzen unweigerlich auftreten würden. Die ergänzende gutachterliche Stellungnahme des Prof. Dr. Dr. W1 enthalte keine Begründung zu einer fehlenden Abweichung der Umfangsmaße der Armmuskulatur, dem fehlenden Beschwerdevalidierungsverfahren und die bei zunehmenden Beschwerden abnehmende, ohnehin niederpotente und keineswegs dauerhafte Analgetikaeinnahme. Die auch von Prof. Dr. Dr. W1 gesehenen Aggravationstendenzen müssten in die Bewertung einfließen. Sie als „übliche“ Verdeutlichung abzutun und damit der Beurteilung zu entziehen, sei angesichts der fehlenden objektiven Indizien für eine außergewöhnliche Schmerzsituation nicht vertretbar und finde auch in der Fachliteratur keine Stütze. Verdeutlichungen seien grundsätzlich nicht entschädigungspflichtig.

Die Beklagte beantragt,

den Gerichtsbescheid des Sozialgericht Stuttgarts vom 26.02.2021 aufzuheben und die Klage abzuweisen.

Die Klägerin beantragt,

die Berufung der Beklagten zurückzuweisen.

Entgegen den „Parteigutachten“ des Prof. Dr. H1 und des Dr. B habe Prof. Dr. Dr. W1 in dem vom Gericht eingeholten und „unabhängigen“ Gutachten eindeutig festgestellt, dass eine MdE um 20 v. H. vorliege. Prof. Dr. Dr. W1 habe in seiner ergänzenden gutachterlichen Stellungnahme die Argumente der Beklagten widerlegt.

 

Entscheidungsgründe

Die gemäß §§ 143 und 144 SGG statthafte und nach § 151 SGG form- und fristgerechte sowie auch im Übrigen zulässige Berufung der Beklagten ist unbegründet.

Gegenstand des Berufungsverfahrens ist die Aufhebung des Gerichtsbescheides des SG Stuttgart vom 26.02.2021, mit dem auf die kombinierte Anfechtungs- und Leistungsklage der Klägerin im Sinne des § 54 Abs. 1 und 4 SGG der Bescheid der Beklagten vom 20.12.2017 in der Gestalt des Widerspruchsbescheides vom 05.06.2018 aufgehoben und die Beklagte zur Gewährung von Verletztenrente nach einer MdE um 20 v. H. ab 30.07.2017 verurteilt worden ist.

Rechtsgrundlage für die Gewährung einer Verletztenrente ist § 56 Abs. 1 Satz 1, Abs. 2 Satz 1 SGB VII, wonach Versicherte, deren Erwerbsfähigkeit infolge eines Versicherungsfalls über die 26. Woche nach dem Versicherungsfall hinaus um wenigstens 20 v. H. gemindert ist, Anspruch auf eine Rente haben und sich die MdE nach dem Umfang der sich aus der Beeinträchtigung des körperlichen und geistigen Leistungsvermögens ergebenden verminderten Arbeitsmöglichkeiten auf dem gesamten Gebiet des Erwerbslebens richtet. Nach § 72 Abs. 1 Nr. 1 SGB VII werden Renten an Versicherte von dem Tag an gezahlt, der auf den Tag folgt, an dem der Anspruch auf Verletztengeld endet.

Nach § 7 Abs. 1 SGB VII sind Versicherungsfälle Arbeitsunfälle und Berufskrankheiten. Nach § 8 Abs. 1 Satz 1 SGB VII sind Arbeitsunfälle Unfälle von Versicherten infolge einer den Versicherungsschutz nach § 2, 3 oder 6 SGB VII begründenden Tätigkeit (versicherte Tätigkeit). Nach § 8 Abs. 1 Satz 2 SGB VII sind Unfälle zeitlich begrenzte, von außen auf den Körper einwirkende Ereignisse, die zu einem Gesundheitsschaden oder zum Tod führen.

Ein Arbeitsunfall im Sinne des § 8 SGB VII setzt voraus, dass die verletzte Person durch eine Verrichtung vor dem Unfallereignis den gesetzlichen Tatbestand einer versicherten Tätigkeit erfüllt hat und deshalb „Versicherte“ ist (versicherte Tätigkeit). Verrichtung ist jedes konkrete Handeln der versicherten Person, das objektiv seiner Art nach von Dritten beobachtbar und subjektiv zumindest auch auf die Erfüllung des Tatbestandes der jeweiligen versicherten Tätigkeit ausgerichtet ist. Die Verrichtung muss den Unfall als ein zeitlich begrenztes, von außen auf den Körper einwirkendes Ereignis objektiv und rechtlich wesentlich verursacht haben (Unfallkausalität). Durch das Unfallereignis muss wiederum ein Gesundheitserstschaden objektiv und rechtlich wesentlich herbeigeführt worden sein (haftungsbegründende Kausalität) (BSG, Urteil vom 07.05.2019 – B 2 U 34/17 R, juris Rn. 16-33).

Für die Berücksichtigung eines Gesundheitsschadens als Folge eines Arbeitsunfalls im Sinne des § 8 Abs. 1 Satz 1 SGB VII und damit bei der Bemessung der MdE ist im Regelfall erforderlich, dass die Gesundheitsstörung durch den Gesundheitserstschaden des Arbeitsunfalls wesentlich verursacht worden ist (haftungsausfüllende Kausalität). Der Anspruch setzt grundsätzlich das „objektive“, das heißt aus der nachträglichen Sicht eines optimalen Beobachters, Vorliegen einer Gesundheitsstörung voraus, die spezifisch durch den Gesundheitserstschaden des Arbeitsunfalls verursacht worden ist (BSG, Urteil vom 06.09.2018 – B 2 U 16/17 R, juris Rn. 14). Ob ein Gesundheitsschaden dem Gesundheitserstschaden des Arbeitsunfalls als Unfallfolge im engeren Sinn zuzurechnen ist, beurteilt sich nach der Zurechnungslehre der Theorie der wesentlichen Bedingung in zwei Schritten (BSG, Urteil vom 17.02.2009 – B 2 U 18/07 R, juris Rn. 12; BSG, Urteil vom 09.05.2006 – B 2 U 1/05 R, juris Rn. 12 ff.).

Auf der ersten Stufe der Kausalitätsprüfung ist die Verursachung der weiteren Schädigung durch den Gesundheitserstschaden im naturwissenschaftlich-naturphilosophischen Sinne festzustellen. Ob die Ursache-Wirkung-Beziehung besteht, beurteilt sich nach der Bedingungstheorie. Nach ihr ist eine Bedingung dann notwendige Ursache einer Wirkung, wenn sie aus dem konkret vorliegenden Geschehensablauf nach dem jeweiligen Stand der einschlägigen wissenschaftlichen Erkenntnisse (Erfahrungssätze) nicht hinweggedacht werden kann, ohne dass der Erfolg entfiele (conditio sine-qua-non). Ob die versicherte Verrichtung beziehungsweise der auf der Verrichtung kausal beruhende Gesundheitserstschaden Ursache für den (weiteren) Gesundheitsschaden ist und diesen objektiv (mit-)verursacht hat, ist eine rein tatsächliche Frage (BSG, Urteil vom 07.05.2019 – B 2 U 34/17 R, juris Rn. 23, 33). Sie muss aus der nachträglichen Sicht nach dem jeweils neuesten anerkannten Stand des Fach- und Erfahrungswissens über Kausalbeziehungen zwischen bestimmten Ereignissen und der Entstehung bestimmter Krankheiten (gegebenenfalls unter Einholung von Sachverständigengutachten) beantwortet werden (BSG, Urteil vom 26.06.2014 – B 2 U 4/13 R, juris Rn. 25). Das schließt eine Prüfung ein, ob ein Ereignis nach wissenschaftlichen Maßstäben überhaupt geeignet ist, eine bestimmte körperliche oder seelische Störung hervorzurufen (BSG, Urteil vom 09.05.2006 – B 2 U 1/05 R, juris Rn. 17). Der je nach Fallgestaltung gegebenenfalls aus einem oder mehreren Schritten bestehende Ursachenzusammenhang zwischen dem Unfallereignis und den Unfallfolgen muss als anspruchsbegründende Voraussetzung positiv festgestellt werden. Für die Feststellung des naturwissenschaftlich-philosophischen Ursachenzusammenhangs genügt der Beweisgrad der hinreichenden Wahrscheinlichkeit. Dieser ist erfüllt, wenn mehr für als gegen den Ursachenzusammenhang spricht; allein die Möglichkeit eines Ursachenzusammenhangs genügt dagegen nicht (BSG, Urteil vom 15.05.2012 – B 2 U 31/11 R, juris Rn. 34; BSG, Urteil vom 18.01.2011 – B 2 U 5/10 R, juris Rn. 20; BSG, Urteil vom 09.05.2006 – B 2 U 1/05 R, juris Rn. 20). Es gelten die allgemeinen Regeln der materiellen Beweislast. Danach trägt derjenige, der ein Recht – hier Feststellung einer Gesundheitsstörung als Unfallfolge – für sich beansprucht, nach Ausschöpfung aller Möglichkeiten der Ermittlung die materielle Beweislast für das Vorliegen der tatsächlichen Voraussetzungen dieses Rechts (BSG, Urteil vom 31.01.2012 – B 2 U 2/11 R, juris, unter Hinweis auf BSG, Urteil vom 18.11.2008 – B 2 U 27/07 R, juris; BSG, Urteil vom 09.05.2006 – B 2 U 1/05 R, juris).

Ist der Gesundheitserstschaden in diesem Sinne eine notwendige Bedingung des weiteren Gesundheitsschadens, wird dieser ihm aber auf der zweiten Stufe der Kausalitätsprüfung nur dann zugerechnet, wenn er ihn wesentlich (ausreichend: mit-)verursacht hat. Bei dieser reinen Rechtsfrage nach der „Wesentlichkeit“ der versicherten Verrichtung für den Erfolg der Einwirkung muss entschieden werden, ob sich durch das versicherte Handeln ein Risiko verwirklicht hat, gegen das der jeweils erfüllte Versicherungstatbestand gerade Schutz gewähren soll (BSG, Urteil vom 17.12.2015 – B 2 U 8/14 R, juris Rn. 20; BSG, Urteil vom 05.07.2011 – B 2 U 17/10 R, juris Rn. 28 ff.; BSG, Urteil vom 09.05.2006 – B 2 U 1/05 R, juris Rn. 15 ff.).

Unter Zugrundelegung dieser Grundsätze hat die Klägerin einen Anspruch auf Verletztenrente.

Die Klägerin hat sich am 18.10.2016 im Rahmen ihrer nach § 2 Abs. 1 Nr. 1 SGB VII unfallversicherten Beschäftigung (versicherte Tätigkeit) beim Ausräumen von Tiefkühlkost (Unfallkausalität) ihre linke Hand eingeklemmt (zeitlich begrenztes, von außen auf den Körper einwirkendes Ereignis) und hierdurch (haftungsbegründende Kausalität) eine nichtdislozierte Fraktur an der Basis des dritten Mittelhandknochens sowie eine Kontusion an der Basis des zweiten Mittelhandknochens (Gesundheitserstschaden) und damit einen Arbeitsunfall im Sinne des § 7 Abs. 1 in Verbindung mit § 8 Abs. 1 SGB VII erlitten. Nach den Gutachten des Prof. Dr. H1, des Dr. B und des Prof. Dr. Dr. W1 sind hierdurch wesentlich ursächlich (haftungsausfüllende Kausalität) im Bereich der linken Hand eine Bewegungseinschränkung der Langfinger in Streckung und Beugung und eine Kraftminderung sowie eine residuale Symptomatik eines komplexen regionalen Schmerzsyndroms (Gesundheitsdauerschaden) verblieben. Zutreffend hat das SG Stuttgart in seinem Gerichtsbescheid dargelegt, dass und warum die mittelgradige depressive Episode und die Beschwerden im Bereich der Halswirbelsäule nicht wesentlich ursächlich auf den Arbeitsunfall zurückzuführen sind. Dem schließt sich der Senat an, so dass er gemäß § 153 Abs. 2 SGG insoweit von einer weiteren Darstellung der Entscheidungsgründe absieht.

Der Gesundheitsdauerschaden im Bereich der linken Hand bedingt über die 26. Woche nach dem Arbeitsunfall hinaus eine MdE um 20 v. H.

Auf unfallchirurgisch-orthopädischem Fachgebiet liegen bei der Klägerin nach dem insoweit überzeugenden Gutachten des Prof. Dr. H1 unfallbedingt im Bereich der linken Hand eine Bewegungseinschränkung der Langfinger in Streckung und Beugung sowie eine Kraftminderung vor. Der Gutachter hat als pathologische Befunde im Bereich der linken Hand eine Extension beziehungsweise Beweglichkeit handrückenwärts/hohlhandwärts von nur 50/0/60 Grad gegenüber rechts 60/0/70 Grad, einen nicht vollständig möglichen Faustschluss, eine nicht vollständig mögliche Fingerstreckung, eine Einschränkung in den Mittelgelenken sowie eine deutliche Einschränkung beziehungsweise Aufhebung der Kraft beim Faustschluss festgestellt und hierfür zutreffend die MdE mit 10 v. H. bewertet.

Ferner liegt nach dem überzeugenden Gutachten des Prof. Dr. Dr. W1 ein mit einer MdE um 20 v. H. zu bewertendes außergewöhnliches Schmerzsyndrom vor.

Prof. Dr. Dr. W1 hat in seinem Gutachten überzeugend dargelegt, dass die Klägerin über die unfallchirurgisch-orthopädischen Unfallfolgen hinaus im Bereich der linken Hand an einer leichtgradigen Spät- beziehungsweise Residualform eines komplexen regionalen Schmerzsyndroms mit Temperaturminderung, leichtgradig indurierter Haut und verminderter Schweißsekretion leidet, nachdem dessen CRPS-Diagnostik etwas indurierte Grund- und Mittelgelenke D2-5, eingezogene und atrophe Mittelgelenke D2-5, eine geringfügig livide verfärbte Hautfarbe, eine recht ausgeprägte Glanzhautbildung, ein leicht atrophes Reststadium, eine Temperatur am Handrücken von nur 31,0 Grad gegenüber rechts 32,5 Grad und an der Handinnenfläche von nur 32,0 Grad gegenüber rechts 34,0 Grad und so gut wie keine Schweißresektion erbracht hat. Ferner hat Prof. Dr. Dr. W1 eine mit dem Jamar-Dynamometer gemessene Handkraft von nur 8 Kilopond gegenüber rechts 27 Kilopond, einen nicht auslösbaren ASR-Reflex, beim Babinsky-Test einen schwächeren Fluchtreflex, unsichere Zeigeversuche und ein verändertes Hautkolorit der ulnaren Finger beschrieben.

Nach der Leitlinie für die ärztliche Begutachtung von Menschen mit chronischen Schmerzen („Leitlinie Schmerzbegutachtung“), 4. Aktualisierung 2017, AWMF-Registernummer 094-003, Nr. 4.3.2, Seite 27, sowie nach Schönberger/Mehrtens/Valentin, „Arbeitsunfall und Berufskrankheit“, 9. Auflage, Nr. 8.1.3.1.3, Seite 402, beträgt die MdE 0 bis 10 v. H., wenn kein wesentlicher Schmerz in Ruhe oder unter geringer Belastung vorliegt, 10 v. H. bei Schmerzfreiheit in Ruhe, jedoch Schmerzen bei Bewegung und/oder geringer Belastung und keinem hohen Analgetikabedarf, 20 bis 30 v. H. bei Schmerzen in Ruhe, jedoch ausreichender Linderung bei Hochlagerung und Belastungsreduktion und in der Regel dauerhafter Analgetikaeinnahme, wenn meist noch keine arthrogenen Funktionsbeeinträchtigungen erkennbar sind, und 40 bis 80 v. H. bei ausgeprägten Schmerzen in Ruhe, ohne Linderung durch Immobilisation und Lagerung, und nachweislich ausgeprägten trophischen Störungen und/oder arthrogenen Funktionsbeeinträchtigungen.

Unter Zugrundelegung der von Prof. Dr. Dr. W1 beschriebenen Untersuchungsergebnisse und des Umstandes, dass Schmerzen in Ruhe, Schmerzen bei Belastung und eine wenn auch nicht hohe, aber doch dauerhafte Analgetikaeinnahme vorliegen, korrespondiert dessen Beurteilung der MdE mit 20 v. H. mit der „Leitlinie Schmerzbegutachtung“ und ist auch deshalb für den Senat überzeugend.

Der erhebliche durch die Schmerzen bedingte Leidensdruck ergibt sich zunächst daraus, dass die Klägerin schon zweimal schmerztherapeutisch stationär behandelt worden ist. So sind vom 12.12.2016 bis zum 23.12.2016 im Karl-Olga-Krankenhaus S eine intensive Lymphdrainage, eine Ergo-, Spiegel- und manuelle Therapie sowie eine intensivierte Schmerztherapie und vom 29.05.2017 bis zum 16.06.2017 in der Klinik M2 eine Physio-, Ergo-, Schmerz- und psychosomatische Therapie erfolgt. Ferner sind im Rahmen einer ganztägigen ambulanten Behandlung vom 16.10.2019 bis zum 27.11.2019 in der L-klinik S unter anderem ergo- und psychotherapeutische Behandlungsansätze verfolgt worden.

Auf ein starkes Schmerzleiden der Klägerin weist auch der Umstand hin, dass sie nur noch halbschichtig und auch fast ausschließlich an der Kasse – mit Handschuhen – berufstätig ist.

Ferner handelt es sich bei der aktenkundigen Schmerzmedikation um eine eine MdE um mindestens 20 v. H. bedingende „dauerhafte Analgetikaeinnahme“ im Sinne der „Leitlinie Schmerzbegutachtung“. So haben die behandelnden Ärzte des Karl-Olga-Krankenhauses S im Befundbericht vom 08.12.2016 ausgeführt, die Klägerin habe nicht nur über ein Schmerzempfinden mit einem Grad von 8-9/10, sondern auch über eine konsequente Einnahme von Ibuprofen berichtet, im Entlassungsbericht vom 23.12.2016 eine Medikation bei Entlassung mit Tilidin 1-0-1 und Novalgin 1-1-1, im Befundbericht vom 31.01.2017 eine Medikation mit Tilidin 1-0-1, im Befundbericht vom 08.03.2017 eine Medikation mit regelmäßig Novalgin und Tilidin und im Befundbericht vom 31.03.2017 eine Medikation mit Novalgin 1-1-1 angegeben, die Ärzte der Orthopädischen Klinik Markgröningen im Entlassungsbericht vom 30.07.2017 eine Medikation mit Ibuprofen 1-0-1 bei Bedarf und Novalgin bei Bedarf, Dr. B im Gutachten vom 15.09.2017 eine Medikation mit Novalgin 2-3mal täglich, Iboprofen bei starken Schmerzen und Neuroplant, Prof. Dr. Dr. W1 in seinem Gutachten vom 19.05.2019 eine Medikation mit Novaminsulfon fast täglich und Ibuprofen 4mal wöchentlich sowie die Ärzte der L-klinik S im Entlassungsbericht vom 27.11.2019 eine Medikation mit Ibuprofen bei Bedarf und Metamizol bei Bedarf bis 3mal täglich angegeben. Der Senat hat keine Zweifel an der Richtigkeit dieser Angaben. Insoweit als Dr. W2 in seiner beratungsärztlichen Stellungnahme bemängelt hat, dass Prof. Dr. Dr. W1 keine Bestimmung der angegebenen Medikamente vorgenommen hat, hat Prof. Dr. Dr. W1 in seiner gutachterlichen Stellungnahme überzeugend darauf hingewiesen, dass zum einen ein solches Medikamentenmonitoring nur bei Zweifeln durchzuführen ist und solche Zweifel aufgrund der sehr detaillierten Schilderung der Medikamenteneinnahme und der ansonsten authentischen Befunde nicht bestehen, und zum anderen korrespondierend mit der „Leitlinie Schmerzbegutachtung“, Nr. 5.1.4, Seite 30 – ein solches Medikamentenmonitoring angesichts der kurzen Halbwertszeit von Novaminsulfon und Ibuprofen keinen Sinn gemacht hätte, nachdem die Klägerin im Rahmen der Begutachtung eingeräumt hat, am Tag der Begutachtung keine Medikamente eingenommen zu haben.

Des Weiteren liegen bei der Klägerin „Schmerzen in Ruhe“ im Sinne der „Leitlinie Schmerzbegutachtung“ vor. Davon ist der Senat aufgrund der von der Klägerin bereits gegenüber Dr. B mit einem Grad von 3/10 und sodann gegenüber Prof. Dr. Dr. W1 mit einem Grad von 3-4/10 angegebenen Ruheschmerzen sowie gegenüber Dr. B mit einem Grad von 5-7/10 und sodann gegenüber Prof. Dr. Dr. W1 „stärkeren“ belastungsabhängigen Schmerzen im Grundgelenk und den Mittelgelenken der vier Finger mit brennendem Charakter überzeugt. Ebenso wie das SG Stuttgart hat auch der Senat keine Zweifel daran, dass nicht nur belastungsabhängige Schmerzen, sondern teilweise auch eine Schmerzhaftigkeit in Ruhe besteht. Prof. Dr. H1, Dr. B und Prof. Dr. Dr. W1 haben keine Hinweise auf eine Aggravation festgestellt und auch keine Zweifel an der Glaubhaftigkeit der Klägerin geäußert.

Unter Berücksichtigung der auf unfallchirurgisch-orthopädischem Fachgebiet festgestellten Funktionseinschränkungen mit einer MdE um 10 v. H. und der Residualform eines komplexen regionalen Schmerzsyndroms mit einer MdE um 20 v. H. beträgt nach den überzeugenden Ausführungen des Prof. Dr. Dr. W1 die Gesamt-MdE 20 v. H. Die von Dr. B in seinem Gutachten mit einer MdE auf neurologischem Fachgebiet um 10 v. H. vorgenommene niedrigere Bewertung überzeugt den Senat schon deshalb nicht, da seinem Gutachten eine Begründung dieser Beurteilung nicht zu entnehmen ist.

Demgegenüber folgt der Senat nicht den Ausführungen des Dr. W2, der die Ansicht vertritt, dass für die Bewertung der MdE bei Schmerzen nicht die Schmerzintensität, sondern die durch die Schmerzen bedingten Funktionseinschränkungen auf dem allgemeinen Arbeitsmarkt wesentlich seien. Diese Sichtweise korrespondiert nicht mit den oben dargelegten Grundsätzen zur MdE-Beurteilung bei komplexen regionalen Schmerzsyndromen in der „Leitlinie Schmerzbegutachtung“ und in dem Werk „Arbeitsunfall und Berufskrankheit“. Diese stellen gerade nicht auf das Ausmaß der Funktionseinschränkungen ab. Dies ist auch folgerichtig, da das Ausmaß der Funktionseinschränkungen bereits in der für die auf unfallchirurgisch-orthopädischem Fachgebiet verorteten Gesundheitsstörungen zu vergebenden MdE abgebildet ist. Der Einwand des Dr. W2, eine wesentliche Funktionsminderung sei nicht nachvollziehbar, da sich aus dem Gutachten des Prof. Dr. Dr. W1 nur eine Muskelminderung um 0,5 cm ergebe, was physiologisch und bei Rechtshändern auch nicht pathologisch sei, und die Klägerin in der Gestik eine annähernd seitengleiche Benutzung beider Hände und beim Be- und Entkleiden einen nur gering verminderten Einsatz gezeigt habe, ist zwar grundsätzlich im Rahmen der Prüfung der Plausibilität der von der Klägerin angegebenen Schmerzen zu berücksichtigen. Insoweit hat allerdings Prof. Dr. Dr. W1, der die Klägerin im Gegensatz zu Dr. W2 ausführlich begutachtet hat, in seiner ergänzenden gutachterlichen Stellungnahme überzeugend dargelegt, dass gerade ohne vernünftigen Zweifel davon auszugehen ist, dass über die Bewegungseinschränkung hinaus Schmerzen vorliegen, die in der arbeitstäglichen Belastung einer regelmäßigen Behandlung mit nebenwirkungsbehafteten Medikamenten bedürfen. Hinzu kommt, dass Prof. Dr. Dr. W1 in seinem Gutachten eine bemerkenswert geringe Bemuskelung an beiden Armen beschrieben hat, so dass nicht ausgeschlossen ist, dass die Klägerin nicht nur ihre vom Arbeitsunfall in Mitleidenschaft gezogene linke Hand, sondern insgesamt beide oberen Extremitäten unterdurchschnittlich belastet. Auch führt der Einwand des Dr. W2, die zunächst mittels Martin-Vigorimeter nicht messbare Handkraft sei als Indiz für eine Verdeutlichungstendenz zu deuten, zu keiner anderen Beurteilung. Insoweit hat Prof. Dr. Dr. W1 in seiner ergänzenden gutachterlichen Stellung – korrespondierend mit der „Leitlinie Schmerzbegutachtung“, Nr. 5, Seite 28 – dargelegt, dass es sich dabei lediglich um ein Zeichen einer üblichen Verdeutlichung im Rahmen der Gutachtensituation, aber nicht um eine zu Zweifeln Anlass gebende Aggravation handelt.

Nach alledem hat die Klägerin einen Anspruch auf die Gewährung einer Verletztenrente nach einer MdE um 20 v. H. ab dem Tag nach dem Ende des Verletztengeldbezugs und damit ab 30.07.2017.

Daher war die Berufung der Beklagten gegen den Gerichtsbescheid des SG Stuttgart vom 26.02.2021 zurückzuweisen.

Die Kostenentscheidung beruht auf § 193 Abs. 1 SGG.

Die Revision ist nicht zuzulassen, da keiner der Gründe des § 160 Abs. 2 Nr. 1 und 2 SGG gegeben ist.

 

Rechtskraft
Aus
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