L 4 KR 3344/17

Land
Baden-Württemberg
Sozialgericht
LSG Baden-Württemberg
Sachgebiet
Krankenversicherung
Abteilung
4.
1. Instanz
SG Reutlingen (BWB)
Aktenzeichen
S 6 KR 1536/16
Datum
2. Instanz
LSG Baden-Württemberg
Aktenzeichen
L 4 KR 3344/17
Datum
3. Instanz
-
Aktenzeichen
-
Datum
-
Kategorie
Urteil

Die Berufung der Klägerin gegen den Gerichtsbescheid des Sozialgerichts Reutlingen vom 25. Juli 2017 wird zurückgewiesen.

Außergerichtliche Kosten sind auch im Berufungsverfahren nicht zu erstatten.

 

Tatbestand

Die Klägerin begehrt im Berufungsverfahren die Erstattung von Fahrkosten zu ambulanten psychotherapeutischen Behandlungen in den Jahren 2003 bis 2007.

Die 1968 geborene Klägerin war bis 31. Januar 2008 bei der S Betriebskrankenkasse, Rechtsvorgängerin der Beklagten (im folgenden einheitlich als Beklagte bezeichnet), gesetzlich krankenversichert, seit dem 1. März 2007 in der Krankenversicherung der Rentner. Zum 1. Februar 2008 wechselte sie in eine andere Krankenkasse.

Eine Klage der Klägerin vor dem Sozialgericht Reutlingen (SG; S 9 KR 2140/03), mit der sie sich gegen die Aufhebung der Krankengeldbewilligung für die Zeit vom 23. Dezember 2002 bis 4. März 2003 und die Verrechnung des hieraus resultierenden Erstattungsbetrages mit dem Anspruch auf Krankengeld für die Zeit vom 17. Februar bis 22. März 2003 (Bescheide der Beklagten vom 19. März 2003 in der Gestalt des Widerspruchsbescheides vom 18. Juli 2003) wandte und Krankengeld auch ab dem 23. März 2003 begehrte, blieb ohne Erfolg (Urteil des SG vom 21. Oktober 2004). Die hiergegen eingelegte Berufung der Klägerin wies das Landessozialgericht (LSG) Baden-Württemberg mit rechtskräftigem Beschluss vom 19. April 2005 (L 11 KR 818/05) zurück.

Unter dem 18. Januar 2005 stellte die Klägerin bei der Beklagten einen Antrag auf teilweise Befreiung von Zuzahlungen und Fahrkosten für die Zeit vom 1. Januar bis 31. Dezember 2004. Dabei verwies sie u.a. auf Fahrkosten zu K und G. Diesen Antrag lehnte die Beklagte mit Bescheid vom 24. Februar 2005 ab.

Mit Verordnung von K vom selben Tag beantragte die Klägerin am 1. Juli 2005 die Fortführung der seit 5. Februar 2004 laufenden dortigen Psychotherapie-Behandlung.

Eine Befreiung von der Zuzahlung für das Jahr 2005 lehnte die Beklagte mit Bescheid vom 21. April 2006 ab. Eine Änderung der Zuzahlungsbefreiungsentscheidungen für 2004 und 2005 lehnte sie mit Bescheiden vom 6. Juli und 9. August 2006 ab. Für 2006 und 2007 wurden jeweils Befreiungsausweise hinsichtlich der Zuzahlungen erteilt.

Frühestens im Juni 2006 stellte die Klägerin einen Antrag auf Fahrkosten-Erstattung für Fahrten zur ambulanten Psychotherapie bei K in der Zeit vom 5. Februar 2004 bis 14. Juni 2006. Die Verwaltungsakte der Beklagten enthält hierzu einen Ablehnungsbescheid vom 23. Oktober 2006.

Mit Bescheid vom 26. Oktober 2015 lehnte die Beklagte eine Überprüfung der Zuzahlungsbefreiungen für die Jahre 2002 bis 2007 wegen Verjährung ab. Der dagegen eingelegte Widerspruch der Klägerin wurde mit Widerspruchsbescheid vom 26. Januar 2016 zurückgewiesen.

Erst mit Schreiben vom 6. Dezember 2015, Eingang bei der Beklagten am 14. Dezember 2015, wandte sich die Klägerin wegen der Fahrkosten wieder an die Beklagte. Sie begehrte die Erstattung von Fahrkosten für die genehmigten Psychotherapie-Behandlungen durch K und G in der Zeit von 2003 bis Februar 2008.

Ebenfalls mit Schreiben vom 6. Dezember 2015 machte sie die Gewährung von Krankengeld für die Zeit vom 17. Februar bis 23. März 2003 geltend. Gegen den dies ablehnenden Bescheid der Beklagten vom 3. Februar 2016 legte die Klägerin Widerspruch ein.

Mit Bescheid vom 8. Februar 2016 lehnte die Beklagte die Erstattung von Fahrkosten zu den Behandlungen bei G ab dem Jahr 2003 bis Februar 2008 wegen eingetretener Verjährung ab. Mit Schreiben vom selben Tag verwies sie wegen der Fahrkosten zur Behandlung bei K auf den Ablehnungsbescheid vom 23. Oktober 2006, der „rechtskräftig“ sei. Auf Anfrage der Klägerin übersandte sie dieser den Bescheid vom 23. Oktober 2006 und wies im Begleitschreiben vom 24. Februar 2016 darauf hin, dass auch ohne diesen Bescheid die beantragten Fahrkosten bereits verjährt seien.

Zur Begründung des gegen den Bescheid vom 8. Februar 2016 (G) eingelegten Widerspruches führte die Klägerin aus, die Verjährungsfrist werde dadurch angefochten bzw. sei zu hemmen, dass die Therapien seit 2003 bis 2008 durch die Beklagte bewilligt worden seien. Ein Bescheid hierauf sei nicht ergangen, so dass ein Widerspruch nicht habe eingelegt werden können. In der Sache liege ein Ausnahmefall vor, der eine Fahrkostenerstattung rechtfertige.

Zu den Fahrkosten zur Behandlung bei K gab sie im weiteren Schreiben vom 28. Februar 2016, das an den Widerspruchsausschuss weiterzugeben sei, an, den Bescheid vom 23. Oktober 2006 erst mit dem Schreiben vom 24. Februar 2016 erhalten zu haben, gegen den sie nun Widerspruch einlege. Da durch diese Behandlung ein Krankenhausaufenthalt habe vermieden werden können, lägen die Voraussetzungen für eine Erstattung der Fahrkosten vor. Die Verjährung sei gehemmt.

Mit Widerspruchsbescheid vom 17. Mai 2016 wies der Widerspruchsausschuss der Beklagten den Widerspruch „gegen den Bescheid vom 08.02.2016“ als unbegründet zurück. Den Antrag auf Fahrkostenerstattung für Fahrten zur ambulanten Therapie für die Jahre 2004 bis 2006 habe die Klägerin bereits im Jahr 2006 gestellt, der mit Bescheid vom 23. Oktober 2006 abgelehnt worden sei. Der aktuelle Antrag vom 14. Dezember 2015 auf Fahrkostenerstattung für diesen Zeitraum sei „mit Bescheid vom 08.02.2016 und mit Verweis auf den bestandskräftigen Bescheid aus dem Jahre 2006 sowie mit Verweis auf die Verjährungsregelungen abgelehnt“ worden. Alle Sozialleistungen, also auch alle Erstattungsansprüche im Rahmen der Fahraufwendungen, verjährten vier Jahre nach Ablauf des Kalenderjahres, in dem der entsprechende Rechtsanspruch entstanden sei. Im Rahmen einer Neuprüfung im Sinne des § 44 Zehntes Buch Sozialgesetzbuch (SGB X) würden Sozialleistungen längstens für einen Zeitraum bis zu vier Jahren vor der Rücknahme erbracht. Die Klägerin habe im Jahr 2015 die Erstattung von Fahrkosten für die Jahre 2004 bis 2006 begehrt. Hinweise auf eine Hemmung bzw. einen Neubeginn der Verjährung lägen nicht vor. Über den Antrag der Klägerin sei mit Bescheid vom 23. Oktober 2006 entschieden worden, der seit dem 27. November 2006 bestandskräftig sei. Potentielle Ansprüche seien ohnehin nicht mehr zu leisten, da diese verjährt seien.

Am 17. Juni 2016 erhob die Klägerin beim SG Klage wegen „ambulanter Fahrkostenübernahme gegen den Widerspruchsbescheid vom 17.5.2016“, ohne diese zunächst zu begründen. Nach Anhörung zum Erlass eines Gerichtsbescheides legte sie am 16. Juni 2017 zur Begründung die ärztliche Bescheinigung von G über eine schwere chronische Krankheit vom 15. Mai 2014 vor und führte ergänzend aus, unter Berücksichtigung der chronischen Krankheit seien die Fahrkosten seit 2003 bei den von ihr zu leistenden Zuzahlungen zu berücksichtigen. Diese seien von der Beklagten noch korrekt zu berechnen. Des Weiteren verwies sie wegen des Anspruchs auf Fahrkosten auf ein gegen eine andere Krankenkasse geführtes Klageverfahren vor dem SG (S 6 KR 2846/15).

Die Beklagte trat der Klage unter Verweis auf den Widerspruchsbescheid entgegen.

Mit Gerichtsbescheid vom 25. Juli 2017 wies das SG die Klage ab. Die Beklagte habe die Übernahme von Fahrkosten zu den Behandlungsterminen bei K und G in den Jahren 2004 bis 2006 zu Recht abgelehnt. Die Voraussetzungen einer Fahrkostenübernahme nach § 60 Fünftes Buch Sozialgesetzbuch (SGB V) i.V.m. § 8 der Krankentransportrichtlinien des Gemeinsamen Bundesausschusses lägen nicht vor, insbesondere bestünden keine Anhaltspunkte, dass durch die Fahrten zur ambulanten Psychotherapie eine stationäre Behandlung vermieden worden sei. Dies könne letztlich offenbleiben. Jedenfalls seien die geltend gemachten Leistungsansprüche verjährt. Die Beklagte sei berechtigt, sich hierauf zu berufen. Den Anspruch auf Erstattung von Fahrkosten zu den Behandlungen bei G habe die Klägerin erst 2015 geltend gemacht. Anhaltspunkte für eine Hemmung der Verjährung lägen insoweit nicht vor. Hinsichtlich der Fahrkosten zu K sei die Verjährung zwar durch den Antrag der Klägerin auf Fahrkostenerstattung zunächst gehemmt worden. In Anwendung des Rechtsgedankens des § 204 Abs. 2 Bürgerliches Gesetzbuch (BGB) über die Beendigung der Verjährungshemmung bei Verfahrensstillstand, habe vorliegend die Hemmung der Verjährung jedenfalls bei Beendigung der Mitgliedschaft bei der Beklagten geendet. Es wäre zu erwarten gewesen, dass die Klägerin bis zu diesem Zeitpunkt einen aus ihrer Sicht noch offenen Antrag auf Fahrkostenerstattung erneut geltend mache.

Gegen diesen ihr am 29. Juli 2017 zugestellten Gerichtsbescheid hat die Klägerin am 25. August 2017 Berufung beim LSG Baden-Württemberg eingelegt. Zur Begründung hat sie ihr bisheriges Vorbringen wiederholt und ergänzend ausgeführt, die Entscheidung durch Gerichtsbescheid stelle einen Verfahrensmangel dar, da ihr die Möglichkeit zur Antragstellung auf Begutachtung nach § 109 Sozialgerichtsgesetz (SGG), zur Vorlage von Beweismitteln und zur Aufrechnung in der mündlichen Verhandlung genommen worden sei. Die angenommene Verjährung stehe ihrem Recht auf Aufrechnung nicht entgegen. Die mit dem Antrag auf teilweise Befreiung von der Zuzahlungspflicht im Januar 2005 eingereichten Fahrkosten zu K und G habe die Beklagte nicht bearbeitet. Damit sei auch deren Berücksichtigung bei Berechnung der Belastungsgrenze hinsichtlich der Zuzahlungen zu Unrecht nicht erfolgt. Insoweit sei die Beklagte auch zu Unrecht bereichert (§ 812 BGB). Entgegen der Ansicht des SG habe sie des Weiteren durch den Verweis auf das Parallelverfahren gegen die andere Krankenkasse mit Einholung eines Sachverständigengutachtens Anhaltspunkte aufgezeigt, dass durch die ambulante Psychotherapie eine stationäre Behandlung vermieden worden sei. Die Beendigung der Hemmung der Verjährung sei nicht eingetreten, da nicht nur der erste Leistungsantrag nicht bearbeitet worden sei, sondern auch die Folgeanträge vom 6. Dezember 2015 und 28. Februar 2016. Ihre Ansprüche auf Krankengeldzahlungen für die Vergangenheit (2002/2003), hierauf bezogene Rechtsanwalts- und Zwangsvollstreckungskosten seien in Aufrechnung zu bringen. Dem im Parallelverfahren vor dem SG (S 6 KR 2846/15) erstatteten und hier vorgelegten Sachverständigengutachten vom 12. Oktober 2017 sei zu entnehmen, dass die Voraussetzungen für die Übernahme der Fahrkosten vorgelegen hätten. Auf Nachfrage im Erörterungstermin vom 28. Februar 2018 hat die Klägerin angegeben, die zu erstattenden Fahrkosten beliefen sich unter Berücksichtigung von 0,20 € pro Kilometer für die Behandlungen bei K auf 302,40 € (63 Termine) und bei G auf 388,80 € (81 Termine). Die Klägerin hat ein Konvolut verschiedener Unterlagen (Bl. 16/112 der Senatsakten) sowie Übersichten der Behandlungstermine bei K (Zeitraum 5. Februar 2004 bis 14. Juni 2006) und G (Zeitraum 11. März 2003 bis 19. Dezember 2008) vorgelegt; insoweit wird auf Bl. 132/138 der Senatsakten Bezug genommen.

Die Klägerin beantragt,

den Gerichtsbescheid des Sozialgerichts Reutlingen vom 25. Juli 2017 aufzuheben und die Beklagte unter Aufhebung der Bescheide vom 23. Oktober 2006, 8. und 24. Februar 2016 in der Gestalt des Widerspruchsbescheides vom 17. Mai 2016 zu verurteilen, ihr Fahrkosten zu ambulanten Behandlungen im Zeitraum vom 11. März 2003 bis 31. Dezember 2017 insgesamt in Höhe von 691,20 € zu zahlen.

Die Beklagte beantragt,

die Berufung zurückzuweisen.

Die Beklagte ist der Berufung entgegengetreten. Sie hält die angefochtene Entscheidung für zutreffend. Ergänzend hat sie ausgeführt, es bleibe dabei, dass die geltend gemachten Leistungsansprüche verjährt seien. Dem vorgelegten Gutachten aus dem Parallelverfahren sei des Weiteren schon nicht zu entnehmen, für welchen Zeitraum dort eine an sich gebotene stationäre Maßnahme hätte vermieden werden können. Darüber hinaus sei vorliegend die ambulante Psychotherapie erst im Anschluss an eine Krankenhausbehandlung erfolgt.

Der Berichterstatter hat am 28. Februar 2018 mit den Beteiligten einen Erörterungstermin durchgeführt und in diesem u.a. darauf hingewiesen, dass auch eine Verwirkung der geltend gemachten Ansprüche in Betracht komme. Auf das Protokoll vom 28. Februar 2018 (Bl. 131 der Senatsakte) wird Bezug genommen.

Wegen der weiteren Einzelheiten des Sachverhalts sowie des Vorbringens der Beteiligten wird Bezug genommen auf die Verfahrensakten des SG und des Senats sowie die Verwaltungsakte der Beklagten.

 

Entscheidungsgründe

1. Die nach § 151 Abs. 1 SGG form- und fristgerecht eingelegte Berufung der Klägerin ist zulässig, insbesondere statthaft gemäß §§ 105 Abs. 2 Satz 1, 143, 144 Abs. 1 SGG. Denn die geltend gemachten Erstattungsansprüche für Fahrkosten für regelmäßige ambulante psychotherapeutische Behandlungen im Zeitraum vom 11. April 2003 bis 31. Dezember 2007 erstrecken sich bzgl. beider Therapeuten jeweils auf laufende Leistungen für mehr als ein Jahr, § 144 Abs. 1 Satz 2 SGG.

2. Gegenstand des Verfahrens ist das Begehren der Klägerin auf Kostenerstattung für Fahrkosten zu den Behandlungen bei K in den Jahren 2004 bis 2006 und bei G im Zeitraum von März 2003 bis Dezember 2007. Dies hat die Klägerin im Erörterungstermin vom 28. Februar 2018 ausdrücklich bestätigt. Bereits in dem diesem Verfahren zugrundeliegenden Antrag vom 14. Dezember 2015 hatte die Klägerin die Fahrkosten zu den Behandlungen bei G im Zeitraum von 2003 bis (damals noch) Februar 2008 neben den Kosten für Fahrten zu K geltend gemacht. Im Verwaltungsverfahren entschied die Beklagte auch ausdrücklich über diese Kostenerstattungen bzgl. G (Bescheid vom 8. Februar 2016) und K (Bescheid vom 24. Februar 2016; dazu unten). Eine Beschränkung auf den Zeitraum der Jahre 2004 bis 2006 erfolgte in diesen Bescheiden nicht. Ausdrücklich bezog sich die Klägerin im Widerspruch gegen den Bescheid vom 8. Februar 2016 wiederum auf die für den Zeitraum 2003 bis 2008 bewilligten ambulanten Behandlungen bei G. Dass die Beklagte in den Gründen des Widerspruchsbescheides vom 17. Mai 2016 ausdrücklich nur den Zeitraum von 2004 bis 2006 anführte, steht dem umfassenderen Begehren im vorliegenden Verfahren nicht entgegen. Denn im Widerspruchsbescheid sollte erkennbar das mit Antrag vom 14. Dezember 2015 geltend gemachte Kostenerstattungsbegehren umfassend entschieden werden (dazu unten). Daher kann auch in der zunächst ohne weitere Begründung wegen „ambulanter Fahrkostenübernahme gegen den Widerspruchsbescheid vom 17.5.2016“ gerichteten Klageerhebung keine Beschränkung des Begehrens auf den Zeitraum 2004 bis 2006 gesehen werden. So bezog sich die Klägerin auch im Verfahren vor dem SG im Schreiben vom 16. Juni 2017 auf die seit 2003 angefallenen Fahrkosten. Das SG hat im angefochtenen Gerichtsbescheid das Klagebegehren nach dem in den Gründen des Widerspruchsbescheides genannten Zeitraum gefasst, ohne zu prüfen, was damit – trotz des Wortlauts – tatsächlich geregelt wurde. Eine Auslegung der Regelung des Widerspruchsbescheides nahm es nicht vor. Es hat damit das Klagevorbringen falsch interpretiert, nämlich den Inhalt der angefochtenen Regelung, über die es entscheiden sollte. In einem solchen Fall muss das LSG als Berufungsgericht den geltend gemachten Anspruch selbst ermitteln und über diesen im Berufungsverfahren entscheiden (BSG, Beschluss vom 2. April 2014 – B 3 KR 3/14 B – juris, Rn. 8 ff.). Ein Fall der Klageänderung oder -erweiterung in der Berufungsinstanz liegt nicht vor. Dass die Klägerin dieses Begehren im Berufungsverfahren weiterverfolgt, ergibt sich bereits aus der im Erörterungstermin vorgenommenen Bezifferung der geltend gemachten Kostenerstattungsansprüche, die sich auf die Fahrkosten zu den ambulanten Behandlungen bei G und K im Gesamtzeitraum von März 2003 bis Dezember 2007 beziehen. Der streitbefangene Zeitraum endet am 31. Dezember 2007. Denn im Jahr 2008 fand vor dem Wechsel der Krankenkasse zum 1. Februar 2008 kein Termin bei G statt. Insoweit hat die Klägerin durch die im Erörterungstermin vorgelegten Terminübersichten das Klagebegehren begrenzt.

Nicht Gegenstand des Berufungsverfahrens ist die Befreiung von der Zuzahlung sowie ein Anspruch auf Krankengeld im Jahr 2003. Dies ergibt sich bereits aus dem Inhalt der Klageschrift, die sich ausdrücklich auf die „ambulante Fahrkostenübernahme“ bezog und gegen den Widerspruchsbescheid vom 17. Mai 2016 richtete. Dieser betraf allein die Frage der Kostenerstattung für Fahrkosten. Die Überprüfung der Zuzahlungsbefreiungen für die Jahre 2002 bis 2007 war hingegen Gegenstand des Bescheides vom 26. Oktober 2015 in der Gestalt des Widerspruchsbescheides vom 26. Januar 2016. Diesen hatte die Klägerin in der Klage nicht bezeichnet. Ohnehin wäre die Klagefrist insoweit bei Klageerhebung bereits verstrichen gewesen. Auch einen Anspruch auf Krankengeld für 2003 hatte die Klägerin im Klageverfahren nicht geltend gemacht. Dementsprechend entschied auch das SG im angefochtenen Gerichtsbescheid allein über Ansprüche auf Erstattung von Fahrkosten. Soweit die Klägerin ausgeführt hat, ihre Ansprüche auf Krankengeldzahlungen für die Vergangenheit (2002/2003) sowie hierauf bezogene Rechtsanwalts- und Zwangsvollstreckungskosten seien in Aufrechnung zu bringen, zeigt dies bereits, dass sie solche Ansprüche gerade nicht klageweise geltend machen will. Für den vorliegenden Rechtsstreit bleibt dieser Vortrag des Weiteren ohne Bedeutung. Denn die Klägerin begehrt selbst eine Leistung und wehrt sich nicht gegen einen von der Beklagten gegen sie geltend gemachten Anspruch, gegen den sie aufrechnen könnte.

3. Die Berufung ist nicht begründet. Das SG hat die Klage im Ergebnis zu Recht abgewiesen.

a) Der angefochtene Gerichtsbescheid des SG ist nicht bereits wegen eines Verfahrensfehlers aufzuheben. Denn die Voraussetzungen des § 159 Abs. 1 Nr. 2 SGG liegen nicht vor. Danach kann das Landessozialgericht durch Urteil die angefochtene Entscheidung aufheben und die Sache an das Sozialgericht zurückweisen, wenn das Verfahren an einem wesentlichen Mangel leidet und aufgrund dieses Mangels eine umfangreiche und aufwändige Beweisaufnahme notwendig ist. Zwar behauptet die Klägerin einen Verfahrensmangel, in dem sie geltend macht, das SG habe zu Unrecht durch Gerichtsbescheid ohne mündliche Verhandlung entschieden. Ob ein Verfahrensfehler tatsächlich vorliegt, kann dahinstehen. Denn ein solcher Mangel wird durch die Sachentscheidung des LSG geheilt (BSG, Urteil vom 22. Mai 1984 – 6 RKa 15/83 – juris, Rn. 9; Hessisches LSG, Urteil vom 12. Juni 2017 – L 9 U 168/16 – juris, Rn. 26 m.w.N.). Die weitere Voraussetzung für eine Zurückverweisung lag nicht vor. Denn eine umfangreiche und aufwändige Beweisaufnahme war vorliegend nicht notwendig.

b) Die Klage ist als kombinierte Anfechtungs- und Leistungsklage zulässig.

aa) Eine – ablehnende – Verwaltungsentscheidung über die Fahrkosten sowohl zu K als auch zu G liegt für den gesamten streitbefangenen Zeitraum vor. Die geltend gemachte Kostenerstattung für Fahrkosten zu G lehnte die Beklagte – ohne zeitliche Begrenzung des Regelungszeitraums – mit Bescheid vom 8. Februar 2016 vollumfänglich wegen Verjährung ab. Hinsichtlich der Fahrkosten zur Behandlung bei K verwies die Beklagte hingegen mit Schreiben vom selben Tag zunächst lediglich auf den Ablehnungsbescheid vom 23. Oktober 2006, der „rechtskräftig“ sei. Indem sie aber mit Schreiben vom 24. Februar 2016 – unabhängig vom Ablehnungsbescheid vom 23. Oktober 2006 – eine Verjährung der erhobenen Ansprüche geltend machte, traf sie eine neue und eigenständige Regelung zum Antrag der Klägerin vom 14. Dezember 2015. Unabhängig von der äußeren Form liegt hierin nach dem maßgeblichen objektiven Empfängerhorizont ein Verwaltungsakt i.S. des § 31 SGB X.

bb) Zum gesamten Klagebegehren liegt ein abgeschlossenes Vorverfahren vor (§ 78 Abs. 1 Satz 1, Abs. 3 SGG).

Gegen den Bescheid vom 8. Februar 2016 (G) erhob die Klägerin ausdrücklich Widerspruch. Aber auch gegen die Ablehnung bzgl. K legte sie mit Schreiben vom 28. Februar 2016 Widerspruch ein, indem sie ausdrücklich darum bat, dieses dem Widerspruchsausschuss vorzulegen.

Dass der Widerspruchsausschuss der Beklagten in den Gründen des Widerspruchsbescheides vom 17. Mai 2016 lediglich den Zeitraum 2004 bis 2006 anführt, steht dem nicht entgegen. Entschieden wurde erkennbar über die Erstattung der Fahrkosten sowohl zu K als auch G. Ohne weitere Differenzierung geht der Widerspruchsbescheid lediglich auf „Fahrkosten“ ein. Eine Beschränkung auf die Fahrkosten bei K erfolgte somit nicht. Hiervon ist auch das SG zutreffend ausgegangen. Die ausdrückliche Ablehnung mit Bescheid vom 8. Februar 2016 wegen Verjährung, die der Widerspruchsbescheid anführt, bezog sich auf die Behandlungen bei G. Hinsichtlich der Kosten bei K wurde die Verjährung erst im Schreiben vom 14. Februar 2016 eingewandt. Weiter führte die Beklagte aus, den Antrag auf Fahrkostenerstattung für Fahrten zur ambulanten Therapie für die Jahre 2004 bis 2006 habe die Klägerin bereits im Jahr 2006 gestellt, der mit Bescheid vom 23. Oktober 2006 abgelehnt worden sei. Der aktuelle Antrag vom 14. Dezember 2015 auf Fahrkostenerstattung für diesen Zeitraum sei „mit Bescheid vom 08.02.2016 und mit Verweis auf den bestandskräftigen Bescheid aus dem Jahre 2006 sowie mit Verweis auf die Verjährungsregelungen abgelehnt“ worden. Daraus ergibt sich zunächst nur, dass dem aktuellen Antrag vom 14. Dezember 2015 für den Zeitraum 2004 bis 2006 nach Auffassung der Beklagten der bestandskräftige Bescheid vom 23. Oktober 2006 entgegenstehe. Darüber hinaus wird aber umfassend eine Verjährung der Ansprüche geltend gemacht, die am 14. Dezember 2015 beantragt wurden. Die Beklagte wollte daher erkennbar nicht nur eine Teilentscheidung über den Zeitraum von 2004 bis 2006 treffen, sondern das Widerspruchsbegehren in vollem Umfang erledigen (vgl. BSG, Beschluss vom 13. Juni 2013 – B 13 R 454/12 B – juris, Rn. 20 m.w.N.). Dieses bezog sich aber, wie dargestellt, auf die Erstattung der Fahrkosten zu beiden Therapeuten im Gesamtzeitraum März 2003 bis (damals noch) Februar 2008. Indem sie den Ablehnungsbescheid vom 23. Oktober 2006 als bestandskräftig zugrunde legte, hat sie auch dem gegen diesen mit Schreiben vom 28. Februar 2016 eingelegten Widerspruch der Klägerin nicht stattgegeben.

c) Die Klage ist jedoch nicht begründet. Die Klägerin hat keinen Anspruch auf Erstattung der Fahrkosten im begehrten Umfange. Ob die materiell-rechtlichen Voraussetzungen für einen Anspruch auf Fahrkostenerstattung im streitbefangenen Zeitraum vorlagen oder die Beklagte zu Recht die Verjährungseinrede erhoben hat, kann offenbleiben. Denn solche Ansprüche sind jedenfalls verwirkt.

aa) Das im Bürgerlichen Recht als Ausprägung des Grundsatzes von Treu und Glauben (§ 242 BGB) entwickelte Rechtsinstitut der Verwirkung ist auch im Sozialrecht anerkannt und von Amts wegen zu berücksichtigen (Schifferdecker, in: Kasseler Kommentar, Stand Dezember 2018, § 45 SGB I Rn. 14). Danach entfällt eine Leistungspflicht, wenn der Berechtigte die Ausübung seines Rechts während eines längeren Zeitraums unterlassen hat und weitere besondere Umstände hinzutreten, die nach den Besonderheiten des Einzelfalles und des in Betracht kommenden Rechtsgebietes die verspätete Geltendmachung des Rechts nach Treu und Glauben dem Verpflichteten gegenüber als illoyal erscheinen lassen. Die Verwirkung setzt als Unterfall der unzulässigen Rechtsausübung voraus, dass bei Geltendmachung des Anspruchs bereits ein gewisser Zeitraum verstrichen ist (Zeitmoment) und der Leistungsberechtigte unter den besonderen Verhältnissen des Einzelfalls untätig bleibt, unter denen vernünftigerweise eine Rechtsschutzaktivität entfaltet wird (Umstandsmoment); erst durch die Kombination beider Elemente wird eine Situation geschaffen, auf die der Klagegegner vertrauen, sich einstellen und einrichten darf (Vertrauenstatbestand) und sich infolgedessen in seinen Vorkehrungen und Maßnahmen so eingerichtet hat (Vertrauensverhalten), dass ihm durch die verspätete Durchsetzung des Rechts ein unzumutbarer Nachteil entstehen würde. Allein die bloße Dauer einer anfänglichen Untätigkeit genügt nicht, um die spätere Ausübung des Rechts als unzulässig anzusehen (BSG, Urteil vom 16. Juli 2019 – B 12 KR 6/18 R – juris, Rn. 27 ff. m.w.N.; Rolfs, in: Hauck/Noftz, SGB I, Stand Juli 2017, § 45, Rn. 13). An Verwirkung ist gerade in Fällen zu denken, wenn ein Leistungsantrag vorliegt und über lange Zeit weder bearbeitet noch angemahnt wird (Groth, in: Schlegel/Voelzke, jurisPK-SGB I, Stand Mai 2020, § 45 Rn. 64).

bb) Diese Voraussetzungen liegen im konkreten Einzelfall hier vor. Das Zeitmoment ist erfüllt. Nach den vorliegenden Unterlagen hat die Klägerin zwischen Juni und Oktober 2006 einen Antrag auf Fahrkostenerstattung für Fahrten zur ambulanten Psychotherapie bei K in der Zeit vom 5. Februar 2004 bis 14. Juni 2006 gestellt. Dies entnimmt der Senat der diesen Zeitraum erfassenden Terminaufstellung (Bl. 2 der Verwaltungsakte) und dem Ablehnungsbescheid der Beklagten vom 23. Oktober 2006. Weitere Anträge auf Fahrkostenübernahme liegen nicht vor. Der Verwaltungsakte sind solche nicht zu entnehmen. Die Klägerin hat keine solchen vorgelegt oder bezeichnet. Der unter dem 18. Januar 2005 gestellte Antrag (Bl. 77 der Senatsakten) bezog sich auf eine teilweise Befreiung von Zuzahlungen und Fahrkosten für die Zeit vom 1. Januar bis 31. Dezember 2004, nicht aber unmittelbar auf eine Übernahme der Fahrkosten selbst. Selbst wenn man diesen auch als Antrag auf Fahrkostenerstattung auslegen würde, bliebe das Zeitmoment in Ansehung dieser beiden Anträge erfüllt. Denn die Klägerin hat die Bearbeitung dieser Anträge oder überhaupt die Fahrkostenerstattung in der Folgezeit, insbesondere aus Anlass der Beendigung der Mitgliedschaft nicht weiter angemahnt. Abweichendes hat die Klägerin nicht, insbesondere nicht substantiiert, vorgetragen. Vielmehr verwies sie nur auf „Folgeanträge“ vom 6. Dezember 2015 und 28. Februar 2016. Weder die von ihr vorgelegten Unterlagen noch die Verwaltungsakte der Beklagten bieten Hinweise auf frühere Anträge oder „Mahnungen“. Erst am 14. Dezember 2015 (Schreiben vom 6. Dezember 2015) machte die Klägerin die Fahrkosten für Jahre zurückliegende Zeiträume (wieder) geltend. Die Beklagte durfte deshalb darauf vertrauen, dass die Klägerin ihre geltend gemachten Rechte nicht mehr ausüben wird. Aus dem gesamten Vortrag der Beklagten folgt auch, dass sie tatsächlich darauf vertraut hat.

Da die Klägerin die Mitgliedschaft bei der Beklagten zum 31. Januar 2008 beendete, ohne die behaupteten noch offenen Ansprüche geltend zu machen, liegt auch das besondere Umstandselement vor. Denn damit blieb sie unter besonderen Verhältnissen (Wechsel zu einer anderen Krankenkasse) untätig, unter denen vernünftigerweise eine Rechtsschutzaktivität entfaltet werden kann. Indem sie nicht bereits zu diesem Zeitpunkt die behaupteten Ansprüche geltend machte, sondern erst mehr als sieben Jahre nach dem Ende der Mitgliedschaft, hat sie einen Vertrauenstatbestand geschaffen, auf den die Beklagte auch ihr Verhalten ausgerichtet hat. So nahm diese eine zum Beendigungszeitpunkt noch mögliche, recht zeitnahe Prüfung der Anspruchsvoraussetzungen für eine Fahrkostenübernahme (insbesondere hinsichtlich der damals aktuellen medizinischen Befunde) nicht vor und musste sich auch nicht zu einer solchen veranlasst sehen. Die verspätete Durchsetzung der von der Klägerin geltend gemachten Rechte bedeutet für die Beklagte vor diesem Hintergrund ein unzumutbarer Nachteil (BSG, Urteil vom 29. Januar 1997 – 5 RJ 52/94 – juris, Rn. 18). Denn Ermittlungen zum Gesundheitszustand der Klägerin mehrere Jahre nach dem streitigen Zeitraum führen offensichtlich zu Aufklärungsschwierigkeiten. Damit war bereits zum Zeitpunkt der Geltendmachung am 14. Dezember 2015 Verwirkung der behaupteten Ansprüche eingetreten. Auf den von der Klägerin angeführten, späteren Schriftverkehr mit der Beklagten insbesondere im Jahr 2016 kommt es daher nicht an.

4. Die Kostenentscheidung beruht auf § 193 Abs. 1 Satz 1 SGG.

5. Die Revision war nicht zuzulassen, da Gründe hierfür (vgl. § 160 Abs. 2 SGG) nicht vorliegen.

Rechtskraft
Aus
Saved