Auf die Berufung der Klägerin werden der Bescheid der Beklagten vom 21.09.2017 in der Fassung des Widerspruchsbescheids vom 05.07.2018 und das angefochtene Urteil des Sozialgerichts Karlsruhe vom 03.02.2020 abgeändert und die Beklagte verurteilt, der Klägerin für den Zeitraum ab dem 01.11.2021 bis einschließlich 31.10.2024 eine Rente wegen voller Erwerbsminderung nach § 43 Abs. 2 SGB VI zu gewähren.
Die Beklagte hat der Klägerin die Hälfte der außergerichtlichen Kosten im Berufungsverfahren zu erstatten. Im Übrigen sind außergerichtliche Kosten nicht zu erstatten.
Tatbestand
Die Beteiligten streiten um die Gewährung einer Rente wegen voller Erwerbsminderung für den Zeitraum 01.11.2021 bis 31.10.2024.
Die 1970 geborene Klägerin erlernte den Beruf der Verkäuferin. Zuletzt war sie als Zeitungsausträgerin versicherungspflichtig beschäftigt. Sie bezieht Grundsicherungsleistungen nach dem SGB II.
Am 21.07.2017 beantragte die Klägerin bei der Beklagten die Gewährung einer Rente wegen Erwerbsminderung und begründete diesen damit, sie halte sich wegen sozialer Phobie, chronischen Schmerzen und Depressionen seit 1993 für erwerbsgemindert.
Die Beklagte beauftragte die S mit der Untersuchung und Begutachtung der Klägerin. In ihrem Gutachten vom 15.09.2017 kam die Ärztin zu dem Ergebnis, die Klägerin leide an einer kombinierten Persönlichkeitsstörung, einer Dysthymie mit chronischer Verbitterung, einer chronischen Schmerzstörung mit somatischen und psychischen Faktoren, einem Zustand nach Alkoholabhängigkeit, einem chronisch rezidivierenden Zervikal- und Lumbalsyndrom, einem beidseitigen Karpaltunnelsyndrom, einer Psoriasis, einem Bluthochdruck (derzeit entgleist ohne Medikation), einer Chopartarthrose beidseits [Verschleiß des Gelenkknorpels an den Fußwurzelknochen], einer Adipositas Grad II und an einem Tinnitus aurium beidseits. Mit diesen Erkrankungen sei die Klägerin noch in der Lage, leichte körperliche Arbeiten, zeitweise im Stehen, im Gehen und überwiegend im Sitzen in einem Umfang von mindestens sechs Stunden täglich auszuüben.
Mit Bescheid vom 21.09.2017 lehnte die Beklagte daraufhin den Rentenantrag vom 21.07.2017 ab, weil die Klägerin noch mindestens 6 Stunden täglich unter den üblichen Bedingungen des allgemeinen Arbeitsmarktes erwerbstätig sein könne.
Hiergegen legte der Prozessbevollmächtigte der Klägerin am 16.10.2017 Widerspruch ein. Zur Begründung führte er aus, die Klägerin sei aufgrund ihrer psychischen Erkrankung und der chronischen Schmerzstörung nicht in der Lage, selbst leichte Tätigkeiten in einem Umfang von mindestens 6 Stunden arbeitstäglich zu verrichten.
Der Prozessbevollmächtigte der Klägerin reichte bei der Beklagten einen Sozialbericht der Psychiatrischen Tagesklinik P vom 12.04.2018 ein. Hiernach wurde aus sozialarbeiterischer Sicht die Begleitung in Form des betreuten Einzelwohnens zur Sicherung der eigenständigen Lebensführung bei der Klägerin für erforderlich gehalten, um die Wirksamkeit des bisherigen Therapieerfolgs sowie die weitere psychische Stabilität zu unterstützen.
Zudem legte der Prozessbevollmächtigte den Entlassbrief vom 19.04.2018 über eine teilstationäre Behandlung in der Psychiatrischen Tagesklinik P im Zeitraum vom 24.01.2018 bis 13.04.2018 ein. Dort sind als Diagnosen eine rezidivierende depressive Störung, gegenwärtig mittelschwergradige Episode, eine schwergradige Persönlichkeitsentwicklungsstörung, eine anhaltende somatoforme Schmerzstörung, ein vorausgegangener Alkoholabusus, eine Adipositas Grad II und eine essentielle Hypertonie angegeben. Die Entlassung erfolgte arbeitsunfähig bis auf weiteres.
Zudem übersandte der Prozessbevollmächtigte einen Bescheid des Landratsamtes E vom 30.04.2018 über die Übernahme der Kosten für ambulant betreutes Wohnen ab Mai 2018 als Leistungen der Eingliederungshilfe nach dem Zwölften Buch Sozialgesetzbuch.
Die Beklagte legte die ärztlichen Unterlagen S vor, die in ihrer ergänzenden Stellungnahme vom 27.04.2018 ausführte, wesentliche Fähigkeitsstörungen, die ein quantitativ reduziertes Leistungsvermögen nach sich zögen, ergäben sich aus den vorgelegten Unterlagen nicht.
Mit Widerspruchsbescheid vom 05.07.2018 wies die Beklagte daraufhin den Widerspruch der Klägerin zurück. Zur Begründung führte sie aus, unter Berücksichtigung aller Gesundheitsstörungen und den sich daraus ergebenden funktionellen Einschränkungen bei der Ausübung von Erwerbstätigkeiten seien keine Auswirkungen ersichtlich, die das Leistungsvermögen für Tätigkeiten auf dem allgemeinen Arbeitsmarkt zeitlich einschränkten. Sie hielt hierin daran fest, dass der Kläger weiterhin 6 Stunden täglich zumindest leichte Tätigkeiten auf dem allgemeinen Arbeitsmarkt auszuüben vermöge.
Hiergegen hat die Prozessbevollmächtigte der Klägerin am 25.07.2018 beim Sozialgericht Karlsruhe (SG) Klage erhoben. Zur Begründung hat sie vorgetragen, aufgrund der psychischen Erkrankung und der chronischen Schmerzstörung sei die Kläger nicht in Lage, selbst leichte Tätigkeiten in einem Umfang von mindestens 6 Stunden arbeitstäglich zu verrichten. Es werde angeregt, die behandelnden Ärzte als sachverständige Zeugen zu hören.
Das SG hat Beweis erhoben durch Vernehmung der die Klägerin behandelnden Ärzte als sachverständige Zeugen.
Der M hat am 11.10.2018 bekundet, die Klägerin seit Januar 2017 ein- bis zweimal im Monat zu behandeln. Ursächlich sei meist die Persönlichkeitsstörung. Konkrete Anlässe seien dann regelmäßig somatoforme Beschwerden oder psychische Symptome (Ängste). Die Klägerin sei aufgrund ihrer psychischen Erkrankung nicht in der Lage, an 5 Tagen in der Woche mindestens 6 Stunden zu arbeiten.
Der H hat mit Schreiben vom 22.10.2018 ausgesagt, das Beschwerdebild der Klägerin sei durch depressive Verstimmung, durch Konzentrations- und Antriebsstörungen, durch Insuffizienzerleben, fehlende Lebensfreude und Beeinträchtigung des Selbstwertgefühls geprägt. Die Beurteilung der beruflichen Leistungsfähigkeit liege außerhalb seiner Kompetenz.
Die H1 hat mit Schreiben vom 26.10.2018 berichtet, die Klägerin durchschnittlich einmal im Monat zu behandeln. Die Klägerin sei mittelfristig nicht in der Lage, einer körperlich leichten und nervlich wenig belastenden Tätigkeit im Rahmen einer Fünftagewoche mindestens 6 Stunden täglich nachzugehen. Maßgeblich seien die mangelhaften Konfliktbewältigungsstrategien, starke Selbstzweifel, Selbstvorwürfe und die Erfahrung von Ohnmacht und Inkompetenz. Aufgrund der lange zurückliegenden letzten Tätigkeit bestehe zudem eine extreme Angst bezüglich eines Wiedereinstiegs.
Der T hat in seinem Gutachten zur Feststellung der Erwerbsfähigkeit für das Jobcenter E vom 20.11.2018 ausgeführt, bei der Klägerin liege aufgrund ihrer schweren chronischen seelischen Erkrankungen eine Leistungsfähigkeit von täglich weniger als 3 Stunden vor. Die aufgehobene Leistungsfähigkeit werde voraussichtlich auf Dauer bestehen.
Das SG hat von Amts wegen je ein Gutachten beim W und beim S1 eingeholt.
In seinem Gutachten vom 30.01.2019 ist W zu dem Ergebnis gekommen, die Klägerin leide an einer rezidivierenden depressiven Störung, seit Jahren mittelschwergradig, einer ausgeprägten abnormen Persönlichkeitsentwicklung und einer anhaltenden somatoformen Schmerzstörung. Mit ihren Erkrankungen sei die Klägerin nur noch in der Lage, selbst leichte körperliche Arbeiten auf dem allgemeinen Arbeitsmarkt maximal zwei Stunden täglich auszuführen.
Für die Beklagte hat der N am 13.02.2019 beratungsärztlich dahingehend Stellung genommen, dass die sozialmedizinische Leistungseinschätzung von W nicht nachvollzogen werden könne. Es ergäben sich Diskrepanzen zwischen den Auskünften der Klägerin während der gutachterlichen Untersuchung, dem unvollständig erhobenen psychopathologischen Befund und der eingeschränkten Konsistenzprüfung.
Im Zeitraum vom 25.06.2019 bis 23.08.2019 hat sich die Klägerin erneut in teilstationärer Behandlung der Psychiatrischen Tagesklinik P befunden. Im Entlassbrief vom 17.09.2019 ist eine schwergradige depressive Episode bei rezidivierender depressiver Störung ohne psychotische Symptome diagnostiziert, ferner eine soziale Phobie, eine schwergradige Persönlichkeitsentwicklungsstörung, eine anhaltende somatoforme Schmerzstörung, eine Adipositas Grad II, eine arterielle Hypertonie und ein metabolisches Syndrom mit latentem Diabetes mellitus Typ II. Bei der Klägerin liege ein beginnendes Messie-Syndrom vor.
In seinem Gutachten vom 23.10.2019 hat S1 bei der Klägerin eine kombinierte Persönlichkeitsstörung, chronische depressive Verstimmungen im Sinne einer Dysthymia, eine Somatisierungsstörung mit Verdacht auf anhaltende somatoforme Schmerzstörung, ein weitgehend abstinentes Alkoholabhängigkeitssyndrom und Spannungskopfschmerzen festgestellt. Eine rentenrechtlich relevante zeitliche Einschränkung der Leistungsfähigkeit ergebe sich nicht. Die Klägerin habe es abgelehnt, sich körperlich untersuchen zu lassen, weil sie dieses „nicht schaffe“.
Die Klägerin hat mit Schreiben vom 20.11.2019 Einwendungen gegen das Gutachten von S1 erhoben und geltend gemacht, es stünden „so viele Dinge darin, die nicht stimmen“ würden. Der Gutachter sei „komisch und nicht überzeugend“ gewesen.
Mit Schreiben vom 31.01.2020 hat die P1 für das Jugendamt des E ausgeführt, aufgrund der traumatischen Erfahrungen falle es der Klägerin sehr schwer, sich körperlich untersuchen zu lassen, vor allem von einem Mann. Dem klägerischen Wunsch, von einer Ärztin untersucht zu werden oder zumindest ein Teil der Untersuchung bekleidet durchführen zu lassen, sei nicht entsprochen worden.
Mit Urteil vom 03.02.2020 hat das SG die Klage abgewiesen. Zur Begründung hat es ausgeführt, die Klägerin habe keinen Anspruch auf Gewährung einer Rente wegen Erwerbsminderung. Es sei davon auszugehen, dass sie auf dem allgemeinen Arbeitsmarkt über sechs Stunden täglich leistungsfähig sei. Das Gutachten von S1 sei – anders als die Klägerin meine – nachvollziehbar und überzeugend. Danach leide die Klägerin an einer Persönlichkeitsstörung, einer Dysthymia, einer Somatisierungsstörung, einem weitgehend abstinenten Alkoholabhängigkeitssyndrom sowie Spannungskopfschmerzen. Mit diesen Erkrankungen sei die Klägerin in ihrer beruflichen Leistungsfähigkeit zwar in qualitativer, nicht jedoch in quantitativer Hinsicht eingeschränkt. So seien ihr nur noch leichte körperliche Arbeiten ohne vermehrte Anforderungen an die Konzen-tration und die Reaktionsfähigkeit, ohne Akkordarbeiten oder vermehrtem Zeitdruck, ohne regelmäßigen Publikumsverkehr, ohne vermehrte Lärmexposition und ohne Nachtschicht oder häufig wechselnde Arbeitszeiten gesundheitlich möglich. Die Ausführungen und Schlussfolgerungen des Sachverständigen S1 seien nachvollziehbar. Eine schwere depressive Erkrankung habe er nicht feststellen können und auch weder durchgehende noch gravierende Konzentrationsstörungen oder signifikante Störungen der Gedächtnisleistung vermerkt. Vielmehr seien viele anamnestische Angaben sehr genau und detailreich gewesen. Eine Reduzierung des Antriebs sei während der Untersuchung nicht erkennbar gewesen (bei recht agitiertem Verhalten). Eine andere Leistungsbeurteilung ergebe sich nicht aus dem Gutachten des gerichtlichen Sachverständigen W. Der von ihm erhobene psychische Befund — als wesentliche Grundlage der Diagnosen - enthalte in großen Teilen subjektive Beschwerdeangaben der Klägerin, insbesondere im Hinblick auf das formale Denken oder die Antriebslage, ohne diese zu objektivieren oder in Frage zu stellen. Die von ihm festgestellten Gesundheitsstörungen könnten somit nicht als verlässliche Grundlage für die von ihm getroffene Leistungseinschätzung dienen. Ebenso wenig habe S1 bei seiner Untersuchung der Klägerin am 21.10.2019 den von der Psychiatrischen Tagesklinik P Ende Juni 2019 erhobenen Aufnahmebefund bestätigen können.
Die Bevollmächtigte der Klägerin hat gegen das ihr am 11.02.2020 zugestellte Urteil am 09.03.2020 Berufung beim Landessozialgericht Baden-Württemberg (LSG) eingelegt und zur Begründung ausgeführt, bei der Klägerin liege nicht lediglich eine Dysthymia vor, sondern eine rezidivierende depressive Störung in zunächst mittelgradiger und aktuell schwergradiger Ausprägung. Diese führe bereits zu einer quantitativen Einschränkung des Leistungsvermögens. Hinzu komme die schwergradige Persönlichkeitsentwicklungsstörung der Klägerin. Dem sei S1 nicht ausreichend nachgegangen. Insgesamt sei die Einschätzung von W vorzugswürdig. Sollte sich der Senat dieser Auffassung nicht anschließen, werde weitere Sachermittlung in Gestalt eines weiteren neurologisch-psychiatrischen Gutachtens von Amts wegen für erforderlich gehalten. Zudem sei die Mutter der Klägerin am 03.07.2020 verstorben und es insoweit zu einer weiteren Verschlechterung des Gesundheitszustandes gekommen.
Die Klägerin hat sich vom 27.01.2020 bis zum 29.05.2020 erneut in teilstationärer Behandlung in der psychiatrischen Tagesklinik P befunden. Nach dem Entlassbrief vom 17.06.2020 ist bei der Klägerin eine rezidivierende depressive Störung, eine schwergradige chronifizierte Episode ohne psychotische Symptome, soziale Phobien eine anhaltende somatoforme Schmerzstörung, Persönlichkeitsentwicklungsstörungen mit asthenisch abhängigen und histrionischen Zügen, eine Adipositas Grad II, eine arterielle Hypertonie und ein metabolisches Syndrom mit latentem Diabetes mellitus Typ II (zurzeit keine Medikation) zu diagnostizieren. Die teilstationäre Wiederaufnahme sei aufgrund einer erneuten Zuspitzung eines schwergradigen depressiven Syndroms bei mehrschichtigem seelischem Krankheitsbild auf dem Boden einer Entwicklungsstörung mit asthenisch abhängigen und histrionischen Zügen erfolgt. Zum Entlassungszeitpunkt habe sich die Klägerin etwas zuversichtlicher gezeigt und auch die langfristige Einnahme von Psychopharmaka befürwortet. Aufgrund der Chronizität, Schwere und Vielschichtigkeit des psychiatrischen Krankheitsbilds sei eine ambulante Weiterbehandlung durch die Psychiatrische Institutsambulanz (GPZ M1, Tagesstätte des Diakonischen Werks) indiziert, im Übergang auch kombiniert mit einer bereits begonnenen Richtlinienverhaltenspsychotherapie. Des Weiteren sei der Klägerin nahegelegt worden, sich weiter engmaschig vom Sozialpsychiatrischen Dienst des Diakonischen Werkes beraten und unterstützen zu lassen. Die Fortführung der Hausbesuche und der hauswirtschaftlichen Hilfestellung durch den Psychosozialen Pflegedienst sei vorgesehen. Im Falle einer erneuten Zuspitzung oder Dekompensation sei der Klägerin eine erneute teilstationäre Wiederaufnahme zur Krisenintervention zugesagt worden; dies habe sie sehr entlastet.
Die E1 hat im Gutachten für die gesetzliche Rentenversicherung vom 20.05.2020 nach einer Untersuchung vom 20.04.2020 bei der Klägerin eine rezidivierende depressive Störung, derzeit mittelgradige Episode, eine kombinierte Persönlichkeitsstörung mit ängstlich-ablehnenden und histrionischen Anteilen sowie eine soziale Phobie festgestellt. Die Klägerin sei 6-stündig werktäglich leistungsfähig für leichte Tätigkeiten auf dem allgemeinen Arbeitsmarkt. Auf die Frage nach dem Tagesablauf habe die Klägerin angegeben, gegen 8.00 Uhr aufzustehen, wenig Kraft zu haben, zu frühstücken, manchmal spazieren zu gehen. Zurzeit sei sie in der Tagesklinik und nur am Nachmittag zu Hause. Den Haushalt schaffe sie nur in Etappen. Sie habe einige Bekannte, die sie gelegentlich treffe, habe sich jedoch aus vielen Kontakten zurückgezogen. Hobbies habe sie nicht. Sie schlafe schlecht, grüble viel, habe Existenz- und Zukunftsängste und keine Hoffnungen, dass sich ihr Zustand noch verbessern könne. Ihre Ängste hätten sich ungeachtet zahlreicher psychotherapeutischer Behandlungen nicht wesentlich gebessert. Den Abend verbringe sie mit Fernsehen, gehe gegen 23.00 Uhr zu Bett.
Die H2 hat für die Beklagte am 09.09.2020 sozialmedizinisch Stellung genommen und ausgeführt, eine schwere, überdauernde depressive Beeinträchtigung der Klägerin könne dem aktuellen Entlassungsbericht der Tagesklinik nicht entnommen werden. Eine Änderung der bisherigen Leistungsbeurteilung sei auch angesichts des Gutachtens von E1 nicht veranlasst.
Der Senat hat von Amts wegen ein nervenärztliches Gutachten beim F eingeholt. Dieser hat am 05.06.2021 nach einer ambulanten Untersuchung am 06.04.2021 bei der Klägerin eine agitierte depressive Störung leichter Ausprägung unter intensiver psychiatrischer, psychotherapeutischer, sozialpsychiatrischer Behandlung und Psychopharmakotherapie sowie sozialpsychiatrischer Betreuung, und rezidivierende schwergradige depressive Zustände im Zusammenhang mit außergewöhnlichen Belastungen diagnostiziert. Die rezidivierende depressive Störung werde verstärkt durch eine ausgeprägte Persönlichkeitsstörung mit asthenischen, dependenten und überwiegend histrionischen Zügen. Überdies bestünden Symptome einer Angststörung; eigentliche Panikattacken hätten hingegen nicht festgestellt werden können. Eine Stellungnahme zur vordiagnostizierten somatoformen Störung sei aufgrund der mangelnden Fähigkeit zur Mitarbeit der Probandin bei der Begutachtung nicht möglich gewesen. Die rezidivierende depressive Störung und die Persönlichkeitsstörung beeinflussten sich in intensiver Weise und wirkten sich auf die berufliche Leistungsfähigkeit durch mangelnde Belastungsfähigkeit, Durchhaltevermögen, Konzentrationsschwäche, Stresstoleranz, Minderung der Affektkontrolle, Unfähigkeit zur Selbstkritik und Akzeptanz von Kritik aus. Aus psychiatrischer Sicht sei die Klägerin nicht in der Lage, leichte Tätigkeiten über ca. zwei Stunden pro Tag hinaus nachzukommen, ohne psychisch zu dekompensieren. Zur Begründung werde auf das aktuelle und auch mehrfach vorbeschriebene Verhalten, auf den psychiatrischen Befund, die aktenkundige Vorgeschichte und die vorliegenden ärztlichen Befunde und Gutachten verwiesen. Auch das Verhalten und die Reagibilität der Betroffenen bei der Exploration stützten diese Einschätzung der Leistungsfähigkeit. Die Beeinträchtigungen bestünden als festgestellte Leistungseinschränkungen bei der Klägerin seit 2018/2019. Eine nachhaltige Besserung des Gesundheitszustandes der Klägerin sei aufgrund der schweren Persönlichkeitsstörungen, der rezidivierenden depressiven Störung und der Neigung zur Dekompensation unter geringer Belastung nicht zu erwarten. Die angegebenen Leistungseinschränkungen würden voraussichtlich dauerhaft bestehen. Die anderweitigen aktenkundigen Einschätzungen der Leistungsfähigkeit berücksichtigten neben der Schwere der Persönlichkeitsstörung deren Einfluss auf die rezidivierende depressive Störung nicht ausreichend. Einerseits bestehe aufgrund der persönlichkeitsbedingten deutlichen Minderung der geistigen, psychischen Belastbarkeit eine verminderte Stresstoleranz mit Auslösen depressiven Geschehens, andererseits die typische Entwicklung einer rezidivierenden Depression mit ständig steigendem Risiko der Wiedererkrankung, sog. Kindling. Die bestehende Persönlichkeitsstörung wirke zusätzlich wie ein Katalysator für die Depression. Letztlich spreche auch für diesen beschriebenen Prozess und Zusammenhang, dass eine grundsätzliche Besserung und Stabilisierung der affektiven Symptomatik trotz intensiver kombinierter Behandlungsmaßnahmen nicht habe erreicht werden können, so dass eine kontinuierliche, intensive Inanspruchnahme von Hilfesystemen bei eingetretener Chronifizierung bleibe. Dabei möge dahingestellt sein, ob die über Jahre angebotenen Hilfen zur Verstärkung der Symptomatik sowie zu den abhängigen, vermeidenden Persönlichkeitsanteilen geführt hätten.
Vor der körperlichen Untersuchung nach internistischen und neurologischen Gesichtspunkten habe die Klägerin folgendes Verhalten gezeigt: „Sie klagte, jammerte, weinte, wiederholte lautstark die Vorwürfe gegenüber dem Untersucher, erklärte diesem, dass sie jetzt gehe, dass sie sich nicht lange untersuchen lasse (…) sie schrie, jammerte, weinte weiter, das Gesicht war nass von Tränen, niemand glaube ihr, der Untersucher schreie sie an, sie lasse sich nicht anschreien, niemand glaube ihr". Nachdem „erneute sachbezogene Versuche, die Betroffene zu beruhigen“, fehlgeschlagen seien, wurde die Untersuchung nach psychiatrischer Exploration, jedoch ohne internistische und neurologische Untersuchung und ohne Erhebung der Schmerz-Empfindungsskala (SES) oder anderer Verfahren zur Qualifizierung von Schmerzen und Schmerzintensität nach 3 Stunden vorzeitig beendet. Im Übrigen sei eine vollständige Untersuchung nach neuropsychologischen Gesichtspunkten, insbesondere der Konzentrations- und Problemlösefähigkeit, durch den Abbruch der Untersuchung nicht möglich gewesen.
H2 hat in ihrer weiteren beratungsärztlichen Stellungnahme für die Beklagte vom 27.08.2021 ausgeführt, sie könne eine krankheitswertige, neurotische Symptomatik bei der Klägerin nicht ausschließen. Aufgrund der Übertreibungstendenzen der Klägerin sei das Ausmaß ihrer tatsächlichen Krankheit aber nicht sicher beurteilbar. Die begutachtete Person — wenn sie sich zu einer Untersuchung bereit erklärt — trage schließlich die Verantwortung dafür, ob die Informationen oder Testergebnisse von ihr soweit verzerrt werden, dass sie nicht mehr im Sinne eines sicheren Störungsnachweises verwertbar seien. In diesem Sinne bleibe es weiterhin bei der Leistungsbeurteilung, wie sie in der vorangegangenen Stellungnahme abgegeben wurde.
F hat mit Schreiben vom 25.10.2021 ergänzend gutachterlich Stellung genommen. Im Gutachten sei ausdrücklich festgehalten, dass eine körperliche Untersuchung aufgrund des Erregungszustandes der Betroffenen nicht habe durchgeführt werden können. Zur Beurteilung von depressiver Symptomatik und Angstsymptomatik hätten die eingesetzten Fremdbeurteilungsverfahren mit strukturiertem Interview vollständig durchgeführt werden können. Es hätten sich hierbei keine Hinweise auf Simulation und/oder Aggravation ergeben. Entscheidungserheblich für die Schlussfolgerungen im Gutachten unter kritischer Bewertung der komplexen Krankengeschichte sei der festgestellte Ausprägungsgrad der beschriebenen Persönlichkeitsstörung sowie die dadurch getriggerte rezidivierende depressive Störung. Diese psychischen Auffälligkeiten und Erkrankungen reichten alleine aus zu der vom Gutachter dargestellten Schlussfolgerung. Von Menschen mit verschiedenen psychischen Störungen werde das Erleben bei akuter Exazerbation der Grundsymptomatik nicht selten mit der grundsätzlich diffusen Bezeichnung Schwindel belegt, ohne dass neurologische Beeinträchtigungen vorlägen. Eine Zuordnung des Schwindelerlebens habe hier auf Grund der ausführlich geschilderten Verhaltensweisen der Probandin nicht vorgenommen werden. Die tatsächlich feststellbare Veränderung der Belastbarkeit der Klägerin unter der Belastung der Untersuchung im zeitlichen Verlauf während der konsequenten, zeitlich ausgedehnten Untersuchung, die auftretende Minderung der Affektkontrolle, die Zunahme der Dominanz der Affekte mit schließlich völliger Steuerungsunfähigkeit sei im Gutachten dezidiert beschrieben, ebenso das begleitende, sich mit Dauer der Untersuchung verändernde Antwortverhalten der Probandin festgestellt. Dabei habe er die Antwortgeschwindigkeit, die –genauigkeit und die -ordnung ausführlich beurteilt. Diese Veränderungen seien nicht primär inhaltlich zu begründen, sondern mit der Dauer der Untersuchung und mit damit verbundenen Anforderungen. Nach kritischer Würdigung der Einwände der Beklagten werde an den Schlussfolgerungen und der Gesamtbeurteilung im Gutachten vom 05.06.2021 ausdrücklich festgehalten.
Der Berichterstatter hat den Rechtsstreit mit den Beteiligten am 23.11.2021 nicht-öffentlich erörtert. Hierin hat die Klägerin die Berufung auf die Gewährung einer Rente wegen Erwerbsminderung ab dem 01.11.2021 bis einschließlich 31.10.2024 beschränkt und im Übrigen die Berufung zurückgenommen.
Der Prozessbevollmächtigte der Klägerin hat im Erörterungstermin einen Arztbrief des V, psychiatrische Institutsambulanz, ZfP C, vom 19.11.2021 und ein ärztliches Attest des M vom gleichen Tag vorgelegt.
Der V hat bei der Klägerin eine rezidivierende depressive Störung, mittelgradige Episode, eine Persönlichkeitsstörung mit abhängig asthenischen und histrionischen Zügen, eine anhaltende somatoforme Schmerzstörung und einen Alkoholabusus in der Vorgeschichte, seit 10 Jahren kontrolliert niedriger Konsum, diagnostiziert. Seit März 2021 habe sich der Zustand der Klägerin kaum verändert. Sie zeige sich weiterhin mit Kleinigkeiten überfordert, sei nicht in der Lage, zum Beispiel einen Amtsbrief bis zu Ende zu lesen und breche dabei in Tränen aus. Die Stimmung sei weiterhin massiv labil gewesen mit deutlichen Schwankungen während des Gesprächs zwischen Lachen und Weinen. Sie könne ihre Affekte nicht kontrollieren und zeige sich im Alltag hilflos. Inhaltlich sei die Psyche der Klägerin durch niedrige Selbstwertgefühle und eine depressive Denkweise abwechselnd mit Wut und Misstrauen geprägt.
Der M führt in seinem Attest vom 19.11.2021 aus, bei der Klägerin bestünden eine Persönlichkeitsstörung, soziale Phobien, eine rezidivierende Depression und eine Angsterkrankung. Darüber hinaus sei auch ein Diabetes mellitus und eine somatoforme Schmerzstörung zu diagnostizieren. Die Klägerin sei nicht belastbar für den allgemeinen Arbeitsmarkt.
Die Beteiligten haben sich im Erörterungstermin mit einer Entscheidung durch Urteil ohne mündliche Verhandlung einverstanden erklärt.
Der Prozessbevollmächtigte der Klägerin beantragt,
das Urteil des Sozialgerichts Karlsruhe vom 03.02.2020 sowie den Bescheid der Beklagten vom 21.09.2017 in der Fassung des Widerspruchsbescheids vom 05.07.2018 abzuändern und die Beklagte zu verurteilen, der Klägerin unter Zugrundelegung eines Leistungsfalls am 06.04.2021 (Tag der Untersuchung bei F) eine Rente wegen voller Erwerbsminderung für den Zeitraum vom 01.11.2021 bis 31.10.2024 zu gewähren.
Die Beklagte beantragt,
die Berufung zurückzuweisen.
Die Beklagte erachtet die angefochtene Entscheidung für zutreffend und verweist auf die im Berufungsverfahren eingeholten sozialmedizinischen Stellungnahmen von H2.
Wegen der weiteren Einzelheiten des Sachverhalts und des Vorbringens der Beteiligten wird auf die Gerichtsakten beider Rechtszüge und die beigezogenen Verwaltungsakten der Beklagten verwiesen.
Entscheidungsgründe
Die gemäß § 151 Sozialgerichtsgesetz (SGG) form- und fristgerecht eingelegte Berufung der Klägerin, über die der Senat nach § 124 Abs. 2 SGG im Einverständnis der Beteiligten ohne mündliche Verhandlung entscheidet, ist gemäß §§ 143, 144 SGG zulässig.
Nachdem der Klägerbevollmächtigte die Berufung im Erörterungstermin vom 23.11.2021 auf die Gewährung einer Rente wegen Erwerbsminderung ab dem 01.11.2021 bis einschließlich 31.10.2024 beschränkt und im Übrigen gemäß § 156 Abs. 1 S. 1, Abs. 3 S. 1 SGG zurückgenommen hat, ist streitgegenständlich nur noch die Gewährung einer Rente wegen Erwerbsminderung ab dem 01.11.2021 bis einschließlich 31.10.2024.
Bezüglich des allein noch streitigen Zeitraums (01.11.2021 bis einschließlich 31.10.2024) ist die Berufung auch begründet. Der Bescheid der Beklagten vom 21.09.2017 in der Fassung des Widerspruchsbescheids vom 05.07.2018 ist insoweit rechtswidrig und verletzt die Klägerin in ihren Rechten, da sie unter Zugrundelegung eines Leistungsfalls am 06.04.2021 (Tag der Untersuchung bei F) für den Zeitraum ab dem 01.11.2021 bis einschließlich 31.10.2024 einen Anspruch auf Gewährung einer Rente wegen voller Erwerbsminderung nach § 43 Abs. 2 SGB VI hat. Das angefochtene Urteil des Sozialgerichts Karlsruhe vom 03.02.2020 und der Bescheid der Beklagten vom 21.09.2017 in der Fassung des Widerspruchsbescheids vom 05.07.2018 sind insoweit abzuändern.
Nach § 99 Abs. 1 SGB VI wird eine Rente aus eigener Versicherung von dem Kalendermonat an geleistet, zu dessen Beginn die Anspruchsvoraussetzungen für die Rente erfüllt sind, wenn die Rente bis zum Ende des dritten Kalendermonats nach Ablauf des Monats beantragt wird, in dem die Anspruchsvoraussetzungen erfüllt sind. Bei späterer Antragstellung wird eine Rente aus eigener Versicherung von dem Kalendermonat an geleistet, in dem die Rente beantragt wird.
Dabei werden gemäß § 101 Abs. 1 SGB VI befristete Renten wegen verminderter Erwerbsfähigkeit nicht vor Beginn des siebten Kalendermonats nach dem Eintritt der Minderung der Erwerbsfähigkeit geleistet. Befristete Renten wegen voller Erwerbsminderung, auf die Anspruch unabhängig von der jeweiligen Arbeitsmarktlage besteht, werden nach § 101 Abs. 2 SGB VI vor Beginn des siebten Kalendermonats nach dem Eintritt der Minderung der Erwerbsfähigkeit geleistet, wenn 1. entweder die Feststellung der verminderten Erwerbsfähigkeit durch den Träger der Rentenversicherung zur Folge hat, dass ein Anspruch auf Arbeitslosengeld entfällt, oder nach Feststellung der verminderten Erwerbsfähigkeit durch den Träger der Rentenversicherung ein Anspruch auf Krankengeld nach § 48 des Fünften Buches oder auf Krankentagegeld von einem privaten Krankenversicherungsunternehmen endet, und 2. der siebte Kalendermonat nach dem Eintritt der Minderung der Erwerbsfähigkeit noch nicht erreicht ist. In diesen Fällen werden die Renten von dem Tag an geleistet, der auf den Tag folgt, an dem der Anspruch auf Arbeitslosengeld, Krankengeld oder Krankentagegeld endet.
Sind Renten befristet, enden sie mit Ablauf der Frist. Dies schließt eine vorherige Änderung oder ein Ende der Rente aus anderen Gründen nicht aus. Renten dürfen nur auf das Ende eines Kalendermonats befristet werden (§ 102 Abs. 1 SGB VI).
Renten wegen verminderter Erwerbsfähigkeit und große Witwenrenten oder große Witwerrenten wegen Minderung der Erwerbsfähigkeit werden auf Zeit geleistet. Die Befristung erfolgt für längstens drei Jahre nach Rentenbeginn. Sie kann verlängert werden; dabei verbleibt es bei dem ursprünglichen Rentenbeginn. Verlängerungen erfolgen für längstens drei Jahre nach dem Ablauf der vorherigen Frist. Renten, auf die ein Anspruch unabhängig von der jeweiligen Arbeitsmarktlage besteht, werden unbefristet geleistet, wenn unwahrscheinlich ist, dass die Minderung der Erwerbsfähigkeit behoben werden kann; hiervon ist nach einer Gesamtdauer der Befristung von neun Jahren auszugehen. Wird unmittelbar im Anschluss an eine auf Zeit geleistete Rente diese Rente unbefristet geleistet, verbleibt es bei dem ursprünglichen Rentenbeginn (§ 102 Abs. 2 SGB VI).
Versicherte haben nach § 43 Abs. 2 Satz 1 SGB VI Anspruch auf Rente wegen voller Erwerbsminderung bis zum Erreichen der Regelaltersgrenze, wenn sie voll erwerbsgemindert sind (Nr. 1), in den letzten 5 Jahren vor Eintritt der Erwerbsminderung 3 Jahre Pflichtbeiträge für eine versicherte Beschäftigung oder Tätigkeit haben (Nr. 2) und vor Eintritt der Erwerbsminderung die allgemeine Wartezeit erfüllt haben (Nr. 3). Voll erwerbsgemindert sind nach § 43 Abs. 2 Satz 2 SGB VI Versicherte, die wegen Krankheit oder Behinderung auf nicht absehbare Zeit außer Stande sind, unter den üblichen Bedingungen des allgemeinen Arbeitsmarkts mindestens 3 Stunden täglich erwerbstätig zu sein. Eine volle Erwerbsminderung liegt nach der ständigen Rechtsprechung des BSG auch dann vor, wenn der Versicherte täglich mindestens 3 bis unter 6 Stunden erwerbstätig sein kann und er damit nach dem Wortlaut des § 43 Abs. 1 Satz 2 SGB VI ohne Berücksichtigung der Arbeitsmarktlage an sich nur teilweise erwerbsgemindert ist (sog. abstrakte Betrachtungsweise), ihm aber der Teilzeitarbeitsmarkt tatsächlich verschlossen ist (sog. konkrete Betrachtungsweise). Der Eintritt einer rentenberechtigenden Leistungsminderung muss im Wege des Vollbeweises festgestellt sein; vernünftige Zweifel am Bestehen der Einschränkungen dürfen nicht bestehen.
Die Beurteilung des Leistungsvermögens bezieht sich dabei auf den allgemeinen Arbeitsmarkt. Dieser umfasst jede nur denkbare Tätigkeit, für die es in nennenswertem Umfang Beschäftigungsverhältnisse gibt (vg. BT-Drucks. 14/4230, S. 25) und damit auch ungelernte Tätigkeiten (vgl. BSG - Großer Senat - Beschluss vom 19.12.1996 - GS 2/95 - BSGE 80, 24 und bei juris). Bezugspunkt ist damit eine leichte Tätigkeit auf dem allgemeinen Arbeitsmarkt, nicht die zuletzt ausgeübte Beschäftigung, die etwa für die Frage der Arbeitsunfähigkeit im Sinne der gesetzlichen Krankenversicherung maßgeblich sein kann.
Ausgehend hiervon lässt sich für den allein noch streitigen Zeitraum vom 06.04.2021 (Tag der Untersuchung bei F) bis einschließlich 31.10.2024 eine volle Erwerbsminderung der Klägerin zur Überzeugung des Senats nachweisen, so dass der geltend gemachte Anspruch besteht. Das Gericht entscheidet dabei nach § 128 Abs. 1 SGG nach seiner freien, aus dem Gesamtergebnis des Verfahrens gewonnenen Überzeugung. Absolute Gewissheit ist nicht erforderlich, aber an Gewissheit grenzende Wahrscheinlichkeit. Gewisse Zweifel sind unschädlich, so lange sie sich nicht zu gewichtigen Zweifeln verdichten (MKLS/Keller SGG 13. Aufl. 2020 § 128 Rn. 3b).
Das berufliche Leistungsvermögen der Klägerin ist im streitigen Zeitraum durch verschiedene Erkrankungen beeinträchtigt. Der Schwerpunkt der Leistungsbeeinträchtigungen liegt dabei auf psychiatrischem Fachgebiet. Der Senat stützt sich hierfür auf das Gutachten des gerichtlichen Sachverständigen F.
Für den allein noch streitgegenständlichen Zeitraum ab dem Tag der ambulanten Untersuchung am 06.04.2021 durch F ist der Senat davon überzeugt, dass bei der Klägerin rezidivierende schwergradige depressive Zustände, eine rezidivierende agitierte depressive Störung leichter Ausprägung unter intensiver psychiatrischer, psychotherapeutischer, sozialpsychiatrischer Behandlung und Psychopharmakotherapie sowie sozialpsychiatrischer Betreuung, und eine ausgeprägte Persönlichkeitsstörung mit asthenischen, dependenten und überwiegend histrionischen Zügen zu diagnostizieren sind. Deswegen ist die Klägerin jedenfalls nachweislich ab dem 06.04.2021 nur noch in der Lage, leichten Tätigkeiten unter 3-stündig werktäglich nachzukommen. Das Gutachten von F, welcher sich in seiner rund 3-stündigen gutachterlichen Untersuchung neben den bereits aktenkundigen Befunden insbesondere auf das pathologisch hochauffällige Verhalten und die Reagibilität der Klägerin bei der Exploration („Sie klagte, jammerte, weinte, wiederholte lautstark die Vorwürfe gegenüber dem Untersucher, erklärte diesem, dass sie jetzt gehe, dass sie sich nicht lange untersuchen lasse … sie schrie, jammerte, weinte weiter, das Gesicht war nass von Tränen, niemand glaube ihr, der Untersucher schreie sie an, sie lasse sich nicht anschreien, niemand glaube ihr…") gestützt hat, ist insoweit schlüssig und nachvollziehbar. Die Klägerin ist während der 3-stündigen gutachterlichen Untersuchung wie im Gutachten ausführlich beschrieben psychisch dekompensiert, weshalb die gutachterliche Untersuchung dann konsequenterweise hat abgebrochen werden müssen.
Soweit H2 in ihrer weiteren beratungsärztlichen Stellungnahme für die Beklagte vom 27.08.2021 ausführt, sie könne eine gewisse krankheitswertige, neurotische Symptomatik bei der Klägerin zwar nicht ausschließen, aufgrund der Übertreibungstendenzen der Klägerin sei das Ausmaß ihrer tatsächlichen Krankheit aber nicht sicher beurteilbar, schließt sich der Senat dem nicht an. Grundsätzlich ist zwar zutreffend, dass die begutachtete Person — wenn sie sich zu einer Untersuchung bereit erklärt —im Rahmen ihrer Mitwirkungslast die Verantwortung dafür trägt, ob die Informationen oder Testergebnisse von ihr soweit verzerrt werden, dass sie nicht mehr im Sinne eines sicheren Störungsnachweises verwertbar sind. Im sozialgerichtlichen Verfahren trägt derjenige die objektive Beweislast, zu dessen Gunsten ein Tatbestandsmerkmal im Prozess wirkt. Danach trägt die Klägerin die objektive Beweislast für das Vorliegen einer Erwerbsminderung. Der Grundsatz der objektiven Beweislast greift aber erst dann ein, wenn das Gericht trotz aller Bemühungen bei der Amtsermittlung den Sachverhalt nicht weiter aufklären kann (vgl. Keller in Meyer-Ladewig/Keller/Leitherer, SGG, 13. Auflage, § 118 Rn. 6). Im Sachverständigengutachten von F ist ausdrücklich festgehalten, dass eine körperliche Untersuchung aufgrund des (pathologischen) Erregungszustandes der Betroffenen zwar nicht hat durchgeführt werden können. Allerdings hat der Gerichtssachverständige F, wie dieser in seinem Schreiben vom 25.10.2021 einmal ausdrücklich bestätigt hat, zur Beurteilung von depressiver Symptomatik und Angstsymptomatik die eingesetzten Fremdbeurteilungsverfahren mit strukturiertem Interview vollständig durchführen können. Dementsprechend hat er unter kritischer Bewertung der komplexen Krankengeschichte den Ausprägungsgrad der beschriebenen Persönlichkeitsstörung sowie die dadurch getriggerte rezidivierende depressive Störung und die damit einhergehenden psychischen Auffälligkeiten klar beschreiben und feststellen können und waren für eine Leistungseinschätzung der Klägerin ausreichend. Die völlige Steuerungsunfähigkeit im Laufe der gutachterlichen Untersuchung ist von F im Sachverständigengutachten dezidiert dargelegt ebenso wie das begleitende, sich mit Dauer der Untersuchung verändernde Antwortverhalten der Probandin. Dabei hat er das fehlende Durchhaltevermögen der Klägerin selbst für eine mindestens 3-stündige tägliche leichte Tätigkeit unter Berücksichtigung der sich verändernden Belastbarkeit der Klägerin im zeitlichen Verlauf während der 3-stündigen Untersuchung, die auftretende Minderung der Affektkontrolle, die Zunahme der Dominanz der Affekte und die sich mit der Dauer der Untersuchung verändernde Antwortgeschwindigkeit und zunehmende Antwortungenauigkeit mit der Dauer der Untersuchung und mit den damit verbundenen Anforderungen im Gutachten belegt.
Die Klägerin ist damit im Rahmen ihrer gesundheitlichen Möglichkeiten auch ihrer prozessualen Mitwirkungspflicht (§ 103 Satz 1 SGG) nachgekommen. Das Gericht erforscht den Sachverhalt von Amts wegen (§ 103 Satz 1 Halbsatz 1 SGG), die Beteiligten sind hierzu mit heranzuziehen (§ 103 Satz 1 Halbsatz 2 SGG). Sie müssen jedoch ihrer Mitwirkungslast genügen, sonst können sie Nachteile treffen. Soll Beweis erhoben werden durch Einholung eines Sachverständigengutachtens trifft den Kläger die Obliegenheit, zum Zweck der Begutachtung beim Sachverständigen zu erscheinen (Hauck in Hennig, SGG, § 103 Rdnr 51). Das Gericht kann den Kläger nicht zwingen, sich einer Untersuchung und Begutachtung durch vom Gericht bestimmte neutrale Ärzte zu unterziehen. Verweigert ein Kläger eine Begutachtung, so hat er die prozessrechtlichen Folgen seines Verhaltens zu tragen, wenn ihm ihre Erfüllung aus einem wichtigen Grund nicht zugemutet werden kann. In Übereinstimmung mit den Ausführungen von F bezüglich der zunehmenden Steuerungsunfähigkeit der Klägerin im Laufe der bis dahin dauernden 3-stündigen Untersuchung stand der Klägerin hier ein wichtiger Grund zur Seite, sich nicht weiter von F begutachten zu lassen. Entscheidungserheblich für den Senat ist insoweit auch, dass sich in der gutachterlichen Untersuchung durch F keine Hinweise auf Simulation und/oder Aggravation der Klägerin ergeben haben. Seine aktuelle gutachterliche Einschätzung stimmt auch mit dem Arztbrief des V, ZfP C, vom 19.11.2021 und dem ärztlichen Attest des M vom gleichen Tag überein. Eine andere Beurteilung ergibt sich auch nicht unter Berücksichtigung der erstinstanzlich eingeholten Zeugenaussagen des M, des H und der H1 sowie der Gerichtsgutachten von W und S1, welche sämtlich im Zeitraum von Oktober 2018 bis Oktober 2019, mithin mehr als 2 Jahre vor dem im Berufungsverfahren allein noch streitigen Leistungszeitraum November 2021 bis Ende Oktober 2024 erstellt wurden.
Der Sachverhalt ist vollständig aufgeklärt. Die vorliegenden ärztlichen Unterlagen, insbesondere die erstinstanzlich eingeholten Gutachten und die vom Senat durchgeführten ergänzenden Ermittlungen, haben dem Senat die für die richterliche Überzeugungsbildung notwendigen sachlichen Grundlagen vermittelt (§ 118 Abs. 1 Satz 1 SGG, § 412 Abs. 1 ZPO). Weder die rechtskundig vertretene Klägerin noch die Beklagte haben hier über die von dem Senat durchgeführte Beweiserhebung, insbesondere die Einholung des Gutachtens bei F und dessen ergänzende Befragung hinaus, eine weitere Beweiserhebung beantragt bzw. angeregt, so dass sich der Senat auch unter diesem Gesichtspunkt nicht zu weiteren medizinischen Ermittlungen gedrängt sieht (vgl. BSG, Beschluss vom 28.09.2020 – B 13 R 45/19 B –, in juris Rn. 11).
Mithin steht der Klägerin ausgehend von einem nachgewiesenen Leistungsfall am Tag der Untersuchung bei F (06.04.2021) im alleine noch streitgegenständlichen Zeitraum 01.11.2021 bis einschließlich 31.10.2024 gemäß §§ 99 Abs. 1, 101 Abs. 1, 102 Abs. 1 SGB VI die Gewährung einer Rente wegen voller Erwerbsminderung zu. Dabei kann der Senat offenlassen, ob die Klägerin auch einen Anspruch auf die Gewährung einer (unbefristeten) Rente einer vollen Erwerbsminderung über den 31.10.2024 hinaus hätte. Dies könnte der Fall sein, wenn unwahrscheinlich ist, dass die Minderung der Erwerbsfähigkeit behoben werden kann (§ 102 Abs. 2 S. 4 SGB VI). Vorliegend hat die Klägerin jedoch ihren Berufungsantrag in der nicht-öffentlichen Sitzung vom 23.11.2021 auf die Gewährung einer befristeten Rente wegen voller Erwerbsminderung für den Zeitraum vom 01.11.2021 bis einschließlich 31.10.2024 beschränkt.
Auf die Berufung der Klägerin war daher das angefochtene Urteil des Sozialgerichts Karlsruhe vom 03.02.2020 und der Bescheid der Beklagten vom 21.09.2017 in der Fassung des Widerspruchsbescheids vom 05.07.2018 abzuändern und die Beklagte zu verurteilen, der Klägerin für den Zeitraum ab dem 01.11.2021 bis einschließlich 31.10.2024 eine Rente wegen voller Erwerbsminderung nach § 43 Abs. 2 SGB VI zu gewähren.
Die Kostenentscheidung beruht auf § 193 SGG. Sie berücksichtigt zum einen, dass der Leistungsfall bzw. die Voraussetzungen für die Gewährung einer befristeten Rente wegen voller Erwerbsminderung erst im laufenden Berufungsverfahren eingetreten ist, und zum anderen, dass die Beklagte nach Übersendung des Gutachtens bei F, durch welches die materiell-rechtlichen Voraussetzungen des geltend gemachten Anspruchs während des sozialgerichtlichen Verfahrens durch eine Änderung der Verhältnisse erfüllt wurden, kein sofortiges (Teil-)Anerkenntnis oder einen sachgerechten Vergleichsvorschlag ab Änderung der Verhältnisse, hier ab 01.11.2021 unter Zugrundelegung des Leistungsfalls am 06.04.2021, abgegeben hat (vgl. Wehrhahn in: Schlegel/Voelzke, jurisPK-SGG, 1. Aufl., § 193 SGG Rn. 54f. <Stand: 26.05.2021>). Schließlich ist auch zu berücksichtigen, dass die Klägerin die Berufung teilweise zurückgenommen hat.
Gründe für die Zulassung der Revision sind nicht ersichtlich.