L 6 AS 89/19

Land
Schleswig-Holstein
Sozialgericht
Schleswig-Holsteinisches LSG
Sachgebiet
Grundsicherung für Arbeitsuchende
Abteilung
6.
1. Instanz
SG Kiel (SHS)
Aktenzeichen
S 40 AS 610/16
Datum
2. Instanz
Schleswig-Holsteinisches LSG
Aktenzeichen
L 6 AS89/19
Datum
3. Instanz
-
Aktenzeichen
-
Datum
-
Kategorie
Urteil
Leitsätze

Wenn das Sozialgericht unzutreffend von der Bestandskraft eines Bescheides ausgeht und infolge dessen nach seiner Auffassung folgerichtig über einen Teil des Klagebegehrens nicht entscheidet, hat das Landessozialgericht den vom Kläger erhobenen Anspruch selbst auszulegen und hierüber im Berufungsverfahren zu entscheiden.

Ein sozialwidriges Verhalten im Sinne von § 34 SGB II setzt einen gesteigerten Verschuldensvorwurf voraus. Dieser liegt im Falle einer Kündigung wegen arbeitsvertragswidrigen Verhaltens nur dann vor, wenn die Kündigung aufgrund dieses Verhaltens eindeutig rechtmäßig wäre. Zweifel an der Rechtmäßigkeit der Kündigung schließen die Anwendung von § 34 SGB II im Regelfall aus.

Die Rechtmäßigkeit der Kündigung ist vom Jobcenter vor der Geltendmachung eines Ersatzanspruchs gemäß § 34 SGB II vollumfänglich zu überprüfen. Ob der Arbeitnehmer gegen die Kündigung ein arbeitsgerichtliches Verfahren angestrengt hat, ist insoweit unerheblich.

Auf die Berufung des Klägers wird das Urteil des Sozialgerichts Kiel vom 20. Mai 2019 aufgehoben.

 

Der Bescheid des Beklagten vom 11. Mai 2016 in der Gestalt des Widerspruchsbescheids vom 28. Juni 2016 wird aufgehoben und der Beklagte wird verpflichtet, die Bescheide vom 11. November 2015 und vom 3. März 2016 zurückzunehmen.

 

Der Beklagte hat die notwendigen außergerichtlichen Kosten des Klägers in beiden Rechtszügen zu erstatten.

 

Die Revision wird nicht zugelassen.

 

Tatbestand

Die Beteiligten streiten im Wege eines Überprüfungsverfahrens um einen Ersatzanspruch bei sozialwidrigem Verhalten nach § 34 Sozialgesetzbuch Zweites Buch (SGB II).

 

Der Kläger war als ungelernter Arbeiter seit dem 18. August 2014 bei der Firma H (im Folgenden: Arbeitgeber) mit Abbruch- und Recyclingarbeiten beschäftigt. Am 12. Mai 2015 erhielt der Kläger eine erste Abmahnung. Er habe auf den ihm zugewiesenen Baustellen eine schleppende Arbeitsweise an den Tag gelegt, die am Anfang der Beschäftigung nicht festgestellt worden sei.

 

Im Sommer 2015 war der Kläger arbeitsunfähig. Nachdem er seinem Arbeitgeber zuletzt eine Arbeitsunfähigkeitsbescheinigung bis zum 10. Juli 2015 vorgelegt hatte, erschien er am 13. Juli 2015, einem Montag, dem ersten Arbeitstag nach dem Auslaufen seiner Arbeitsunfähigkeitsbescheinigung, nicht zur Arbeit. Mit Schreiben vom 13. Juli 2015 mahnte der Arbeitgeber den Kläger daraufhin erneut ab. Er sei an diesem Tag nicht zur Arbeit erschienen und habe den Grund des Fernbleibens nicht rechtzeitig mitgeteilt. Er werde aufgefordert, seine Arbeit unverzüglich wieder aufzunehmen. Im Falle einer weiteren derartigen oder ähnlichen Pflichtverletzung werde sein Arbeitsverhältnis gekündigt.

 

Mit Schreiben vom 15. Juli 2015 kündigte der Arbeitgeber das Arbeitsverhältnis des Klägers fristlos zum 18. Juli 2015. Er führte aus, der Kläger habe, da er am 15. Juli 2015 wieder nicht zur Arbeit erschienen sei, erneut gegen die betriebliche Regelung verstoßen. Es werde auf die letzten Abmahnungen vom 13. Juli 2015 und 12. Mai 2015 verwiesen. Seine Arbeitsunfähigkeitsbescheinigung läge nur bis zum 10. Juli 2015 vor. Der Kläger erhob dagegen keine Kündigungsschutzklage vor dem Arbeitsgericht.

 

Nachdem der Kläger vom 19. Juli bis zum 31. Juli 2015 Krankengeld bezogen hatte, beantragte er am 24. August 2015 Leistungen zur Sicherung des Lebensunterhalts nach dem SGB II bei dem Beklagten. Dieser bewilligte dem Kläger mit Bescheid vom 31. August 2015 vorläufig Leistungen für die Zeit vom 1. September 2015 bis 31. März 2016 in Höhe von insgesamt 758,00 EUR monatlich für die Zeit von September 2015 bis Februar 2016 und in Höhe von 674,00 EUR für März 2016. Mit Bescheid vom 24. Oktober 2015 minderte der Beklagte die Leistungen für die Zeit vom 1. November 2015 bis zum 31. Januar 2016 monatlich um 10% des maßgebenden Regelbedarfs – um 39,90 EUR – wegen eines Meldeversäumnisses. Mit Schreiben vom 31. August 2015 hörte der Beklagte den Kläger zudem zu der beabsichtigten Geltendmachung eines Ersatzanspruchs wegen sozialwidrigen Verhaltens an.

 

Mit Bescheid vom 11. November 2015 stellte der Beklagte fest, dass der Kläger zum Ersatz von Leistungen nach dem SGB II verpflichtet sei (Grundlagenbescheid). Die Voraussetzungen für die Gewährung von Leistungen nach dem SGB II seien von ihm zumindest grob fahrlässig herbeigeführt worden. Er habe grob fahrlässig gehandelt, da er laut Kündigungsschreiben am 15. Juli 2015 wieder nicht zur Arbeit erschienen sei und erneut gegen die betrieblichen Regelungen verstoßen habe. Die Firma habe auf die letzten Abmahnungen vom 12. Mai 2015 und vom 13. Juli 2015 verwiesen. Umfang und Höhe der zu ersetzenden Leistungen würden ihm in einem gesonderten Schreiben mitgeteilt.

 

Mit Bescheid vom 13. Januar 2016 änderte der Beklagte die Bewilligung von Leistungen nach dem SGB II ab und bewilligte für den Februar 2016 nunmehr Leistungen in Höhe von 353,00 EUR und für März 2016 in Höhe von 0 EUR. Hintergrund war eine Arbeitsaufnahme des Klägers zum 13. Januar 2016. Mit Bescheid vom 25. Februar 2016 hob der Beklagte die Bewilligung von Leistungen nach dem SGB II ab dem 1. März 2016 ganz auf.

 

Mit Bescheid vom 3. März 2016 setzte der Beklagte einen Ersatzanspruch gegen den Kläger für die in der Zeit vom 1. August 2015 bis 12. Januar 2016 gezahlten Leistungen nach dem SGB II in Höhe von 3.895,41 fest. Der Ersatzanspruch werde in voller Höhe geltend gemacht. Der Kläger habe seine Hilfebedürftigkeit herbeigeführt, indem er durch eine besonders schwere Verletzung der ihm im Rahmen der beruflichen Tätigkeit obliegenden Sorgfaltspflichten seinen Arbeitsplatz und damit das existenzsichernde Einkommen verloren habe. Er habe zumindest grob fahrlässig gehandelt. Einen wichtigen Grund für sein Verhalten habe er nicht gehabt. Die Kündigung sei nach den beiden vorhergegangenen Abmahnungen vorhersehbar gewesen. Ihm sei bekannt gewesen, dass er Arbeitsunfähigkeitsbescheinigungen einreichen musste. Es seien Zahlungen in Höhe von je 927,85 EUR für September und Oktober 2015, je 887,95 EUR für November und Dezember 2015, jeweils inklusive Beiträgen zur Sozialversicherung, und in Höhe von 263,81 EUR im Januar 2016 geleistet worden.

 

Am 6. Mai 2016 beantragte der Kläger über seinen Prozessbevollmächtigten die Überprüfung des Bescheids vom 3. März 2016. Er habe sich weder in seinem Arbeitsverhältnis etwas zuschulden kommen lassen noch in der Zeit, in der er beim Beklagten im Leistungsbezug gestanden habe. Die fristlose Kündigung durch seinen Arbeitgeber sei schlicht unbegründet und nicht auf ein Fehlverhalten seiner Person zurückzuführen gewesen. Allerdings sei er mit der Situation durchaus überfordert gewesen, so dass er seinerzeit keine arbeitsgerichtliche Klärung eingeleitet habe.

 

Der Beklagte lehnte den Überprüfungsantrag des Klägers mit Bescheid vom 11. Mai 2016 ab. Dem Kläger sei zumindest grobe Fahrlässigkeit hinsichtlich der Sozialwidrigkeit seines Verhaltens zu unterstellen. Er habe davon ausgehen müssen, dass er seinen Lebensunterhalt nach Wegfall des Verdienstes nicht ohne Leistungen nach dem SGB II bestreiten könne. Einen wichtigen Grund für sein Verhalten habe er nicht vorgetragen.

 

Hiergegen legte der Kläger mit Schreiben vom 18. Mai 2016 Widerspruch ein. Die Feststellung aus der Kündigung sei falsch. Er sei zu keinem Zeitpunkt nicht zur Arbeit erschienen. Der Beklagte habe substantiell darzulegen, wann dies der Fall gewesen sein solle und welche konkrete Arbeitsanweisung er verletzt habe.

 

Mit Widerspruchsbescheid vom 28. Juni 2016 wies der Beklagte den Widerspruch des Klägers zurück. Eine Nachfrage bei dem Arbeitgeber des Klägers habe ergeben, dass der Kläger am 12. Mai 2015 eine Abmahnung wegen schleppender Arbeitsweise erhalten habe. Am 13. Juli 2015 sei er unentschuldigt nicht zur Arbeit erschienen und habe sich an diesem Tag überhaupt nicht bei seinem Arbeitgeber gemeldet. Mit Schreiben vom gleichen Tag, dem 13. Juli 2015, sei er daraufhin erneut abgemahnt worden. Da keinerlei Reaktion erfolgt sei, sei am 15. Juli 2015 die Kündigung ausgesprochen worden. Erst am 16. Juli 2015 sei die Arbeitsunfähigkeitsbescheinigung abgegeben worden. Der Kläger habe zumindest grob fahrlässig gehandelt. Es sei seine Pflicht, sich beim Arbeitgeber krank zu melden. Es handele sich dabei auch um eine allgemein übliche Verhaltensweise. Selbst wenn man die Bescheinigung erst im Laufe des Tages erhalte, melde man sich zumindest am Morgen gleich telefonisch ab. Er habe mit der fristlosen Kündigung nach der zweiten Abmahnung rechnen müssen. Des Weiteren habe er davon ausgehen müssen, dann wiederum Hilfe nach dem SGB II zu benötigen.

 

Der Kläger hat am 28. Juli 2016 Klage vor dem Sozialgericht Kiel erhoben und zur Begründung vorgetragen, dass der Beklagte keinen Sachverhalt dargelegt habe, welcher nach den Maßstäben des Arbeitsrechts eine fristlose Kündigung auslösen könne. Es stehe fest, dass der Kläger nicht unentschuldigt am Arbeitsplatz gefehlt habe, denn er sei unstreitig auch über den 10. Juli 2015 hinaus krankgeschrieben gewesen. Zudem habe auch keine einschlägige Abmahnung wegen eines Meldeverstoßes vorgelegen. Das Fehlen am Arbeitsplatz am 13. Juli 2015 sei bereits mit einer Abmahnung abgegolten gewesen, sodass nach der ständigen Rechtsprechung des Bundesarbeitsgerichts eine Kündigung aus diesem Grunde bereits ausgeschlossen gewesen sei. Im Übrigen sei es der Sinn und Zweck einer Abmahnung, dass der Arbeitnehmer auf einen Vorwurf des Arbeitgebers reagieren könne. Wenn nur zwei Tage nach einer Abmahnung eine fristlose Kündigung ausgesprochen werde – und dann auch noch wegen des gleichen Verhaltens – so könne diese nicht begründet sein, zumal der Kläger auch vor dem Ausspruch der Kündigung nicht angehört worden sei, wie es nach ständiger Rechtsprechung des Bundesarbeitsgerichts (BAG) erforderlich sei. Aufgrund seiner damaligen Umstände und beschränkter finanzieller Reserven sei der Kläger jedoch nicht arbeitsgerichtlich gegen die Kündigung vorgegangen.

 

Tatsächlich sei der Kläger wegen eines Arbeitsunfalls krankgeschrieben gewesen, bei dem er eine schwere Rippenprellung erlitten habe. Während der Krankschreibung habe sein Arbeitgeber ihn wiederholt angerufen und aufgefordert, trotz anhaltender Schmerzen wieder zu arbeiten; er könne sich ja ein wenig zurückhalten. Der Kläger habe daher seine Krankschreibung zum Freitag, dem 10. Juli 2015, auslaufen lassen, um möglichst am Montag wieder zur Arbeit erscheinen zu können. Er habe aufgrund der Schmerzen aber auch am Montag nicht arbeiten können und daher erneut seinen Arzt aufgesucht. Die erneute Krankschreibung habe er dann am 14. Juli persönlich im Büro des Arbeitgebers mitgeteilt, am 15. Juli 2015 jedoch die Kündigung erhalten. Der Kläger habe sich nicht sozialwidrig verhalten, sondern sei im Gegenteil von seinem Arbeitgeber so unter Druck gesetzt worden, dass er versucht habe, seine Arbeit aufzunehmen, obwohl dies nicht möglich gewesen sei. Schließlich sei die Rückforderung des gesamten geleisteten Betrages unverhältnismäßig und verfassungswidrig.

 

Der Kläger hat beantragt

den Bescheid vom 3. März 2016 unter Aufhebung des Bescheides vom 11. Mai 2016 in Form des Widerspruchsbescheides vom 28. Juni 2016 aufzuheben.

 

Der Beklagte hat beantragt,

die Klage abzuweisen.

 

Zur Begründung hat er vorgetragen, dass die Arbeitsunfähigkeitsbescheinigung nach Aussage des Arbeitgebers erst am 16. Juli 2015 abgegeben worden sei. Der Kläger habe sich am 13. Juli 2015 überhaupt nicht gemeldet. Der Arbeitnehmer habe gemäß § 5 Abs. 1 Entgeltfortzahlungsgesetz (EFZG) jedoch die Pflicht, dem Arbeitgeber eine Arbeitsunfähigkeit unverzüglich anzuzeigen.

 

Mit Urteil vom 20. Mai 2019 hat das Sozialgericht Kiel die Klage als unbegründet abgewiesen und zur Begründung ausgeführt, Rechtsgrundlage sei die Vorschrift des § 34 Abs. 1 SGB II. Es könne aber dahinstehen, ob der Kläger die Voraussetzungen für die Gewährung von Leistungen nach dem SGB II ohne wichtigen Grund herbeigeführt habe. Der Bescheid vom 3. März 2016 regele ausschließlich die Höhe des Ersatzanspruchs. Die grundsätzliche Entscheidung hinsichtlich der Erstattungspflicht sei bereits mit Bescheid vom 11. November 2015 erfolgt. Dieser Bescheid sei bestandskräftig und auch nicht Gegenstand des Überprüfungsverfahrens, denn der anwaltlich vertretene Kläger habe ausdrücklich lediglich die Überprüfung des Bescheids vom 3. März 2016 beantragt. Soweit in diesem Bescheid das Bestehen des Ersatzanspruchs erneut festgestellt und entsprechend begründet werde, handele es sich um eine wiederholende Verfügung ohne eigenen Regelungsgehalt. Ob die Feststellung einer Ersatzpflicht vorab lediglich dem Grunde nach von der Ermächtigungsgrundlage des § 34 Abs. 1 SGB II gedeckt sei, sei zwar umstritten, könne jedoch dahinstehen, weil der Bescheid vom 11. November 2015 bestandskräftig sei und auch rechtswidrige Bescheide in Bestandskraft erwüchsen. Regelungs- und Prüfungsgegenstand des Klageverfahrens sei ausschließlich die Höhe der Ersatzforderung. Diesbezüglich bestünden keine Zweifel. Gründe, die eine besondere Härte der Geltendmachung des Ersatzanspruchs begründen würden, seien nicht geltend gemacht worden und auch nicht ersichtlich.

 

Der Kläger hat gegen dieses ihm am 26. Juni 2019 zugestellte Urteil am 27. Juni 2019 Berufung eingelegt. Er ist der Auffassung, der Beklagte sei nicht dazu befugt, die Verpflichtung zum Ersatz zunächst nur dem Grunde nach im Wege eines Feststellungsbescheides festzulegen. Der später ergangene Leistungsbescheid stelle auch nicht lediglich eine wiederholende Verfügung dar, weil sich der Beklagte inhaltlich mit den Einwendungen zur vermeintlichen groben Fahrlässigkeit auseinandergesetzt habe. In jedem Fall hätte das Sozialgericht jedoch berücksichtigen müssen, dass eine auf einer rechtswidrigen Entscheidung fußende Rückforderung regelmäßig eine besondere Härte darstelle, die natürlich einer entsprechenden Überprüfung bedürfe. Es lägen zudem Wertungswidersprüche zwischen den Regelungen des SGB II und des Sozialgesetzbuch Drittes Buch (SGB III) vor, die einer verfassungsrechtlichen Würdigung zu unterziehen seien. Zudem sei von einem Verstoß gegen das Sozialstaatsprinzip und Art. 3 Grundgesetz (GG) auszugehen.

 

 

Der Kläger beantragt,

das Urteil des Sozialgerichts Kiel vom 20. Mai 2019 und den Bescheid der Beklagten vom 11. Mai 2016 in der Gestalt des Widerspruchsbescheids vom 28. Juni 2016 aufzuheben und den Beklagten zu verpflichten, die Bescheide vom 11. November 2015 und vom 3. März 2016 zurückzunehmen.

 

Der Beklagte beantragt,

                    die Berufung zurückzuweisen.

 

Er verweist zur Begründung auf die seiner Meinung nach überzeugenden Ausführungen im erstinstanzlichen Urteil.

 

Wegen der weiteren Einzelheiten des Sach- und Streitstandes wird auf den Inhalt der Gerichtsakte und der beigezogenen Verwaltungsakten verwiesen.

 

 

Entscheidungsgründe

 

Die Berufung ist zulässig und begründet. Das Sozialgericht hat die Klage zu Unrecht abgewiesen.

 

Statthafte Klageart für das Begehren des Klägers ist die kombinierte Anfechtungs- und Verpflichtungsklage. Die Anfechtungsklage zielt auf die Aufhebung des Bescheids vom 11. Mai 2016 in der Gestalt des Widerspruchsbescheids vom 28. Juuni 2016, die Verpflichtungsklage auf die Rücknahme der in der Sache zur Überprüfung gestellten Bescheide vom 11. November 2015 und 3. März 2016. Deren Rücknahme hätte – ihre vom Kläger geltend gemachte Rechtswidrigkeit vorausgesetzt – zur Folge, dass der Kläger keinem Ersatzanspruch ausgesetzt wäre. Unerheblich ist, dass er im Verfahren vor dem Sozialgericht nicht ausdrücklich beantragt hatte, den Beklagten zu verpflichten, den Grundlagenbescheid vom 11. November 2015 zurückzunehmen. Denn das Gericht entscheidet nach § 123 Sozialgerichtsgesetz (SGG) über die erhobenen Ansprüche, ohne an die Fassung der Anträge gebunden zu sein (vgl. BSG, Urteil vom 23. Februar 2017 – B 4 AS 57/15 R – juris Rn. 16). Gemäß § 106 Abs. 1 i. V. m. § 153 Abs. 1 SGG hat das Gericht darauf hinzuwirken, dass sachdienliche Anträge gestellt werden. Gemäß § 123 i. V. m. § 153 Abs. 1 SGG ist zudem vollständig über den vom Kläger erhobenen Anspruch zu entscheiden (BSG, Urteil vom 21. März 2002 – B 7 AL 44/01 R – Rn. 22 ff, juris Rn. 27). Sachdienlich sind danach die Anträge, die am besten geeignet sind, das erstrebte Rechtsschutzziel zu erreichen. Das Rechtsschutzziel ist hierbei im Wege der Erforschung des wirklichen Willens des Klägers (§ 133 Bürgerliches Gesetzbuch (BGB)) unter Zugrundelegung des bisherigen Vorbringens zu ermitteln. Erfasst der Wortlaut der gestellten Anträge nicht den gesamten mit der Klage verfolgten Anspruch, ist der Kläger hierauf hinzuweisen (Mushoff in: Schlegel/Voelzke, jurisPK-SGG, 1. Aufl., § 106 SGG (Stand: 21.01.2022), Rn. 31).

 

Das Begehren des Klägers war dahingehend sachdienlich auszulegen, dass entsprechend seinem Rechtsschutzziel der unmittelbar angefochtene Überprüfungsbescheid aufzuheben und der Beklagte zur Rücknahme sowohl des Bescheids vom 3. März 2016 als auch des Bescheids vom 11. November 2015 zu verpflichten war.

 

Bei zutreffender Beurteilung des Streitgegenstands hätte von Anfang an auch der Bescheid vom 11. November 2015 in den Klageantrag aufgenommen werden müssen. Das Sozialgericht hätte auf die sachgerechte Antragstellung gemäß § 106 Abs. 1 SGG hinwirken müssen. Bereits der Überprüfungsantrag des Klägers konnte nur so verstanden werden, dass er sich gegen die Geltendmachung des Ersatzanspruchs wegen sozialwidrigen Verhaltens insgesamt und nicht lediglich gegen die Höhe der Erstattungsforderung richtete. Dies ergibt sich eindeutig aus dem Schreiben des Prozessbevollmächtigten des Klägers vom 6. Mai 2016, mit dem er den Überprüfungsantrag stellte, sich gegen die Geltendmachung des Anspruchs insgesamt wendete und zur Begründung ausführte, dem Kläger könne nicht der Vorwurf eines sozialwidrigen Verhaltens gemacht werden. Zwar beantragte der Prozessbevollmächtigte des Klägers nur die Überprüfung des Erstattungsbescheids vom 3. März 2016 und nicht auch die Überprüfung des Grundlagenbescheids vom 11. November 2015; sein inhaltliches Überprüfungsbegehren ergab sich jedoch unmissverständlich aus dem Gesamtzusammenhang.

 

Der Beklagte hat zu Recht über den in diesem Sinne zu verstehenden Überprüfungsantrag des Klägers umfassend entschieden und inhaltlich sowohl den Bescheid vom 3. März 2016 als auch den Bescheid vom 11. November 2015 überprüft. Gerade weil, worauf das Sozialgericht selbst hingewiesen hat, nach dem damaligen Stand in Rechtsprechung und Literatur umstritten war, ob (und gegebenenfalls mit welchen Rechtsfolgen) das hier vom Beklagten gewählte Vorgehen, zunächst lediglich über die Feststellung einer Ersatzpflicht dem Grunde nach und erst im zweiten Schritt über die Höhe der Forderung zu entscheiden, von der Ermächtigungsgrundlage des § 34 Abs. 1 SGB II gedeckt war, konnte der Sachverhalt vom Beklagten nur umfassend überprüft werden, um dem Überprüfungsbegehren des Klägers gerecht zu werden. Dass der anwaltlich vertretene Kläger sich insoweit lediglich auf den Bescheid vom 3. März 2016 und nicht, wie es eigentlich nahegelegen hätte, zusätzlich auch auf den Bescheid vom 11. November 2015 bezogen hatte, ist insoweit unerheblich. Denn bei Vorliegen der Voraussetzungen des § 44 Sozialgesetzbuch Zehntes Buch (SGB X) kann – und in diesem Fall muss – die Behörde von sich aus tätig werden, wenn das Vorbringen unmissverständlich ist. Dass im Übrigen ein Verwaltungsakt nicht nur auf Antrag aufgehoben wird, bestätigt die Regelung in § 44 Abs. 4 Satz 3 SGB X (Schütze/Schütze, 9. Aufl. 2020, SGB X, § 44 Rn. 45).

 

In Übereinstimmung mit diesen Grundsätzen beziehen sich die wesentlichen Ausführungen im Bescheid vom 11. Mai 2016 und insbesondere auch im Widerspruchsbescheid vom 28. Juni 2016 gerade auf die Überprüfung der nach Auffassung des Beklagten vorliegenden Tatbestandsvoraussetzung des sozialwidrigen Verhaltens im Grundlagenbescheid. Im Rahmen des Widerspruchsverfahrens hat der Beklagte den Sachverhalt zudem weiter aufgeklärt, indem er bei dem Arbeitgeber des Klägers angerufen und diese Erkenntnisse im Widerspruchsbescheid vom 28. Juni 2016 verarbeitet hat („Eine Nachfrage bei der Fa. H ergab dann folgendes: …“). Zutreffend hat der Beklagte im Widerspruchsbescheid insoweit ausgeführt, er habe den Widerspruch des Klägers zum Anlass genommen, die getroffene Entscheidung und den zugrundeliegenden Sachverhalt gründlich zu überprüfen. Da damit tatsächlich eine Verwaltungsentscheidung des Beklagten vorliegt, die das gesamte Überprüfungsbegehren des Klägers abdeckt, ist es nicht erforderlich, das Verfahren vor dem Landessozialgericht auszusetzen und dem Beklagten Gelegenheit zur vollständigen Durchführung des Verwaltungs- bzw. Widerspruchsverfahrens zu geben. Es bestehen keine Bedenken, auch den Grundlagenbescheid vom 11. November 2015 in den Antrag des Klägers und Tenor des Urteils aufzunehmen. Es handelt sich insoweit um eine bloße Klarstellung und nicht um eine Klageänderung (vgl. BSG, Urteil vom 12. November 2003 – B 3 KR 10/03 R – juris Rn. 15f).

 

Das Landessozialgericht (LSG) ist für die Entscheidung über diesen Klageantrag auch instanziell zuständig. Gemäß § 29 Abs. 1 1. Alt. SGG entscheiden die Landessozialgerichte im zweiten Rechtszug über die Berufung gegen die Urteile der Sozialgerichte. Das Sozialgericht (SG) hat hier das Klagebegehren unter Verstoß gegen § 123 SGG zu eng ausgelegt und damit nicht verbindlich, sondern bewusst über die Frage der Sozialwidrigkeit nicht entschieden. Dies steht einer Entscheidung durch das LSG nicht entgegen, insbesondere ist der Kläger nicht auf den Weg einer Urteilsergänzung des erstinstanzlichen Urteils gemäß § 140 SGG zu verweisen. Der Rechtsirrtum eines Gerichts, der auf der unzutreffenden Auslegung des geltend gemachten Klagebegehrens oder der irrtümlichen Annahme einer Beschränkung der Klage beruht, ist typischer Grund für eine bewusste Ausklammerung eines Teils des Klagebegehrens aus der einen Rechtsstreit abschließenden Entscheidung durch ein Vollurteil. Das LSG hat in diesen Fällen entsprechend § 133 BGB durch eigene Auslegung des Vorbringens des Klägers in der ersten Instanz zu ermitteln, welchen Anspruch er wirklich erhoben hat und über dieses Begehren im Berufungsverfahren zu entscheiden, wenn der förmliche Antrag, über den das Sozialgericht entschieden hat, damit nicht übereinstimmt (vgl. BSG, Beschluss vom 2. April 2014 – B 3 KR 3/14 B – juris Rn. 10; LSG Bayern, Urteil vom 22. November 2016 – L 15 VS 6/15 – juris Rn. 46; LSG Bayern, Beschluss vom 19. Januar 2016 – L 15 VK 14/15 B ER – juris Rn. 47; Berchtold, Sozialgerichtsgesetz, SGG § 29 Rn. 5, beck-online). Bei dieser Fallkonstellation handelt es sich letztlich nicht um einen „Prozessrest“, sondern um einen in vollem Umfang am LSG anhängigen Streitgegenstand, dessen vermeintliche Unvollständigkeit allein in der konsequenten Weiterbearbeitung durch das SG, ausgehend von seiner Rechtsauffassung, begründet ist, ähnlich wie beim fehlerhaften Prozessurteil (Schreiber in: Fichte/Jüttner, SGG, 3. Aufl. 2020, § 143 SGG, Rn. 20, a. A. Stotz in: Schlegel/Voelzke, jurisPK-SGG, 1. Aufl., § 29 SGG (Stand: 25.08.2020), Rn. 67).

 

Die Sache ist auch nicht gemäß § 159 SGG an das Sozialgericht zurückzuverweisen. Gemäß § 159 Abs. 1 Nr. 1 SGG kann das Landessozialgericht die angefochtene Entscheidung aufheben und die Sache an das Sozialgericht zurückverweisen, wenn dieses die Klage abgewiesen hat, ohne in der Sache selbst zu entscheiden. Grundsätzlich kommt diese Möglichkeit auch bei einer Fehldeutung des Klageziels durch das Sozialgericht in Betracht (LSG Bayern, Urteil vom 20. Oktober 2016 – L 17 U 118/16 –, juris Rn. 21). Vorliegend hat das Sozialgericht jedoch eine Entscheidung in der Sache getroffen, indem es von der Bestandskraft des Grundlagenbescheids ausgegangen ist. Ob in einem Fall, in dem das Sozialgericht aufgrund einer falschen Weichenstellung bei rechtlichen Vorfragen „an der Sache vorbei“ entschieden hat, so dass gegebenenfalls eine analoge Anwendung von § 159 Abs. 1 Nr. 1 SGG in Betracht käme ist umstritten (siehe (MKLS/Keller, 13. Aufl. 2020, SGG § 159 Rn. 2b m. w. N.; Wolff-Dellen in: Fichte/Jüttner, SGG, 3. Aufl. 2020, § 159 SGG, Rn. 4 m. w. N.) und kann hier dahinstehen. In Anbetracht der Verfahrensdauer und des Interesses der Beteiligten an einer schnelleren Erledigung des gesamten Verfahrens wäre hier von der Möglichkeit der Zurückverweisung ohnehin kein Gebrauch zu machen.

 

Die Berufung ist auch begründet.

 

Die Ablehnung des Überprüfungsantrags mit Bescheid vom 11. Mai 2016 in der Gestalt des Widerspruchsbescheids vom 28. Juni 2016 ist rechtswidrig und verletzt den Kläger in seinen Rechten. Der Kläger hat einen Anspruch auf Rücknahme des Bescheids vom 3. März 2016 und des Bescheids vom 11. November 2015.

 

Gemäß § 44 Abs. 1 SGB X ist ein Verwaltungsakt, auch nachdem er unanfechtbar geworden ist, mit Wirkung für die Vergangenheit zurückzunehmen, soweit sich im Einzelfall ergibt, dass bei seinem Erlass das Recht unrichtig angewandt oder von einem Sachverhalt ausgegangen worden ist, der sich als unrichtig erweist, und soweit deshalb Sozialleistungen zu Unrecht nicht erbracht worden sind. Nach § 44 Abs. 2 SGB X ist im Übrigen ein rechtswidriger nicht begünstigender Verwaltungsakt, auch nachdem er unanfechtbar geworden ist, ganz oder teilweise mit Wirkung für die Zukunft zurückzunehmen. Er kann auch für die Vergangenheit zurückgenommen werden.

 

Die Voraussetzungen für eine Rücknahme sowohl des Bescheids vom 3. März 2016 als auch des Bescheids vom 11. November 2015 liegen hier vor. Denn diese sind rechtswidrig.

 

Rechtsgrundlage für den Ersatzanspruch bei sozialwidrigem Verhalten ist die Vorschrift des § 34 Abs. 1 SGB II in der bis zum 31. Juli 2016 geltenden Fassung. Danach ist derjenige, der nach Vollendung des 18. Lebensjahres vorsätzlich oder grob fahrlässig die Voraussetzungen für die Gewährung von Leistungen nach dem SGB II an sich oder an Personen, die mit ihr oder ihm in einer Bedarfsgemeinschaft leben, ohne wichtigen Grund herbeigeführt hat, zum Ersatz der deswegen gezahlten Leistungen verpflichtet. Der Ersatzanspruch umfasst auch die geleisteten Beiträge zur Kranken-, Renten- und Pflegeversicherung. Von der Geltendmachung des Ersatzanspruchs ist abzusehen, soweit sie eine Härte bedeuten würde.

 

In formeller Hinsicht begegnet das Vorgehen des Beklagten keinen Bedenken. Der Beklagte war grundsätzlich ermächtigt, vor der bezifferten Geltendmachung des Ersatzanspruchs wegen sozialwidrigen Verhaltens gemäß § 34 SGB II eine isolierte Feststellung zur Sozialwidrigkeit in einem Grundlagenbescheid zu treffen (BSG, Urteil vom 29. August 2019 – B 14 AS 49/18 – Rn. 17 juris).

 

Das Verhalten des Klägers war aber nicht sozialwidrig im Sinne von § 34 SGB II.

 

Ein sozialwidriges Verhalten im Sinne von § 34 SGB II setzt einen gesteigerten Verschuldensvorwurf voraus. Dieser liegt im Falle einer Kündigung wegen arbeitsvertragwidrigen Verhaltens nur dann vor, wenn die Kündigung aufgrund dieses Verhaltens eindeutig rechtmäßig ist. Zweifel an der Rechtmäßigkeit der Kündigung schließen die Anwendung von § 34 SGB II im Regelfall aus.

 

An die Prüfung des Merkmals der Sozialwidrigkeit sind hohe Anforderungen zu stellen. Hierfür spricht bereits der Wortlaut der Vorschrift. Ein fahrlässiges arbeitsvertragswidriges Verhalten, das Anlass für die Lösung eines Beschäftigungsverhältnisses gegeben und die in Anspruch genommene Person in die Lage gebracht hat, Leistungen nach dem SGB II in Anspruch nehmen zu müssen, ist sozialwidrig, wenn diese die Hilfebedürftigkeit als mögliche Folge ihres Verhaltens grob fahrlässig verkannt hat und das Verhalten einer vorsätzlichen Herbeiführung von Hilfebedürftigkeit wertungsmäßig gleichsteht (BSG, Urteil vom 3. September 2020 – B 14 AS 43/19 R – juris Rn. 11). Diese Anforderungen ergeben sich aus der Verwendung des Begriffs „sozialwidriges Verhalten“. Denn der Gesetzestext bezieht sich insoweit auf die Rechtsprechung des Bundesverwaltungsgerichts zu der bei der Einführung von SGB II und Sozialgesetzbuch Zwölftes Buch (SGB XII) in unterschiedlicher Weise aufgegriffenen Regelung des § 92a Bundessozialhilfegesetz (BSHG), nach der die Ersatzpflicht wegen Herbeiführung der Voraussetzungen für die Gewährung von Sozialhilfe auf einen „engen deliktsähnlichen Ausnahmetatbestand“ beschränkt war (BSG a.a.O., juris Rn. 12 m. w. N.). Der einen Ersatzanspruch nach § 34 SGB II tragende Vorwurf der Sozialwidrigkeit ist darin begründet, dass der Betreffende – im Sinne eines objektiven Unwerturteils – in zu missbilligender Weise sich selbst oder seine unterhaltsberechtigten Angehörigen in die Lage gebracht hat, existenzsichernde Leistungen in Anspruch nehmen zu müssen. Einzubeziehen sind bei dieser Einordnung auch die im SGB II festgeschriebenen Wertmaßstäbe, in denen sich ausdrückt, welches Verhalten als dem Grundsatz der Eigenverantwortung vor Inanspruchnahme der Leistungen zur Sicherung des Lebensunterhalts zuwiderlaufend angesehen wird (BSG a. a. O., juris Rn. 13 m. w. N.).

 

Für eine restriktive Auslegung sprechen auch systematische Gründe. Die Tatbestände des § 31 SGB II drücken aus Sicht des SGB II zwar nicht zu billigende Verhaltensweisen aus, hieraus folgt jedoch nicht, dass jede Verwirklichung eines nach § 31 SGB II sanktionsbewehrten Tatbestands zugleich einen Ersatzanspruch nach § 34 SGB II begründet. Die Vorschriften stehen vielmehr – soweit ein Ersatzanspruch nach § 34 SGB II an ein Verhalten anknüpfen soll, das schon Anlass für eine Leistungsminderung nach den §§ 31 ff SGB II gegeben hat – in einem Stufenverhältnis, nach dem auf die Verwirklichung eines nach § 31 SGB II sanktionsbewehrten Tatbestand regelhaft mit einer Minderung nach den §§ 31a und 31b SGB II zu reagieren und (nur) in einem besonderen Ausnahmefall zusätzlich ein Ersatzanspruch nach § 34 SGB II geltend zu machen ist. Kennzeichnend für einen solchen Ausnahmefall ist, dass deliktsähnlich die in den Tatbeständen des § 31 SGB II ausgedrückten Verhaltenserwartungen in besonders hohem Maße verletzt worden sind (BSG, Urteil vom 29. August 2019 – B 14 AS 49/18 – juris Rn. 27f m. w. N.). Das gilt auch für arbeitsvertragswidriges Verhalten, das Anlass für die Lösung eines Beschäftigungsverhältnisses gegeben und damit den Minderungstatbestand von § 31 Abs. 2 Nr. 3 oder 4 SGB II i. V. m. § 159 Abs. 1 Satz 2 Nr. 1 SGB III erfüllt hat (BSG, Urteil vom 3. September 2020 – B 14 AS 43/19 R – juris Rn. 15). Denn angesichts der schwerwiegenden Rechtsfolgen des § 34 SGB II kann ein derartiges Fehlverhalten nicht für jeden „durchschnittlichen Sanktionsfall“, also nicht für jeden sperrzeitbegründenden Pflichtenverstoß in einem Beschäftigungsverhältnis angenommen werden.

 

Maßgebend ist insoweit nicht das Maß der Pflichtverletzung im Beschäftigungsverhältnis, sondern im Verhältnis zur Allgemeinheit, weil diese als Solidargemeinschaft die Mittel der Grundsicherung für Arbeitsuchende aufzubringen hat. Mit Blick hierauf ist nach der Rechtsprechung des BSG unter Rückgriff auf die Rechtsprechung des BVerwG zu § 92a BSHG ein Verhalten als sozialwidrig anzusehen, das (1) in seiner Handlungstendenz auf die Einschränkung bzw. den Wegfall der Erwerbsfähigkeit oder der Erwerbsmöglichkeit oder (2) die Herbeiführung von Hilfebedürftigkeit bzw. der Leistungserbringung gerichtet war bzw. hiermit in „innerem Zusammenhang“ stand oder bei dem (3) ein spezifischer Bezug zu anderen nach den Wertungen des SGB II zu missbilligenden Verhaltensweisen bestand (BSG, Urteil vom 3. September 2020 – B 14 AS 43/19 R – juris Rn. 16). Da diese Umschreibungen primär an das „Herbeiführen“ und damit an ein zielgerichtetes Handeln anknüpfen, lassen sie sich auf das grob fahrlässige Herbeiführen von Hilfebedürftigkeit nicht unmittelbar übertragen. Dies ändert jedoch nichts daran, dass § 34 SGB II als ein eng zu fassender Ausnahmetatbestand zu verstehen ist. Grob fahrlässig im Sinne von § 34 Abs. 1 Satz 1 SGB II verhält sich nur, wer sich der Sozialwidrigkeit seines Verhaltens bewusst oder grob fahrlässig nicht bewusst ist. Hinzutreten muss auf der Wertungsebene, dass das zur Inanspruchnahme von Grundsicherungsleistungen führende Verhalten in vergleichbarer Weise zu missbilligen ist wie ein solches, das auf die Inanspruchnahme von Grundsicherungsleistungen ausdrücklich angelegt ist. Das grob fahrlässige Verhalten muss der vorsätzlichen Herbeiführung also wertungsmäßig gleichstehen. Dies ist nach den vom Jobcenter bereits im Verwaltungsverfahren vollständig zu ermittelnden Umständen des Einzelfalls zu beurteilen (BSG a. a. O., juris Rn. 17).

 

Der Zusammenhang zwischen § 31 SGB II und § 34 SGB II stellt sich danach im Hinblick auf den Fall eines arbeitsvertragswidrigen Verhaltens wie folgt dar: Das Jobcenter kann, muss aber nicht bei Vorliegen der Voraussetzungen vor der Geltendmachung eines Ersatzanspruchs nach § 34 SGB II eine Sanktion verhängen. Unabhängig davon, ob dies tatsächlich geschehen ist, können die Voraussetzungen eines sozialwidrigen Verhaltens nach § 34 SGB II aufgrund des zwischen diesen Vorschriften bestehenden Stufenverhältnisses nur dann erfüllt sein, wenn ein arbeitsvertragswidriges Verhalten vorliegt, das eine Sanktion rechtfertigen würde und darüber hinaus im Hinblick auf die Allgemeinheit als Solidargemeinschaft eine besondere Pflichtverletzung im Sinne eines gesteigerten Verschuldensvorwurfs besteht. Wenn bereits zweifelhaft ist, ob die Kündigung rechtmäßig war und eine Sanktion gemäß § 31 SGB II gerechtfertigt hätte, scheidet die Geltendmachung eines Ersatzanspruchs nach § 34 SGB II im Regelfall aus.

 

Nach diesen Maßstäben liegt kein sozialwidriges Verhalten des Klägers im Sinne von § 34 SGB II vor. Denn bereits von einem gemäß § 31 SGB II sanktionswürdigen Verhalten des Klägers ist nicht auszugehen. Ein darüber hinausgehender gesteigerter Verschuldensvorwurf ist dem Kläger jedenfalls nicht zu machen.

 

In Betracht gekommen wäre hier allein eine Pflichtverletzung gemäß § 31 Abs. 2 Nr. 4 SGB II (Erfüllung der im Dritten Buch genannten Voraussetzungen für das Eintreten einer Sperrzeit, die das Ruhen oder Erlöschen eines Anspruchs auf Arbeitslosengeld begründet). Gemäß § 159 Abs. 1 Satz 2 Nr. 2 SGB III liegt ein eine Sperrzeit auslösendes versicherungswidriges Verhalten vor, wenn der Kläger durch ein arbeitsvertragswidriges Verhalten Anlass für die Lösung des Beschäftigungsverhältnisses gegeben und dadurch vorsätzlich oder grob fahrlässig die Arbeitslosigkeit herbeigeführt hat.

 

Dies setzt voraus, dass die Kündigung durch die Vertragsverletzung gerechtfertigt und auch sonst rechtmäßig war, wovon nicht ohne weiteres bereits deshalb ausgegangen werden kann, weil der Arbeitnehmer oder die Arbeitnehmerin sich – wie hier – nicht gegen die Kündigung gewehrt hat (Gagel/Lauterbach, 84. EL Dezember 2021, SGB III § 159 Rn. 108 m. w. N.). Es besteht keine Rechtspflicht, sich gegen eine unrechtmäßige Kündigung zu wehren, insbesondere besteht keine Pflicht, eine Kündigungsschutzklage zu erheben und das damit verbundene Prozess- und Kostenrisiko sowie persönliche Unannehmlichkeiten auf sich zu nehmen. Es steht jedem Arbeitnehmer frei, sich mit einer – auch ungerechtfertigten – Kündigung durch den Arbeitgeber abzufinden, zumal gerade bei einem zerrütteten Arbeitsverhältnis für juristische Laien die Erhebung einer Klage auf Weiterbeschäftigung nicht naheliegt und letztlich nur dem Erhalt einer Abfindung dienen würde. In der Rechtsprechung zu § 159 SGB III wird daher vorausgesetzt, dass eine inzidente sozialrechtliche Überprüfung der Rechtmäßigkeit der Kündigung zu erfolgen hat (siehe nur BSG, Urteil vom 6. März 2003 – B 11 AL 69/02 R – juris Rn. 18). Hat beispielsweise der Arbeitgeber nicht mit der richtigen Frist gekündigt, so tritt die Sperrzeit erst vom Zeitpunkt des Ablaufs der richtigen Kündigungsfrist ein (BSG, Urteil vom 25. April 1990 – 7 RAr 106/89 – juris). Aus diesen Gründen muss auch die Arbeitsagentur die Rechtmäßigkeit der Kündigung im Regelfall nachprüfen, auch wenn sie arbeitsrechtlich nicht mehr angreifbar ist (so auch Gagel/Lauterbach, 84. EL Dezember 2021, SGB III § 159 Rn. 109).

 

An der Rechtmäßigkeit der Kündigung bestehen im vorliegenden Fall durchgreifende Zweifel: Tatsächlich verbraucht eine Abmahnung das Kündigungsrecht für den konkret abgemahnten Sachverhalt. Wird wegen einer Verfehlung abgemahnt, kann nicht anschließend wegen derselben Verfehlung gekündigt werden (Gagel/Lauterbach, 83. EL August 2021, SGB III § 159 Rn. 114 m. w. N. zur Rspr. des Bundesarbeitsgerichts (BAG)). Nur Arbeitsvertragsverstöße eines gewissen Gewichts oder einer bestimmten Dauer erlauben dem Arbeitgeber zudem die Beendigung des Arbeitsverhältnisses. Immer muss die Kündigung die „ultima ratio“ sein, um Schaden vom Betrieb abzuwenden, das heißt, die Weiterbeschäftigung darf dem Arbeitgeber aus betrieblichen und persönlichen Gründen nicht mehr zumutbar sein (Gagel/Lauterbach, 83. EL August 2021, SGB III § 159 Rn. 115 m. w. N. zur st. Rspr. des BAG). Werden Arbeitsverhinderungen wiederholt und trotz Abmahnung nicht angezeigt und belegt, kann eine Kündigung gerechtfertigt sein. Die Verletzung der Anzeigepflicht bei Arbeitsunfähigkeit bzw. bei anderweitiger Arbeitsverhinderung ist zwar grundsätzlich geeignet, eine fristlose Kündigung zu rechtfertigen. Allerdings bedarf es angesichts des regelmäßig geringeren Gewichts dieser Pflichtverletzung der Feststellung erschwerender Umstände des Einzelfalles, die ausnahmsweise die Würdigung rechtfertigen, dem Arbeitgeber sei die Fortsetzung des Arbeitsverhältnisses bis zum Ablauf der ordentlichen Kündigungsfrist nicht zumutbar gewesen (LSG Rheinland-Pfalz, Urteil vom 28. November 2002 – L 1 AL 67/01 –, juris Rn. 23 m. w. N.).

 

Gegen die Wirksamkeit der Kündigung spricht hier, dass vor der Kündigung kein entsprechendes Fehlverhalten des Klägers dokumentiert ist. Nachdem der Kläger am Montag, dem 13. Juli 2015, erstmals unentschuldigt nicht zur Arbeit erschienen war, erfolgte die Kündigung am 15. Juli 2015; die Abmahnung wurde bereits am ersten Tag des unentschuldigten Fehlens des Klägers ausgesprochen, die Kündigung des Arbeitsverhältnisses am dritten Tag. Ob der Kläger die Abmahnung überhaupt erhalten hatte, als die Kündigung ausgesprochen wurde, hat der Beklagte nicht ermittelt. Insgesamt ergibt sich für den Senat aufgrund des Geschehensablaufs – der schnelle Ausspruch der Kündigung durch den Arbeitgeber und die vorherige Abmahnung wegen „schleppender Arbeitsweise“ – eher der Eindruck, dass der Arbeitgeber ein Interesse daran hatte, das Arbeitsverhältnis möglichst kurzfristig zu lösen.

 

Diese Zweifel an der Rechtmäßigkeit der Kündigung schließen nach den oben genannten Maßstäben die Anwendung von § 34 SGB II aus.

 

Tatsächlich ist dem Kläger hier auch kein über ein allenfalls sanktionswürdiges Verhalten hinausgehender gesteigerter Verschuldensvorwurf zu machen. Die erforderliche wertungsmäßige Vergleichbarkeit des Verhaltens des Klägers mit einer vorsätzlichen Herbeiführung der Hilfebedürftigkeit ist nicht gegeben. Der Kläger war mit der Situation möglicherweise überfordert, jedenfalls aber unstreitig krankgeschrieben. Dafür, dass der Kläger es darauf gerade angelegt hatte oder auch nur in missbilligenswerter Gleichgültigkeit seine Kündigung billigend in Kauf genommen hätte, ist vorliegend nichts ersichtlich, zumal der Kläger – was nicht näher aufgeklärt wurde – nach seinem Vortrag über eine fortlaufende Krankschreibung verfügte und hiervon deshalb keinerlei Vorteile gehabt hätte. Auch das weitere Verhalten des Klägers spricht nicht dafür, dass er es auf einen Bezug von Leistungen nach dem SGB II angelegt hatte. So beantragte er die Leistungen erst mit einigen Wochen Abstand zu seinem Krankengeldbezug und nahm auch bereits nach wenigen Monaten wieder eine Beschäftigung auf.

 

Die Kostenentscheidung folgt aus § 193 SGG. Sie orientiert sich am Ausgang des Verfahrens.

 

Es besteht kein Grund, die Revision gemäß § 160 Abs. 1, Abs. 2 Nr. 1 oder Nr. 2 SGG zuzulassen.

Rechtskraft
Aus
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