L 1 R 251/18

Land
Niedersachsen-Bremen
Sozialgericht
LSG Niedersachsen-Bremen
Sachgebiet
Rentenversicherung
1. Instanz
SG Hannover (NSB)
Aktenzeichen
S 13 R 721/15
Datum
2. Instanz
LSG Niedersachsen-Bremen
Aktenzeichen
L 1 R 251/18
Datum
3. Instanz
-
Aktenzeichen
-
Datum
-
Kategorie
Urteil
Leitsätze

1. Für ein beendetes Beschäftigungsverhältnis darf rückwirkend eine Entsendebescheinigung ausgestellt werden. 2. Die sich aus einer Entsendebescheinigung ergebende Zugehörigkeit zu einem Sozialversicherungssystem im EU-Ausland (hier: Belgien) ist für den Rentenversicherungsträger und die Gerichte grundsätzlich bindend und steht deshalb der Berücksichtigung einer Erwerbstätigkeit, für die Beiträge an EU-ausländische Sozialversicherungsträger gezahlt wurden, als deutsche Beitragszeit bei der Altersrente entgegen. Das gilt auch dann, wenn ausländischer und deutscher Sozialversicherungsträger sich nach Ausstellung der Entsendebescheinigung einig werden, dass diese unrichtig ist, weil objektiv deutsches Sozialversicherungsrecht hätte angewendet werden müssen. 3. Der ausländische Träger darf die Zurückziehung von der Zustimmung der betroffenen Versicherten abhängig machen. Wird diese nicht erklärt, muss der Rentenversicherungsträger nicht auf eine Zurückziehung ohne Zustimmung hinwirken.

Die Berufung der Klägerin gegen das Urteil des Sozialgerichts Hannover vom 9. Mai 2018 wird zurückgewiesen.

Kosten sind nicht zu erstatten.

Die Revision wird nicht zugelassen.

 

Tatbestand

Die Klägerin begehrt eine höhere als vom beklagten Rentenversicherungsträger für den Zeitraum ab dem 1. Juli 2013 zuerkannte Altersrente für Frauen; zwischen den Beteiligten ist allein die Berücksichtigung der von der Klägerin im Zeitraum von 25. April 2008 bis 31. März 2009 verrichteten Erwerbstätigkeit als Pilotin streitig.

Die 1950 geborene Klägerin ist ausgebildete Verkehrsflugzeugführerin. Ab dem 15. Januar 2008 war sie als Flugkapitänin erwerbstätig bei der I. J. N. V./S. A. mit Sitz in Belgien (im Folgenden: I. N. V.), die Charterflüge für Luftfrachtgesellschaften durchführte; ihren Wohnsitz behielt die Klägerin jedoch stets in Deutschland. Die I. N. V., Tochtergesellschaft der K. AG, betrieb seinerzeit vom Flughafen L. das europäische Luftfrachtdrehkreuz der konzerneigenen Logistikgesellschaft M. GmbH. Bereits im November 2007 hatte die Gesellschaft jedoch begonnen, ihre Aktivitäten schrittweise nach Deutschland an den Flughafen N. zu verlagern mit dem Ziel der endgültigen Verlegung und des Betriebs des Luftfrachtdrehkreuzes gemeinsam mit der 2005 gegründeten I. N. GmbH (im Folgenden: I. GmbH). Jedenfalls ab April 2008 richtete die I. N. V. am Flughafen N. eine sog. Crew Base zur Vor- und Nachbereitung der Flüge ein (Büroräumlichkeiten mit Computerarbeitsplätzen zur Erfüllung der Dokumentationspflichten, Räume für Crewbesprechungen, Wetterbeobachtungen und Flugvorbereitungen wie z. B. die Betankung der Flugzeuge). Seither führte die Klägerin nur noch am Flughafen N. beginnende und endende Flüge überwiegend zu europäischen Zielen durch. Während ihrer Bereitschaftsdienstzeiten hielt sich die Klägerin ebenfalls am Flughafen N. auf.

Am 24. April 2008 schlossen die I. N. V. und die Klägerin ein „Addendum“ (Nachtrag) zum belgischen Arbeitsvertrag. Darin wurde ‑ nach der beglaubigten deutschen Übersetzung ‑ ab dem 25. April 2008 als Tätigkeitsort N. vereinbart (Nr. 1 des Nachtrages). Der Vertrag enthält zudem eine Abrede, dass der Arbeitgeber ein Niederlassungs-Büro einrichtet. Ab dem Augenblick, in dem das Niederlassungs-Büro vollständig funktionsfähig sei und ein ausreichender Teil der Arbeitgeberautorität ausgeübt werde, werde der Arbeitnehmer Teil des deutschen Sozialversicherungssystems sein (Nr. 5 des Nachtrages). Schließlich enthält der Vertrag die Vereinbarung, dass nur die Gerichte in dem Bezirk L. befugt seien, über Vertragsstreitigkeiten zu entscheiden. Die belgische Gesetzgebung sei anwendbar, soweit nicht andere gesetzliche Bestimmungen zwingend anwendbar seien (Nr. 7 des Nachtrages).

Die Klägerin erhielt ihre Vergütung während ihrer gesamten Tätigkeit von der I. N. V. berechnet und ausgezahlt, von dieser wurden auch Sozialversicherungsbeiträge an die belgischen Träger abgeführt.

Die Klägerin wurde letztmals am 18. März 2009 für die I. N. V. tätig. Diese kündigte mit zwei Schreiben vom 19. und 23. März 2009 das Arbeitsverhältnis mit der Klägerin. Die Klägerin wandte sich nachfolgend vor dem Arbeitsgericht (ArbG) N. gegen ihre Kündigung.

Die I. N.V. wurde auf Grundlage des Beschlusses der Gesellschafterversammlung vom 10. Februar 2010 von der I. GmbH aufgenommen und mit dieser verschmolzen. Die entsprechende Eintragung in das Handelsregister erfolgte am 26. März 2010.

Das ArbG erkannte mit Zwischenurteil auf die Zulässigkeit der Klage. Das LAG wies die dagegen gerichtete Berufung der I. GmbH zurück. Auch die Revision der I. GmbH blieb erfolglos (BAG, Urteil vom 20. Dezember 2012 – 2 AZR 481/11 –, juris). Das ArbG erklärte sodann die Kündigung für unwirksam. Hiergegen legte die I. GmbH Berufung ein.

Der belgische Träger der Sozialversicherung (Rijksdienst Voor Soziale Zekerheid; im Folgenden RVSZ) stellte auf Antrag der I. GmbH am 31. Mai 2011 eine Entsendebescheinigung (seinerzeit noch Formular E 101) als Arbeitnehmerin für den Zeitraum vom 15. Januar 2008 bis 18. März 2009 aus, u. a. wurde darin bescheinigt, dass die Klägerin während dieses Zeitraums aufgrund des Art. 14 Abs. 2a der Verordnung (EWG) Nr. 1408/71 den belgischen Rechtsvorschriften unterliege.

Am 4. März 2013 beantragte die Klägerin Altersrente für Frauen.

Nach weiterem Schriftverkehr teilte die RVSZ dem - über die zuständige Einzugsstelle Techniker Krankenkasse (TK) beteiligten - GKV-Spitzenverband mit E-Mail vom 16. Mai 2013 mit, dass die Klägerin aus ihrer Sicht im Zeitraum vom 15. Januar 2008 bis 18. März 2009 dem deutschen Sozialversicherungssystem unterfallen sei und erklärte sich zur Zurückziehung der Entsendebescheinigung bereit. Zugleich wies sie darauf hin, dass die in Belgien gezahlten Beiträge nach Ablauf der dreijährigen Verjährungsfrist nicht zurückgefordert werden könnten und möglicherweise in Deutschland nochmals Beiträge zu zahlen seien. Wenn die Klägerin dies wünsche, bitte sie um Mitteilung, andernfalls verbleibe es bei der Zugehörigkeit zum belgischen Sozialversicherungssystem. Auf die entsprechende Anfrage des GKV-Spitzenverbands (Schreiben vom 13. Juni 2013) reagierte die Klägerin nicht.

Die Beklagte bewilligte der Klägerin ab 1. Juli 2013 Altersrente für Frauen (Bescheid vom 5. Juli 2013). Widerspruch erhob die Klägerin nicht.

Im Rahmen des arbeitsgerichtlichen Berufungsverfahren schloss die Klägerin am 17. Juli 2014 mit der I. GmbH einen Vergleich, in dem zur Erledigung mehrerer Verfahren ‑ unter anderem ‑ die Beendigung des Arbeitsverhältnisses mit Ablauf des 31. März 2009 und die Zahlung einer Abfindung vereinbart wurde. Zugleich erkannte die Klägerin an, dass „auf das Arbeitsverhältnis in der Zeit vom 25. April 2008 bis zum Beendigungszeitpunkt belgisches Sozialversicherungsrecht Anwendung“ gefunden habe. Sie verpflichtete sich, sämtliche Tätigkeiten in Zusammenhang mit der Zurückziehung der Entsendebescheinigung bei den „belgischen Behörden einzustellen und gegenüber den Behörden“ zu erklären, dass sie die Anwendbarkeit des belgischen Sozialversicherungsrechts akzeptiere. Sie werde keine weiteren Rechtsbehelfe oder Rechtsmittel gegen die Entscheidung der TK zur Anwendbarkeit des belgischen Sozialversicherungsrechts einlegen.

Die I. GmbH ließ die Abrechnung der im Vergleich vereinbarten Abfindungszahlung in Belgien durchführen. Die Abrechnungsstelle behandelte die Abfindung wie Arbeitslohn und führte Arbeitgeber- und Arbeitnehmeranteile zur belgischen Sozialversicherung ab.

Mit dem am 9. April 2015 bei der Beklagten eingegangenen Schreiben vom 8. April 2015 bat die Klägerin um Hilfe zur „ordnungsgemäßen Abwicklung der Ansprüche aus dem Vergleich und der sozialversicherungsrechtlichen Behandlung der Abfindung.“ Andere rechtliche Regelungen seien nicht Gegenstand des Überprüfungsbegehrens.

Die Beklagte stellte ab dem 1. Juli 2013 Altersrente für Frauen in Höhe eines monatlichen Zahlbetrages von anfänglich 1.157,29 Euro neu fest (Rentenbescheid der Beklagten vom 23. April 2015). Im Bescheid wurden der Zeitraum vom 1. März 2008 bis 31. März 2009 als Auslandsbeitragszeit in Belgien mit dem Durchschnittswert der in Deutschland erworbenen Beitragszeit (= 0,1137 monatlich x 13 Monate = 1,4781 Entgeltpunkte) berücksichtigt. Die Beklagte führte u. a. aus, es verbleibe bei der bisherigen Bewertung der Beitragszeiten der Jahre 2008 und 2009. Die Klägerin habe sich im Rahmen des arbeitsgerichtlichen Vergleichs mit der Anwendung des belgischen Sozialversicherungsrechts einverstanden erklärt.

Hiergegen legte die Klägerin am 7. Mai 2015 Widerspruch ein. Zur Begründung führte sie aus, sie wolle keine Zugehörigkeit zum deutschen Sozialsystem erreichen. Sie wolle eine Entscheidung der beteiligten Behörden erwirken, welche sozialversicherungsrechtlichen Vorschriften für die Abrechnung der Abfindung aus dem arbeitsgerichtlichen Vergleich Gültigkeit hätten. Die Entsendebescheinigung sei durch Täuschung erlangt worden. Diese wirke zwar fort, weil kein Beitragsbescheid erlassen werden könne. Die Beklagte müsse aber von Amts wegen die Aufhebung der Entsendebescheinigung anstreben. Die Beklagte wies den Widerspruch im Wesentlichen unter Verweis auf den Ausgangsbescheid zurück (Widerspruchsbescheid vom 25. Juni 2015).

Die am 24. Juli 2015 erhobene Klage hat das Sozialgericht (SG) Hannover abgewiesen (Urteil vom 9. Mai 2018). Zur Begründung hat es ausgeführt, das Arbeitsverhältnis der Klägerin sei ebenso wie der Nachtrag mit dem belgischen Arbeitgeber geschlossen worden. Der streitgegenständliche Zeitraum sei eine Übergangszeit gewesen, was auch aus Nr. 5 des Nachtrages zum Arbeitsvertrag deutlich werde. Die Zuordnung zum deutschen Sozialversicherungssystem sei lediglich beabsichtigt gewesen, habe aber bei Aufnahme der Tätigkeit nicht festgestanden. Unabhängig von der Bindungswirkung der vom belgischen Sozialversicherungsträger ausgestellten Entsendebescheinigung habe das Gericht auch und gerade in Ansehung des arbeitsgerichtlichen Vergleichs keinen Zweifel, dass diese Zuordnung richtig sei. Die Klägerin werde kaum einer aus ihrer Sicht rechtswidrigen Bestimmung zugestimmt haben. Unabhängig von einer Drittwirkung des Vergleichs auf die Beklagte sei jedenfalls die Klägerin an den Vergleich gebunden. Sie könne nicht damit gehört werden, dass dieser ihr die Weiterverfolgung von Ansprüchen nur gegenüber der TK verbiete. Der Geist des Vergleichs solle u. a. den Streit über das anwendbare Sozialversicherungsrecht verhindern. Daraus folge, dass es der Klägerin verwehrt sei, gleichsam durch die Hintertür gegenüber der Beklagten Ansprüche zu verfolgen, die ihr gegenüber anderen Beteiligten des streitigen Rechtsverhältnisses endgültig verwehrt seien. Diese Sperrwirkung des Vergleichs schlage mittelbar auch im Verhältnis zur Beklagten durch. Der Anspruch der Klägerin scheitere schon an dem auch im Sozialrecht gültigen Verbot widersprüchlichen Verhaltens, der letztlich aus dem Grundsatz von Treu und Glauben folge.

Gegen das der Klägerin am 17. Mai 2018 zugestellte Urteil richtet sich ihre am 14. Juni 2018 eingelegte Berufung. Zur Begründung führt sie aus, das SG sei zu Unrecht von einer mittelbaren Bindungswirkung des arbeitsgerichtlichen Vergleichs ausgegangen. Die Zuordnung zum Sozialversicherungssystem obliege nicht der Disposition von Arbeitgeber und Arbeitnehmer. Die Zuordnung zum belgischen Sozialversicherungssystem beruhe allein auf den unzutreffenden Feststellungen des belgischen Sozialversicherungsträgers. Die Beklagte habe nach der Rechtsprechung des EuGH die Möglichkeit und die Pflicht, auf den Widerruf einer Entsendebescheinigung hinzuwirken, wenn berechtigte Zweifel an der Richtigkeit bestünden. Dies habe sie bislang versäumt.

Die Klägerin beantragt,

  1. das Urteil des Sozialgerichts Hannover vom 9. Mai 2018 aufzuheben,
  2. die Beklagte zu verpflichten, den Rentenbescheid vom 23. April 2015 in der Gestalt des Widerspruchsbescheides 25. Juni 2015 abzuändern, und der Klägerin unter Berücksichtigung der vom 25. April 2008 bis 31. März 2009 verrichteten Erwerbstätigkeit als nach deutschem Recht zurückgelegte Pflichtbeitragszeit eine höhere Altersrente für Frauen ab 1. Juli 2013 zu bewilligen.

 

Die Beklagte beantragt,

die Berufung zurückzuweisen.

Sie hält ihre Entscheidung und das angefochtene Urteil für zutreffend.

Hinsichtlich der weiteren Einzelheiten des Sach- und Streitstandes wird auf den Inhalt der Verwaltungs- und Gerichtsakten Bezug genommen, die vorgelegen haben und Gegenstand der Beratung gewesen sind.

 

Entscheidungsgründe

Die Berufung ist statthaft und form- und fristgerecht eingelegt worden und auch im Übrigen zulässig (§§ 143, 144, 151 Sozialgerichtsgesetz [SGG]).

Die Berufung ist jedoch nicht begründet und deshalb zurückzuweisen. Das Sozialgericht Hannover hat die Klage mit seinem Urteil vom 9. Mai 2018 im Ergebnis zu Recht abgewiesen. Der Rentenbescheid der Beklagten vom 23. April 2015 in der Gestalt des Widerspruchsbescheides 25. Juni 2015 ist rechtmäßig und verletzt die Klägerin nicht in ihren Rechten.

1.   Streitgegenstand der kombinierten Anfechtungs-, Verpflichtungs- und Leistungsklage ist die Verpflichtung der Beklagten zur Änderung des Rentenbescheides vom 23. April 2015 in der Gestalt des Widerspruchsbescheides 25. Juni 2015 sowie zur Bewilligung einer höheren Altersrente für Frauen für den Zeitraum ab dem 1. Juli 2013 unter Berücksichtigung von der Klägerin im Zeitraum vom 25. April 2008 bis 31. März 2009 verrichteten Erwerbstätigkeit als in Deutschland zurückgelegte Pflichtbeitragszeit sowie die Aufhebung des entgegenstehenden Urteils des SG. Die Klägerin hat ‑ was das SG zutreffend berücksichtigt hat ‑ den Streitgegenstand auf einen abtrennbaren, tatsächlich und rechtlich selbständigen Teil des ursprünglich umfassend geltend gemachten Anspruchs auf höhere Rente beschränkt (vgl. BSG, Urteil vom 16. Juni 2015 – B 13 R 27/13 R -, Rn. 11 m. w. N.).

2.   Rechtsgrundlage für die begehrte Abänderung des Rentenbescheides vom 23. April 2015 zu Gunsten der Klägerin ist § 44 Abs. 1 Satz 1 SGB X. Danach ist ‑ soweit hier interessierend ‑ ein Verwaltungsakt, auch nachdem er unanfechtbar geworden ist, mit Wirkung für die Vergangenheit zurückzunehmen, soweit sich im Einzelfall ergibt, dass bei Erlass eines Verwaltungsaktes das Recht unrichtig angewandt oder von einem Sachverhalt ausgegangen worden ist, der sich als unrichtig erweist, und soweit deshalb Sozialleistungen zu Unrecht nicht erbracht worden sind. Der Rentenbescheid vom 23. April 2015 ist auf den Überprüfungsantrag der Klägerin vom 9. April 2015 ergangen. Er enthält in seiner Begründung ausdrücklich den Passus, dass es bei der bisherigen Bewertung der Beitragszeiten der Jahre 2008 und 2009 verbleibe. Das beinhaltet die Ablehnung einer abweichenden Behandlung der als Auslandszeiten berücksichtigten Beitragszeiten und einer ggf. hieraus erwachsenden höheren Rentenzahlung.

3.   Die gesetzlichen Voraussetzungen für die Gewährung einer Altersrente für Frauen ab dem 1. Juli 2013 sind dem Grunde nach erfüllt. Zu den Renten wegen Alters gehört gemäß § 33 Abs. 2 Nr. 6 SGB VI die Altersrente für Frauen. § 237a Abs. 1 SGB VI bestimmt, dass versicherte Frauen Anspruch auf Altersrente haben, wenn sie vor dem 1. Januar 1952 geboren sind (Nr. 1), das 60. Lebensjahr vollendet (Nr. 2), nach Vollendung des 40. Lebensjahres mehr als zehn Jahre Pflichtbeiträge für eine versicherte Beschäftigung oder Tätigkeit (Nr. 3) und die Wartezeit von 15 Jahren erfüllt (Nr. 4) haben. Die Altersgrenze nach § 237a Abs. 1 Nr. 2 SGB VI ist durch § 237a Abs. 2 Satz 1 und 3 i. V. m. Anlage 20 SGB VI auf die Vollendung des 65. Lebensjahres angehoben; die vorzeitige Inanspruchnahme ist ‑ die die Klägerin gewählt hat ‑ ab der Vollendung des 60. Lebensjahres möglich. Diese Voraussetzungen sind – bereits durch den Rentenbescheid vom 5. Juli 2013 für die Beteiligten bindend (§ 77 SGG) festgestellt – erfüllt.

4.   Die Beklagte ist nicht verpflichtet, den Rentenbescheid mit der Folge einer höheren Rentenbewilligung abzuändern. Weder wurde bei Erlass eines Verwaltungsaktes das Recht unrichtig angewandt noch wurde von einem Sachverhalt ausgegangen, der sich als unrichtig erwiesen hat. Vielmehr hat die Beklagte die streitgegenständliche Beschäftigungszeit der Klägerin zu Recht als in Belgien zurückgelegte Versicherungszeit ‑ und nicht als inländische Beitragszeit ‑ berücksichtigt.

Der Monatsbetrag der Rente ergibt sich nach § 64 SGB VI, wenn

  1. die unter Berücksichtigung des Zugangsfaktors ermittelten persönlichen Entgeltpunkte (pEP),
  2. der Rentenartfaktor und
  3. der aktuelle Rentenwert

mit ihrem Wert bei Rentenbeginn miteinander vervielfältigt werden.

Die Beklagte hat der Berechnung des Monatsbetrags der Rente die zutreffenden pEP – der im vorliegenden Verfahren allein streitige Faktor der Rentenformel – zugrunde gelegt.

Nach § 66 Abs. 1 SGB VI ergeben sich die pEP für die Ermittlung des Monatsbetrags der Rente, indem die „Summe aller Entgeltpunkte für

  1. Beitragszeiten,
  2. beitragsfreie Zeiten,
  3. Zuschläge für beitragsgeminderte Zeiten,

[…]

mit dem Zugangsfaktor […] vervielfältigt“ wird. Die Beklagte hat die Beitragszeit für die von der Klägerin verrichtete Erwerbstätigkeit im Zeitraum vom 25. April 2008 bis 31. März 2009 dem Grunde und der Höhe nach zutreffend berücksichtigt.

Gemäß § 55 Abs. 1 Satz 1 und 2 SGB VI sind Beitragszeiten ‑ unter anderem ‑ Zeiten, für die nach Bundesrecht Pflichtbeiträge (Pflichtbeitragszeiten) oder freiwillige Beiträge gezahlt worden sind sowie Zeiten, für die Pflichtbeiträge nach besonderen Vorschriften als gezahlt gelten. Demgegenüber wird jeder Monat einer in einem anderen Mitgliedsstaat erworbenen Beitragszeit nicht nach der Höhe der an den ausländischen Rentenversicherungsträger gezahlten Beiträge, sondern nach Art. 46 Abs. 2 Buchst. b der Verordnung (EWG) Nr. 1408/71 des Rates vom 14. Juni 1971 zur Anwendung der Systeme der sozialen Sicherheit auf Arbeitnehmer und deren Familien, die innerhalb der Gemeinschaft zu- und abwandern (EWGV 1408/71) lediglich mit dem Durchschnittswert aus den nach dem SGB VI ermittelten Entgeltpunkten für deutsche Beitragszeiten bewertet. Von der Berücksichtigung ausländischer Beitragszeiten bei der Berechnung der Wartezeit ist die Berechnung der Rentenhöhe streng zu unterscheiden (zuletzt BSG, Urteil vom 26. Februar 2020 ‑ B 5 R 21/18 R ‑ Rn. 35; Beschluss vom 29. Oktober 2020 ‑ B 5 R 131/20 B ‑, Rn. 7).

Die Beklagte hat die auf den streitgegenständlichen Zeitraum von 13 Monaten entfallenden Versicherungszeiten in Höhe von 1,4781 Entgeltpunkten (EP) zutreffend berücksichtigt, indem sie zutreffend den Durchschnittswert der deutschen Beitragszeiten von 47,4029 EP durch die 417 (deutschen) Beitragsmonate dividiert hat und mit den 13 (ausländischen) Beitragsmonaten multipliziert hat (Anlage 3, Seite 4 des Rentenbescheides vom 23. April 2015). Hieraus ergeben sich 48,8810 EP aus in- und ausländischen Beitragszeiten (= zwischenstaatliche Berechnung).

  1. Die Berücksichtigung des streitgegenständlichen Zeitraums als ausländische Beitragszeit ist zutreffend. Die Klägerin kann nicht verlangen, so gestellt zu werden, als hätte sie im streitgegenständlichen Zeitraum ihre Tätigkeit als Pilotin in Deutschland verrichtet und es wären im Zuge dessen Beiträge nach Bundesrecht gezahlt worden.

 

Zwar spricht vieles dafür, dass die Klägerin bei objektiver Betrachtung im Verlauf des Jahres 2008 nicht mehr dem belgischen, sondern dem deutschen Sozialversicherungsrecht unterlag, weil sie ihren Wohnsitz in Deutschland hatte, die von ihr durchgeführten Flüge zumindest weit überwiegend am Flughafen N. begannen und endeten und ihr Arbeitgeber dort eine sog. Crew Base unterhielt. Hierüber waren sich auch die beteiligten deutschen und belgischen Sozialversicherungsträger letztlich einig. Diese Tatsachen ändern indes nichts daran, dass für den streitgegenständlichen Zeitraum eine den Zeitraum ihres tatsächlichen Tätigwerdens umfassende Entsendebescheinigung A 101 der RVSZ vorliegt, die für die Beklagte, das SG und auch den erkennenden Senat verbindlich ist.

Der EuGH betont in ständiger Rechtsprechung, dass der eine Entsendebescheinigung ausstellende Staat wegen des Grundsatzes der loyalen Zusammenarbeit zwischen den Staaten verpflichtet ist, die Richtigkeit des bescheinigten Sachverhaltes zu gewährleisten. Umgekehrt verpflichtet dieser Grundsatz den Empfangsstaat, die Entsendebescheinigung zu akzeptieren. Daher gilt die Entsendebescheinigung umfassend, solange sie von der ausstellenden Behörde nicht zurückgezogen oder für ungültig erklärt wurde (st. Rspr. des EuGH, insbesondere Urteil vom 10. Februar 2000 - C-202/97 ‑ [Fitzwilliam]; Urteil vom 30. März 2000 - C 178/97 – [Banks]; Urteil vom 26. Januar 2006 ‑ C-2/05 ‑ [Herbosch Kiere]; zuletzt Urteil vom 14. Mai 2020 – C-17/19 – [Bouygues travaux publics u. a.], m. w. N.; alle in juris veröffentlicht). Bei Zweifeln an der Rechtmäßigkeit der Entsendebescheinigung ist der Aufnahmestaat ‑ hier: Deutschland ‑ verpflichtet, dies gegenüber der zuständigen Stelle des Entsendestaats ‑ hier: Belgien - anzumerken und diese um eine erneute Prüfung ihrer Entscheidung zu bitten. Der Entsendestaat ist zu einer solchen Prüfung verpflichtet. Sofern Uneinigkeit über die Richtigkeit besteht, steht es gemäß Art. 227 EG dem Aufnahmestaat frei, ein Vertragsverletzungsverfahren einzuleiten, so dass der EuGH sodann über die Frage des anwendbaren Rechts entscheidet.

Der Aufnahmestaat darf die Entsendebescheinigung nur unberücksichtigt lassen, wenn zwei Voraussetzungen erfüllt sind:

-      Der zuständige Sozialversicherungsträger des Entsendestaats ‑ hier: Belgien ‑ muss vom Träger des Aufnahmestaats ‑ hier: Deutschland ‑ unverzüglich mit der Aufforderung der Prüfung befasst worden sein und es unterlassen haben, innerhalb einer angemessenen Frist den übermittelten Anhaltspunkten nachzugehen (hierzu nachfolgend aa.), und

-      die übermittelten Anhaltspunkte müssen den Rückschluss erlauben, dass die Entsendebescheinigung auf unredliche Weise erlangt oder verwendet wurde (hierzu nachfolgend bb.).

aa.  Bereits die erste Voraussetzung ist nicht erfüllt.

Die RVSZ wurde zwar nicht von der Beklagten, jedoch von der zuständigen Einzugsstelle angerufen und ist nicht untätig geblieben. Vielmehr hat sich die RVSZ in den Jahren 2012 und 2013 mit der Frage der Rechtsgültigkeit der Entsendebescheinigung befasst. Im Mai 2013 teilte die RVSZ dem GKV-Spitzenverband mit, dass er das deutsche Recht für anwendbar halte und zur Zurückziehung bereit sei, diese aber von der Zustimmung der Klägerin abhängig mache. Diese erklärte die Klägerin indes nicht.

Es kann offenbleiben, ob die RVSZ frühzeitiger hätte tätig werden können oder müssen. Entscheidend ist aus Sicht des Senats, dass die zur Klärung der Richtigkeit der Entsendebescheinigung notwendige Kommunikation zwischen den Sozialversicherungsträgern Belgiens und Deutschlands stattgefunden hat. Damit sind jedenfalls die Voraussetzungen dafür auf Dauer entfallen, die es der Beklagten erlaubt hätten, die die Klägerin betreffende Entsendebescheinigung einseitig zu übergehen.

Es muss auch nicht erörtert werden, ob und ggf. unter welchen Voraussetzungen die Beklagte berechtigt gewesen sein könnte, die Gründe für die Entscheidung des Entsendestaates über die Aufrechterhaltung der Entsendebescheinigung nach einem Tätigwerden des Trägers des Entsendestaats (nochmals) selbst zu (über-)prüfen und die Entsendebescheinigung ggf. danach - trotz der anderslautenden Entscheidung des RVSZ - unbeachtet zu lassen. Für den Senat bestehen insoweit erhebliche Zweifel, insbesondere weil die Rechtsprechung des EuGH im Falle von Meinungsverschiedenheiten ausdrücklich auf die Anrufung der Verwaltungskommission bzw. die Einleitung eines Vertragsverletzungsverfahrens verweist und eine hiervon abweichende Prüfung für unzulässig hält (vgl. EuGH, Urteil vom 27. April 2017 – C-620/15 –, juris Rn. 49). Aber selbst wenn man eine solche Prüf- und Verwerfungskompetenz des Aufnahmestaats bejahte, ergäbe sich für den vorliegenden Fall nichts Abweichendes. Die Aufrechterhaltung der Entsendebescheinigung ist im Fall der Klägerin ‑ selbst unter Berücksichtigung des Umstandes, dass sich belgischer und deutscher Träger über die Anwendbarkeit deutschen anstelle belgischen Sozialversicherungsrechts letztlich einig waren ‑ nicht zu beanstanden. Die RVSZ war berechtigt, die Zurückziehung der Entsendebescheinigung von der Zustimmung der Klägerin abhängig zu machen, die diese jedoch nicht erteilt hat. Der EuGH hat insoweit darauf hingewiesen, dass der Träger des Entsendestaats selbst bei einer einvernehmlich als unzutreffend erkannten Entsendebescheinigung Vertrauensschutzgesichtspunkte – z. B. die Vermeidung einer doppelten Beitragsbelastung – berücksichtigen und die Entsendebescheinigung aufrechterhalten darf (vgl. hierzu insbesondere der dem Urteil des EuGH vom 27. April 2017 – C-620/15 – zugrundeliegende Sachverhalt [juris Rn. 29]; m. zutr. Anm. Padé, jurisPR-SozR 15/2017 Anm. 1 Abschn. D a. E.). Auch die rückwirkend erfolgte Ausstellung der Entsendebescheinigung ‑ hier: im Mai 2011 für das im März 2009 beendete Beschäftigungsverhältnis der Klägerin ‑ war zulässig (so ausdrücklich EuGH, Urteil vom 6. September 2018 – C-527/16, juris Rn. 70 m. w. N.).

Aufgrund des bereits vorliegenden Angebots des belgischen Trägers, die Entsendebescheinigung mit Zustimmung der Klägerin zurückzuziehen, die diese aber nicht erklärte, war auch ein Tätigwerden der Beklagten gegenüber der RVSZ nach Mai 2013 nicht mehr zu erwarten. Dieses Tätigwerden hätte angesichts der zuvor nicht erteilten Zustimmung der Klägerin nur darauf gerichtet sein können, eine Zurückziehung der Entsendebescheinigung ohne die Zustimmung der Klägerin zu erreichen. Da aber ‑ wie zuvor ausgeführt ‑ der Entsendestaat nach der Rechtsprechung des EuGH bei seiner Entscheidung über die Aufrechterhaltung einer Entsendebescheinigung Vertrauensschutzgesichtspunkte berücksichtigen darf, bestand hierzu kein Anlass und erst recht keine diesbezügliche Verpflichtung.

bb.  Daneben ist aber auch die zweite Voraussetzung nicht erfüllt.

Ein missbräuchlicher Einsatz setzt nach der Rechtsprechung des EuGH voraus, dass die erteilte Entsendebescheinigung äußerst schwerwiegende Fehler aufweist. Dies ist vom EuGH – soweit ersichtlich – bislang nur bejaht worden bei einem Arbeitgeber, der in einem Entsendestaat zwar seinen formalen Unternehmenssitz hatte, aber keine nennenswerte Geschäftstätigkeit entfaltete (gleichsam also eine „Briefkastenfirma“ unterhielt), und eigens angeworbene Bauhandwerker auf ausländische Baustellen „entsandte“ (vgl. EuGH, Urteil vom 6. Februar 2018 ‑ C-359/16 ‑, juris Rn. 57).

Im Fall der Klägerin ist aber weder vorgetragen, noch sonst ersichtlich, dass die frühere Arbeitgeberin der Klägerin im streitgegenständlichen Zeitraum in Belgien keine nennenswerte Geschäftstätigkeit mehr entfaltete. Vielmehr hält der Senat das Gegenteil für erwiesen. Soweit die Klägerin darauf verweist, dass die I. N. V. und die I. GmbH die Niederlassung am Flughafen N. zunächst gemeinsam betrieben, spricht dies gerade für eine – wenn auch vorübergehend angelegte – Fortführung der Aktivitäten der weiterhin in Belgien ansässigen I. N. V. vor dem Hintergrund der laufenden schrittweisen Verlagerung des Luftfrachtdrehkreuzes nach Deutschland. Für dieses Ergebnis spricht auch, dass die Verschmelzung der belgischen und der deutschen Gesellschaften erst 2010 wirksam wurde; hätte es bereits 2008 keine Geschäftstätigkeit mehr gegeben, so wäre eine frühere Verschmelzung zu erwarten gewesen. Die rückwirkende Ausstellung der Entsendebescheinigung kann auch nicht als missbräuchliche Verwendung angesehen werden, weil dies – worauf bereits hingewiesen wurde – nach der Rechtsprechung des EuGH zulässig ist.

  1. Auch die weitere Berechnung der Rentenhöhe entspricht den gesetzlichen Vorgaben.

Eine Berücksichtigung versicherungsrechtlicher Zeiten aus anderen Mitgliedsstaaten bei der Berechnung der Leistungshöhe sieht das Unionsrecht nicht vor. Das in der Verordnung geregelte Koordinierungsrecht sieht ‑ wie eingangs dargelegt ‑ lediglich eine gegenseitige Berücksichtigung von versicherungsrechtlichen Zeiten, jedoch nicht der sich nach den unterschiedlichen mitgliedstaatlichen Regelungen ergebenden Zahlbeträge vor. Diese Berechnungsmethode ist Ausdruck der systematischen Entscheidung des Koordinierungsrechts, dass jeder Mitgliedsstaat Leistungen lediglich in der Höhe erbringt, die mit national zurückgelegten Zeiten in Zusammenhang stehen, nicht hingegen eine Rente, die sich aus allen im Unionsgebiet zurückgelegten Beitragszeiten errechnet. Für Letzteres wäre eine Vollharmonisierung der Sozialleistungssysteme der Mitgliedsstaaten erforderlich.

Anhaltspunkte für eine der Höhe nach unzutreffende Berechnung hat die Klägerin nicht vorgetragen. Sie sind auch sonst für den Senat nicht zu erkennen.

Die Kostenentscheidung beruht auf § 193 SGG.

Die Revision ist nicht zuzulassen, weil keine der in § 160 Abs. 2 SGG hierfür alternativ bestimmten Voraussetzungen erfüllt sind.

Rechtskraft
Aus
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