L 14 U 183/19

Land
Niedersachsen-Bremen
Sozialgericht
LSG Niedersachsen-Bremen
Sachgebiet
Unfallversicherung
1. Instanz
SG Oldenburg (NSB)
Aktenzeichen
S 71 U 137/16
Datum
2. Instanz
LSG Niedersachsen-Bremen
Aktenzeichen
L 14 U 183/19
Datum
3. Instanz
-
Aktenzeichen
-
Datum
-
Kategorie
Urteil

Die Berufung des Klägers gegen das Urteil des Sozialgerichts Oldenburg vom 8. November 2019 wird zurückgewiesen.

Kosten sind auch im Berufungsverfahren nicht zu erstatten.

Die Revision wird nicht zugelassen.

 

Tatbestand

Die Beteiligten streiten um die Anerkennung weiterer Unfallfolgen sowie um die Bewilligung einer Verletztenrente.

Der im Jahre 1969 geborene Kläger war als Fleischbeschauer beim Veterinäramt des Landkreises I. angestellt und wurde in dieser Funktion seit dem Jahre 2000 in der Schlachterei „J.“ in K. eingesetzt. Mittlerweile bezieht der Kläger eine Rente wegen voller Erwerbsminderung auf Dauer.

Der Kläger wurde am 31. Januar 2011 verletzt, als ihm ein Kollege bei der Arbeit mit der Faust ins Gesicht schlug und er mit dem Rücken gegen die Metallkante einer Duschkabine gestoßen wurde.

Der Kläger wurde daraufhin in das L. -Hospital in M. gebracht, wo der Durchgangsarzt Dr. N. nach einem Röntgen des Unterkiefers und des Thorax des Klägers keine Frakturen erkennen konnte. Dr. N. diagnostizierte eine Schädel- und eine Thoraxprellung links und ging davon aus, dass der Kläger voraussichtlich am 8. Februar 2011 wieder arbeitsfähig sei (vgl. dessen Bericht vom 1. Februar 2011). Nachdem der Kläger über den 8. Februar 2011 hinaus über Schmerzen am Kiefer und Kopfschmerzen klagte, veranlasst Dr. N. dessen Vorstellung beim Neurologen und Psychiater Dr. O.. Dieser diagnostizierte in seinem Bericht vom 18. Februar 2011 beim Kläger einen Zustand nach Schädelprellung, den Verdacht auf ein leichtes Schädel-Hirn-Trauma, symptomatische posttraumatische Cephalgien sowie eine akute Belastungsreaktion. Eine Computertomogra­phie (CT) –Untersuchung des Neurocraniums (Teil des Schädels, der das Gehirn umschließt) und des Gesichtsschädels des Klägers am 15. Februar 2011 ergab eine unauffällige Situation von vorderer Schädelbasis und Gesichtsschädel ohne Zeichen einer aktuellen Fraktur oder Fehlstellung (vgl. Arztbrief des Radiologen P. vom 14. März 2011). Die Vorstellung des Klägers in der Klinik für Zahn-, Mund-, Kiefer-, Gesichtschirurgie/Plastische Operationen des Klinikums Q. ergab den Verdacht auf eine Verletzung des Kiefergelenksdiskus rechts (Befundbericht des Klinikdirektors Dr. Dr. R. vom 14. Februar 2011). Eine MR-Untersuchung am 28. Februar 2011 zeigte in den Funktionsaufnahmen bei zunehmender Mundöffnung ein regelrechtes Gleiten des linken Kiefergelenkköpfchens sowie des Diskus nach ventral und caudal und ein im Vergleich zur Gegenseite verzögertes Gleiten des rechten Diskus, wobei der Nachweis einer Einklemmung nicht erbracht werden konnte (Befundbericht des Radiologen S. vom 4. März 2011). Der Kläger war nach Auffassung des Dr. N. ab dem 7. März 2011 wieder arbeitsfähig, wobei zu diesem Zeitpunkt auch keine Behandlungsbedürftigkeit mehr vorlag (vgl. dessen Mitteilung an den Beklagten vom 20. Oktober 2011).

Nachdem der Kläger mit Schreiben vom 10. März 2015, Eingang bei dem Beklagten am 11. März 2015, die Gewährung einer Verletztenrente beantragt hatte, zog der Beklagte neben den o.g. medizinischen Unterlagen die Unfallanzeige des Arbeitgebers des Klägers vom 11. Februar 2011 bei. Darüber hinaus nahm er Einsicht in die Akte der Staatsanwaltschaft (StA) Oldenburg (Verfahren NZS 795 Js 17411/11), welche auf die Strafanzeige des Klägers gegen dessen Arbeitskollegen ein Ermittlungsverfahren eingeleitet hatte. Aus dieser Akte ergibt sich, dass das Amtsgericht I. das gegen den Kollegen des Klägers geführte Verfahren nach erfolgter umfangreicher Beweisaufnahme mit Beschluss vom 4. Oktober 2011 gemäß § 153 Abs. 2 Strafprozessordnung eingestellt hat (Verfahren 18 Cs 795 Js 17411/11 (239/11)). Weiterhin holte der Beklagte das Vorerkrankungsverzeichnis des Klägers von dessen gesetzlicher Krankenversicherung vom 14. April 2015, den Befundbericht der Psychologischen Psychotherapeutin T. vom 30. April 2015 sowie das Ärztliche Attest des Facharztes für Allgemeinmedizin U. vom 28. Juni 2015 ein. Daneben holte er das psychiatrisch-psychosomatische Gutachten des Dr. V. vom 31. August 2015, dessen ergänzende Stellungnahme vom September 2015 sowie die beratungsärztlichen Stellungnahmen des Prof. Dr. W. vom 8. Juli 2015 und 10. September 2015 ein. Dr. V. kam in seinem Gutachten zu dem Ergebnis, dass der Kläger infolge des Unfalls an einer reaktiven mittelschweren Angst- und Depression, gemischt (ICD F 41.2, F 43.21) leide. Darüber hinaus leide der Kläger an einer somatoformen Schmerzstörung und einem arzneimittelinduzierten Kopfschmerz, die jedoch nicht auf den Unfall vom 31. Januar 2011 zurückzuführen seien. Die unfallbedingte Erkrankung sei mit einer Minderung der Erwerbsfähigkeit (MdE) um 15 vom Hundert (v.H.) einzuschätzen. Mit Bescheid vom 21. Oktober 2015 erkannte der Beklagte das Unfallereignis des Klägers vom 31. Januar 2011 (konkludent) als Arbeitsunfall an und lehnte die Gewährung einer Verletztenrente ab. Als Unfallfolgen anerkannte er auf der Grundlage des Gutachtens des Dr. V. vom 31. August 2015 die Gesundheitsstörungen “kurzfristige, reaktive mittelschwere Angst und Depression mit Entwicklung einer vorübergehenden chronischen psychosozialen Anpassungsproblematik und unbewusster Krankheitsfehlverar­beitung.“ Ausdrücklich nicht als Unfallfolgen anerkannte er die Gesundheitsstörungen „soma­toforme Schmerzstörung sowie arzneimittelinduzierter Kopfschmerz.“

Der hiergegen erhobene Widerspruch des Klägers blieb erfolglos (Widerspruchsbescheid des Beklagten vom 20. Juni 2016).

Hiergegen hat der Kläger am 18. Juli 2016 vor dem Sozialgericht (SG) Oldenburg Klage erhoben und sein bisheriges Vorbringen unter Vorlage des psychologischen Attestes der Frau T. vom 14. Juli 2016, des psychotherapeutischen Abschlussberichtes dieser Psycho­login vom 30. September 2016 sowie des psychotherapeutischen Befundberichtes der Frau T. vom 18. Oktober 2019 bekräftigt.

Der Beklagte ist dem Vorbringen des Klägers entgegengetreten.

Das SG Oldenburg hat aus dem parallel geführten Rentenverfahren des Klägers (Verfahren S 81 R 574/13) den Entlassungsbericht der X. vom 10. März 2016 beigezogen. Daneben hat es von Amts wegen das nervenfachärztliche Gutachten des Dr. Y. vom 23. April 2018 einschließlich des psychologischen Zusatzgutachtens der Dipl.-Psychologin Z. vom 16. April 2018 (unter Mitarbeit von Dr. Y.) eingeholt. Darüber hinaus hat es auf Antrag des Klägers nach § 109 Sozialgerichtsgesetz (SGG) das nervenfachärztliche Gutachten des Dr. Dr. AA. von Dezember 2018 eingeholt. Mit Urteil vom 8. November 2019 hat das SG Oldenburg die Klage abgewiesen und seine Entscheidung im Wesentlichen auf das Gutachten des Dr. Y. vom 23. April 2018 gestützt.

Der Kläger hat gegen das ihm am 28. November 2019 zugestellte Urteil am 11. Dezember 2019 Berufung eingelegt und sein bisheriges Vorbringen unter Vorlage diverser medizinischer und psychologischer Unterlagen (Psychotherapeutischer Befundberichte der Frau T. vom 14. April 2021, 10. Oktober 2020 und 16. März 2020, Entlassungsbericht der AB. -Klinik AC. vom 16. Januar 2015 und 16. November 2018, Auszug aus den medizinischen Daten des Klägers bei dem Psychiater AD., Befundbericht des Psychiaters AD. vom 18. Juni 2020) weitergeführt. Er ist der Ansicht, dass weitere bei ihm auf psychiatrischem Fachgebiet vorliegende Gesundheitsstörungen als Unfallfolge anzuerkennen seien. Darüber hinaus sei ihm infolge dieser anzuerkennenden Unfallfolgen eine Verletztenrente zu gewähren.

Der Kläger beantragt nach seinem schriftlichen Vorbringen sinngemäß,

  1. das Urteil des Sozialgerichts Oldenburg vom 8. November 2019 aufzuheben sowie den Bescheid des Beklagten vom 21. Oktober 2015 in der Gestalt des Widerspruchsbescheides vom 20. Juni 2016 zu ändern,
  2. den Beklagten zu verurteilen,

 

a) die Gesundheitsstörungen „Anpassungsstörung, schwere Angststörung und

          mittelschwere Depression“ als weitere Folgen seines Arbeitsunfalls vom

          31. Januar 2011 anzuerkennen,

b) ihm Verletztenrente nach einer MdE um mindestens 20 v. H. der Vollrente

    zu gewähren.

Der Beklagte beantragt nach seinem schriftlichen Vorbringen,

die Berufung zurückzuweisen.

Er hält die angefochtene Entscheidung des SG Oldenburg für zutreffend.

Der Senat hat das Gutachten des Facharztes für Psychiatrie und Psychotherapie, Neurologie, Sozialmedizin und Rehabilitationswesen AE. vom 24. Juni 2021 nebst neuropsychologischen Zusatzgutachtens der Dipl.-Psychologin AF. vom 18. Mai 2021 eingeholt. Der Sachverständige AE. kommt in seinem Gutachten zu der Einschätzung, dass für den Kläger auf nervenfachärztlichem Gebiet die Diagnosen „anhaltende somatoforme Schmerzstörung unter fibromyalgieformem Bild (ICD 10 F 45.41) sowie Angst- und depressive Störung, gemischt (ICD 10 F 41.2)“ zu stellen sind. Diese Gesundheitsstörungen seien nicht auf den Arbeitsunfall vom 31. Januar 2011 zurückzuführen.

Die Beteiligten haben einer Entscheidung des Senates durch Urteil ohne mündliche Verhandlung nach §§ 153 Abs. 1, 124 Abs. 2 SGG zugestimmt.

Wegen der weiteren Einzelheiten des Sachverhaltes und des übrigen Vorbringens der Beteiligten wird auf den Inhalt der Prozessakten und der Verwaltungsakte des Beklagten Bezug genommen, die der Entscheidungsfindung des Senats zugrunde gelegen haben.

 

Entscheidungsgründe

Der Senat entscheidet durch Urteil ohne mündliche Verhandlung, weil sich die Beteiligten mit dieser Verfahrensweise einverstanden erklärt haben und der Senat eine mündliche Verhandlung nicht für erforderlich hält.

Die zulässige Berufung ist nicht begründet. Zu Recht hat das SG Oldenburg mit seinem Urteil vom 8. November 2019 die Klage abgewiesen. Der Bescheid des Beklagten vom 21. Oktober 2015 in der Gestalt des Widerspruchsbescheides vom 20. Juni 2016 ist rechtmäßig und verletzt den Kläger nicht in seinen Rechten. Der Kläger hat weder einen Anspruch auf Anerkennung weiterer Gesundheitsstörungen auf nervenfachärztlichem Gebiet als Unfallfolgen noch auf die Gewährung einer Verletztenrente.

Der Antrag des Klägers auf Verurteilung des Beklagten zur Anerkennung der Gesundheitsstörungen „Anpassungsstörung, schwere Angststörung und mittelschwere Depression“ als weitere Folgen des Arbeitsunfalls vom 31. Januar 2011 ist als Verpflichtungsklage gemäß § 54 Abs. 1 SGG zulässig (vgl. zum Verhältnis von Feststellungsklage und Verpflichtungsklage in diesem Zusammenhang Keller in: Meyer-Ladewig u.a., SGG, Kommentar, 13. Aufl. 2020, § 55, Rz. 13c, § 54, Rz. 20b m.w.N.). Dabei geht der Senat davon aus, dass die im Antrag des Klägers genannten Unfallfolgen nicht mit den bereits von dem Beklagten in seinem Bescheid vom 21. Oktober 2015 genannten Unfallfolgen (“kurzfristige, reaktive mittelschwere Angst und Depression mit Entwicklung einer vorübergehenden chronischen psychosozialen Anpassungsproblematik und unbewusster Krankheitsfehlverarbeitung“) identisch sind. Dies ergibt sich schon daraus, dass der Beklagte die anerkannten nervenärztlichen Gesundheitsstörungen in seinem angefochtenen Bescheid als kurzfristig bezeichnet hat. Der Antrag ist jedoch nicht begründet. Zwar liegt ein Arbeitsunfall nach den §§ 7, 8 Abs. 1 Siebtes Buch Sozialgesetzbuch - Gesetzliche Unfallversicherung - (SGB VII) am 31. Januar 2011 unstreitig vor. Neben den bereits mit Bescheid des Beklagten vom 21. Oktober 2015 anerkannten Unfallfolgen sind jedoch keine weiteren Gesundheitsstörungen als Unfallfolgen anzuerkennen.

Nachgewiesene Gesundheitsstörungen sind als zusätzliche Folgen des Arbeitsunfalls anzuerkennen, wenn zwischen dem Unfallereignis und ihnen entweder direkt oder vermittelt durch den Gesundheitserstschaden ein Ursachenzusammenhang im Sinne von § 8 Abs. 1 SGB VII besteht (Bundessozialgericht – BSG -, Urteil vom 09. Mai 2006 - B 2 U 1/05 R -, Juris). Während die geltend gemachte Unfallfolge im Sinne des sogenannten Vollbeweises feststehen, also mit an Sicherheit grenzender Wahrscheinlichkeit belegt sein muss, gilt für die Beurteilung des Kausalzusammenhangs zwischen dem Arbeitsunfall und ihr der Beweismaßstab der hinreichenden Wahrscheinlichkeit. Sie liegt vor, wenn bei vernünftiger Abwägung aller Umstände mehr für als gegen den Ursachenzusammenhang spricht und ernste Zweifel ausscheiden, so dass darauf die richterliche Überzeugung gegründet werden kann. Die Feststellung des Ursachenzusammenhangs erfolgt nach der im Sozialrecht geltenden Theorie der wesentlichen Bedingung (vgl. BSG, Urteil vom 17. Februar 2009 - B 2 U 18/07 R -, Juris Rz. 12). Danach ist nur diejenige Bedingung rechtlich erheblich, die wegen ihrer besonderen Beziehung zum Eintritt des geltend gemachten Gesundheitsschadens „wesentlich“ beigetragen hat. Nicht jede Gesundheitsstörung, die im naturwissenschaftlichen Sinne durch das Unfallereignis beeinflusst worden ist, ist auch rechtlich dessen Folge, sondern nur diejenige, die „wesentlich“ durch das Ereignis verursacht worden ist. Welche Ursache wesentlich ist und welche nicht, ist aus der Auffassung des praktischen Lebens über die besonderen Beziehungen der Ursache zum Eintritt des Gesundheitsschadens abzuleiten. Gesichtspunkte für die Beurteilung der besonderen Beziehung der Ursache zum Erfolg sind z. B. die Art und das Ausmaß der Einwirkung, die konkurrierenden Ursachen, die gesamte Krankengeschichte und ergänzend der Schutzzweck der Norm. Die bloße Möglichkeit einer Verursachung genügt hingegen nicht (vgl. BSG, Urteil vom 2. April 2009 - B 2 U 29/07 R -, Juris Rz. 16). Dabei ist die Beurteilung der Kausalität im Ergebnis eine Frage der richterlichen Würdigung. Wesentlich verursacht sind die Gesundheitsstörungen, wenn der Unfall gegenüber sonstigen schädigungsfremden Faktoren wie z. B. Vorerkrankungen nach der medizinisch-wissenschaftlichen Lehrmeinung von überragender Bedeutung für die Entstehung der Gesundheitsstörung war oder zumindest von annähernd gleichwertiger Bedeutung (wesentliche Mitursache).

Unter Berücksichtigung dieser Vorgaben ist das SG Oldenburg in seinem angefochtenen Urteil zu der auch vom Senat geteilten zutreffenden Auffassung gelangt, dass bei dem Kläger keine weitere Unfallfolge anzuerkennen ist, weil die bei ihm auf nervenfachärztlichem Gebiet vorliegenden Gesundheitsstörungen nicht mit der im Recht der gesetzlichen Unfallversicherung notwendigen hinreichenden Wahrscheinlichkeit auf den Arbeitsunfall vom 31. Januar 2011 zurückgeführt werden können. Der Senat stützt seine Entscheidung auf die überzeugenden Gutachten der Sachverständigen AE. vom 24. Juni 2021 und Dr. Y. vom 23. April 2018. Der Sachverständige AE. ist nach umfangreicher ambulanter Untersuchung des Klägers einschließlich dessen zusätzlicher neuropsychologischer Untersuchung durch die Diplom-Psychologin AF. unter Berücksichtigung der ihm vorliegenden Verwaltungsakte des Beklagten und der Gerichtsakten in seinem Gutachten für den Senat plausibel zu dem Ergebnis gekommen, dass für den Kläger die Diagnosen „Angst- und depressive Störung, gemischt, anhaltende somatoforme Schmerzstörung unter fibromyalgiformen Bild“ zu stellen sind. Diese Erkrankungen des Klägers – so dieser Sachverständige in seinem Gutachten für den Senat überzeugend weiter – seien nicht auf seinen Arbeitsunfall am 31. Januar 2011 zurückzuführen. So liege der Beginn der im Vordergrund der Beschwerden des Klägers stehenden, in wesentlichen Teilen psychosomatisch bedingten Schmerzstörung deutlich vor dem Unfallereignis. Dies ergebe sich – so dieser Sachverständige in seinem Gutachten weiter - insbesondere aus dem Entlassungsbericht der AB. -Klinik AC. vom 16. November 2018. Dort hat der Kläger von beginnenden Rückenschmerzen im Jahre 1991 berichtet, wobei nach seinen Angaben im Verlauf der Jahre Schmerzen im Kopf, Knie, Hüfte und Sprunggelenken dazu gekommen seien. Die Schmerzen hätten sich immer weiter generalisiert. Auch von einem Herzstechen ist in diesem Bericht die Rede. Darüber hinaus – so der Sachverständige AE. in seinem Gutachten für den Senat plausibel weiter - könne diese Erkrankung auch deshalb nicht als Unfallfolge anerkannt werden, weil sie entsprechend der der Begutachtung zugrunde zu legenden herrschenden unfallmedizinischen Meinung, die in den aktuellen Leitlinien „Begutachtung bei Kausalitätsfragen im Sozial-, Zivil- und Verwaltungsrecht“ Teil 3 – AWMF Registrier-Nr. 051-029“ niedergelegt sei, nicht mit einer Posttraumatischen Belastungsstörung einhergehe, die beim Kläger (im Übrigen auch nach Auffassung von Dr. V., Dr. Y. und Dr. Dr. AA.) nicht vorliege. Darüber hinaus habe beim Kläger zu keinem Zeitpunkt ein tiefergreifender Körperschaden vorgelegen, welcher hier die Krankheitsentwicklung erklären könne. Auch der beim Kläger bestehende doch erhebliche Crescendo-Verlauf spreche dafür, dass unfallunabhängige Faktoren von erheblicher Bedeutung seien. Die vorgenannte Schmerzstörung hat der Kläger folgerichtig in seinem Antrag auch nicht als Unfallfolge geltend gemacht.

Aber auch die vom Sachverständigen AE. diagnostizierte „Angst- und depressive Störung, gemischt“ ist nach dessen Auffassung nicht auf den Arbeitsunfall des Klägers zurückzuführen. Hiermit übereinstimmend ist auch der Sachverständige Dr. Y. in seinem Gutachten vom 23. April 2018 der Meinung, dass die beim Kläger auf nervenärztlichem Gebiet vorliegenden Gesundheitsstörungen nicht auf seinen Arbeitsunfall vom 31. Januar 2011 zurückgeführt werden können. Im Hinblick auf die auch von ihm beim Kläger diagnostizierte depressive Störung, gemischt mit Angst, führt der Sachverständige für den Senat überzeugend aus, dass der Arbeitsunfall am 31. Januar 2011 allenfalls zu einer vorübergehend bestehenden, mittlerweile ausgeheilten Anpassungsstörung geführt habe. Mangels dokumentierten zeitnahen seelischen Gesundheitserstschadens und geringer körperlicher, binnen kurzer Zeit ausgeheilter Unfallfolgen könne diese beim Kläger bestehende dauerhafte seelische Störung nicht auf den Arbeitsunfall zurückgeführt werden. Der Senat hält diese Einschätzung für überzeugend, denn sie ist schlüssig und orientiert sich an der herrschenden unfallmedizinischen Meinung (vgl. zur Prüfung einer nervenärztlichen Gesundheitsstörung als Unfallfolge insgesamt: Schönberger/Mehrtens/Valentin, Arbeitsunfall und Berufskrankheit, 9. Aufl., S. 158 ff.).

Eine andere Beurteilung ergibt sich auch nicht unter Berücksichtigung des Gutachtens des Sachverständigen Dr. Dr. AA. von Dezember 2018. Zwar bescheinigt dieser Sachverständige dem Kläger das Vorliegen mehrerer auf nervenfachärztlichem Gebiet bestehender Unfallfolgen, die er mit einer MdE um 30 v.H. einschätzt. Allerdings begründet er seine Auffassung nicht schlüssig. Hier hat der Sachverständige AE. in seinem Gutachten für den Senat überzeugend darauf hingewiesen, dass die Einschätzung des Dr. Dr. AA. nicht überzeugt, weil ihr nicht die herrschende unfallmedizinische Meinung zugrunde liegt, dieser Sachverständige insbesondere bei der Erstellung seines Gutachtens nicht die Standards einer sozialmedizinischen Begutachtung eingehalten habe.

Dem Kläger ist auch keine Verletztenrente zu gewähren, weil die für ihn anerkannte Unfallfolge „kurzfristige, reaktive mittelschwere Angst und Depression mit Entwicklung einer vorübergehenden chronischen psychosozialen Anpassungsproblematik und unbewusster Krankheitsfehlverarbeitung„ keine MdE um wenigstens 20 v.H. bedingt.

Nach § 56 Abs. 1 Satz 1 SGB VII haben Versicherte, deren Erwerbsfähigkeit infolge eines Versicherungsfalls über die 26. Woche nach dem Versicherungsfall hinaus um wenigstens 20 v. H. gemindert ist, Anspruch auf eine Rente. Die Bemessung des Grades der MdE richtet sich nach dem Umfang der Beeinträchtigung des körperlichen und geistigen Leistungsvermögens des Verletzten durch die Folgen des Arbeitsunfalls und nach dem Umfang der dem Verletzten dadurch verschlossenen Arbeitsmöglichkeiten auf dem gesamten Gebiet des Erwerbslebens. Die Bemessung des Grades der MdE wird vom BSG in ständiger Rechtsprechung als Tatsachenfeststellung gewertet, die das Gericht nach § 128 Abs. 1 Satz 1 SGG nach seiner freien aus dem Gesamtergebnis des Verfahrens gewonnenen Überzeugung trifft. Dies gilt für die Feststellung der Beeinträchtigung des Leistungsvermögens des Versicherten ebenso wie für die auf der Grundlage medizinischer und sonstiger Erfahrungssätze über die Auswirkungen bestimmter körperlicher oder seelischer Beeinträchtigungen zu treffende Feststellung der ihm verbliebenen Erwerbsmöglichkeiten. Ärztliche Meinungsäußerungen darüber, inwieweit derartige Beeinträchtigungen sich auf die Erwerbsfähigkeit auswirken, sind eine wichtige und vielfach unentbehrliche Grundlage für die richterliche Schätzung der MdE, vor allem soweit sie sich darauf beziehen, in welchem Umfang die körperlichen und geistigen Fähigkeiten des Betroffenen durch den Versicherungsfall beeinträchtigt sind. Erst aus der Anwendung medizinischer und sonstiger Erfahrungssätze über die Auswirkungen bestimmter körperlicher oder seelischer Beeinträchtigungen auf die verbliebenen Arbeitsmöglichkeiten des Betroffenen auf dem Gesamtgebiet des Erwerbslebens und unter Berücksichtigung der gesamten Umstände des Einzelfalles kann die Höhe der MdE geschätzt werden. Die zumeist in jahrzehntelanger Entwicklung von der Rechtsprechung sowie dem versicherungsrechtlichen und versicherungsmedizinischen Schrifttum herausgearbeiteten Erfahrungssätze sind deshalb bei der Beurteilung der MdE zu beachten; sie sind zwar nicht für die Entscheidung im Einzelfall bindend, bilden aber die Grundlage für eine gleiche, gerechte Bewertung der MdE in zahlreichen Parallelfällen der täglichen Praxis und unterliegen einem ständigen Wandel (vgl. BSG, Urteil vom 5. September 2006 - B 2 U 25/05 R -, m. w. N., Juris).

Nach den vorstehenden Grundsätzen ist die Erwerbsfähigkeit des Klägers durch die von dem Beklagten mit Bescheid vom 21. Oktober 2015 anerkannte Unfallfolge „kurzfristige, reaktive mittelschwere Angst und Depression mit Entwicklung einer vorübergehenden chronischen psychosozialen Anpassungsproblematik und unbewusster Krankheitsfehlverarbeitung“ nicht um mindestens 20 v.H. gemindert. In diesem Zusammenhang geht der Senat aufgrund der identischen ICD-Klassifikation in den Gutachten des Dr. V. und des Sachverständigen AE. davon aus, dass der Beklagte, der seinen Bescheid ausdrücklich auf das Gutachten des Dr. V. vom 31. August 2015 gestützt hat, mit der Anerkennung der Unfallfolge „kurzfristige, reaktive, mittelschwere Angst und Depression“ seine Diagnose in Anlehnung an die Gesundheitsstörung „Angst- und depressive Störung, gemischt“ anerkannt hat. Diese Erkrankung hatte bereits Dr. V. in Anlehnung an die herrschende unfallmedizinische Meinung (vgl. hierzu Schönberger/Mehrtens/Valentin, Arbeitsunfall und Berufskrankheit, 9. Aufl., S. 171) mit einer MdE um 15 v.H. eingeschätzt. Anhaltspunkte dafür, dass sich diese Erkrankung verschlechtert hat, ergeben sich aus dem Gutachten des Sachverständigen AE. nicht. Vielmehr hat dieser Nervenarzt darauf hingewiesen, dass beim Kläger die (unfallunabhängige) schwerwiegende und fortschreitende, in wesentlichen Teilen psychosomatisch bedingte Schmerzstörung im Sinne einer anhaltenden somatoformen Schmerzstörung mit hochgradiger Invalidisierung im Vordergrund der Beschwerdeschilderung stünde. So sei für den Kläger mittlerweile der Pflegegrad I festgestellt worden, seit ein/zwei Jahren laufe der Kläger nur noch am Rollator, wobei ihm im Februar 2021 ein Elektrorollstuhl verordnet worden sei. Darüber hinaus hat der Sachverständige AE. in seinem Gutachten für den Senat überzeugend ebenso wie vor ihm bereits der Sachverständige Dr. Y. darauf hingewiesen, dass der Kläger im Rahmen der Untersuchung eine deutliche Aggravationsneigung gezeigt habe, so dass auch unter diesem Gesichtspunkt eine Verschlimmerung der anerkannten Gesundheitsstörung nicht belegt werden konnte. Zwar konnte der Sachverständige AE. im Rahmen der bei ihm durchgeführten Untersuchungen die Einnahme der verordneten Medikation durch den Kläger nachweisen. Allerdings hat dieser Sachverständige auch darauf hingewiesen, dass sich beim Kläger in den eingesetzten Selbstbeurteilungsbögen hoch auffallende, für eine Aggravation sprechende Werte gezeigt hätten. Auch der Befund in der Hirnleistungsdiagnostik und den dort eingesetzten Beschwerdevalidierungsverfahren habe für eine verminderte Mitarbeit gesprochen. Demgegenüber habe der erhobene körperliche Befund (deutlich ausgeprägte Handbeschwielung, Körperzusammensetzungsanalyse mit völlig unauffälligem Muskelstatus auch der Beine) gegen das vom Kläger angegebene hochgradige Schonungsverhalten gesprochen. Der Senat hält die Einschätzung des Sachverständigen AE. für überzeugend, denn sie orientiert sich an der herrschenden unfallmedizinischen Meinung (vgl. zur Begutachtung im Bereich der gesetzlichen Unfallversicherung insgesamt Schönberger/Mehrtens/Valentin, a.a.O., S. 108 ff.). Bedingt die von dem Beklagten anerkannte Unfallfolge eine MdE von weniger als 20 v.H., musste nicht mehr darüber entschieden werden, wie die Klassifizierung der anerkannten Unfallfolge als „kurzfristig“ und „vorübergehend“ im angefochtenen Bescheid des Beklagten zu verstehen ist.

Der Senat verkennt nicht, dass der Sachverständige AE. die Gesundheitsstörung „Angst- und depressive Störung, gemischt“ (ICD 10 F 41.2) ebenso wie der Sachverständige Dr. Y. nicht auf den Arbeitsunfall des Klägers am 31. Januar 2011 zurückführt. Zwar hält auch der Senat – wie oben ausgeführt - diese Einschätzung für überzeugend. Allerdings ist insoweit zu berücksichtigen, dass der Beklagte diese Gesundheitsstörung in seinem Bescheid vom 21. Oktober 2015 (mit einer etwas anderen Formulierung) als Unfallfolge anerkannt hat und auch der Senat an diese Entscheidung gebunden ist (§ 77 SGG). Denn gemäß § 39 Abs. 2 Zehntes Buch Sozialgesetzbuch – Sozialverwaltungsverfahren und Sozialdatenschutz – (SGB X) bleibt ein Verwaltungsakt wirksam, solange und soweit er nicht zurückgenommen, widerrufen, anderweitig aufgehoben oder durch Zeitablauf oder auf andere Weise erledigt ist (vgl. hierzu auch BSG, Urteil vom 26. Oktober 2017 – B 2 U 6/16 R -, Juris).

Die Kostenentscheidung folgt aus § 193 SGG.

Gründe für die Zulassung der Revision (§ 160 Abs. 2 SGG) liegen nicht vor.

Rechtskraft
Aus
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